Der Klang des Irrglöckleins - Nadine Stenglein - E-Book

Der Klang des Irrglöckleins E-Book

Stenglein Nadine

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  • Herausgeber: XOXO-Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Hollfeld, eine Kleinstadt bei Bayreuth Die 17-jährige Marie verschwindet morgens nach einen verbotenen Date mit ihrem Lehrer Tom. Ihre beste Freundin Geena ahnt, dass Marie etwas zugestoßen sein muss und beginnt eigene Nachforschungen anzustellen. Verdächtige gibt es in dem kleinen Ort genug. Privatermittlerin Sarah Pillar übernimmt den Fall, doch die Zeit drängt. Ist Marie noch zu retten oder kommt jede Hilfe zu spät? Nadine Stenglein schreibt auch als Lilian Dean und Cecilia Lilienthal

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Seitenzahl: 227

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Der Klang des Irrglöckleins
Über die Autorin
Impressum
Pseudonym
Keine neuen Nachrichten
Verschwunden
Spurensuche
Indizien
Treffen
Recherche
Heimlichkeiten
Erinnerungen
Über die Grenzen
Eine Stadt steht Kopf
Spürnase
Entlarvt
Sturmböen
Moonlight-Festival
Ein neuer Fall
Gefangen
Verfolgt
Rettungsanker
Ein Licht in der Nacht
Albtraum
Maskerade
Augenblicke
Nach dem Sturm
Das Irrglöcklein

Nadine Stenglein

Der Klang des Irrglöckleins

Kriminalroman

XOXO Verlag

Über die Autorin

Schon als Kind liebte es Nadine Stenglein sich Geschichten auszudenken und diese niederzuschreiben. Unter ihrem Klarnamen und mit dem Pseudonym Lilian Dean hat sie bereits zahlreiche Bücher in den Genres Liebesromane, Fantasy und Krimi veröffentlicht und konnte sich so ihren Traum, Autorin zu werden, erfüllen. »Zur Schokoladen-Symphonie« ist ihr erster Roman unter dem neuen Pseudonym Cecilia Lilienthal. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Bayern.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-206-8

E-Book-ISBN: 978-3-96752-704-9

Copyright (2022) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 2125445897 von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149, 28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Pseudonym

Marie‘s View

Tom Getzler und seine Schülerin Marie Wagner hielten auf dem romantischen schmalen Pfad inne, der unmittelbar an der östlichen Hollfelder Stadtmauer entlangführte. Von wilden Sträuchern, Kirschbäumen, Hecken und Blumen, die den Kussweg säumten, umgeben, fühlten sich der Lehrer und seine Schülerin geschützt vor fremden Blicken. Marie streckte eine Hand nach einer der kleinen Schiefertafeln aus, die an dem eisernen Pavillon hingen, unter dem sie und Tom verweilten. Leise las sie vor, was auf einer der Tafeln stand. »Ich möchte bei dir sein, wenn der Wind weht und deine Arme der Hafen sind für die Segel der Sehnsucht. Wunderschön, oder?« Ein Lächeln überzog ihr zierliches Gesicht mit den großen grünblauen Augen, das von ihrem langen haselnussbraunen Haar umrahmt wurde. Sanft strich ihr Lehrer eine Haarsträhne, die sich in ihr Gesicht verirrt hatte, nach hinten und nickte.

»Wunderschön, ja«, flüsterte er. Marie schmiegte sich an den Mann, der ihr alles bedeutete, und genoss jede verbotene Sekunde, die sie beide teilen durften. Sie sehnte den Tag herbei, an dem sie beide offen zueinanderstehen konnten. Doch der lag noch in unendlich weiter Ferne. Langsam lösten sie sich voneinander und gingen weiter, vorbei an dem kleinen roten Briefkasten für Verliebte, der unter einem Baum angebracht war und in den Liebespaare Gedichte geworfen hatten. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages fielen auf den mit Rindenmulch bestreuten Weg. Verschiedene süßliche Düfte von Blumen umtanzten das Paar. Am Morgensonnenplätzchen, dem Ort, den das Sonnenlicht des Tages zuerst erreichte, hielten sie inne und lauschten. In der Nähe knackte Geäst. Gänsehaut überlief Maries Körper. Tom legte einen Finger auf ihre Lippen und sah sich um. Doch niemand war zu entdecken.

Nach einer halben Minute verebbte das Geräusch wieder. Kurz darauf kam eine weiße Katze mit schwarzem, buschigem Schwanz aus einem jungen Rosenbusch, starrte das Paar genauso erschrocken an wie dieses sie und eilte dann weiter. Marie und ihr Lehrer atmeten auf. Langsam gingen sie den Kussweg weiter, dessen Ursprünge weit zurückreichten. Hollfelder Bürger und Unternehmen hatten ihn 2015 zu neuem Leben erweckt. Zu den Unterstützern zählte die Gesamtschule der Stadt, an der Tom unterrichtete. Marie wollte dort ihr Abitur machen. Hollfeld lag im Herzen der fränkischen Schweiz, ein Ort für Romantiker, wie auch Getzler einer war. Seine und Maries Hände berührten sich. »Wollen wir nächste Woche an einem Tag Schule schwänzen?«, fragte Tom sie. Marie senkte kurz den Blick. Einerseits gefiel ihr der Gedanke, andererseits plagte sie ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Eltern, die in der Stadt eine Bäckerei betrieben. Was die Erziehung ihrer Tochter anbelangte, waren sie zwar oft streng, aber dennoch liebevoll. Tom war Maries Französischlehrer an der Gesamtschule. Dort besuchte sie die zehnte Klasse. Tom hatte ihr von der ersten Minute an gefallen. Marie hatte sich unsterblich in den neun Jahre älteren Mann verliebt. Niemand wusste von dieser verbotenen Liebe, nicht einmal Geena, ihre beste Freundin. Seit ungefähr einem halben Jahr war Tom als Referendarlehrer in Hollfeld, unterrichtete neben »Franz«, wie sie und die meisten ihrer Mitschüler das Fach Französisch nannten, noch Kunst und Sport. Seine türkisblauen Augen fixierten sie, ein Schmunzeln lag auf seinen vollen Lippen. »Ein kleines Abenteuer, von dem nur wir wissen. Das nächste Mal gehen wir den Kussweg entlang. Dorthin wollte ich dich schon so lange verführen«, flüsterte er ihr dann ins Ohr. Sie biss sich auf die Unterlippe, strich sich das glatte, braune Haar hinter die Schultern und flüsterte ein »Ja«.

»Du bist so gut in der Schule. Die paar Fehlstunden würden daran nichts ändern. Und falls doch, ich bin ja nicht umsonst Lehrer. Außerdem ist jetzt so kurz vor den Sommerferien sowieso kaum noch Unterricht angesagt.« Er zwinkerte. Die Kirchenglocken läuteten die Uhrzeit an. Es war halb sechs.

Kurz darauf spürte sie Toms weiche Lippen auf ihren. Ein Kuss, der eine kleine Explosion in ihr auslöste. Tom zog sie zu einer kleinen schmiedeeisernen Bank, an die rote Schleifen und Herzchen gebunden waren. Marie spürte Toms Arme, die er von hinten um sie schlang. Noch war es kühl, aber Marie war sicher, es würde wieder ein heißer Sommertag werden. Bald begannen die Sommerferien, auf die sie sich dieses Jahr besonders freute. »Es gefällt mir hier in Hollfeld. Vor allem seit ich dich kenne. Auch wenn wir uns immer nur kurz sehen können«, flüsterte Tom und küsste sie aufs Haar.

»Ich glaube, manche bemerken langsam, dass wir uns gernhaben«, gab sie leise zurück. Tom schwieg, als hätte er es nicht gehört, was Marie ein wenig stutzig machte.

»Hast du gehört?«

Er nickte. »Das ist nicht gut. Gar nicht gut. Solange ich dein Lehrer bin und du nicht volljährig bist, darf es keiner wissen. Außerdem bin ich noch verheiratet. Wir müssen uns noch besser zusammenreißen. Verstanden?«, bemerkte er dann doch.

»Das versuche ich ja.«

»Versuchen reicht nicht, Marie«, mahnte er sie mit strenger Miene.

»Geena meinte, ich werde immer gleich rot, wenn du mich aufrufst. Ben sagte das Gleiche und witzelte mit ein paar Jungs, vor allem mit diesem vorlauten Markus darüber. Außerdem finden sie, dass du mich total bevorzugst.«

Der Lehrer hob beide Brauen. »Ah, gut zu wissen.«

»Wir tun ja nichts Falsches. Ich meine, Liebe ist nie falsch. Auch nicht die zwischen uns«, sagte Marie.

»Das stimmt. Aber das sehen die meisten eben anders. Und daher müssen wir Stillschweigen bewahren.«

Marie nickte und seufzte zugleich. Sie zog ihre beigefarbene Strickjacke vorne enger zusammen, wandte sich um und lehnte sich an Tom.

»Gehen wir lieber, bevor uns doch noch einer sieht. Obwohl in der Stadt so früh wirklich kaum was los ist. Das ist unser Glück«, sagte er.

Es war bereits das dritte Mal, dass sie beide sich hier früh morgens heimlich trafen. Jedes Mal war es ein Tanz auf dünnem Eis. Marie genoss dieses Kribbeln, das das Abenteuer mit Tom in ihr auslöste. Ihrer Meinung nach war ihr bisheriges Leben oft zu monoton verlaufen. Nur die Krimis, die sie schrieb und auf einer Plattform in den sozialen Medien als Selfpublisherin unter dem Pseudonym Christin White veröffentlichte, gaben ihm neben Tom etwas Würze. Sie saugte diese Erfahrungen auf wie ein trockener Schwamm, brauchte es, wollte mehr davon. So gut es ging blendete sie den Verstand in Sachen Tom dabei aus, war aber dennoch wachsam, musste sie sein. Da gab sie Tom recht! Irgendwie hatte aber auch das seinen Reiz für sie. Ungekannte Seiten taten sich in ihr auf, seit Tom an die hiesige Schule gekommen war. Langsam gewöhnte sie sich daran. Das war wohl der Punkt, der zum Erwachsenwerden dazugehörte und den ihre Mutter ihr oft gepredigt hatte. »Du wächst durch Erfahrungen, das gehört zum Erwachsenwerden nun mal dazu.« Dabei hatte sie jedoch mit Sicherheit nicht solche gemeint.

Der Lehrer und seine Schülerin verabschiedeten sich fünf Minuten später schweren Herzens an der Treppe, die in die sogenannte Türkei Hollfelds führte, weil die Straßen in jenem Stadtteil eng und die Häuser dicht nebeneinander gebaut waren. Von dort aus würde Marie zur Langgasse laufen, der Einkaufsstraße Hollfelds, auf der oft reger Verkehr herrschte. Tom gab ihr noch einen flüchtigen Kuss, den Marie bewahrte wie einen Schatz, bevor sie sich endgültig von ihm trennte und auf den Weg nach Hause machte. Ihre Knie fühlten sich weich an. Das Adrenalin schoss durch ihre Adern.

Langsam begannen ihre Füße in den doch ein wenig zu engen und hohen Schuhen zu schmerzen. Bei der Langgasse angelangt, bog sie nach links ab. Die Bäckerei ihrer Eltern befand sich in entgegengesetzter Richtung und hatte auch samstags geöffnet. Sicher waren ihre Eltern bereits seit Stunden dort.

Marie überquerte die Straße nach ein paar Metern und ging weiter in eine Seitenstraße, die Richtung Stadtwald führte. Es war Samstag, sie musste heute nicht zur Schule. Aber das hieß auch, dass sie Tom erst am Montag wiedersehen würde. Eine ihr endlos lang erscheinende Zeit voller nagender Gedanken. Er würde gleich zu seiner Frau nach München fahren. Inständig hoffte sie, dass er es dieses Mal schaffen würde, ihr zu sagen, dass er die Scheidung wollte. Marie atmete den angenehm süßlichen Duft des Holzes der Zimmerei ein, an der sie vorbeieilte, und schwelgte weiter in Gedanken an Tom. Sie glaubte ihm, dass er seine Frau wirklich verlassen würde.

Natürlich war das alles nicht einfach, die beiden waren schließlich schon seit fünf Jahren verheiratet und Anna-Lena liebte ihn, wie er sagte, immer noch. Allerdings hatten sie sich laut Tom schon seit zwei Jahren auseinandergelebt. Seine Frau, eine zierliche Brünette, wie Marie es war, liebte ihren Job als Marketingmanagerin in München und investierte mehr Zeit dafür als notwendig. Marie konnte verstehen, dass es Tom auf die Nerven gegangen war, wenn sie dann am Wochenende erschöpft war und lieber zu Hause bleiben wollte, anstatt mit ihm Ausflüge zu unternehmen. Seine Versetzung von München nach Hollfeld hatte der Ehe einen weiteren Riss gegeben, zudem Anna-Lena gedrängt hatte, dass er Einspruch dagegen einlegen sollte, da er verheiratet war. Doch das wollte Tom gar nicht.

Anfangs hatte Anna-Lena Tom ein paar Tage begleitet und war auch zwei Mal kurz mit in der Schule gewesen. Dadurch hatte sie Marie und andere Schülerinnen und Schüler Toms kennengelernt und sie ausgefragt, wie ihr Mann denn als Lehrer bei ihnen ankommen würde. Ihrer besten Freundin Geena hatte sie sogar ein Kompliment für deren hübsches, rosa Kleid gemacht und dabei, obwohl es ziemlich kurz war, auch nicht eifersüchtig gewirkt. Geena und Marie hatten sich zufälligerweise unabhängig voneinander vor einer Weile das gleiche Kleid gekauft.

Tom vertraute Marie einmal an: »Anna-Lena und ich sind einfach zu unterschiedlich. Ich liebe meinen Job ebenfalls. Aber für mich ist auch Freizeit wichtig. Außerdem will sie keine Kinder und sie ist oft eifersüchtig. Wir sprechen kaum noch richtig miteinander. Dennoch sagt sie mir, dass sie mich liebt. Das glaube ich ihr sogar. Aber ich denke, unsere Ehe ist für sie im Grunde nur noch da, weil es eben zu einem vernünftigen Leben dazugehört.«

Tom war spontan, lebens- und abenteuerlustig. Das zog Marie an.

Außerdem fand sie ihn äußerst attraktiv. Er war sportlich, besaß schwarzes Haar und hatte einen südländischen Touch, obwohl er Deutscher war. Marie schlenderte weiter und träumte von Toms Kuss. Die Straße führte durch einen Teil des Stadtwaldes und direkt in die Siedlung, in der sich ihr Elternhaus befand. Marie liebte die Geräusche und Düfte der Natur. Plötzlich schien Scheinwerferlicht zwischen den Bäumen hindurch. Marie zuckte erschrocken zusammen. Nur ein paar Sekunden später fuhr ein schwarzer Golf mit dem Aufdruck einer hiesigen Fahrschule um die Kurve. Marie senkte den Blick, damit der Fahrlehrer sie nicht erkannte. Sicher würde er es merkwürdig finden, sie so früh hier entlanglaufen zu sehen. Das nächste Mal, beschloss sie, würde sie Joggingsachen anziehen. Aber in dem Kleid, der Strickjacke und den roten High Heels, die sie trug, weil die Tom so gefielen, wäre morgendlicher Sport eine schlechte Ausrede gewesen. Das Auto brauste an ihr vorbei. Schweißperlen stiegen ihr auf die Stirn und sie legte einen Zahn zu, als sie ein lautes Knacksen vernahm, das seitlich aus dem Geäst des Waldes drang. Wahrscheinlich ein Tier, beruhigte sie sich. Die gab es hier zuhauf. Sie ging auf eine Rechtskurve zu. Das Geräusch von vorhin wiederholte sich. Dieses Mal lauter. Bildete sie es sich ein oder hatte da gerade jemand gekeucht? Gänsehaut überlief ihren Körper. Sie drehte sich um. Nichts Ungewöhnliches war zu sehen. Ihre Schritte wurden jedoch schneller, als das Geräusch abermals ertönte. Die Luft in ihrem Brustkorb staute sich. Wohl doch kein Tier, dachte Marie. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie musste hier weg. Hitze- und Kältewellen zogen über ihren Körper. Immer wieder drohte sie mit den High Heels umzuknicken. Sie wagte einen weiteren Blick über die Schulter in den Wald hinein.

Tatsächlich! Eine Silhouette huschte zwischen den Bäumen hindurch. Marie stieß einen Schrei aus, der ihr halb im Halse stecken blieb. Ihr Kopf fühlte sich wie in Watte gepackt an, die Umgebung begann zu schwanken, als hätte sie zu viel Alkohol getrunken. Sie kickte die Schuhe von ihren Füßen, begann zu rennen. Manche Steinchen, die auf dem geteerten Weg lagen, bohrten sich in ihre Fußsohlen. Der Schmerz war Marie egal. Sie musste schneller sein als er. Irgendwie war sie sicher, dass es ein Mann war. Nun vernahm sie das Keuchen deutlicher. Es kam näher.

»Bleib’ doch stehen, dummes Ding«, sagte Sekunden später jemand hinter ihr. Vor Schreck stolperte sie, drehte sich aber sogleich am Boden herum und robbte ein Stück zurück. Das Ortsschild und auch ihr Elternhaus waren nicht mehr weit entfernt. Ihre Augen weiteten sich, als sie ihrem Verfolger in die Augen sah. »Du?«, entwich es ihr heiser.

Keine neuen Nachrichten

Geena‘s View

Noch immer keine Nachricht von Marie. Seltsam, dachte Geena. Ihre Freundin hatte versprochen, sich bis spätestens zehn Uhr zu melden, um auszumachen, wann sie sich im Kino der Stadt treffen wollten. Außerdem hatten sie vorgehabt, brunchen zu gehen. Noch eine halbe Stunde bis Mittag. Wahrscheinlich, durchfuhr es Geena, war ihre beste Freundin wieder in eine ihrer Geschichten versunken und hatte die Zeit vergessen. Denn dass sie plötzlich keine Lust mehr hatte, glaubte sie nicht. In den letzten Tagen allerdings war Marie ihr fahrig vorgekommen. Geena band sich das rote Naturlockenhaar im Nacken mit einem weißen Band zusammen und schielte nach dem roten knielangen Kleid, das auf ihrem Bett lag. Die Sonne schien bereits wieder heiß auf Hollfeld hinab. Eindeutig war die lange, enge Jeanslatzhose, die sie sich nach dem Frühstück mit einem weißen Shirt übergestreift hatte, zu warm und unbequem für einen schönen Sommertag.

Außerdem wollte sie gleich in die Stadt und würde dort vielleicht Jonas über den Weg laufen. Der blonde, hübsche Junge, der eine Klasse über ihr war, hatte es ihr angetan. Sie warf einen Blick aus dem Fenster der Dachgeschosswohnung, in der sie mit ihrer Mutter seit der Scheidung ihrer Eltern vor etwas über zwei Jahren lebte. Sie wohnten in der Oberstadt, am Marienplatz, in einem blau gestrichenen Haus mit weißen Fensterläden.

Geenas Blick fiel auf die Grünfläche mit den Kastanienbäumen und dem Brunnen. Um sie herum verlief eine gepflasterte Straße. Die giebelständigen und traufseitigen Häuser am Marienplatz, darunter auch das Rathaus, standen dicht an dicht. An höchster Stelle der rundum befestigten Oberen Stadt stand das Wahrzeichen von Hollfeld, ein rot-weißer Turm mit Holzkranzgesims, auf dem sich ein Zeltdach mit Laterne befand. Der sogenannte Sankt Gangolfsturm beherbergte das Irrglöcklein. Geena und auch Marie mochten die Geschichte um die alte Sage, nach der sich in den dichten Wäldern die Töchter des Vogtes verirrten und nur durch das nächtliche Läuten eines Glöckchens wieder nach Hause fanden. Der Vogt spendete aus Dank dafür ein Glöckchen, das auch heute noch täglich um Punkt 21.45 Uhr geläutet wurde.

Maries Freundin beschloss, einen kleinen Ausflug zu den in der Nähe gelegenen Terrassengärten zu machen. Währenddessen wollte sie noch einmal versuchen, Marie zu erreichen. Vielleicht würde sie danach auch gleich in der Bäckerei ihrer Eltern, in der Marie öfters aushelfen musste, vorbeischauen. Sie zog sich um und ging in die Küche. Ihre Mutter Lisa nippte an einem Kaffee und telefonierte. Sie saß mit dem Rücken zu Geena gewandt und bemerkte ihre Tochter nicht. Geena lauschte, denn sie ahnte, wer am Ende der anderen Leitung war. Ihre Mutter bestätigte dies dann auch.

»Nein, das verstehe ich nicht. Du hast es versprochen, Mark. Wenigstens morgen.« Sie seufzte tief und zündete sich eine Zigarette an. Geena hasste es, wenn ihre Mutter in der Wohnung rauchte. Das tat sie meistens, wenn sie genervt war. Rauchfäden kamen ihr entgegen. Sie konnte sich vorstellen, dass ihr Vater gerade wieder einmal den Wochenendausflug verschob, den er mit ihr geplant hatte. Etwas, das Geena nicht einmal mehr wirklich enttäuschte.

Es kam häufig vor, dass er jedes zweite Wochenende, wenn er sie abholen sollte, plötzlich doch etwas Wichtigeres zu tun hatte, das er nicht verschieben konnte. Die Termine kamen immer aus heiterem Himmel, sogar an Feiertagen. Geenas Vater war Immobilienmakler in Bayreuth. Die Ehe ging auseinander, weil er eine Affäre mit einer jüngeren Frau hatte.

»Ich bin draußen«, warf Geena schnell ein und ging. Ob Lisa es überhaupt gehört hatte, wusste sie nicht. Lisa Sonneberg war kein Kind von Traurigkeit. Nach der Scheidung hatte sie bereits drei Liebschaften. Allerdings klappte es mit keiner lange. Mit Schaudern erinnerte sich Geena daran, dass sich einer ihrer Männer sogar in sie und in ihre beste Freundin Marie verguckt und ihnen Avancen gemacht hatte. Natürlich wollte Marie nichts von dem bereits grauhaarigen Rudolf Wacker wissen, der Geena mit seinen neunundfünfzig Jahren zu alt für ihre Mutter vorgekommen war. Zum Glück, dachte Geena, war ihre Mutter aufgewacht und hatte Schluss gemacht, auch weil Rudolf zu besitzergreifend und bestimmend gewesen war. Selbst seine Arbeitskollegen in der Werkstatt, in der er als Baumaschinenmechaniker arbeitete, mieden ihn. Dass er den beiden Mädchen näherkommen wollte, hatte er natürlich vehement abgestritten. Seit ein paar Monaten hatte Lisa nun einen neuen Mann an der Seite. Jason Marold war Besitzer eines modernen Cafés mit Bar in Hollfeld, das er vor einem halben Jahr eröffnet hatte. Dort hatten sich ihre Mutter und er auch kennengelernt. Das Haus in Hollfeld mit der kiwigrünen Fassade und der verglasten und überdachten Außenterrasse, den vielen Fenstern und demnach hellen Räumen hatte nach dem Auszug des vorher darin befindlichen Modegeschäftes Jahre leer gestanden. Jasons Meet & Greet lag direkt an der Hauptstraße, was dem Geschäft jedoch keinen Abbruch tat. Im Gegenteil – es florierte richtig gut. Wenn es so weiterging, konnte es bald mit Cafés und Bars der nur zwanzig Kilometer entfernten Richard Wagner Festspielstadt Bayreuth mithalten. Davon war nicht nur Geena überzeugt. Gerade als Geena das Haus verließ, joggte Jason die Straße entlang, direkt auf ihr Haus zu. Seit Kurzem wohnte er sogar bei ihnen, was Geena nicht störte. Jason war der erste Mann ihrer Mutter, mit dem sie sich ganz gut verstand. Er war sportlich, passte vom Alter her zu ihrer Mutter und konnte auch gut zuhören. Wichtig für sie war zudem, dass er nicht nur redete, um etwas zu sagen.

Vor dem Haus traf Geena Jason.

»Guten Morgen!«, begrüßte sie ihn und staunte. Er musste schon eine Weile unterwegs gewesen sein. Sein Shirt sah durchgeschwitzt aus. Die schwarze Jogginghose war bis in Kniehöhe übersät mit Dreckspritzern und sein schwarzes Haar wirkte feucht. Er hielt dicht vor Geena inne, beugte sich nach vorne und stützte die Hände auf die etwas gebeugt gehaltenen Knie.

»Guten Morgen«, keuchte er.

»Schon so fit am frühen Morgen?«, fragte sie ihn.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es ist gleich Mittag«, korrigierte er sie und zeigte mit einem Finger in die Luft, als die Turmuhr des Sankt Gangolfsturmes ein paar Sekunden darauf seine Aussage bestätigte.

»Du scheinst aber schon lange unterwegs zu sein?«

»Wie kommst du denn darauf, Geena?«

»Du schwitzt doch sonst kaum«, stellte sie erstaunt fest.

Jason runzelte die Stirn ein wenig. »Und? Soll das ein Verhör werden?« Seine Stimme klang mehr als genervt. Geena rutschte das Lächeln aus dem

Gesicht.

»Entschuldige. Ich wollte nicht neugierig sein.«

Er winkte dann ab. »Ach was. Mir tut es leid. Ich habe nur schlecht geschlafen. Daran ist wohl das schwüle Wetter der letzten Tage schuld. Ich bin schon sehr früh los, war vor dem Training im Meet & Greet. Da muss ich auch gleich wieder hin. Martina hat angerufen. Sie hat einen Grippeanflug, musste nach Hause. Es scheint schon viel los zu sein. Tja, ohne Chef geht halt nichts.« Er lachte wie immer, aber es wirkte irgendwie gepresst auf Geena, sodass sie nur nickte.

Martina war eine von Jasons Angestellten. Die zwei Frauen, die für ihn arbeiteten, hatte hauptsächlich Geenas Mutter ausgesucht. Seit dem Fremdgehen ihres Ex-Mannes plagte sie hin und wieder panische Eifersucht. Jason konnte das, wie er sagte, gut verstehen.

Freundschaftlich klopfte er Geena auf die Schultern. »Ist deine Mutter oben?«

»Ja, sie telefoniert. Aber Vorsicht! Es kann sehr gut sein, dass sie nicht gerade guter Laune ist.«

Er runzelte die Stirn. »Mit wem telefoniert sie denn? Ist etwas passiert?«

»Sie telefoniert mit meinem Vater«, erzählte Geena.

»Okay, verstehe. Ich schaue mal nach der Löwin.« So nannte er Lisa gerne.

Jason machte keinen Hehl daraus, dass er starke Frauen bewunderte.

Er hob eine Hand und wartete darauf, dass Geena mit ihm abklatschte, was sie auch tat. Danach verschwand er im Haus. Geena sah auf ihrem Handy nach, ob Marie sich inzwischen gemeldet hatte. Doch Fehlanzeige.

»Das gibt’s doch nicht«, murmelte sie vor sich hin und ging auf dem leicht unebenen Pflaster entlang, passierte ein kleines Buchgeschäft, das alte Rathaus und schließlich den Sankt Gangolfsturm, in dem ihre Eltern einst geheiratet hatten. Gegenüber lagen die Terrassengärten. Dort setzte sie sich auf eine kleine Bank und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf der Haut. Marie ging ihr nicht aus dem Kopf. Zudem wollte sie endlich wissen, ob das Treffen nun klappte. Also rief sie sie kurzerhand ein weiteres Mal auf dem Handy an. Nach mehrmaligem Klingeln ging wieder die Mailbox ran.

»Hallo, Marie. Geena noch einmal hier. Sag’ mal, schläfst du noch, du treulose Tomate? Ruf’ mich doch bitte einmal an. Wir wollten später doch noch ins Kino. Bye.«

Kaum hatte sie aufgelegt, kam ein Mann den Weg entlang. Er trug einen grauen, langen Mantel, den er sich von den Schultern streifte. Darunter kam ein gleichfarbiger Wollpulli zum Vorschein. Irgendwie sah er seltsam aus, fand Geena. Ein wenig so, wie sie sich Sherlock Holmes vorstellte. Trotz des bereits warmen Wetters hatte er zu den eher tiefherbstlichen Klamotten eine französische Kappe auf dem Kopf. Seine langen, stelzigen Beine steckten in einer schwarzen Stoffhose und ebenso schwarzen Gummistiefeln. Geena merkte, dass er ein wenig erschrak, als er sie entdeckte.

»Grüß Gott«, sagte sie. Hier in Hollfeld grüßte man einander in der Regel.

Er nickte nur, zündete sich eine Zigarette an, blieb noch kurz stehen und verschwand dann wieder. Das ist wirklich ein äußerst komischer Typ, dachte Geena sich, zuckte mit den Schultern und schaute noch einmal auf ihrem Handy nach. Keine neuen Nachrichten. Hatte sie vielleicht irgendetwas zu Marie gesagt, dass diese im Nachhinein als Beleidigung aufgefasst haben könnte? Da fiel ihr nur die Sache mit Tom Getzler ein. Als sie ihr sagte, dass sie glaubte, der Lehrer hätte sich vielleicht in sie verguckt und würde sie deshalb oft aufrufen und auffällig ansehen, hatte sie das Ganze nur mit einem Lachen und dem Wort »Quatsch« kommentiert. Aber eventuell war sie doch peinlicher davon berührt gewesen, als es im ersten Moment gewirkt hatte.

Das hätte sie doch aber gesagt. Schließlich erzählten sie sich alles. Sie verließ die Terrassengärten und ging die steile Steintreppe hinunter, die in die Stadt führte und zu deren Seiten sich kleine Gärten mit verschiedenen Gräsern, Blumen, Bäumen und Sträuchern befanden. Bienen summten, Insekten schwirrten durch die Luft und es duftete herrlich nach Natur. Am Fuße der Treppe blieb Geena stehen und überlegte, in der Bäckerei von Maries Eltern vorbeizuschauen. Vielleicht würde sie ihre Freundin wirklich im Verkaufsraum antreffen. Marie hielt sich dort gerne auf, vor allem, um heimlich zu naschen. In der Bäckerei von Maries Eltern Gerd und Anne Wagner herrschte noch Hochbetrieb. Beinahe jeden Samstag hatten sie ihren Laden bis 14 Uhr geöffnet. An diesem Tag schien irgendetwas anders zu sein, fiel Geena sogleich auf, als sie die Bäckerei betrat. Anne Wagner wirkte fahrig, ließ einen Korb voller Brötchen fallen und schimpfte vor sich hin, wobei der Ton ihrer Stimme eher nach Verzweiflung klang. Geena räusperte sich und biss sich auf die Unterlippe. Sie wandte sich lieber an Jenny, die Verkäuferin. Aus den Augenwinkeln beobachtete Geena, wie Maries Mutter mit ihrem Mann tuschelte, der mit einer weißen Kappe auf dem Kopf und bestäubt mit Mehl den hellen, großen Einkaufsraum betrat.

»Die Brötla verkaft ihr oba nimma«, bemerkte eine ältere, dickliche Dame, die in jener Nische saß. Mit einem Finger zeigte sie auf den zuvor heruntergefallenen Korb, in den Anne alle Brötchen bereits wieder eingelesen hatte.

»Natürlich nicht!«, zischte die sonst sonnige Anne und stopfte sich die ausgebüchsten Strähnen ihres braunen Haars zurück in den Knoten an ihrem Hinterkopf. Die Kundin verzog das Gesicht und widmete sich wieder ihrem Sahnestückchen.

Jenny verdrehte die Augen. Sie war schon ein paar Jahre hier, hatte die Ausbildung im Betrieb gemacht und kannte demnach auch Marie sehr gut.

»Hier herrscht net grod Hochstimmung«, flüsterte sie Geena zu.

»Ist etwas passiert? Außer dem Brötchentiefflug?«, fragte sie. Jenny sah zu ihren Chefs hinüber, die sich weiter tuschelnd in die

Hinterräume verzogen.

»I glab, es liegt wos mit der Marie im Orgen, soweit i mitbekumma hob.« Die Türklingel kündigte die nächste Kundschaft an.

Geena starrte Jenny verwundert an. »Mit Marie? Ich versuche sie schon dauernd zu erreichen.«

Die junge Verkäuferin rieb sich über die sommersprossenübersäte Stupsnase. Das tat sie meist, wenn sie etwas nachdenklich stimmte. »Also wennst mich frogst, die wor mit ihra Gedonkn in letzter Zeit weit wech.«

Geena nickte für sich. Das war ihr allerdings auch schon aufgefallen. Sie hatte Marie auch danach gefragt. Diese hatte ihr widersprochen und immer sofort auf ein anderes Thema gelenkt. Nach Jennys Äußerung schloss sie aus, dass sie wegen Getzler beleidigt gewesen war. Vielleicht hatte es ja wirklich mit einer ihrer Geschichten zu tun. Die Schreiberei nahm einen immer weiterreichenden Platz in ihrem Leben ein. Das wusste auch Jenny. »Die is eben a Künstlerin oder besser gsogt a Poetin. Schwem die net meist in andern Galaxien?«, bemerkte sie und lachte.

Damit konnte Jenny natürlich nichts anfangen. Das lag nicht in ihrer Natur. Sie las kaum, riss lieber Witze, gern auch schmutzige, vornehmlich mit den jungen, männlichen Besuchern. Ein Bauarbeiter lehnte sich an die Glastheke.

»He Jenny. Host a süßa Empfehlung heit für mi?«

»Ja, klor. Mi!«, lachte sie und er stimmte mit ein. »Des Angebot loss i mir net entgeh. Bitte zum Mitnehma.«

Maries Eltern kehrten zurück, was Jenny sofort verstummen ließ. Zudem kamen weitere Kunden in den Laden. Geena liebte an der Bäckerei vor allem den Duft von frisch gemahlenem Kaffee.

»Hallo, Geena. Gut, dass du da bist«, begrüßte Anne sie. Ihr Mann nickte ihr nur zu, verschwand dann wieder.

Anne rief ihm nach: »Ja, was machen wir denn nun?«