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England 1720 - Die 18jährige Rose lebt mit ihrer Familie in ärmlichen Verhältnissen unter der Herrschaft eines Grundherrn. Dieser hält Ausschau nach einer Frau aus dem Volk für einen befreundeten Grafen. Seine Wahl fällt auf die jungfräuliche Rose. Auf dem Schloss des herrischen Grafen trifft sie auf den jungen George. Er ist der Sohn des Grafen, den Rose schon einmal zuvor getroffen hat. Und auch als sie erfährt, dass er, wie auch sein Vater, ein Vampir ist, fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Doch die dunklen Machenschaften, die George umgeben, bringen auch Rose in Gefahr ...
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Seitenzahl: 399
Veröffentlichungsjahr: 2021
Kurzbeschreibung: England 1720 - Die 18jährige Rose lebt mit ihrer Familie in ärmlichen Verhältnissen unter der Herrschaft eines Grundherrn. Dieser hält Ausschau nach einer Frau aus dem Volk für einen befreundeten Grafen. Seine Wahl fällt auf die jungfräuliche Rose. Auf dem Schloss des herrischen Grafen trifft sie auf den jungen George. Er ist der Sohn des Grafen, den Rose schon einmal zuvor getroffen hat. Und auch als sie erfährt, dass er, wie auch sein Vater, ein Vampir ist, fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Doch die dunklen Machenschaften, die George umgeben, bringen auch Rose in Gefahr ...
Nadine Stenglein
Rose - Kalt ist der Nebelhauch
Edel Elements
Edel Elements
- ein Verlag der Edel Verlagsgruppe GmbH
© 2021 Edel Verlagsgruppe GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg
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Copyright © 2021 by Nadine Stenglein
Covergestaltung: Designomicon, München.
Konvertierung: Datagrafix
Lektorat: Vera Baschlakow
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-426-4
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Kalter Abendhauch
Die Wesen
Verführung
Fremde Sehnsucht
Der Besuch
Highland Hills
Nebelsirenen
Versunken im Nebel
Mitten im Sturm
Umkehr
Flüchtige Augenblicke des Glücks
Der Ball
Nebelfinger
Kalt ist der Nebelhauch
Verrat
Dunkle Reise
Neues Sein
Rückkehr
Gefangen
Im Zwielicht
Reise ohne Wiederkehr
Die Suche
Kampf
Heimkehr
Mein Blick fiel auf eine junge Dame mit eisigen Augen und prächtiger Robe. Das Kleid legte sich wie ein Mantel über einen kuppelartigen Rock. Der Seidenstoff war mit blutroten Blumen bestickt, dazwischen schimmerte er golden. Sie reckte das Kinn und ging in ihren spitz zulaufenden und mit silbernen Schnallen verzierten Schuhen neben einem Herrn her, der ebenso fein gekleidet war wie sie. Über seiner Weste aus weißglänzender Seide trug er einen weinroten Rock, dazu unter den Knien gebundene braune Hosen. Das Paar spazierte auf einer staubigen Straße, die sich mitten durch die Stadt Woodshire schlängelte. Die Dame ließ die Blicke sachte schweifen, ihr Begleiter schenkte ihr indessen bewundernde Aufmerksamkeit, die Augen sprachen Bände. Seine Begleitung flüsterte ihm etwas zu, was ihn auflachen ließ und elfenbeinfarbene Zähne preisgab. Ihr Anblick erschreckte mich, denn sie erinnerten mich an spitze Zaunpfähle. Die Frau schien sich nicht daran zu stören, sie hakte sich bei ihm unter, blieb aber ernst. Ehe ich mich‘s versah, wanderte die Hand des Herren an ihren eckigen Ausschnitt, der einen recht freizügigen Blick auf ihre Schnürbrust bot. Welch Dreistigkeit. Dennoch löste sein Begehren, das er ungewöhnlich offen zeigte, ein seltsam wohliges Kribbeln in mir aus. Wie fühlte es sich an, wenn ein Mann eine Frau derart anfasste? Neugierde und Scham gaben sich die Hand, mein Gesicht erglühte. Ich presste meine Hände auf die Wangen, denn ich hatte das Gefühl, sie könnten meine unkeuschen Gedanken verraten. Ich hatte keine Ahnung, weshalb ich von mir selbst so peinlich berührt war.
Ich wollte wegschauen, konnte es aber nicht. Die Dame schien das Gebaren ihres Begleiters zu genießen, denn sie schloss kurz die Augen und ihre Lippen öffneten sich ein wenig, verzogen sich gar zu einem Sekundenlächeln. Der Mann hob sein markantes Kinn gen Himmel und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Dame. Dabei musste ich an die Gattin unseres Grundherrn Leonard Ruven denken. Eve Ruven war wie diese Dame, immer elegant gekleidet, nur weniger auffällig. Ich hatte ja schon viele Städterinnen gesehen, doch diese hier war besonders adrett, wenngleich die kühle Arroganz, die ihr anhaftete, ein Stück von dem äußeren Glanz nahm. Bei jedem Schritt wippten die Locken ihres pechschwarzen, mit grünen und roten Seidenbändern durchzogenen Haares gegen ihre Schulterblätter. Der Straßenstaub und das herumflatternde Federvieh, sowie der Fischgeruch vom Markt, schienen sie nicht zu stören. Ihre Erscheinung passte nicht in diese Szenerie. Vielmehr sah ich sie auf Marmor wandeln oder, wenn das möglich gewesen wäre, auf einem Boden voller Sterne, aber auch in tiefster Dunkelheit. Warum dachte ich an Dunkelheit? Mir war, als hätte mir jemand anderes diesen Gedanken gerade eingeflüstert. Für einen Wimpernschlag trafen sich die Blicke der Dame und meiner, und in ihrem ovalen Gesicht mit den harten Zügen regte sich etwas, das ich nicht deuten konnte. Sie hob eine der sichelmondförmigen dunklen Brauen, und ich hatte das Gefühl, sie hätte soeben eine Maske abgelegt, denn sie schmunzelte in meine Richtung. Ihre großen dunklen Augen stachen wie dunkle Höhlen aus ihrem bleichen Gesicht hervor. Sie kam mir zunehmend unheimlich vor, wie eine wandelnde Tote aus Großmutter Emmas Geschichten.
Dem Mann neben ihr haftete die gleiche Kühle an, und er besaß genau wie sie einen auffallenden Porzellanteint. Er schenkte der Umgebung keinerlei Aufmerksamkeit, so als würde sie gar nicht wirklich für ihn existieren. Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken. Ich wandte den Blick ab. Sicher hatten sie mein Gaffen bemerkt.
„Gehen wir“, flüsterte ich Adam rasch zu, der vor sich hinstarrte. Mich überkam das Gefühl, dass er mit offenen Augen schlief.
„Wir haben noch nicht genug, Rose. Vater wird enttäuscht sein, und auf seinen Wutausbruch hab ich keine Lust“, bemerkte er und zog die buschigen Brauen zusammen, die die gleiche Farbe hatten, wie die Streifen aus Staub und Dreck in seinem Gesicht. Ich spuckte in die Hände und rieb sie mit den Fingern weg.
„Hör auf!“, schalt er mich und wich zurück.
„Halt schon still. Du siehst aus wie ein Streifenhörnchen.“ Er war dabei, zu einer Erwiderung anzusetzen, aber ich kam ihm zuvor. In seinen grün-blauen Augen loderte ein Feuer, dessen Flammen nach mir züngelten.
„Du weißt, dass wir nicht zu auffällig betteln dürfen. Es erregt Aufmerksamkeit, wenn wir zu lange auf den Straßen bleiben. Am Ende werden sie Ruven benachrichtigen, der uns in eins der Arbeitshäuser steckt. Was dann? Schon daran gedacht? Außerdem ist zu Hause noch viel zu tun“, ermahnte ich ihn.
Adam presste die Lippen aufeinander. Mir seine Zustimmung zu geben, fiel ihm merklich schwer, deshalb nickte er nur. Vor Vaters Schelte fürchtete er sich mehr als vor allem anderen. Das war früher nicht so gewesen. Vater hatte sich verändert. So als wäre er schleichend zu einem wilden Tier geworden, wenn ihm etwas nicht passte. Ansonsten konnte er zahm sein wie eine Henne, die man per Hand aufgezogen hatte. Tante Abigail erklärte das Vulkangebaren Vaters mit seiner zunehmenden Verbitterung.
Ich schielte die Straße hinunter. Das Paar war verschwunden. Erleichterung durchflutete mich.
Meine anderen Geschwister Paul und Cecilia blieben ruhig. Wir alle waren in unseren lumpigsten Kleidern unterwegs, die Mutter für uns aus Sackleinen und Flachs genäht hatte. Es war allein Vaters Idee gewesen, uns hin und wieder in die Straßen und Gassen der Stadt zu schicken, durch die wir an manchen Tagen mit hoffnungslosen Mienen streifen mussten, um die Aufmerksamkeit reicher Leute auf uns zu ziehen. Wir hofften, sie würden uns ein Almosen zustecken. Das meiste Mitleid erweckte Cecilia. Sie war zart und bleich wie Seide und frisch gefallener Schnee. Das Auffallendste an ihr aber waren ihre milchigen Iriden, denn Cecilia war von Geburt an blind. Vater erzählte oft und gern von seiner armen Tochter. Vor allem, um Barmherzigkeit bei den Leuten zu erhaschen. Mutter hasste das, und Cecilia wollte kein Mitleid, was ich verstehen konnte. Aber Vater hatte seinen eigenen Kopf.
„Es darf nicht so aussehen, als würdet ihr betteln. Und wenn sie euch was geben, dann nehmt es rasch und bedankt euch stets. Cecilia lasst ihr beharrlich schön vorne gehen“, hatte er uns hinter die Ohren geschrieben.
Meine Brüder waren 15 und damit drei Jahre jünger als ich. Cecilias Geburt hatte Vater nicht erfreut, denn seitdem hatten er und Mutter noch ein weiteres Mäulchen zu stopfen. Außerdem bedauerte er, dass ich nicht schon verheiratet war.
Verguckt oder gar verliebt hatte ich mich noch in keinen der jungen Männer, denen ich bisher über den Weg gelaufen war. Dabei gab es einige, die Interesse an mir gezeigt hatten. Ich sei so hübsch, hatten sie gesagt. Zudem war darunter niemand, der meinem Vater angemessen erschien.
„Allesamt Lumpen“, hatte er gesagt.
Dass ich mich nicht nach Liebe sehnte, konnte ich nicht behaupten. Ich glaubte an das Schicksal. Irgendwann würde der Richtige schon kommen.
Mit Magengrummeln warf ich einen Blick auf den Inhalt von Paulchens staubiger Mütze. Die Ausbeute, die wir darin gesammelt hatten, war magerer denn je. Wie sehr ich diese Bettelei für Vater verabscheute! Aber nicht nur ich, wir alle kamen uns dabei schäbig vor, stets die Angst im Rücken, die Obrigkeit könnte uns erwischen. Diese Furcht trieb auch Mutter um. Vater aber war blind dafür geworden, wie sie es bezeichnete, und ihr Kummer darüber war groß. Für meine Geschwister tat es mir noch viel mehr leid. Jammern half aber nichts. Vater würde uns höchstwahrscheinlich schlagen, kämen wir mit leeren Händen nach Hause oder würden uns weigern zu betteln. Mutter gehorchte ihm ebenso wie der Rest der Familie, die aus meiner Tante, Mutters verwitweter Schwester Abigail, und deren Sohn William bestand.
Abigail war schlau. Sie hatte mir Schreiben und Lesen beigebracht. Sie selbst hatte es von ihrem Vater gelernt, der vor ein paar Jahren gestorben war. Er liebte es, sich Verse auszudenken und niederzuschreiben, und auch ich war sehr wissbegierig. Nun unterrichteten Tante Abigail und ich meine Geschwister gemeinsam, sodass sie schreiben, lesen und auch rechnen lernten. William war mehr als lernfaul. Seine Interessen lagen woanders, vornehmlich den Mädchen der Stadt hinterherzugucken oder mir unter den Rock zu linsen. Noch lieber aber machte er dumme Sprüche, bei denen er sich oft selbst vor Lachen krümmte. Neben uns gab es noch meine Großmutter Emma, die ein Herz besaß, das größer war als unser England, und uns ihre Liebe großzügig schenkte.
Ich spürte eine Berührung. Cecilia zog an mir und riss mich aus einer neuen Gedankenschleife. „Es riecht nach Blut“, murmelte sie und hielt für ein paar Sekunden die Luft an. Erstaunt blickten meine Brüder und ich die Kleine an.
„Blut?“, fragte ich irritiert.
Sie nickte. „Der Geruch kommt mit dem Wind von Norden.“ Sie streckte einen ihrer dünnen Arme in die Richtung.
„Ich rieche nichts“, bemerkte Adam. Er rümpfte die sommersprossenübersäte schmutzige Stupsnase und scharte mit der Spitze seines rechten löchrigen Schuhs am Boden.
Kurz darauf hallte ein Schrei durch die Straßen, so schrill und grauenhaft, dass nicht nur wir vor Schreck in unseren Bewegungen innehielten.
„Gott im Himmel! Heiliger Vater! Man hat ihm die Kehle durchgebissen. Helft uns, helft uns!“, schrie die Bäckersfrau und rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn aus ihrem Laden auf die Straße.
Blut klebte an ihren Händen und der Schürze. Die Farbe ihres Gesichts glich der des Mehls, das ihr dunkles, streng nach hinten gebundenes Haar benetzte. Sie riss die Augen auf, zitterte am ganzen Leib und sackte auf die Knie. Ihrer Kehle entwich ein panischer Schrei, der durch die Straßen und Gassen hallte. Zusammen mit den anderen Schaulustigen verharrten wir an Ort und Stelle und beobachteten das Geschehen. Eiskalte Wellen überliefen meinen Körper. Zwei Männer der Obrigkeit eilten an der Frau vorbei in die Bäckerei. Der Schneider der Stadt kümmerte sich um die Bäckerin, die zunehmend hysterischer wurde.
„Mein armer Sohn! Bestialisch ermordet“, schrie sie.
Cecilia atmete flach und schnell.
Ich legte einen Arm um ihre schmalen Schultern. Wieder einmal fiel mir auf, dass sie in letzter Zeit dünner geworden war. Unter der weißen Haube lugten ein paar ihrer zerzausten roten Locken hervor, als wollten sie sich davonschleichen.
„Der Wind, er ist so kalt. Der Mörder … er ist noch da. Ich kann ihn sehen“, stammelte sie.
„Was erzählt sie da für einen Unsinn?“, wollte der strohblonde Paul, unser anderer Bruder, wissen und ging vor ihr in die Hocke.
„Ihr Sohn, er atmet nicht mehr“, flüsterte Cecilia mit einem Zittern in der Stimme. Ich konnte spüren, wie es sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete.
„Du kannst ihn sehen?“, fragte ich.
Cecilia nickte wieder. „Inmitten meiner Dunkelheit. Er steht da und grinst. Aber er ist nicht allein. Da ist noch jemand. Neben ihm. In irgendeiner düsteren Gasse.“
„Cecilia fantasiert mal wieder. Erzähl ihr nicht immer Spukgeschichten“, warf Adam ein und strafte seinen Bruder mit einem verachtenden Blick.
„Hab ich schon lange nicht mehr“, verteidigte sich dieser und knetete sich die Nase mit zwei Fingern. Das tat er immer, wenn er flunkerte.
Cecilia träumte häufig und viel, oft auch tagsüber. Hin und wieder erzählte sie davon. Von Bildern, die sich vor ihrem inneren Auge abspielten. Mutter war überzeugt, dass sie eine besondere Gabe zum Erzählen von Geschichten hatte. Vater wollte davon nichts wissen, denn was brachte das schon. Außerdem hielt er seinen jüngsten Sprössling für ein wenig verrückt.
Meine kleine Schwester besaß feine Sinne und war liebenswert, ein Lichtstrahl in meinem Leben, was sie für mich zu etwas ganz Besonderem machte. Doch an jenem Tag flößte sie mir Angst ein.
„Vater hat recht. Du spinnst ein bisschen, Cecilia. Sag das alles nur nicht zu laut, sonst stecken sie dich ins Irrenhaus“, behauptete Adam und schüttelte den Kopf.
„Hör auf damit!“, wies ich ihn schroff zurecht, was er mit einem Schulterzucken abtat. Kurz darauf kamen die Männer wieder aus der Bäckerei geeilt. Sie waren ebenso bleich wie die Bäckersfrau, die nun von einem weiteren Herren weggebracht wurde.
„Er wurde bestialisch ermordet. Wer etwas gesehen hat, der möge sich melden!“, rief einer der beiden.
Die Leute fingen an zu tuscheln.
„Untot“, murmelte Cecilia und rieb sich die Oberarme, als würde sie frieren.
„Wir verschwinden nun besser“, zischte Adam und zog Cecilia hoch.
„Der Mörder, er ist untot. Aber auch seine Begleiterin“, flüsterte sie entschlossen.
„Hör jetzt auf mit dem Quatsch“, ermahnte Adam sie.
Ich nahm Cecilia an der Hand. „Hab keine Angst. Wir sind alle da und beschützen dich“, sagte ich zu ihr, während es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Hastig verließen wir die Stadt. Cecilia zitterte immer stärker.
„Manchmal denke ich, sie will nur mehr Aufmerksamkeit“, hörte ich Adam Paul zuflüstern. Der nickte.
„Es stimmt aber“, protestierte Cecilia.
„Erzähl das nur nicht Mutter und Vater. Die werden dich sonst für noch verrückter halten, als du es ohnehin schon bist, Cecilia, und dir ein paar feste Äste über den nackten Po ziehen. Und denk an das Irrenhaus. Aber eines muss man dir lassen, Kleine. Gute Ohren hast du jedenfalls“, entgegnete Adam.
„Blödmänner“, zischte ich und warf ihnen ein paar Gräser entgegen, die ich auf dem hügeligen Wiesenweg gezupft hatte, über den wir wenig später in Richtung unseres Dorfes gingen. In regelmäßigen Abständen warf ich einen Blick über die Schulter. Glaubte ich etwa wirklich, jemand würde uns folgen oder beobachten? Ich wusste es selbst nicht genau. Doch auch die Schatten der umliegenden Waldstücke kamen mir unheimlich vor. Ich war froh, als wir die Strohdächer unseres kleinen Dorfes sahen und wenig später zu Hause waren. Dort erzählte Adam der Familie alles. Ich und Cecilia hüllten uns in Schweigen, was Cecilias Aussage bezüglich des Täters anging. Das behielten aber auch die Buben für sich.
„Hatte der Dickwanst nicht eine Menge Spielschulden? Ja, so kann es dann enden mit dieser verdammten Kartenspielerei“, sagte meine Mutter mit einem Unterton, der Vater kurz aufblicken ließ. Sie strich sich ein paar Strähnen ihres fuchsroten Haares in den Haarknoten zurück, aus dem sie ausgebüchst waren, und rückte sich ihre weiße Haube zurecht. Vaters graue Augen funkelten. Natürlich wusste er, dass ihre Wortspitzen vor allem gegen ihn gerichtet waren. Eindringlich musterte er sie, woraufhin sie sichtbar der Mut verließ.
„Heißt es nicht, dass der, der böse Gerüchte streut, in die Hölle kommt, Weib? Halte also besser dein Schandmaul“, donnerte er.
Ohne eine Erwiderung ging sie ihrer Arbeit nach und tauschte mit Großmutter Emma ein leises Seufzen.
Vater wechselte das Thema. Es interessierte ihn weitaus mehr, wie viel wir eingenommen hatten. Seine Hände erinnerten mich immer an die Krallen eines Adlers, wenn er die Münzen aus der Mütze meines Bruders herauszog.
„Alles bekommt das gierige Maul nicht. Wir sind schlauer. Und wer weiß, vielleicht können wir irgendwann irgendwo neu anfangen. Ich vergrabe das Geld. Das tue ich alles nur für uns“, knurrte er.
Mutter, Großmutter und auch William sagten kein Wort dazu, aber ihre Blicke sprachen Bände. Einmal in der Woche traf sich Vater heimlich mit ein paar Männern in einem Hinterzimmer eines Wirtshauses der Stadt zum Kartenspielen. Es war offensichtlich, dass er inzwischen süchtig danach war.
„Und was, wenn dich einer dieser Männer verrät?“, hatte Großmutter Emma ihm einmal zu Bedenken gegeben.
„Lass das meine Sorge sein.“
Vielleicht war es für ihn eine Befreiung aus den Zwängen des Alltages. Selten war er jedoch guter Laune zurückgekehrt. Wenn er verlor, war es kaum mit ihm auszuhalten, und wir Kinder mussten so schnell wie möglich wieder losziehen, wenn neben der alltäglichen Arbeit etwas Zeit war.
Besonders an den beliebten Orten, wie in der Nähe der Kirche, wo sich viele Christen aufhielten, hatten wir manches Mal Erfolg. Die wohlhabenden Leute zeigten sich gerne mildtätig den armen Bauern- oder Waisenkindern gegenüber. Es ging der Glaube um, dass man sich mit einer guten Tat einen sicheren Platz im Himmel ergattern konnte.
Vater brummte. „Das ist alles? … Warum seid ihr dann schon hier? Hattet ihr die Hosen voll?“, wollte er wissen und warf uns die Mütze entgegen.
„Es ist doch Abendbrotzeit, Edward“, mischte sich meine Mutter Anna kleinlaut ein. Vater zog sich seinen Strohhut vom Kopf und warf ihn in die Ecke.
Zusammen mit Großmutter stellte Mutter Suppenschalen auf den Holztisch, während William mit einem Holzlöffel in dem Topf mit der heißen Hühnerbrühe rührte, der an einem Balken über der Feuerstelle hing. Zudem hatte Großmutter Brot gebacken, dessen Duft betörend durch das Haus zog. Im Winter blieben wir Kinder gern in der Nähe der auf Ziegelsteinen angelegten Feuerstelle oder im angrenzenden Stall bei den Kühen. Die Hälfte unseres Hauses war Wohnstätte, die andere diente als Stall. Daneben gab es noch eine kleine Scheune, die ebenfalls ein Strohdach besaß, und einen Hühnerstall. Wir setzten uns auf die Schemel, die um den Holztisch standen, den Großvater Aaron kurz vor seinem Tod angefertigt hatte, und warteten mit dem Essen, bis Großmutter das Abendgebet gesprochen hatte. Die zwei Mahlzeiten am Tag wurden stets schweigend eingenommen, doch dieses Mal war es anders. Ich und wohl auch die anderen merkten genau, dass es in Vater brodelte. Er wartete nicht bis nach der Mahlzeit, den Vulkan im Zaum zu halten.
„Ihr werdet morgen früh in die Stadt gehen und euch noch mehr anstrengen. Noch viel mehr. Habt ihr gehört?“, donnerte er.
„Aber da sollen wir doch für den Grundherrn aufs Feld und bei der Maisernte helfen, Vater. Beim ersten Sonnenstrahl bis zum Sonnenuntergang“, warf Adam ein und kratzte sich. Die Kleidung aus Sackleinen reizte die Haut.
Vater hieb seine Fäuste auf den Tisch. Die Wangenmuskeln zuckten, was uns alle mit dem Essen innehalten ließ. Beinahe blieb mir der Bissen Brot im Hals stecken. Tante Abigail stieß ein leises Seufzen aus, warf ihren dunkelbraunen Zopf hinter die Schultern und schüttelte den Kopf.
„Leonard Ruven“, zischte Vater, und seine grauen Augen blitzten auf, während er an seinem beigen weiten Gewand zupfte. Beißender Schweißgeruch stob durch die Stube. Vater schwitzte, dass ihm das Baumwollhemd an der breiten Brust klebte.
„Wir sind ihm nun mal unterstellt und müssen tun, was er verlangt“, erinnerte ihn Großmutter Emma. Auch wenn sie genau wusste, dass keiner von uns das je auch nur eine Minute vergaß. Die Falten, die ihr aschfahles Gesicht durchzogen, wurden noch tiefer. Sie war die Einzige, auf die Vater manchmal hörte, wenn auch immer seltener.
„Der kriegt seinen Kragen genauso wenig voll wie die anderen reichen Pinkel. Jetzt will der feine Herr auch noch Sonderabgaben. Das beste Vieh im Stall. Ich spucke auf ihn.“
„Sag das nicht so laut“, mahnte Großmutter.
„Pah. Das feine Volk tanzt uns unfreien Wichten immer mehr auf der Nase rum. Da soll ich ehrlich zu Ruven sein? Für solche wie den sind wir doch nur reines Nutzvieh.“ Vater bebte regelrecht, und Mutter zog den Kopf ein.
Wieder ließ er seine von der Arbeit mit Schrunden übersäten Fäuste auf die hölzerne Tischplatte herabsausen. Diesmal so heftig, dass etwas Suppe über die Schüsselränder schwappte. Wir Kinder sahen uns mit großen Augen an. Cecilia begann leise zu schluchzen, was Mutter bewog, sie in den Arm zu nehmen. Dankbar für diese Wärme, die uns Mutter aus Zeitmangel nicht oft geben konnte, kuschelte sich die Kleine an sie.
„Und wenn ich sage, die Mädchen sind krank und wir verkleiden sie? Dann können sie in der Stadt betteln, und die Jungen arbeiten solange auf dem Feld“, schlug Vater vor, nachdem er ein paarmal durchgeschnauft hatte.
„Du willst die Mädchen allein betteln schicken? Das ist viel zu gefährlich, Mann“, stieß Mutter empört aus, auch wenn sie wusste, dass Vater sehr laut werden konnte, lauter und stürmischer als ein starkes Sommergewitter. Zudem besaß er einen Sturschädel.
„Herrgott noch mal, wir brauchen das Geld, Anna! Er wird nichts erfahren, wenn ihr alle schweigt und euch nicht dumm anstellt.“
„Du brauchst es hauptsächlich für dein Vergnügen“, flüsterte Mutter, und wir hielten alle den Atem an.
Wieder ließ Vater die Fäuste auf den Tisch niederfahren. „Was?“ Als hätte er nicht genau verstanden …
Mutter hob ihre braune Baumwollschürze an und vergrub das Gesicht darin. Das tat sie manchmal, um sich zu bremsen, bevor sie etwas Böses sagte.
„Wir werden noch alles verlieren wegen dir, Edward“, murmelte Großmutter Emma. Abigail rann eine Träne über die rechte Wange. Vater blickte in die Runde und kämpfte innerlich mit sich.
„Ist ja gut. Meinetwegen. Alle sind morgen auf dem Feld. Lasst uns wieder gehorchen.“ Er zeigte auf uns. „Aber sobald es möglich ist, werdet ihr in die Stadt gehen.“
Wir nickten. Vaters Gewissen, das zum Glück noch existierte, und die Angst vor dem Grundherrn, hatten ihn in die Knie gezwungen. Auch wenn er diese Furcht wohl niemals offen zugeben würde in seinem Stolz. Wir alle konnten ein wenig aufatmen. Aber ich musste Vater recht geben, was die Obrigkeiten betraf. Viele von ihnen waren tatsächlich gnadenlos und beuteten andere aus. Ich teilte seine Träume, aber eben auch die Ängste, die sich zusammen mit der Vernunft die Hand reichten.
„Und jetzt esst“, befahl Vater. Ich brachte nur noch zwei Löffel von der Suppe runter. Den Rest verteilte ich an meine Geschwister, die dankbar zugriffen. Nur Cecilia nicht. Sie aß wieder wie ein Spatz. Ich blieb sitzen, bis alle fertig waren, und verlor mich in Tagträumen. Darin konnte ich fliegen wie die Vögel, frei und ohne Grenzen.
Ich sehnte mich danach, weit weg von hier zu sein, zusammen mit meiner Familie, auf einem eigenen Stück Land, das nur uns gehörte, wo wir uns frei bewegen und wirtschaften konnten, ohne Abgaben und Frondienste leisten zu müssen. Dann, da war ich mir sicher, würde unsere Familie genauso harmonisch sein, wie sie sollte. So aber standen wir alle ständig unter Beobachtung und den Pantoffeln des Grundherrn, was sich nicht selten auf die Gemüter und Nerven niederschlug.
Leonard Ruven wohnte etwa zwei Meilen von unserem kleinen Dorf entfernt, über dessen Bauern und deren Angehörige er Aufsicht, Schutz und Herrschaft pflegte, wie er es gern ausdrückte. Wir waren seine Hörigen. Für die Hörigkeit durften wir den uns zugeteilten Hof nutzen, mussten dafür aber Frondienste leisten. Die Kühe der Bauern, die dem Grundherrn Leonard Ruven angehörten, grasten auf seinem Weideland. Die Bauern und ihre Familien bearbeiteten die Felder und leisteten Wegearbeiten, Hand- und Spanndienste. Wenn alle stets taten, was und wie Leonard Ruven es wollte, konnte er sogar annähernd verträglich sein.
Seit dem Tod seines Vaters Eugene Ruven hatte Leonard Zügel und Peitsche fest in den Händen. Zu mir war er in letzter Zeit zunehmend freundlich, was mich nicht selten in Verlegenheit brachte. Vielleicht bildete ich mir seine wachsende Zuneigung aber auch nur ein. Ich hoffte es, nicht nur weil er verheiratet war. Ich mochte Eve Ruven, seine Frau. Sie war eine sehr hübsche und sanftmütige Dame, ebenso zierlich wie meine Tante und Mutter. Außerdem liebte sie Kinder und Tiere. Allein das war ein Zeichen für mich, dass sie ein großes Herz besaß. Schier schleierhaft für mich, wie sie sich in einen Mann wie Leonard Ruven verlieben konnte. „Der Auralose“, so nannte Tante Abigail ihn gern. Aber wie hieß es da in einem Sprichwort? Die Liebe findet einen immer, egal, wie gut man sich versteckt. Und schließlich, oder in einigen Fällen wohl auch leider, konnte man sich nicht aussuchen, bei wem das eigene Herz hängen blieb.
Nach dem Essen erledigte ich ein paar Näharbeiten. Unter anderem musste ein Kittel für Vater, den Mutter und Abigail aus dunkler Schafwolle gefertigt hatten, mit Flicken ausgebessert werden. Cecilia leistete mir Gesellschaft. Vorsichtig betastete sie die Nadelspitzen. Dabei wirkte sie in Gedanken versunken.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich deshalb und überlegte, ob ich sie noch einmal nach den Untoten fragen sollte, beschloss dann aber, es nicht zu tun. Vielleicht hätte es sie zu sehr aufgeregt, was am Ende ihren Husten heraufbeschworen hätte. Nicht einmal dieser grässliche Lungenwurztrunk von Großmutter half. Ruven hatte den Medicus zu ihr geschickt, wofür ich ihm dankbar war, auch wenn ich wusste, dass es aus reinem Eigennutz geschah. Er schätzte Cecilias flinke, kleine Arbeitshände, mit denen sie auch in Nischen putzen konnte, wo sonst niemand so leicht hinkam. Allerdings hatte der Medicus ihr nur Wickel verordnet, ansonsten aber wenig für sie tun können.
„Auch so ein Quacksalber, dieser Medicus. Viel frische Luft hilft am besten“, lautete die Diagnose meines Vaters.
Es war ein Wunder, dass der Husten nach jenem Erlebnis nicht wiedergekommen war. Mutter und Großmutter hatten William einmal gebeten, stets in unserer Nähe zu bleiben, was Vater sofort zurückgewiesen hatte. William schien mehr als froh darüber zu sein und wir ehrlich gesagt auch. Im Grunde konnte ihn keiner von uns Kindern sonderlich gut leiden. Denn offensichtlich mochte er uns nicht. Wieso sonst sollte er uns wegen jedem kleinen Fehltritt bei Großmutter und meinen Eltern anschwärzen? Sogar dem Grundherrn Leonard Ruven hatte er einmal gesteckt, dass wir bei der Obsternte mehrere Äpfel verschlungen hätten und uns „Aasgeier“ genannt. Was folgte, waren ein paar Hiebe mit dem Stock auf den Allerwertesten, wobei er bei mir am heftigsten zuschlug. Ein paar Tage konnte ich nicht mehr sitzen. William hatte sich nie dafür entschuldigt und Vater uns allen eine gesalzene Predigt gehalten. Auch William, dem er offenbar nicht glaubte, es ihm aber nicht beweisen konnte. Mutter hatte über die Sache nur geweint, und meine Tante und Großmutter hatten uns mit ihrer Güte Milderung und Trost geschenkt.
Während Cecilia und ich im Haus am Tisch saßen und unseren Gedanken nachhingen, waren alle anderen draußen mit den anfallenden Arbeiten beschäftigt.
„Rose?“, flüsterte Cecilia. Ich blickte auf.
Sie tastete mit den Fingern nach mir und rutschte auf ihrem Schemel ein Stück näher an mich heran.
„Ja?“
Cecilia schluckte schwer und biss sich kurz auf die Unterlippe, dann sagte sie: „Es roch wie damals, genauso.“
„Wie damals? Was meinst du?“
„Ich bin nicht verrückt. Ich bin mir sicher, dass da einer war. Ein Untoter. Damals, als wir zwei zusammen Beeren gerissen haben, im Wald, da war jemand, der mir einen Ast absichtlich ins Gesicht hat schnellen lassen. Die Wucht war so enorm gewesen, dass ich rücklings auf den Waldboden gefallen bin. Wumm. Was für ein Schock. Das musst du doch noch wissen.“
Ich sah in ihre milchigen Augen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie mich doch sehen konnte. Im Grunde tat sie das auch, in ihrer Vorstellung.
„Ja, ich erinnere mich. Das war letztes Jahr im Spätsommer gewesen. Aber glaubst du wirklich, dass da jemand war?“, fragte ich.
Sie legte ihre Lippen an mein rechtes Ohr. „Da war einer. Im Wald. Und er oder sie besaß den gleichen Geruch, den ich heute in der Stadt gerochen hab, als die Bäckersfrau auf die Straße gelaufen kam.“
Ich schluckte trocken. „Nach Blut, meinst du?“
Sie nickte. „Geronnenes Blut in den Adern eines Wesens. Geronnen, weil es tot ist, schon lange tot. Es hat den Sohn auf dem Gewissen. Ich weiß es einfach. Und es war nicht allein da in der Stadt.“
Ich schob das Nähzeug weg und legte einen Arm um Cecilias Schultern, die ihren Kopf an meinen lehnte. Tränen schimmerten in ihren Augen.
„Die Gedanken und Bilder kamen einfach, Rose. Ich weiß nicht, was sie bedeuten, aber sie waren so klar und deutlich. Glaubst du … glaubst du, ich bin verrückt?“
Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Nein, Cecilia. Ich glaub dir. Aber du weißt …“
„Ja, ich weiß. Ich erzähle es auch nur dir.“ Sie zitterte am ganzen Körper. „Der Mörder, er war noch da, Rose“, flüsterte sie dann.
„Und du sagtest, er atmete nicht?“, fragte ich.
„Ja, er atmete nicht. Geronnenes Blut in den Adern. Ich sah sein Gesicht direkt vor mir. Es blitzte nur ein paar Sekunden auf. Dunkle, große Augen wie Höhlen, in die kein Lichtstrahl dringt. Er trug einen weinroten Rock, braune Hosen und seine Haut war ganz hell.“
Mein Herz schlug schneller, als sie noch hinzufügte: „Er war nicht allein. Eine feine Dame war bei ihm. Etwas in mir sagt mir, dass er den Bäckerssohn umgebracht hat. Dass er und diese Frau Untote sind.“
Mir wurde kurz übel. „Was?“ Schweißperlen liefen mir über den Rücken.
„Ich weiß nicht genau, was sie sind. Es … es liegt mir wie ein fauler Apfel auf der Zunge, Rose. Mehr weiß ich nicht.“ Cecilia verzog das Gesicht, als hätte sie Schmerzen. Für ihr Alter drückte sie sich schon viel reifer aus, als es eigentlich möglich war. Doch was sie sagte, klang wirklich verrückt.
Mir fiel die Dame in dem blumenbestickten Kleid und ihren Begleiter mit den spitzen elfenbeinfarbenen Zähnen wieder ein.
„Hallo, Vater“, sagte Cecilia plötzlich und setzte ein gezwungenes Lächeln auf.
Ich fuhr herum. Er war wirklich da, betrat den Raum und legte frisches Holz vor die Feuerstelle. Die Ohren meiner kleinen Schwester waren deutlich besser als meine. So schnell hätte ich ihn nicht bemerkt.
„Ihr sollt nicht flüstern. Ich mag das nicht, das wisst ihr genau. In dieser Familie gibt es keine Heimlichkeiten.“
Das sagt der Richtige, dachte ich. Mir lagen die Worte auf der Zunge, aber ich schluckte sie wie so oft hinunter.
Als er wieder weg war, unterhielten Cecilia und ich uns weiter im Flüsterton. Ich beschrieb ihr das Paar, das ich in der Stadt gesehen hatte.
„Das waren sie“, platzte Cecilia aufgeregt heraus.
Ich stockte, verstand das alles nicht. Cecilia hatte sie gesehen, obwohl das unmöglich war.
„Wer waren sie? Kannst du es jetzt benennen?“, fragte ich meine Schwester, die nach neuen Nadeln tastete.
„Ich sagte doch, ich weiß es nicht, Rose. Es sind nur Gedanken. Gedanken und Bilderfetzen, die mir sagen und zeigen, dass er bereits tot war, ebenso wie sie. Und doch auch nicht. Wie Schauergestalten, die in ihnen drin leben“, erklärte Cecilia, und ich merkte ihr an, dass sie mit sich kämpfte, die richtigen Worte zu finden. Ich runzelte die Stirn und dachte fieberhaft nach, bis ein Gedanke in meinen Kopf schoss, der so abwegig war, dass ich beinahe lachen musste.
„Du glaubst doch nicht etwa, er war ein Vampir oder ähnliches, Ceci? Hat Paul dir von Vampiren erzählt? Die gibt es nicht, Schatz.“
Cecilia hob den Kopf. Mit einem Mal verdrehten sich ihre Augen, sodass ich nur noch das Weiße in ihnen sehen konnte. Sie atmete wie in der Stadt flach und schnell. Sofort legte ich ihren Kopf in meinen Schoß und strich ihr beruhigend über das Haar. Ihre Lider begannen zu flattern. Tränen rannen ihr über die Wangen. Der Husten kehrte zurück.
„Meine Gedanken sind schlecht, Rose. Ich werde doch verrückt.“ Sie schluchzte.
„Nein, nein. So meinte ich das nicht. Einatmen, ausatmen. Konzentrier dich“, versuchte ich sie und mich gleichermaßen zu beruhigen. Sie gab sich Mühe und wurde tatsächlich allmählich ruhiger. Dann sagte sie ein wenig atemlos: „Ja, Vampire. Das lag mir auf der Zunge. Paul hat mir vor langer Zeit einmal von Vampiren erzählt. Aber das … das in der Stadt und im Wald war so wirklich und hatte nichts mit seiner Geschichte von damals zu tun. Du sagtest doch selbst, liebes Schwesterlein, dass die aus der Stadt genauso aussahen, wie ich sie dir beschrieben hab.“
„Ja, haben sie. Ich glaube dir auch, Ceci. Das Ganze macht mir nur selbst Angst“, musste ich zugeben. Cecilia schmiegte sich enger an mich. „Rose?“
Ich wiegte sie in meinen Armen. „Ja, Ceci?“
„Eben hab ich sie noch einmal gesehen. Du weißt schon …“
„Vor deinem inneren Auge?“
„Ja. Und der Geruch, er veränderte sich. Es roch nach … Blumen. Rosen, es waren Rosen. Hinter den beiden stand noch jemand. Er gehörte zu ihnen und auch nicht. Sein Gesicht war wunderschön. Es war seltsam. Denn auch er war tot, aber sein Herz …“ Sie machte eine Pause.
„Was war damit?“, fragte ich verwirrt, während mir meines gegen die Rippen hämmerte.
„Nun, es war anders. Es strahlte Wärme aus, als wäre es noch lebendig.“
Die ganze Nacht hatte ich mich hin und her gewälzt. Sobald ich die Augen geschlossen hatte, tauchte das Paar aus der Stadt in meinen Gedanken auf. In Woodshire hatte ich keine dritte Person in seiner unmittelbaren Nähe gesehen. In meiner Vorstellung verzogen sich ihre Gesichter zu Fratzen, ich glaubte gar, die Schreie der Bäckersfrau zu hören. Ein eisiger Schimmer kroch über meine Haut. Meine Geschwister und ich schliefen auf dem Dachboden, wo auch Getreide und Heu lagerten und den man durch eine Sprossenleiter erreichen konnte. Cecilia hatte sich auf meinen Schlafplatz verzogen, der, wie alle Schlafplätze im Haus, aus einem Fell und Stroh bestand. Mutter und Vater sahen es nicht gern, wenn Cecilia bei mir schlief.
„Alleine hat sie mehr Ruhe“, sagten sie. Doch sie atmete gleichmäßiger, wenn sie in meiner Nähe war. Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass sie sich sicher bei mir fühlte. Ich hauchte ihr an diesem Morgen einen Kuss auf das Haar, und obwohl ich müde war, war ich noch nie so glücklich gewesen, die ersten Sonnenstrahlen zu sehen.
Nach dem Frühstück und einer Unterrichtsstunde, die Abigail dieses Mal allein übernahm, brachen die Kinder zur Feldarbeit auf. Meine Pflichten sahen anders aus. Der Grundherr verlangte nach mir.
„Besser gesagt, seine Frau Eve will dich sehen. Du sollst das Silberbesteck putzen. Sie erwarten am Wochenende Gäste. Mach uns keine Schande, sei fleißig!“, befahl Vater, der im Hof mit Mutter Holz schichtete.
„Natürlich, Vater. Die Herrschaften können sich auf mich verlassen.“ Wie konnte er nur Anderes annehmen? Sein Misstrauen kränkte mich, aber ich ließ es mir nicht anmerken.
Großmutter war mit dem Einsammeln von Eiern beschäftigt und winkte mir zum Abschied. Ich trug mein weit geschnittenes Tageskleid, dazu Lederschuhe mit Absatz, die mir Eve Ruven geschenkt hatte und in die ich eigentlich sonst nur für den Gottesdienst schlüpfte. Aber heute erschien es mir richtig. Dass die Grundherrin mich sehen wollte, änderte meine Gemütsverfassung, denn auf sie freute ich mich. Ich hoffte, dass Ruven nicht da sein würde, was ich kaum glaubte. Die Hälfte des Weges zu seinem Anwesen führte durch ein Waldstück. Die Kronen der Laubbäume bildeten ein schützendes Dach, durch das Sonnenstrahlen drangen. Vögel zwitscherten auf den Ästen. Ich atmete die würzige Luft in meine Lunge und versuchte, die Gedanken über das, was Cecilia mir erzählt hatte, weit von mir zu schieben. Das knöchellange Kleid warf Falten um meine Beine. Trotz der Wärme, die in den Tag strahlte, hatte ich mir Strümpfe angezogen. Am liebsten hätte ich auch mein Gesicht vor Leonard Ruven verschleiert. Das lange rötliche Haar hatte ich zu einem strengen Knoten zusammengebunden und unter einer Haube verborgen, so wie Mutter es tagsüber fast immer trug. Vielleicht war es ganz gut, durchfuhr es mich, dass ich letzte Nacht so wenig Schlaf gefunden hatte. So sah ich sicher zerknittert aus und Ruven würde seine Annäherungen dieses Mal unterlassen, sobald Misses Eve ihm den Rücken kehrte. Er fand immer einen Weg, dass sie dies tat. Dass es Absicht war, konnte er dabei geschickt vor ihr verbergen. Es war mir mehr als unangenehm und tat mir unendlich leid für sie. Einmal war ich kurz davor gewesen, ihr davon zu berichten. Doch ich wusste, ihr Gatte hätte sich herausgeredet, das konnte er sehr gut – reden und überzeugen.
Das große weiße Haus der Ruvens stand auf einer kleinen Anhöhe, umgeben von kräftig gewachsenen Platanen und sattem Grünland. Eine Veranda zierte die Südseite. Zwei große Scheunen dienten als Lagerraum für wertvolle Güter wie Getreide und Gerätschaften. Hinter dem Herrenhaus befand sich ein kleines Nebenhaus, in dessen Fassade unzählige Holzwürmer wohnten. Dort nächtigten die Angestellten auf Matratzen aus Stroh. Sie hatten mit dem Nötigsten auszukommen, teilten sich eine Waschschüssel, das Essen und eine Feuerstelle. Es gab Tage, an denen Ruven sogar das störte. Dann verbot er ihnen, Feuer zu machen und brüllte herum, dass sie nur unnötig Holz verbrauchten. Es würde mich nicht wundern, wenn einer seiner Bediensteten eines Tages durchdrehen würde und das Herrenhaus in Flammen aufgehen ließe.
Plötzlich hörte ich ein Knacken in unmittelbarer Nähe. Ein gebrochener Ast, durchfuhr es mich. Oder ein Reh, Fuchs oder Hase. Dennoch schlug mein Herz wie wild, und die dunklen Gedanken, die sich augenblicklich in den Vordergrund drängten, taten ihr Übriges. Ich stoppte unwillkürlich, ein Zittern durchwanderte mich von den Zehen bis zu den Haarspitzen. Erst da bemerkte ich, dass ich stehen geblieben war. Das Geräusch war von rechts aus dem Wald gekommen. Ich wollte gerade die Beine in die Hand nehmen, da waberte ein weiteres Geräusch zu mir, dieses Mal von der anderen Seite. Ich schluckte schwer, konnte mich aber nicht mehr bewegen. Als ich meinen Blick linker Seite in den Wald tauchen ließ, glotzte mir von dort aus ein Augenpaar entgegen. Die Augen waren hellblau und leuchteten so klar wie Sternenlicht. Sie faszinierten mich. Der junge Mann, dem sie gehörten, besaß eine perlengleiche, schimmernde Haut. Er war in dunkle Kleidung gehüllt. Sie ähnelte der, die feine Herren trugen. Sein schwarzes Haar trug er wie der Mann, den ich in der Stadt gesehen hatte. Ich schätzte, dass den Fremden und mich höchstens 20 Schritte trennten ‒ und noch weitaus mehr, ein Geheimnis. Wir wagten, in die Augen des anderen zu tauchen, wobei mir auffiel, dass mein Gegenüber kein einziges Mal blinzelte. Beinahe hätte ich das neue Geräusch, das aus einer unbestimmten Richtung aus dem Wald drang, ignoriert, so gefangen war ich von seinem Anblick. Wer war er? Am liebsten hätte ich ihn gefragt, aber meine Stimme schien wie eingefroren. Das Geräusch ertönte erneut. Dieses Mal lauter, anders. Es glich einem Knurren. Ich zuckte zusammen. Ehe ich mich‘s versah, stob der junge Mann in Lichtgeschwindigkeit dicht an mir vorbei und tauchte in die andere Seite des Waldes ein. Das Knurren wurde lauter. Erneut knackten Äste.
Mein Instinkt versetzte mir einen inneren Hieb. Meine Blicke schärften sich. Ich machte drei Silhouetten in unmittelbarer Nähe aus, die miteinander kämpften. Geschickt jonglierten sie sich um die Stämme der Bäume herum, flogen nahezu durch den Wald. Halleluja, das sind keine Menschen, durchfuhr es mich. Die Angst und Faszination, die mich bis dahin gleichermaßen gelähmt hatten, ließen von mir ab und gaben nur noch meinem Überlebensdrang Raum. Das Adrenalin war mein Antrieb. Ich rannte, ohne mich noch einmal umzudrehen, bis ich keuchend das Anwesen der Ruvens erreichte. Schweiß rann mir über die Stirn und den Rücken, meine Füße brannten, mein Brustkorb hob und senkte sich heftig. Ich schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende. Dann sah ich Leonard Ruven, der ruhig auf der Veranda verweilte. Wartete er dort etwa auf mich? Er zwirbelte an seinem Ziegenbart und kniff die kleinen Augen zusammen. Herablassend starrte er mich an. Er trug eine gelbbraune Weste zu seinen ledernen Kniehosen.
„So außer Atem, Rose Walsh?“, fragte er und ließ die Zungenspitze langsam über seine Lippen gleiten. In seinen Augen tauchten Blitze auf, die mir entgegenschleuderten.
„Ja, ich … ich dachte, ich komme zu spät, Sir“, gebrauchte ich eine Notlüge und warf einen Blick über die Schulter.
Wie es aussah, war mir niemand gefolgt, was mich aufatmen ließ. Sollte ich Ruven von meiner Beobachtung erzählen? Nein, lieber nicht. Am Ende würde er darauf bestehen, mit mir in den Wald zu gehen und nachzusehen, mich vielleicht, sollte er dort nichts von dem, was ich erzählte, antreffen, in ein Irrenhaus stecken lassen. Außerdem wollte ich nicht zurück und schon gar nicht mit ihm. Ich bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper bei der Vorstellung, welche Fantasien ihm bei meinem Anblick durch den Kopf geisterten. Zudem waren da auch noch die Gedanken an den seltsamen Kampf. Zu gern hätte ich gewusst, wer der junge Mann war, der mich auf seltsame Weise bezauberte. Ich kam zu dem Schluss, dass er ein Adliger sein musste. Er war anmutig, etwa so groß wie Leonard Ruven und damit gut zwei Köpfe größer als ich. Was wollten die Angreifer von ihm? Noch nie hatte ich einen Mann dermaßen anziehend gefunden, dass ich mir wünschte, er hätte mich sofort berührt und geküsst. Scham stieg in mir auf. Ich betete, er möge seinen Angreifern entkommen sein. Vielleicht war aber er der Böse? Nein! Das konnte nicht sein. Das war doch alles zu verrückt.
„Was ist denn, Rose?“ Mit strengem Blick schritt Leonard Ruven auf mich zu.
„Eure Frau …“, setzte ich an.
„Sie hat sich noch einmal hingelegt. Es ist alles ein wenig viel für sie. Ist die Aufregung und Vorfreude bezüglich der baldigen Feier. Aber sie hat das Besteck schon hergerichtet, damit du es polieren kannst. Ich zeige dir, wo es ist.“ Sein rechter Mundwinkel zuckte, und die grauen Augen schärften sich. „So zugeknöpft. Ist dir nicht warm, Rose?“, wollte er wissen.
Bei der Frage beschleunigte sich mein Herzschlag.
Ich räusperte mich. „Nein, im Gegenteil, Sir. Ich friere.“
Er streckte eine Hand aus und fuhr mit der Innenseite des Daumens über meine Stirn. „Du schwitzt eher, kleine Rose.“
Ich war nicht klein. Nett und freundlich bleiben, Rose, sagte ich mir. Doch das kostete viel Kraft. Noch einmal leckte er sich über die Lippen, packte mich an einem Arm und zog mich näher an sich. Ich konnte den herben Duft seines Parfüms riechen, das sich mit dem von Schweiß vermischte. Eine Mischung, die mir übel aufstieß.
In dem Zusammenhang fiel mir wieder ein, dass ich vorhin im Wald auch etwas gerochen hatte. In der Sekunde, als der junge Mann mich passierte. Rosen, ja, er hatte nach Rosen gerochen, die ich aus Misses Eves Garten kannte. In Gedanken kompensierte ich diesen Duft und lächelte.
Der Grundherr holte mich sofort in die Wirklichkeit zurück. „Es wird Zeit“, zischte er mir ins Ohr.
„Für was, Sir?“, fragte ich verdutzt und versuchte, den anschwellenden Kloß in der Kehle hinunterzuschlucken.
Er kam so nahe, dass meine Brüste seinen Oberkörper berührten und ich etwas Hartes durch den Stoff des Kleides an den Beinen spürte. Es musste das sein, wovon sich die Dirnen so gern erzählten. Ich hatte schon einiges davon aufgeschnappt, wenn ich in der Stadt unterwegs gewesen war. Manche von ihnen nannten es die „männliche Schlange“ und „harte Rute“. Hitzewellen von unangenehmer Intensität überkamen mich. Großer Gott, bitte lass es das doch nicht sein und verzeih mir meine Gedanken und die Neugierde, die sich wegen der Berührungen zwischen Mann und Frau in mir regte, als ich den jungen Mann sah. Doch vor allem interessierte mich seit der Begegnung mit dem Fremden im Wald mehr denn je, wie sich der Kuss zwischen Liebenden anfühlte oder die Liebe überhaupt.
„Spürst du das?“, fragte Ruven und keuchte leise.
Meine Befürchtung bewahrheitete sich. Aber der liebe Gott erhörte mich. Ich stammelte ein Danke, als ich Eve Ruvens Stimme von der Veranda aus hörte.
„Rose! Wie schön, dass du schon da bist.“
Sofort ließ mich der Grundherr los und biss sich auf die Unterlippe. Er drehte sich nicht nach seiner Frau um.
„Rose wäre fast gestürzt, Liebes. Schön, dass du schon wieder da bist!“, rief er und lächelte unecht.
Misses Eve war eine gutmütige, ruhige Seele, die ihm alles zu glauben schien. „Oh, es geht dir doch gut, Rose?“, wollte sie sofort wissen, und eine gewisse Unruhe schlich sich in ihr Gesicht.
Ich sah an ihrem Mann vorbei und nickte. „Danke, ja.“
Schon winkte sie mich zu sich. „Ich war so müde vorhin nach dem Frühstück. Ich musste mich ein wenig hinlegen. Aber nun geht es wieder. Komm mit mir, Rose.“
Ich sah flüchtig zu Ruven auf.
Er zog eine seiner buschigen Brauen nach oben und nickte. „Ja, geh. Bis später“, sagte er mit einer seltsamen Betonung, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Schnell eilte ich zu Misses Eve, die mich mit einer Umarmung empfing. Unterdessen marschierte der Grundherr in Richtung des Waldes. Mein Wunsch, er möge nie wieder daraus zurückkehren, erschreckte mich. Für mich wäre Eve Ruven die bessere Grundherrin gewesen. Sie hatte geschäftliches Geschick und das Herz am rechten Fleck. Ihre Eltern waren angesehene Geschäftsleute. Vor allem deshalb hatte Ruven sie wohl geheiratet. Ihre Angestellten behandelte sie stets gerecht. Ihr Mann hingegen zückte ihnen gegenüber gern mal die Peitsche zur Züchtigung, vornehmlich, wenn seine Gattin nichts davon mitbekam. Das hatte ich schon mehrfach durch Zufall beobachtet, und es zerriss mir jedes Mal das Herz im Leib.
Misses Eve sah hinreißend aus in ihrem fliederfarbenen, eng geschnürten Kleid mit Spitzenbesatz an den Ärmeln, was mich an das ebenfalls mit Spitze besetzte Dekolleté der Städterin erinnerte. Sie lächelte, was den kleinen Leberfleck, den sie rechtsseitig über der Lippe hatte, ein wenig verzog, sodass er einem Herzen glich. Sie stellte sich hinter mich und ließ eine Bürste durch mein Haar gleiten. Dazu summte sie eine Melodie vor sich hin. Ich polierte das Besteck, das auf dem großen ovalen Esstisch auf einem weißen Tuch platziert lag. Das Haus mit den vielen großen Räumen wurde, dank der großen Fenster, von Licht durchflutet. Misses Eve hatte stets frische Blumen auf den Tischen oder manchen Fensterbänken stehen, vornehmlich Rosen aus dem Garten. Manchmal holte sie Abigail zu sich, um die Beete zu säubern und alte Blütenköpfe zu entsorgen. Ich staunte jedes Mal aufs Neue, wenn ich hier ins Haus trat, denn alles war blitzblank.
An den Wänden hingen Gemälde, die von Eve Ruven selbst stammten. Sie mochte es, mit Öl zu malen, am liebsten Landschaftsbilder. Ihre größte Leidenschaft aber galt der Musik. In einer Ecke des Wohnzimmers stand ein pechschwarzer Flügel. Es war ein Wunder, dass der Gutsherr es duldete, dass sie mir das Spielen beibrachte, ohne etwas dafür zu verlangen, zum Beispiel weitere Abgaben von meiner Familie. Es war ein pures Vergnügen, die Tasten zum Klingen zu bringen, und nicht nur das, sondern ihnen in der richtigen Abfolge eine Melodie zu entlocken. Misses Eve zeigte mir jedes Mal ein neues Lied aus ihrem Schatzkästchen. Ich nannte die Musik Zauberei, denn nichts anderes war sie für mich. Meine Seele liebte sie.
Vater und Mutter konnten leider mit Musik nichts anfangen. Vater hatte sogar geschimpft, als er von dem gelegentlichen Spiel auf dem Flügel gehört hatte. Auch Leonard Ruven war kein Mensch, der Musik viel abgewinnen konnte. Immer hatte ich die Worte Vaters im Hinterkopf, wenn ich mich wieder an den Flügel setzte. Doch sobald die Melodie erklang, verschwanden sie. „Eines Tages wirst du dafür bezahlen müssen. Ich hab es im Gespür. Hör auf damit, sag ich dir“, ermahnte er mich. Doch das konnte ich nicht. Misses Eve bemerkte meinen teils nachdenklichen, teils sehnsüchtigen Blick und setzte sich zu mir. Sie legte selbst Hand an das Besteck, das sie, wie sie sagte, von ihrer Großmutter mütterlicherseits geerbt hatte.
„Nicht doch. Ich mache schon schneller, Misses Eve.“
Sie wollte, dass ich sie beim Vornamen nannte. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie wohl auch das Misses weggelassen. Sie sah in mir eine Art Tochter, weil sie selbst keine Kinder bekommen konnte. Das hatte sie mir einmal anvertraut. Das rührte mich, machte mich aber auch traurig. Sie hatte mir gesagt, dass ihr Gatte ihr die Schuld für die Unfruchtbarkeit zuschob. An ihm konnte es seiner Meinung nach nicht liegen, denn er war ein Mann ohne Makel.
„Zusammen geht es schneller, Kind. Dann haben wir noch Zeit für das Spiel auf dem Flügel. Mein Mann möchte, dass du später noch auf einem der Felder mithilfst. Ich konnte ihn leider nicht davon abbringen“, räumte sie ein. Sie legte das Besteck zur Seite und betrachtete meine Finger. „So zart. Sie sind viel zu schade für harte Arbeit.“