Aurora Sea - Nadine Stenglein - E-Book

Aurora Sea E-Book

Stenglein Nadine

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Beschreibung

Emma ist glücklich mit Jamie. So oft sie können, treffen sie sich auf ihrer Koralleninsel. Doch der Friede trügt. Evenfall bekommt unerwartete Unterstützung, und erneut bedrohen die Avarthos die Menschen von Sylt. Zur selben Zeit freundet sich Emma mit Tim an, der seinen Vater ebenfalls bei einem der Flugzeugabstürze verloren hat. Als sie ihn in ihre Geheimnisse einweihen muss, bringt das nicht nur sein Leben in Gefahr. Können die Freunde – die lebenden und die toten – die Gefahr gemeinsam abwenden?

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Kurzbeschreibung: Emma ist glücklich mit Jamie. So oft sie können, treffen sie sich auf ihrer Koralleninsel. Doch der Friede trügt. Evenfall bekommt unerwartete Unterstützung, und erneut bedrohen die Avarthos die Menschen von Sylt. Zur selben Zeit freundet sich Emma mit Tim an, der seinen Vater ebenfalls bei einem der Flugzeugabstürze verloren hat. Als sie ihn in ihre Geheimnisse einweihen muss, bringt das nicht nur sein Leben in Gefahr. Können die Freunde – die lebenden und die toten – die Gefahr gemeinsam abwenden?

Nadine Stenglein

Aurora Sea

Die Legende der Avarthos

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Verlagsgruppe GmbH

© 2021 Edel Verlagsgruppe GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2021 by Nadine Stenglein

Covergestaltung: Designomicon, München.

Lektorat: Tatjana Weichel

Korrektorat: Jennifer Eilitz

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-391-5

www.instagram.com

www.facebook.com

www.edelelements.de

Inhalt

Herbstzeitlos

Aurora Sea

Zusammenkunft

Mel

Der Absturz

Die Koralleninsel

Das Buch

Der Fremde

Begegnungen

Tim

Message

Aurora Sea

Traumlichter

Wiedersehen

Gefangen

Die Insel

Energetische Felder

Der Plan

Hoffnung

Flucht nach vorn

Maskenspiel

Pirancullus

Die Spiele

Das Lied der Merbies

Fünf Minuten vor zwölf

Adrejus

Heimkehr

Abschied

Dein Lied

Epilog

Herbstzeitlos

Wirst du mich auch dann noch lieben,

wenn der Herbst hat mich erreicht,

wenn die Blätter welken werden,

Schönheit meiner Weisheit weicht?

Wirst du mir auch dann noch folgen,

wenn statt Tango Walzer klingt,

wenn der Rhythmus sich verändert,

Poesie mein Herz beschwingt?

Wirst du mich auch dann noch küssen,

wenn die Lippen sanfter glühen,

wenn sie schmecken süß und bitter,

doch in ihrer Sehnsucht blühen?

Wirst du auch noch mit mir träumen,

wenn die Sonne untergeht,

wenn der Himmel voller Sterne,

hinter dunklen Wolken steht?

Wirst du auch noch mit mir lachen,

wenn der Regen leise rinnt,

wenn die Tage trübe scheinen,

Sonne lockt den Wirbelwind?

Irgendwann fällt unser Schleier,

ganz egal was auch geschieht.

Ich liebe dich nur deinetwegen,

hoffnungsvoll klingt unser Lied.

Heike Hofmann

Aurora Sea

Aurora Sea - Zwei Worte, die eine Geschichte bewahrten, eine Geschichte, so unglaublich, aber wahr. Eine Geschichte, die noch nicht zu Ende erzählt war und die ein Geheimnis barg, welches nur wenige Menschen kannten.

Verbunden mit einer Liebe, stärker als der Tod und bestimmt für die Ewigkeit.

Immer, wenn das Nordlicht über dem Meer am Firmament leuchtete, wusste ich, dass er da war und wir uns bald wiedersehen durften. Jamie! Die Liebe, die ich für ihn empfand, war nicht schwächer geworden, im Gegenteil. Früher hatte ich nie daran geglaubt, dass es sie wirklich gibt, diese magische Liebe auf den ersten Blick, und noch weniger, dass sie mich eines Tages treffen würde. Vielmehr hatte ich angenommen, ich würde wohl nie einen Mann finden.

Tante Tilli hatte gelacht, als ich ihr das damals erzählte, und gesagt: „Meine Güte, Kind, du bist noch so jung. Mach dir darüber keinen Kopf. Meist ist es so, dass er in dein Leben tritt, wenn du es am allerwenigsten erwartest.“ Und genauso war es.

Keiner der Jungs, denen ich vor Jamie begegnet war, hatte mich auch nur annähernd interessiert, während meine beste Freundin Melanie und andere Mädels, die ich auf Sylt kannte, bereits einige Erfahrungen in Sachen Liebe gemacht hatten. Bei Jamie hatte mich bereits das erste Foto, das ich von ihm gesehen hatte, berührt. Und unser erstes Treffen auf der Insel – ein einziger Blick, und ich war gefangen. Auf die schönste Weise, die ich mir vorstellen konnte. Schon seltsam. Verrückt, aber eben auch wunderschön.

Ich liebte seine Wärme, seine Zärtlichkeit, seine Augen. Das Blau in ihnen glich einem tiefen Ozean, in den ich so gerne eintauchte. Ich wollte die Seele, die sich unter seiner Oberfläche befand, von Anfang an näher kennenlernen. Was ich dort fand, war ein toter Junge, allerdings mit einem – und das meine ich symbolisch – lebendigen Herzen, das für das Gute schlug und schließlich auch für mich. Nur eines machte mir Sorgen.

Mit jedem Jahr, das verging, würde ich älter werden, während Jamie immer jung bleiben würde. Bei meinem letzten Besuch auf der Koralleninsel hatte er mir lächelnd erklärt, dass er mich auch dann noch lieben würde, wenn ich einmal faltig sein und graues Haar haben würde. Das war lieb von ihm, aber ehrlich gesagt eine schreckliche Vorstellung für mich. Unsere Insel – nur für diejenigen sichtbar, die mit dem Schicksal der Seelen, die nun das Meer ihr Zuhause nannten, in Berührung gekommen waren – war zu unserer gemeinsamen Heimat geworden.

„Der Glanz deiner Augen wird nie vergehen. Sie werden mich immer faszinieren. Darin werde ich dich immer so sehen, wie du jetzt bist. Eine Seele kann nicht altern, ihr Herz wird immer schlagen. Also, mach dir keine Sorgen. Ich liebe dich, wie du bist. Immer!“, waren seine Worte gewesen.

Ich öffnete mein Fenster, setzte mich auf die Fensterbank und atmete, meinen Gedanken weiter nachhängend, die würzig riechende Luft des Meeres ein. Ein sanfter Wind spielte mit meinem langen Haar. Am Horizont küsste die Sonne bereits den Saum des Meeres, und wieder einmal kam es mir vor, als würde ich dabei ein leises Zischen hören.

Ich saß nach wie vor gerne hier und schaute aufs Meer hinaus. Hier war ich all dem nahe, nach dem sich mein Herz sehnte. Meinen Eltern, Jamie, den Avarthos, all den anderen guten Seelen, dem Meer, das ich wieder zu lieben gelernt hatte, und nicht zu vergessen, den liebevollen und knuffigen Merbies. Ich lauschte und wünschte mir ihren Gesang herbei.

Bald müsste es wieder so weit sein. Ihre Stimmen waren für alle hörbar, die von dem Geheimnis wussten und ihr Herz öffneten. Seit damals waren ihre Lieder hell und fröhlich, was uns alle glücklich stimmte, denn es sagte uns, dass unter der Oberfläche des Meeres der neue Frieden anhielt und alles in Ordnung war.

Meine Gedanken hatten ihren eigenen Kopf und schweiften wieder in die Zukunft, ohne dass ich es wollte, denn eigentlich wäre es besser gewesen, wenn ich mich auf das Hier und Jetzt konzentriert hätte. Diesen Vorschlag von Dr. Morton hätte ich auch liebend gerne öfter umgesetzt. Aber diese eine Frage löste immer wieder einen Tornado in meinem Kopf aus, der alles durcheinanderwirbelte.

Was würde nach meinem Tod mit mir, meiner Seele geschehen, wo würde sie hingehen? Würde es mich in das Jenseits ziehen, in dem Haley weilte, oder aber durfte ich entscheiden und bei Jamie und meinen Eltern bleiben? Warum sie das Meer nicht verlassen konnten, wussten sie selbst nicht, empfanden es aber keineswegs mehr als unangenehm, jetzt, da wieder Frieden unter den Wellen herrschte.

„Emma? Komm doch mal bitte runter“, rief Tante Mathilda. In ihrer Stimme lag ein genervter Unterton. Ich warf dem Meer eine Kusshand zu und schloss das Fenster, bevor ich nach unten eilte. Von der Veranda aus hörte ich ein Hämmern. Georg flickte den Bretterboden, der durch die Flut einige Blessuren abbekommen hatte. Tilli war gerade dabei eine Fischsuppe aus Georgs frisch gefischtem Aal zu kochen, und der würzige Geruch waberte zu mir. Georg liebte ihre Fischsuppe.

Wir waren heilfroh, dass es dem Seebären wieder gut ging. Er war ganz bei Kräften, und auch Sören war wohlauf, was uns alle mehr als glücklich machte. Es war ein Wunder, dass das Koma bei ihm keine Spuren hinterlassen hatte.

„Sörens Leber wird ihm die Ruhewochen danken. Und es ist wohl auch das erste Mal in Georgs Leben gewesen, dass dessen Bärentatzen Zeit zum Erholen hatten. Sie sind geschmeidiger geworden“, hatte Tilli nach dem ersten Wachbesuch bei den beiden gesagt.

„Heißt das etwa, du und Georg, ihr habt Händchen gehalten?“, hatte ich sofort gefragt, was Tilli zuerst die Sprache verschlug. Sie wandte ihr Gesicht ab, dennoch hatte ich gesehen, dass ihre Wangen leicht erröteten. Also stimmte es, und das freute mich. Die beiden gehörten einfach zusammen, genau wie Jamie und ich.

Schon jetzt konnte ich unser Wiedersehen kaum erwarten. Ich wollte ihn ganz nah bei mir spüren. Seine weichen Lippen auf meinen, seine Hände, die mich zärtlich berührten, seinen Herzschlag an meiner Brust, vor allem die Wärme, die von ihm ausging und mich immer einhüllte wie eine warme Decke, wenn wir uns umarmten.

„Was ist?“, fragte ich meine Tante und lehnte mich, in Gedanken noch bei Jamie, gegen den Türrahmen. Tilli seufzte, zog den Holzlöffel aus dem Topf und zeigte damit Richtung Veranda.

„Der Holzkopf übernimmt sich schon wieder. Er keucht und hustet wie eine alte Robbe. Sag ihm bitte, dass es genug für heute ist und er sich noch schonen sollte. Meine Ratschläge diesbezüglich stoßen bei ihm auf taube Ohren.“

Ich fand es süß, dass sie sich so um Georg sorgte, wenngleich sie noch immer nicht zugeben wollte, dass sie mehr für ihn empfand. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie befürchtete nach wie vor, ihre Freiheit zu verlieren, die sie so liebte, wenn sie einen Mann gänzlich in ihr Leben ließ. Dabei wohnte Georg im Grunde schon so gut wie bei uns, und vor allem in ihrem Herzen.

„Aye, aye, Captain!“, erwiderte ich.

Georg kniete auf der Veranda und hämmerte gerade einen Nagel in ein Brett, als ich nach draußen trat. Frischer Wind blies mir entgegen und umtanzte ein wenig zischend Tillis Haus. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte mich gegen das Geländer. Georg blickte auf und nickte mir lächelnd zu. Seine harten Gesichtszüge wurden weicher. „Na, Deern. Hat Tilli dich geschickt?“, fragte er. Er zog ein Stofftaschentuch aus seiner Kutte und schnäuzte sich geräuschvoll.

„Ich glaube, sie hat recht, du solltest dich noch schonen. Wir machen uns nur Sorgen, Georg“, bemerkte ich. Der raue Nordwind blies mir ein paar Haarsträhnen vor die Augen und ließ sie tänzeln. Ich schüttelte den Kopf und manövrierte sie so wieder hinter meine Schultern. Dabei sah ich, dass Sören auf dem Weg zu uns war.

„Ich brauche das, Deern. Ich war zu lange weg. Das ist Medizin für mich. Glaube mir und begrab deine Sorgen ruhig“, entgegnete Georg auf meine Worte hin. Das hätte ich zu gern.

„Sören kommt“, sagte ich, was ihn sofort innehalten ließ. Er stand auf, kniff die Augen zusammen und blickte mit mir zusammen in dessen Richtung. Seinem schnellen Schritt nach brannte Sören etwas auf dem Herzen. Georg gesellte sich neben mich und legte einen Arm um meine Schultern.

„Ich dachte, er wollte ein paar Tage wegfahren“, brummte er und winkte seinem Fischerkumpel. Sören erwiderte den Gruß nickend und legte noch einen Zahn zu. „Du hättest dir eine Jacke überziehen sollen, Emma. So ist es viel zu kalt. Es scheint bald Regen zu geben. Das sind berechtigte Sorgen“, bemerkte Georg, der seine Jacke jedoch selbst ausgezogen und über das Geländer der Veranda geworfen hatte. Trotz der Kälte perlte Schweiß auf seiner Stirn.

Als hätte Tilli ihn gehört, kam sie heraus und reichte mir ihre weiße Strickweste. Meine Mutter hatte sie vor Jahren gestrickt und ihr geschenkt.

„Wollt ihr beide krank werden?“, fragte Tilli mit liebevoller Strenge.

Zeitgleich mussten Georg und ich lachen, was sie mit einem Stirnrunzeln quittierte.

„Kannst du Gedanken lesen, Mathilda? Geradeeben habe ich ihr gesagt, sie soll sich eine Jacke holen“, sagte Georg.

„Nein! Aber ich habe einen klar denkenden Kopf auf den Schultern sitzen. Deiner scheint ja wieder der alte zu sein, voller Flausen. Du wirst unvernünftig, obwohl du genau weißt, dass der Arzt dir noch Ruhe verordnet hat. Eine halbe Stunde Arbeit pro Tag vorerst, mehr nicht. Schon wieder vergessen?“

Georg ging zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange, was sie augenblicklich ein Stück weit zurückweichen ließ. „Jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich vage, Tilli-Schatz. Danke für deine Fürsorglichkeit. Du bist die Beste“, erwiderte er.

Ich unterdrückte ein Kichern. Zwar war Georg früher auch schon keck, aber in Sachen Tilli nie so freizügig gewesen wie derzeit. Sie wirkte kurz verlegen, wollte etwas erwidern, aber Sören kam ihr zuvor.

„Ich habe eines gesehen!“, sagte er keuchend, stieg die Stufen zur Veranda hoch und stützte sich an einem der hölzernen Pfeiler ab. Sein Gesicht war bleich wie der Mond.

„Wen gesehen?“, fragten Tilli, Georg und ich gleichzeitig.

Sören sog scharf Luft ein und zeigte Richtung Meer. „Eines dieser Biester!“

Für einen Moment glaubte ich, jemand würde mir den Atem stehlen. „Du meinst … einen Avarthos?“, stammelte ich und riss die Augen auf, genau wie Tilli und Georg.

Sören nickte energisch. „Ich dachte, die haben versprochen, nicht mehr an Land aufzutauchen. Schon allein aus Selbstschutz. Ich sage euch was … denen ist nicht zu trauen. Das Ding war gestern am Strand.“ Er zeigte erneut zum Meer. „Seelenruhig hockte er dort. Es war zwar schon dämmrig, aber dennoch. Vielleicht verarschen sie uns nur und planen bereits den nächsten Angriff.“

Georg und ich tauschten verwunderte Blicke.

Die Avarthos waren sich untereinander einig, dass es besser war, in ihrer eigenen Welt zu bleiben, um keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber natürlich gab es Jungspunde, die anderen und sich selbst etwas beweisen wollten und hin und wieder übermütig wurden. Das wusste ich von Jamie. Höchstwahrscheinlich war es einer von ihnen gewesen. Trotzdem, es war gefährlich. Was, wenn ihn jemand gesehen hätte, der nicht zu denen gehörte, die von den Avarthos wussten, und an den falschen Stellen plappern würde? Ich musste unbedingt mit Jamie darüber reden.

„Unsinn!“, entgegnete ich, und Georg stimmte mir zu. Tante Mathilda wirkte nachdenklich und sprach dann meine Gedanken aus.

„Das war sicher einer der jungen Avarthos. Die männliche Art ist da dann anscheinend nicht anders als unsere. Wollen die Mädels mit ihren Heldentaten beeindrucken. Aber du hast recht. Es ist gefährlich“, warf sie ein.

„Ich werde Jamie Bescheid geben, damit er mit den Avarthos redet und die Sache klärt“, versuchte ich vor allem Sören zu beruhigen.

Der schüttelte den Kopf. „Das ist kein Unsinn! Das sind hinterlistige Biester. Habt ihr schon vergessen, was sie unseren Kumpels angetan haben? Mann, der sah mich direkt an. Und ich könnte schwören, er zog eine Fratze. Das war nicht nett gemeint“, zischte er.

Georg stellte sich dicht zu Sören. „Bleib bei den Tatsachen, Jung.“

Sören zeigte sich weiterhin uneinsichtig und fixierte uns. „Ich sag euch, die führen uns an der Nase herum, und die armen Seelen da unten genauso. Ihr werdet schon sehen.“

Mathilda seufzte, als er kehrtmachte und davonging.

Georg rief ihm nach: „He, Kumpel, bleib doch! Lass uns noch ein bisschen schwatzen und …“

„Reisende soll man nicht aufhalten“, bemerkte Tilli laut und verschränkte die Arme. „Es ist sicher so, wie Emma sagt. Kommt rein! Sonst wird die Suppe kalt. Der beruhigt sich schon wieder.“

„Dieser Sturkopf … He, Tilli, nur noch das eine Brett“, bemerkte Georg, woraufhin meine Tante lediglich eine Braue hochzog. „Also gut, du hast gewonnen“, brummte er, was sie kurz grinsen ließ.

„Ihr seid beide Sturköpfe. Da lege ich lieber mal die Waffen nieder“, flüsterte Georg mir zu und zwinkerte.

Ich musste schmunzeln, obwohl mir danach gar nicht zumute war. Noch immer spukte mir im Kopf herum, was Sören gesagt hatte. Bevor ich ins Haus ging, warf ich noch einen Blick über die Schultern. Sören stand ein wenig gebeugt in der Nähe des Strandes und nahm ein paar Schlucke aus einer kleinen silbernen Flasche. Mich beschlich das Gefühl, dass er sie nicht mit Wasser oder Tee gefüllt hatte. Vielleicht hatte er sich den Avarthos auch nur eingebildet? Aus der Ferne konnten kleinere Felsen manchmal wie Menschen wirken, besonders, wenn man einen intus hatte. Am liebsten hätte ich noch einmal mit ihm geredet, aber an diesem Tag wäre der Versuch unter Garantie nach hinten losgegangen.

Zusammenkunft

Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden, als in der Ferne leise und zart der liebliche Gesang der Merbies die Ankunft der Seelen ankündigte. Auch Sören hatte sich unter die Angehörigen gemischt. Georg klopfte ihm auf die Schultern.

„Schön, dass du gekommen bist, Jung.“

Sören nickte. Ich stand direkt neben ihm am Strand und konnte deutlich riechen, dass er schon wieder getrunken hatte. Fest bohrte er die Spitze seines rechten, teils löchrigen Stiefels in den Sand und wippte leicht hin und her, während er immer wieder aufs Meer hinausblickte. Sein Haar sah zerzaust aus, und er hatte sich seit Tagen nicht rasiert.

Tilli ergriff meine Hand und drückte sie fest, kämpfte mit den Tränen. Seit der Flut war beinahe ein halbes Jahr vergangen, in dem sich die, die von allem wussten, oft getroffen und geredet hatten. Nach wie vor drang kein Wort über die Lippen der Wissenden, und das sollte auch so bleiben. Darin waren wir uns alle einig.

Bisher hatte eine Begegnung mit unseren geliebten Seelen erst zweimal stattfinden können. Für Georg und Sören allerdings sollte es an diesem Tag die erste werden. Sie hofften darauf, Benedict und Olle wiederzusehen, die damals von den Avarthos auf bestialische Weise umgebracht worden waren.

In meiner Jackentasche vibrierte mein Handy. Ich nahm es heraus und sah nach. Eine Nachricht von Jamie.

Hallo Emma, ich freue mich so sehr auf unser nächstes Wiedersehen. Wenn Du willst, dann schon morgen Nacht. Bis dahin sind wir hier mit dem Bau der Zellen für die Avarthos fertig. Ich schicke Dir einen Kuss übers Meer. Dein Jamie.

Mein Herz begann zu wummern vor Vorfreude und Aufregung. Wenn ich will? Natürlich wollte ich ihn wiedersehen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Tilli zu mir herüberschielte.

„Alles okay unter den Wellen?“, fragte sie. Der raue Wind spielte mit ihren Locken und trieb den salzigen Geruch des Meeres zu uns.

„Alles prima. Er will mich sehen. Morgen“, flüsterte ich und konnte nicht mehr aufhören zu lächeln.

Georg, der neben Tilli stand, blickte ebenfalls in meine Richtung. Tilli schmunzelte darüber.

„Dann nimmst du aber das neue Boot zum Rübersetzen“, sagte er.

Ich sah ihn irritiert an, und dann stieß Tilli ihm auch noch in die Seite, was ihn ebenfalls merklich verdutzte. „Hast du ihr noch nichts davon gesagt?“, wollte er von ihr wissen.

„Nein! Ist doch deine Überraschung“, gab sie zurück.

Ich schürzte die Lippen. „Neues Boot?“

„Ja, nun ja …“, stotterte er.

Tilli verdrehte die Augen. „Nun ist es zu spät. Verrate es ihr halt, du Schlaumeier.“

Erst als sie zu lächeln begann, rückte Georg langsam mit der Antwort heraus, flüsterte jedoch vorher in Tillis Richtung: „Du Sylter Reibeisen mit Herz.“

„Was? Lehn dich mal nicht zu weit aus dem Fenster, Jung“, erwiderte sie und verzog einen Mundwinkel. Ich wusste, sie meinte es nicht böse, und Georg wusste das auch.

Er wandte sich gänzlich mir zu. „Ich habe dir eins gebaut. Also ein Boot, meine ich. Ist noch bei mir im Schuppen, aber so gut wie startklar.“ Seine Augen leuchteten.

Das war wirklich eine Überraschung. Nicht zu fassen! Ein eigenes Boot. Ich konnte nicht anders, ging zu ihm und umarmte ihn, wobei sein Bart an meiner Wange kitzelte. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll … Wow! Danke!“

„Sehr gern, Deern. Deine Tante und ich wollen nur, dass du einen richtigen Kahn unter dem Hintern hast, wenn du zur Insel schipperst. Ich bringe es morgen früh gleich her“, erklärte er.

Das Singen der Merbies wurde lauter. Wir hielten inne und starrten gebannt aufs Meer hinaus, auch die Eltern der Kinder, die von den Avarthos geholt worden waren.

Gemeinschaftlich überlegten wir Menschen und die Seelen, wie man den Angehörigen, die nicht auf Sylt wohnten, alles beibringen sollte. Ein schwieriges Unterfangen, denn niemand wusste, wie sie reagieren und ob sie es für sich behalten würden. Manche der Seelen wollten alles so belassen, wie es war, um keine Wunden aufzureißen, die nur mühsam und dünnhäutig verheilt waren. Es musste behutsam und langsam vorgegangen werden, da waren wir uns jedenfalls einig.

Die Wrackteile der beiden ins Meer gestürzten Passagiermaschinen hatte man inzwischen gefunden und geborgen. Nach mehreren Untersuchungen wurde bekanntgegeben, dass technische Defekte für die Abstürze verantwortlich waren. Dafür hatten die Avarthos gesorgt und ihre Fäden wohldurchdacht im Hintergrund gesponnen.

Die ersten Sterne und ein hell erleuchteter Vollmond zeigten sich am Firmament, als die Seelen am Strand ankamen, begleitet von einem Schwarm Merbies, der über ihren Köpfen kreiste. Alle, die glaubten und ihr Herz öffneten, konnten die Ankömmlinge nun sehen. Langsam liefen die Eltern auf ihre Kinder zu, die allerdings nur bis zum Saum der gemächlich ausrollenden Wellen gehen konnten. Es war, als würde das Meer sie zurückhalten, wenn auch auf sanfte Art.

Die Körper der Seelen waren so zart wie ein Windhauch. Inzwischen hatten auch sie gelernt, Dinge zu berühren, mit denen sie gleichsam, wie Jamie damals, für uns greifbar wurden. So konnten die Kinder ihre Eltern in den Arm nehmen und mit ihnen reden. Tränen flossen, doch es wurde auch zusammen gelacht, während das rauschende Wasser ihre Füße umspülte. Die Treffen waren höchstens einmal im Monat möglich, alles andere wäre zu auffällig gewesen. Wir wollten nichts riskieren.

Gespannt hielt ich nach meinen Eltern Ausschau.

Tilli nickte mir zu, als sie sie zeitgleich mit mir entdeckte. „Geh schon, ich komme nach“, sagte sie und strich mir über den Arm.

Ich zögerte keine Sekunde länger. Ein warmes Gefühl von Geborgenheit umhüllte mich, als meine Eltern mir zur Begrüßung die Arme entgegenstreckten und mich sanft an sich zogen. Gott, es tat so gut, sie zu spüren und endlich wieder bei mir zu haben, auch wenn es nur für kurze Zeit sein konnte. Wir waren dankbar für jede Sekunde, und zugleich war uns klar, dass es ein wunderbares Geschenk war. Der Tod konnte uns nicht wirklich trennen.

„Du wirst mit jedem Tag hübscher, aber auch immer dünner“, flüsterte mein Vater und lächelte, während meine Mutter mir übers Haar strich. Ich merkte, dass sie sich sorgten.

„Mir geht es gut. Tante Tilli ist die Beste, sie versucht mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen“, erzählte ich ihnen.

Mom nahm mein Gesicht zwischen ihre zarten Hände. Sie hatte ihr kiwigrünes Lieblingskleid mit den weißen kleinen Blüten an, das sie damals bei der Abreise mit Dad nach Orlando getragen hatte. Es war nahezu unversehrt geblieben. Der zarte Stoff umspielte in leichten Wellen ihre Beine. Mein Vater rückte sich seine Brille zurecht, ohne die er früher beinahe blind war. Nun hätte er sie sicher nicht mehr gebraucht, doch schien es ihm ein Bedürfnis, so manche alte Lebensgewohnheit beizubehalten. Seine Bücher verkauften sich nach wie vor hervorragend. Das hatte uns kürzlich sein Verlag mitgeteilt und war dabei ganz aus dem Häuschen gewesen. Dad hatte mich als Erbin eingetragen, sodass das Geld durch die Verkäufe an mich floss. Tante Tilli und ich hatten beschlossen, den größten Teil an Stiftungen für Meeresschutz zu spenden, was ganz in seinem Sinne war. Dad war stolz über diese Entscheidung und ich glücklich, dass er so darauf reagiert hatte, als ich ihm bei unserem letzten Treffen davon erzählte.

Mom nickte und winkte ihrer Schwester. „Ich bin stolz auf euch beide, dass ihr euch durch nichts unterkriegen lasst. Richtig so.“

„Und weiter so“, ergänzte mein Vater.

„Wie geht es euch?“, wollte ich wissen.

Mom lächelte. „Wenn wir wissen, dass es dir gut geht, dann geht es auch uns gut, Schatz.“

Ich konnte nicht anders und umarmte sie abermals.

„Deine Mutter hat eine neue Aufgabe gefunden. Sie betreut die jüngsten der Avarthoskinder und bringt ihnen eine Menge bei. Du müsstest sie mit ihnen sehen. Sie sind ganz vernarrt in sie“, erzählte Paps.

„Und ich bin vernarrt in sie. Ein paar der Mädchen erinnern mich an dich. Sie wollen genauso mutig sein. Für viele bist du ein Vorbild geworden.“

Ich wich zurück. „Ich?“

„Natürlich du“, sagte Paps und musste lachen. „Oft kommen Avarthos zu mir, um sich Geschichten anzuhören, die ich mir früher ausgedacht und in meine Romane gepackt habe. Wir sind eine große Familie geworden. Übrigens, Doktor Sad und seine Kollegen experimentieren mit den energetischen Quellen. Hat Jamie dir das schon erzählt?“

„Ja! Er hat mir auch von dem neuen Zellenbau für Evenfall und seine Gefährten berichtet.“

Meine Mutter schüttelte den Kopf, ihre Augen trübten sich. „Die sind nach wie vor uneinsichtig und starrköpfig. Aber sie können nicht entkommen. Die neuen Zellen sind doppelt so sicher wie die bisherigen.“

„Das ist sehr gut!“, erwiderte ich.

Schließlich kam Mathilda zu uns. Mom und sie umarmten sich lange und sprachen über so manche Lebenserinnerungen, während wir zusammen den Meeressaum entlanggingen.

Plötzlich hörte ich Sören rufen: „Wo sind denn Ben und Olle? Ich kann sie noch immer nirgends entdecken.“ Er stand mit Georg etwas abseits.

„Ich bin gleich wieder da“, sagte ich und wollte zu ihnen gehen, da hielt mein Vater mich zurück.

„Ben und Olle sind nicht bei uns, Emma. Wir haben extra nachgefragt“, erklärte er.

Ich zog die Stirn in Falten. „Aber … wo sind sie?“

„In dem Jenseits, in dem auch Haley ist. Sie wurden zwar im Wasser angegriffen und verletzt, aber gestorben sind sie letztendlich an Land. Daher wohl! Es gibt, soweit die Avarthos glauben, ein Jenseits, das der Gott der Meere überwacht und in das die Seelen der Meereswesen kommen, und eines im Himmel, das für uns Menschenseelen bestimmt ist. Evenfalls Vater Carakos zum Beispiel, weilt seit seinem Tod im Jenseits des Meeresgottes. Da sind sich die Avarthos sicher. Uns nimmt dieser Meeresgott dort zwar nicht auf, aber er gibt uns auch nicht für den Himmel frei. So befinden wir uns sozusagen dazwischen.“

Mom ließ den Blick nachdenklich in die Ferne schweifen. Ja, so musste es sein, wenngleich es mehr als surreal klang. Aber ich hatte in den letzten Monaten so vieles erlebt, das mit dem rationalen Verstand nicht erklärbar war, dass dies wohl auch wirklich so sein könnte.

„Meine Güte!“, flüsterte Tilli leise.

„Wir haben es so akzeptiert. Für manche Dinge scheint es keine Erklärung zu geben, jedenfalls haben auch die Avarthos keine andere dafür. Wie gesagt, es geht uns gut da unten“, versicherte meine Mutter.

„Manchmal hab ich das Gefühl, als hätte dieser Gott noch etwas mit uns vor. Ich meine, nichts Schlechtes, aber es kommt mir vor, als bräuchte er uns“, warf mein Vater ein. Mom nickte, und nun war ich diejenige, die nachdenklich aufs Meer hinausstierte.

„Meine Güte!“, wiederholte Tante Tilli.

„Wo sind sie denn nun?“, rief Sören und riss mich damit aus meinem Gedankenkarussell.

„Ich muss zu ihm. Bin gleich wieder da“, sagte ich und ging zu Sören hinüber.

„Mir ist hundekalt“, brummte er, als ich bei ihm und Georg ankam.

„Na, komm schon, alter Seebär, bist doch sonst nicht so kälteempfindlich“, entgegnete dieser.

„Könnt ihr die Seelen sehen?“, fragte Sören. „Ich meine, ihr seid mit ihnen auch auf eine gewisse Art verbunden.“

„Ich sehe sie, ja“, antwortete Georg und stieß Sören leicht in die Seite. „Sag doch was.“

Der runzelte die Stirn. „Ja, ich auch. Es ist … unglaublich. Aber ich frag mich, warum ich Olle und Ben nicht sehen kann. Oder erkenne ich sie nur nicht? Meine Augen sind aber noch ganz gut, selbst wenn es schon düster ist. Außerdem kenne ich ihre Bewegungen. Keiner geht zum Beispiel so breitbeinig wie Olle.“

Zu meinem Erstaunen unterbrach er mich nicht einmal, während ich ihm alles ruhig zu erklären versuchte, sondern lauschte gebannt jedem meiner Worte. Er stand ganz still und senkte den Kopf. „Bist du sicher? Vielleicht sind sie ja nur sauer. Sauer, weil ich sie nicht retten konnte, weil ich nicht mehr getan habe.“

Auf einmal klang seine Stimme weich, er kam mir vor wie ausgewechselt.

„Du konntest nicht mehr tun. Das wissen sie, da bin ich mir sicher“, flüsterte ich. Georg pflichtete mir bei und legte eine Hand auf Sörens Schulter. Dieser presste die Lippen zusammen, zog sich seine graue Fischermütze vom Kopf und blickte in den sternenübersäten Himmel.

„Also, wir sehen uns da oben, Jungs“, sagte er.

„Ja! Das Wiedersehen wird groß gefeiert. Ich hoffe mal stark, dass es dort auch Bier gibt“, versuchte Georg einen Witz, der Sören tatsächlich schmunzeln ließ.

„Reserviert mir lieber eine Bottle Schnaps. Und noch eins verspreche ich euch, Jungs. Wenn eines dieser bösartigen Biester je wieder an Land gelangen sollte, dann Gnade ihm Gott.“ Er ballte die Hände zu Fäusten und machte kehrt.

„Wo gehst du hin?“, fragte Georg.

„Einen kippen. Und versuch jetzt nicht, mich aufzuhalten“, sagte er und hob eine Hand zum Abschied. Georg seufzte und schüttelte den Kopf.

„Ich begleite ihn und pass auf, dass er sich nicht zu viel hinter die Kiemen schüttet. Wir sehen uns später, Deern.“

Während ich zurück zu den anderen ging, schaute ich zum Himmel. „Ist es so, Haley? Gibt es zwei jenseitige Welten?“

Als würde mir Haley eine Antwort geben – vielleicht war es ja auch so – zog am Firmament eine Sternschnuppe vorüber, deren Schweif so hell leuchtete, dass er noch einige Sekunden länger zu sehen war. In diesem Augenblick erfüllte mich eine wohlige Wärme.

Die Erde und das ganze Universum waren ein einziges Geheimnis, von dem wir irdisch Wandelnden wohl nur einen kleinen Bruchteil erahnen konnten oder kennenlernen durften. Die Gedanken daran waren kaum fassbar, so faszinierend und zugleich beängstigend waren sie für mich.

Tilli verabschiedete sich von uns, als wir die Merbies erneut singen hörten. Auch sie wusste, dass es das Zeichen dafür war, dass der Abschied nahte.

„Pass bitte auf dich auf, mein Kind. Aber was sag ich da? Junge Dame trifft es viel eher“, sagte Mom und drückte mich noch einmal an sich. Paps kniff mir liebevoll in die rechte Wange. Es fühlte sich genauso an wie damals. Als ich ein Kind war, liebte er dieses Ritual. Da hatte ich es allerdings immer nur über mich ergehen lassen, obwohl ich es ein wenig nervig fand. Nun liebte ich es geradezu. Seine Augen strahlten dabei wie früher.

„Das wollte ich schon so lange mal wieder machen. Deine Mutter hat recht, du bist eine richtige junge Dame geworden, aber in meinem Herzen wirst du immer mein kleines Mädchen bleiben. Wir hatten viel Spaß, du und ich.“

Er presste die Lippen aufeinander. Auch in meiner Kehle bildete sich ein imaginärer Kloß, dessen Druck bis zu meinem Herzen reichte.

„Ich bin euch so dankbar für alles. Sogar dafür, dass ihr mir hin und wieder die Leviten gelesen habt, wenn ich mal wieder mit dem Kopf durch die Wand wollte“, sagte ich.

„Ach was. Im Großen und Ganzen warst du pflegeleicht“, erwiderte meine Mutter, was mich und meinen Vater zum Lächeln brachte.

Über dem Meer näherte sich langsam ein Schwarm Merbies. Sie würden die Seelen zurück ins Meer begleiten.

„Wir sehen uns bald wieder, Emma. Ganz bestimmt. Seelen sterben nie. Wir sind da. Denk daran“, flüsterte Paps.

„Lebe, Emma! Für uns!“, bat meine Mutter, und in ihren Augen lag ein eindringlicher Ausdruck.

Es war mir kaum noch möglich, ein klares Wort herauszubringen, also nickte ich nur. Schon jetzt vermisste ich die beiden schrecklich. Dann ging alles ganz schnell. Die meisten Seelen fassten sich an den Händen, während sie ins Meer zurückgingen, Schritt für Schritt. Keiner drehte sich noch einmal um. Das war so ausgemacht.

Wir sahen ihnen nach, bis sie aus unserem Blickfeld verschwunden waren. Wie die Seelen verschränkten ein paar der Anwesenden ihre Finger ineinander, während sie stillschweigend nach Hause gingen. Keiner sprach es aus, dennoch wussten wir alle, dass die Geschehnisse um die Avarthos uns alle immer mehr zu einer Art Familie zusammenschweißten. Bevor sie nach Hause gingen, wünschten sie mir viel Kraft. Diesen Wunsch konnte ich nur von ganzem Herzen zurückgeben.

Mel

Ich ging noch eine ganze Weile spazieren. Zwischen den Dünenhügeln wiegte der Wind die Halme der Gräser zu seinem rauschenden Gesang leicht hin und her. Jamie hatte sich noch einmal gemeldet.

Wie war das Treffen am Strand? Zu gerne wäre ich dabei gewesen. Aber sie brauchten mich leider hier. Miss you, Emma!

„Ich dich auch, sehr“, hauchte ich dem Wind entgegen.

Ich sehne mich nach deiner Wärme! Du bist mein Herz, Jamie, schrieb ich mit einem Gefühl, bei dem sich Vorfreude und Trauer vermischten.

Es war so schade, dass wir uns zwar gegenseitig Nachrichten schreiben, aber noch immer nicht miteinander telefonieren und auch keine Sprachnachrichten senden konnten. Es funktionierte einfach nicht, und wir hatten keine Ahnung, warum das so war. Vielleicht sollte es nicht sein.

Obwohl es ziemlich frisch war, legte ich mich zwischen zwei Dünenhügeln rücklings in den Sand und schloss die Augen, um einen Augenblick zu träumen. Ich sah Jamie direkt vor mir. Zusammen mit ein paar Avarthos hatte er vorgearbeitet und auf unserer Koralleninsel, wo sich vorher das gespenstische Labyrinth befand, palmenartige Gewächse und wunderschöne bunte Korallenblumen gepflanzt. In den Stunden, in denen ich bei ihm war, half ich immer mit. Es machte nicht nur mir großen Spaß, und wir waren jedes Mal stolz auf jeden Fortschritt. Nach einer Weile ließen uns die Avarthos allein, wohl ahnend, wie wichtig uns die Zweisamkeit war.

Mein Körper begann zu kribbeln, als würde das Blut in den Adern zu köcheln beginnen, wenn ich daran dachte, wie Jamie und ich im weichen Sand gelegen und unser erstes Mal erlebt hatten. Ganz langsam hatten wir uns gegenseitig unserer Kleidung entledigt und dabei immer wieder kurz verlegen auflachen müssen. Wir schmiegten unsere Körper eng umschlugen aneinander und küssten uns, wieder und wieder. Ich spürte die Wärme seines Körpers, obwohl das eigentlich unmöglich war.

„Du gibst mir das Gefühl, wieder lebendig zu sein. Ich spüre dich, jede Bewegung von dir, deine samtweiche Haut, deine Hitze, deinen rasenden Herzschlag. Es ist ein unsagbar schönes Geschenk, und es ist ein Wunder“, flüsterte er mir ins Ohr.

Wir lösten uns ein wenig voneinander und begannen uns zu streicheln. Jamie liebkoste meine Haut, auf der sich ein Feuerwerk entzündete, dessen Funken jeden Millimeter an mir prickeln ließen. Wir waren zwei Seelen, die sich bedingungslos liebten. Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen. Ich wollte ihn und er mich. So gaben wir uns hin und verschmolzen miteinander. Der Strand unter uns schien zu beben.

Selbst das Meer war aufgewühlt. Seine Wellen wurden langsam intensiver und drangen bis zu uns vor. Zärtlich umspülten sie unsere erhitzten Körper, während ich sie nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich spüren konnte. Ich ließ mich treiben, bis mir die Ekstase beinahe den Atem nahm. Am Ende küsste mich Jamie noch einmal lange. Danach lagen wir einfach da und hielten uns fest, ohne etwas zu sagen.

Neben dem Gesang des Meeres gab es nur Jamies Atem, als wäre er wirklich am Leben. Solange seine Seele das war, war er das für mich auch. Eindeutig war das das wahre Wunder. Wir hatten die Grenze des Todes durch unsere Liebe überschritten. Ich hatte das Gefühl, dass er uns überhaupt nichts anhaben konnte.

Das Surren meines Handys holte mich aus meinen Träumen, ich öffnete die Augen. Eine neue Nachricht von Jamie. Jedes geschriebene Wort von ihm war gleich einer warmen Berührung, die mich sofort wieder mit Sehnsucht nach ihm erfüllte.

Genießt du den Frühling auf der Insel, meine Emma? Ich zähle die Sekunden bis morgen Nacht. Kuss, Kuss, Kuss. So viele, wie es Sterne am Himmel gibt. Ach ja. Ich habe noch eine kleine Überraschung für dich. Jetzt musst du kommen. Ich weiß doch, wie neugierig du bist. Ich hole dich ab.

Fast unbewusst musste ich lächeln und antwortete: Du weißt, du kriegst mich immer. Ich komme zum Strand, sobald ich das Nordlicht sehe. Bei Gott, ich bete, dass die Zeit bis dahin schnell vergeht. Am liebsten würde ich ja gleich und sofort zu dir kommen.

Sobald ich die Nachricht abgeschickt hatte, merkte ich, dass der Akku nicht mehr lange halten würde und schrieb meiner Tante, dass ich noch kurz bei Mel vorbeischauen würde. Es war zwar schon wirklich spät, aber Mel hatte mich vor dem Treffen angerufen und gefragt, ob ich nachher Zeit für sie hätte und bei ihr zu Hause vorbeikommen könnte. Sobald sie die Tür aufgezogen hatte, breitete sie die Arme aus und zog mich in eine Umarmung, als hätten wir uns schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Sie duftete nach Zuckerwatte, und ihr Haar schimmerte seidig und kitzelte mich im Gesicht.

„Schön, dass du kommst. Wie war es?“, fragte sie, ließ mich los und winkte mich nach drinnen.

Während ich ihr in die Küche folgte, erzählte ich ihr vom Treffen mit den Seelen und dem Gespräch mit Sören. Gespannt lauschte sie jedem meiner Worte. Sie nahm zwei Gläser aus einem der blauen Küchenschränke und schielte zu mir rüber.

„Vielleicht hat er sich das nur eingebildet. Alkohol kann Halluzinationen auslösen. Offensichtlich verfällt er dem wieder.“

Dass der Avarthos, den er gesehen hatte, nur Einbildung war, das hoffte ich allerdings auch.

Mel mixte uns einen Schokoshake und reichte mir ein Glas mit einer Haube aus Sahne, die sie zur Krönung noch mit bunten Streuseln bestreute. Wie sie sagte, trank sie abends gerne mal einen solchen Shake, wenn sie runterkommen wollte. Nervennahrung sozusagen. In ihrem Zimmer angekommen, setzten wir uns auf ihr schwarzes Metallbett, dessen Bettwäsche so giftgrün war wie Georgs frisch gestrichener Kutter. Der Fußboden war belagert mit Schminkartikeln, Klamotten und Büchern, was mich verwunderte. Nicht das Durcheinander, das war ich bereits von ihr gewohnt, vielmehr waren es die Bücher, denn Mel las selten in einem.

Auf dem Spiegel ihrer kleinen weißen Kommode stand mit rotem Lippenstift „Forever yours“ geschrieben. Mel folgte meinem Blick und lachte. „Björn!?“, sagten wir beinahe gleichzeitig. Mels Wangen färbten sich rot, und ein Glänzen schlich sich in ihre Augen, als würde sich ein Diamant darin spiegeln.

„Er war vorhin da. Meine Eltern sind unterwegs, Freunde besuchen“, erklärte sie und zupfte an ihrem pinken Shirt.

„Ach“, sagte ich lediglich.

Melanie verdrehte schmunzelnd die Augen, dann kicherten wir wie Kleinkinder. Vor etwas mehr als einem Monat hatte sie Björns Balzen endlich nachgegeben. Seitdem waren sie ein Paar und trotz manch kleiner Streitigkeit glücklich miteinander, was mich sehr für die beiden freute. Sie passten zusammen wie Deckel auf Eimer. Oder hieß es Deckel auf Topf? Egal.

„Verstehe. Ihr wart also so richtig eng miteinander“, neckte ich sie.

Mel rückte näher. „Ich sag dir, es war viel besser, als ich es mir vorgestellt habe. Björn war so einfühlsam. Er hat sogar ein bisschen gezittert. Er sagte, er hat Angst, dass er mir wehtun könnte. Süß, oder?“

Erstaunt blickte ich sie an. „Heißt das, es war dein erstes Mal?“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Nicht, dass Mel mit jedem Typ, der ihr schöne Augen machte, ins Bett springen würde. So eine war sie nicht, aber eben schon mit etlichen Jungs zusammen gewesen. Und so wie sie sich immer angehört hatte, hatte sie mit diesen auch schon mehr als nur Küsschen getauscht. Ihr Blick verriet, dass sie sich ertappt fühlte.

„Na ja … Eigentlich … Nun ja. Ich hab dir ja mal von Tim Jacobs erzählt.“

„Ja, ich erinnere mich, dass du jedes Mal fast in Ohnmacht gefallen bist, wenn du ihn gesehen hast.“

„Idiotisch, nicht wahr? So kann man sich in jemandem täuschen. Mit ihm hätte ich … Du weißt schon. Also, es ist nicht so, dass ich nicht schon Gelegenheiten gehabt hätte. Nur das Problem an der Sache war, er wollte nichts außer das! Das hat er mir unmissverständlich klargemacht und dann auch noch gefragt: Deal or no Deal? Hallo!“

„Was? Deal or no Deal? Wie blöd ist das denn?“ Ich tippte mir an die Stirn. Da hätte er ja gleich auch einen Vertrag aufsetzen können.

„Eben. Gut, es war verlockend. Aber danach hätte er mich gegen irgendeine andere Tussi eingetauscht, wie er es bei Babs kürzlich getan hat, der Mistkerl. Ne, dafür bin ich mir zu schade. Die anderen waren auch nicht anders. Also … ja! Ich … ich wollte mich eben aufheben, für … den Richtigen.“

Wow! Mel dachte da also genauso wie ich. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass sie noch Jungfrau war, geschweige denn, dass sie meine, für die meisten meines Alters altmodische Ansicht, teilte. Sie hatte immer nur ein bisschen geschmunzelt, wenn ich von dem Thema anfing.

„Sprich ruhig weiter. Für den Richtigen. Und bei Björn hast du das Gefühl?“

Sie stellte ihr Glas weg und schlug die Hände vors Gesicht. „Oh Mann, wie peinlich. Ja!“

„Wieso denn? Ich finde es toll. Ich sehe das doch genauso wie du. Du musst nicht immer Miss Cool spielen. He, ich bin es. Emma!“

Langsam ließ Mel ihre Hände vom Gesicht gleiten und umarmte mich stürmisch, als hätte ich ihr gerade ein Riesengeschenk gemacht.

„Tut mir leid, dass ich manchmal so eine Idiotin bin. Ich danke dir. Dafür, dass ich bei dir sein kann, wie ich wirklich bin. Das tut verdammt gut. Bei Björn geht das auch immer besser.“ Sie ließ sich rücklings aufs Bett sinken, und ich setzte mich neben sie. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell, was mir zeigte, wie aufgewühlt sie innerlich war.

„Du bist und bleibst ein verrücktes Huhn, Melanie.“

Mel blies sich eine rote Strähne aus der Stirn und blickte mich mit leuchtenden Augen an.

„Bin froh, dass ich dich und Björn hab“, sagte sie ernst und lächelte dieses Lächeln, bei dem sich eine kleine Mulde in ihrer rechten Wange bildete, die ich so liebte.

„Das kann ich nur zurückgeben.“

„Wann siehst du Jamie wieder?“

Ich atmete tief durch, um das aufsteigende Kribbeln ein wenig unter Kontrolle zu halten. Es überfiel mich sogar, wenn jemand seinen Namen sagte. „Morgen Nacht. Auf unserer Insel. Ich kann es kaum abwarten.“

Mel seufzte. „Traumhaft und verrückt. Genau mein Ding. Meinst du, Björn und ich können mal mitkommen?“

Der Gedanke gefiel mir. Von mir aus jederzeit. „Ich kann ihn mal fragen.“

Melanie klatschte in die Hände. „Das wäre prima. Was sage ich - das wäre der Obermegahammer.“

Mein Blick fiel auf das Chaos in Mels Zimmer. „Sag bloß, deine neue Chefin hat dich mit ihrem Bücherfieber angesteckt?“, fragte ich und hob einen dicken Liebesroman auf, der griffbereit neben dem Bett lag.