Banshee Livie (Band 11) - Miriam Rademacher - E-Book

Banshee Livie (Band 11) E-Book

Miriam Rademacher

0,0

Beschreibung

Es ist die Bitte einer alten Dame, die Livie und Millie dazu bringt, einen harmlosen Ausflug an die Universität zu unternehmen, an der seit Menschengedenken alle Harrowmores studiert haben. Doch in Durbridge regiert das Böse. Ganz leise hat es sich eingeschlichen und ›harmlos‹ ist das, was in dem unheimlichen Wald nahe dem Wohnheim geschieht, ganz gewiss nicht …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 375

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Dank

 

Miriam Rademacher

 

 

Banshee Livie

Band 11: Überleben für Erstsemester

 

 

Fantasy

 

 

 

 

 

 

 

Banshee Livie (Band 11): Überleben für Erstsemester

Es ist die Bitte einer alten Dame, die Livie und Millie dazu bringt, einen harmlosen Ausflug an die Universität zu unternehmen, an der seit Menschengedenken alle Harrowmores studiert haben. Doch in Durbridge regiert das Böse. Ganz leise hat es sich eingeschlichen und ›harmlos‹ ist das, was in dem unheimlichen Wald nahe dem Wohnheim geschieht, ganz gewiss nicht …

 

 

Die Autorin

Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf und begann früh mit dem Schreiben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie mag Regen, wenn es nach Herbst riecht, es früh dunkel wird und die Printen beim Lesen wieder schmecken. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Kurzgeschichten, Fantasyromane, Krimis, Jugendbücher und ein Bilderbuch für Kinder veröffentlicht.

 

 

 

 

 

 

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, November 2024

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2024

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

Lektorat / Korrektorat: Lektorat Laaksonen | Stefan Wilhelms

Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-376-9

ISBN (epub): 978-3-03896-377-6

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

 

Für meinen Geliebten.

Jetzt wie vor so vielen Jahren.

 

Prolog

 

England, Durbridge University 1986

 

Holly konnte sich nicht konzentrieren. Es war nicht etwa so, dass die Vorlesung über die Auswirkung der Industrialisierung auf die Lyrik nicht interessant gewesen wäre. Der kleine Professor mit dem weißen Rauschebart hatte den Stoff durchaus spannend aufbereitet, und es gelang ihm auch, die Inhalte amüsant vorzutragen. Nein, Hollys Problem war ausgesprochen profan und saß zwei Reihen vor ihr im Hörsaal. Es war männlich, rotblond und hatte offenbar keine Probleme, dem Vortrag zu folgen.

Es war nicht das erste Mal, dass dieser junge Mann Holly auffiel. Schon bei ihrem ersten Zusammentreffen vor einigen Tagen in der Mensa hatte sie den Blick kaum von ihm abwenden können. Auch vom Lernen hielt er sie jetzt schon zum zweiten Mal in Folge ab. Dabei war sie zu Beginn des Semesters voller guter Vorsätze gewesen. Keine Jungs mehr, nie wieder. Nichts sollte sie von dem Ziel ablenken, eine hervorragende Studentin zu sein und einen ebenso hervorragenden Abschluss zu machen. Schließlich erhielt nicht jeder die Chance, an der kleinen, aber hochangesehenen Durbridge University im Osten des Landes studieren zu dürfen.

Holly stammte im Gegensatz zu den meisten ihrer Kommilitonen aus einfachen Verhältnissen. Ihr Vater kannte als Stahlarbeiter die eher weniger lyrischen Seiten der Industrie und ihre Mutter ging noch immer für ein paar Pfund am Tag bei den gut betuchten Leuten in Sheffield putzen. Holly war die Erste in ihrer Familie, der eine glänzende Zukunft winkte, und sie hatte hart dafür gearbeitet. Jetzt sollte ihr bestimmt kein Kerl in die Quere kommen, egal wie hübsch er auch sein mochte. Allerdings gab es da dieses Problem, das schräg vor ihr saß.

Hätte irgendjemand Holly gefragt, was sie an dem langnasigen Kerl mit dem krummen Rücken so faszinierte, sie hätte es nicht benennen können. Er war wohl schlichtweg genau ihr Typ. Sie mochte die Art, wie er den Kopf schräg hielt, wenn er über etwas nachdachte, liebte das flüchtige Lächeln, mit dem er auf die eingestreuten Witze des Professors reagierte, und wünschte sich von Herzen, seinen angekauten Kugelschreiber gegen einen neuen ersetzen zu dürfen.

Doch er hatte sie bisher nicht einmal wahrgenommen und würde es vermutlich auch nie tun. Um zwischen den anderen Studenten überhaupt aufzufallen, hätte Holly Stelzen gebraucht oder wenigstens eine tolle Frisur, vielleicht eine Dauerwelle, oder ein angesagtes Outfit. Holly konnte nichts von alledem vorweisen. Sie war nicht cool, völlig unbegabt, wenn es darum ging, sich ein schrilles Make-up ins Gesicht zu zaubern, und sie war sehr, sehr klein. Ohne ihren Studentenausweis bekam sie in keinem Pub der Welt ein Bier. Jeder hielt sie für ein Schulkind.

»Wenn Sie sich einen Gefallen tun wollen, lesen Sie die Seiten 58 bis 66 noch einmal aufmerksam durch. Auch im Hinblick auf die Klausuren zum Semesterende.«

Die Worte des Professors brachten Holly kurzfristig zurück in die Wirklichkeit.

Die Seitenzahl hatte sie schon verstanden, aber von welchem Buch war die Rede? Verdammt.

Wenn sie es nicht fertigbrachte, sich auf den Lernstoff zu konzentrieren, würde sie niemals einen Abschluss machen und konnte sich jetzt schon darauf einstellen, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Dabei konnte Holly nicht einmal eine Fensterscheibe putzen, ohne dass die Sonne die zahlreichen Schlieren offenbarte.

»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

Der Professor ließ die Verschlüsse seiner Ledertasche klicken und schlenderte davon. Um Holly herum standen die Studenten von ihren Sitzplätzen auf und schickten sich an, schwatzend den Raum zu verlassen. Nur sie saß noch völlig konsterniert auf ihrem Platz und stellte sich immerzu dieselbe Frage: Um welches Buch war es gerade gegangen?

»Möchtest du seine Telefonnummer haben?«

Die Stimme kam von hinten und als Holly herumfuhr, blickte sie in die blassblauen Augen eines sommersprossigen Jungen, dessen Haarfarbe mit der ihres Schwarms nahezu identisch war. Erstaunlicherweise konnte er auch genau so charmant lächeln.

»Wie bitte?«, brachte Holly heraus.

»Na, du hast ihn doch die ganze Zeit über angestarrt.« Der Fremde legte den Kopf schief und die Ähnlichkeit wurde noch eine Spur offensichtlicher. »Wenn du willst, gebe ich dir seine Telefonnummer. Wahlweise könnte ich dir aber auch seine Schuhgröße oder sein Lieblingsessen verraten.«

Holly spürte, wie sie rot wurde. Ganz automatisch beschloss sie, alles zu leugnen. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»Von Nicolas, natürlich.«

Er grinste überlegen und wusste vermutlich gar nicht, wie dankbar sie ihm in diesem Moment war. Endlich hatte sie einen Namen zu dem ansprechenden Gesicht: Nicolas. Sie hätte vor Freude an die Decke springen können.

»Okay, ich muss jetzt weiter. Falls du es dir wegen der Telefonnummer noch überlegst, kannst du mich ja jederzeit fragen.« Er warf sich einen feuerroten Rucksack über die Schulter, setzte ein Basecap auf und wandte sich zum Gehen.

»Halt! Ich habe noch eine ganz andere Frage«, rief Holly und wusste nicht, woher sie denn Mut dazu nahm. »Seite 58 bis 66 hat der Professor gerade gesagt. Aber in welchem Buch denn?«

Jetzt sah sie eine Spur von Mitleid in seinen Augen. »Oh, Mann. Dich hat es aber ganz schön erwischt, was? Na komm, ich fasse für dich noch mal die wichtigsten Inhalte der heutigen Vorlesung zusammen.«

Erleichterung durchflutete Holly, vom Hals bis zu den Zehenspitzen. Hastig raffte sie ihren leeren Notizblock sowie ein paar Stifte zusammen und verließ mit dem Unbekannten an ihrer Seite den Hörsaal.

Er war um einiges größer als sie. Gut, das war keine Kunst, aber er war wirklich ziemlich groß. Wann immer er einen Schritt machte, benötigte sie zwei, um nicht hinter ihm zurückzubleiben. So musste sie nicht nur im übertragenen Sinne rennen, um aufzuholen, was sie soeben versäumt hatte, doch es lohnte sich. Binnen weniger Minuten brachte ihre neue Bekanntschaft sie auf den aktuellen Stand, und als er endete, hatte sie das Gefühl, den Morgen doch nicht gänzlich verschwendet zu haben.

»Okay, kleine Fee. Falls du nicht mit mir in die Chemie-Lesung möchtest, trennen sich jetzt unsere Wege.« Mit dem Daumen deutete er auf die Tür, vor der sie jetzt Halt gemacht hatten. »Nicolas ist übrigens auch dort drinnen.« Er grinste und Holly war zu verwirrt, um angemessen auf den neuen Spitznamen ›kleine Fee‹ zu reagieren.

»Lyrik und Chemie? Was ist denn das für eine seltsame Kombination?«

Er zuckte mit den Schultern. »Das eine will man, das andere muss man. Zumindest, wenn einem die Familie nicht den Geldhahn zudrehen soll. Mach es gut, kleine Fee.«

»Halt«, rief Holly erneut und als sein Blick auf ihr ruhte, kam sie kurz ins Stottern. »Ich meine: danke schön. Du hast mir sehr geholfen.«

»Keine Ursache.«

Wieder war er so gut wie weg. Doch Holly besaß mit einem Mal so viel Mut wie nie zuvor in ihrem Leben. »Wie heißt du eigentlich?«

Erneut verzog sich sein Mund zu einem herrlich ironischen Lächeln, das dem von Nicolas so ähnlich war.

»Ich bin Joshua. Und darüber hinaus auch der große Bruder von Nicolas. Joshua Harrowmore. Bis bald, kleine Fee.«

Holly blieb zurück, während er den Hörsaal betrat und zwischen den anderen Studenten verschwand. »Nicolas und Joshua Harrowmore«, wiederholte sie laut, spürte kaum, wie jemand sie anrempelte und gleichgültig weiterging, ohne sie auch nur bemerkt zu haben.

Nur langsam setzten sich ihre Füße wieder in Bewegung. »Nicolas und Joshua Harrowmore.«

Kein Wunder, dass ihr beide auf Anhieb gefielen, sie waren demselben Genpool entsprungen. Ob sie in nächster Zeit einfach mal ein paar Vorlesungen in Chemie besuchen sollte? Nur um ihnen nahe zu sein. Schaden konnte das ja nicht.

Kapitel 1

 

Herbst 2020

 

»Sie treibt mich in den Wahnsinn!« Türe knallend kam Millicent Harrowmore in meine Dachkammer geprescht, baute sich vor mir auf und ruinierte mal eben so meinen bis dahin entspannten Feierabend. »Noch keine drei Jahre ist dieses Kind alt und schon jetzt bringt sie mich täglich auf die Palme. Wie soll das werden, wenn sie erst in der Pubertät ankommt?«

»Sobald die einsetzt, redet Allison vermutlich kein Wort mehr mit dir. Ich nehme doch mal stark an, dass es um deine Tochter geht?« Ich lehnte mich an das Rundfenster, durch das ich eben noch den Nachthimmel bewundert hatte. Mir war zu Ohren gekommen, dass ein Sternschnuppenregen niedergehen sollte, und ich wollte wenigstens ein oder zwei Wünsche ans Universum loswerden.

»Um wen sollte es wohl sonst gehen?« Millie stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Jedes Wesen, einfach jedes, muss das Teleportieren mühsam erlernen. Mir hat es Zach beigebracht und dir Chris, dieser schräge Todesbote. Nur meine Tochter kann es einfach mal so von alleine.«

»Und weil man überall im Schloss problemlos teleportieren kann …«

»… Ist sie ständig weg«, beendete Millie meinen Satz. »Eben noch habe ich sie in ihr Gitterbettchen verfrachtet, drehe mich nur kurz um, weil ich ihren Bruder zudecken will, und schon sitzt sie auf der Fensterbank und gluckst.«

»Das ist hart«, gab ich zu. »Wie oft hast du sie heute Abend in ihr Bett gelegt?«

»Zweiundfünfzigmal!« In Millies Augen trat eine Spur von Wahnsinn. »Und immer ist sie an einer neuen Stelle wieder aufgetaucht. Es macht ihr offensichtlich Spaß, völlig planlos in der Gegend herum zu teleportieren.«

Einen Moment lang war ich gewillt, sie einfach nur mit Mitleid zu überschütten. Dann aber beschloss ich, den längst überfälligen Ratschlag loszuwerden. »Vielleicht ist Allison kein Kind, das man nach den üblich geltenden Konventionen erziehen kann. Sie ist außergewöhnlich. Also solltest du als Mutter ebenfalls auf außergewöhnliche Methoden zurückgreifen.«

»Ach ja?« Millie reagierte genau so, wie ich es von ihr erwartet hatte. Wie es jede Mutter tut, sobald sie auch nur einen Anflug von Kritik wittert. »Und wie ist man außergewöhnlich, Fräulein Neunmalklug? Gibt es etwa ein Anti-Teleportspray, ein ausbruchsicheres Babybett für flüchtige Kinder oder eine pinke Baby-Fußfessel?«

Ich brauchte nicht zu antworten. Sie erwartete das gar nicht von mir. Stattdessen stellte sie sich neben mich, drückte ihre Stirn ganz sacht gegen die kühle Fensterscheibe und starrte hinaus in die Dunkelheit.

»Warum kann sie nicht ein bisschen mehr wie ihr Bruder Badria sein?«

Ich hätte ihr gern gesagt, dass sie nicht ganz fair war. Wie konnte sie von dem einen Zwilling erwarten, dem anderen zu gleichen? Es handelte sich um zwei verschiedene Personen. Aber wie immer, wenn die Sprache auf ihren Sohn kam, sank ihre Stimmung ins Bodenlose. So auch diesmal.

»Hast du heute schon Badrias Zukunft gecheckt?«, fragte ich vorsichtig.

»Natürlich habe ich das.« Sie schloss die Augen.

»Du weißt, dass die Zeit es nicht duldet, wenn du immer wieder dieselben Zeitpunkte und Orte aufsuchst«, erinnerte ich sie. »Irgendwann macht sie den Laden dicht.«

»Ich bin nicht blöd«, brummte sie. »Ich versuche es natürlich an unterschiedlichen Orten und Zeitpunkten. Aber er ist noch immer tot. Ich weiß nicht, wie das sein kann, aber er wird einfach nicht älter als sechzehn Jahre. Und das, obwohl wir dieses Problem doch am Ende unseres letzten Abenteuers für gelöst hielten.«

»Wir haben es gehofft«, sagte ich sanft. »Doch die Zeit ist immer sehr bemüht, geringfügige Eingriffe nicht zu großen Veränderungen führen zu lassen.« Ja, ich klang gerade genau wie Zach, der kleinste größte Zauberer der Welt. Und das lag daran, dass er mir die Worte eingetrichtert hatte, um sie in Momenten wie diesen wieder und wieder herunterzubeten. Von großem Nutzen schienen sie allerdings nicht zu sein. Bei Millie fielen sie einfach nicht auf fruchtbaren Boden.

»Ich bin verflucht«, murmelte sie und schlug den Kopf gegen die Scheibe.

»Wie alle Harrowmores.« Ich behielt meinen sanften Tonfall bei, obwohl die Platte, die Millie jetzt auflegte, nicht gerade neu für mich war.

»Ich habe einen wunderbaren Sohn, dem das Schicksal nur ein kurzes Leben zugedacht hat, und eine Tochter, die gleich nach dem Laufen das Teleportieren lernt. Nicht mehr lange und sie wird entdecken, wie man durch die Zeit reist. Wie soll ich sie dann davor beschützen, in Pompeji zu Asche zu verglühen oder von einem Dinosaurier gefressen zu werden? Es ist ja nicht nur die ganze Welt, die ihr offensteht, sondern auch sämtliche Zeitalter.«

»Die erwachsene Allison hat uns schon unzählige Male besucht«, erwiderte ich. »Wir haben sie als zahnlose Alte kennengelernt, also wird sie nicht als Kleinkind in einen Vulkan fallen. Atme tief durch und denke daran, dass sie zur Not ja noch immer eine Banshee zur Patentante hat. Falls ihr wirklich Gefahr droht, egal wo, egal wann, dann wird mein Todesbote mit einer Vision zu mir kommen und ich fange an zu heulen, wie es sich gehört. Du kannst dann immer noch losflitzen, um ihr Leben zu retten. Alles wird gut.«

Millie schniefte kaum hörbar. »Du hast recht.«

»Natürlich habe ich das.«

»Du hast recht, und ich bin hysterisch.«

»Nett von dir, es selber einzusehen.« Ich klopfte gegen die Fensterscheibe, an der sie noch immer lehnte. »Beschäftige dich besser mit etwas anderem, das lenkt ab. Heute ist Sternschnuppennacht. Ein wahrer Regen soll in den nächsten Stunden auf uns niedergehen. Du wirst dich vielleicht besser fühlen, wenn du einen Wunsch äußerst. Heimlich. Ohne ihn mir zu verraten, selbstverständlich. Nur dann kann er in Erfüllung gehen.«

»Du hast nicht viel Ahnung von Wünschen und Sternschnuppen, oder? Das klappt so überhaupt nicht.« Millie verdrehte demonstrativ die Augen. »Stehst du etwa nur deshalb hier am Fenster herum? Um deine Wünsche einem Stern anzuvertrauen?«

»So ist der Plan«, erwiderte ich und schluckte das Gefühl der Kränkung hinunter, weil ich laut Millie nicht einmal wusste, wie man einen Wunsch loswurde. »Und bis gerade hat es sich auch noch völlig richtig angefühlt.«

Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit sah ich wieder ein Lächeln auf Millies Gesicht. Gepaart mit einer Spur von Neugier. »Was willst du dir wünschen? Geht es um Walt? Weil er sich in letzter Zeit so rar gemacht hat? Du willst ihn zwingen, mehr Zeit mit dir zu verbringen als mit Todd in Rimney Park, richtig?«

»Wenn ich dir das erzähle, geht der Wunsch doch nicht in Erfüllung.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schob schmollend die Unterlippe vor.

Natürlich hatte Millie ins Schwarze getroffen. Seit ich während unseres letzten Abenteuers viel über das Kontinuum der Todesboten hinzugelernt hatte, war ich Walt gegenüber nachsichtiger geworden als zu Beginn unserer Beziehung. Doch allmählich beschlich mich das Gefühl, genau dafür ausgenutzt zu werden. Manchmal ließ mein Todesbote sich tagelang nicht blicken. Und ich ahnte, wo er sich aufhielt, während ich auf meiner Sofakante hockte und mich langweilte. Entweder trank er Kakao am Kamin der Todesboten und erholte sich von seinen Visionen, oder er war in der neuen Außenstelle in Rimney Park, wo Todd, ein Banshee-Junge von etwa zehn Jahren, die Aufgabe übernommen hatte, ein wachsames Auge auf Millies Bruder Cameron und dessen halbwüchsige Söhne zu haben. Gerade in letzter Zeit produzierten Patrick und Jonathan wesentlich mehr Notfälle als alle anderen Harrowmores zusammen. Was dazu geführt hatte, dass ich Walt nur noch selten zu Gesicht bekam.

»Der Sternschnuppenwunsch geht nur in Erfüllung, wenn du ihn dir nicht einmal selbst verrätst«, sagte Millie unvermittelt. »Dann aber soll er große Macht besitzen.«

»Hä?« Eigentlich war ich der Meinung, mit dieser Frage alles Wesentliche zum Ausdruck gebracht zu haben, doch da auch Millies unausgesprochene Gegenfrage nur aus zwei Buchstaben bestand, formulierte ich sie noch etwas aus. »Wie soll man denn vor sich selbst einen Wunsch geheim halten? In dem Moment, wo du ihn gedacht hast, ist er doch da.«

»Ja, deswegen muss ja jemand anders deinen Wunsch für dich denken und wünschen«, entgegnete Millie. »Jemand, der ahnt, was du dir wünschen würdest und was du dringend brauchst. Der kann den Gedanken dann für dich denken.«

»Aha. Also davon habe ich wirklich noch nie gehört.«

Ich sah wohl etwas zu ungläubig drein, weswegen Millie fortfuhr: »So hat Zach es mir erklärt und der ist schließlich …«

»… Der größte kleine Zauberer aller Zeiten oder umgekehrt. Ja, dann muss es ja stimmen.« Ich sah hoch zu den funkelnden Sternen und schwieg eine Weile. Auch Millie hielt für einen Moment inne.

Dann sprach sie aus, was wir beide in diesem Moment gedacht haben mussten. »Okay, ich wünsch dir was, wenn du auch etwas für mich wünscht. Dann werden wir ja sehen, ob das alles Blödsinn ist oder ob die Wünsche in Erfüllung gehen.«

Es klang albern und trotzdem spürte ich bereits die Aufregung, die von mir Besitz ergriff. Der Vorschlag war so einfach wie genial. »Wir kennen uns ja wirklich lange genug, um zu wissen, was wir uns selbst wünschen würden. Da kann gar nichts schiefgehen.«

»Ja, wir können uns völlig sicher sein, dass wir füreinander nur das Beste wollen«, sagte nun auch Millie. »Okay, du guckst nach links und ich nach rechts. Sobald wir eine Sternschnuppe flitzen sehen, geht das Wünschen los.«

Ich nickte und fixierte die mir zugewiesene Himmelsrichtung. Natürlich wusste ich genau, was das Beste für Millie war, schließlich kannte ich meine beste Freundin in- und auswendig.

Eine Weile standen wir schweigend nebeneinander, die Köpfe in unterschiedliche Richtungen gedreht. Dann bemerkte ich einen hell leuchtenden Streifen, der quer über den Himmel schoss.

»Ich habe eine!«, rief ich aufgeregt.

»Ich auch!« Millies Hand ergriff die meine und packte kräftig zu. »Jetzt schnell wünschen.«

Ich dachte meinen Wunsch für Millie so intensiv und so deutlich, wie ich konnte, und beobachtete gleichzeitig die gleißende Flugbahn meiner Sternschnuppe, die bereits verblasste. Eine Sekunde später krachte meine Sternschnuppe in einen von der gegenüberliegenden Seite kommenden Lichtstreifen und verglühte.

»Was war denn das?«, fragte ich und ließ Millies Hand los.

»Sieht so aus, als wären unsere beiden Wünsche kollidiert.« Sie runzelte die Stirn. »Kann es so etwas geben?«

»Auf keinen Fall«, widersprach ich. »Weißt du, wie viel Platz da oben ist? Wie wahrscheinlich ist es, dass da zwei Wünsche zusammenstoßen? Es ist quasi ein Ding der Unmöglichkeit.«

Millie runzelte die Stirn und starrte hinauf ins Firmament, wo es nun nichts Spannendes mehr zu sehen gab. »Aber seltsam war es schon.« Sie stieß einen Seufzer aus. »Na ja, die Show ist vorbei. Ich schätze, ich sollte mal nachsehen, ob meine Tochter noch in ihrem Bett liegt.«

»Viel Glück.« Ich sah ihr nach, wie sie die Tür meiner Dachkammer öffnete und leise hinter sich schloss.

Arme Millie. Die Zwillinge verlangten ihr mehr ab, als sie leisten konnte. Und jetzt, da ihr ehemaliger Babysitter, der Dämon Maude, von der Hölle befördert worden war, stand sie wieder mit allem allein da.

Noch immer ganz gefangen von dem Bild der explodierenden Sternschnuppen schlenderte ich zu meinem Troddelsofa, setzte mich dem Mummelglas auf dem Couchtisch gegenüber und sah Sniff dabei zu, wie er schläfrig seine Runden im Wasser drehte. Ohne ihn wäre ich in meinem Dasein noch viel einsamer gewesen, als ich mir ohne Walt sowieso schon vorkam.

»Ich habe so ein seltsames Gefühl im Bauch«, sagte ich zu ihm und beugte mich vor. »Als ob unsere Sternschnuppenwünsche der Beginn eines neuen Abenteuers sein könnten.«

»Die meisten glauben nicht an doofe Sternschnuppen«, krähte die kleine orange Karotte in ihrem Wasserglas. »Sie sagen, die können gar nichts, außer verglühen.«

»Vermutlich stimmt das sogar.« Ganz langsam glitt ich in eine liegende Position, ohne dabei den Mummel aus den Augen zu lassen. »Das ist alles nur Aberglauben. Wenn man es allerdings genau betrachtet, sind wir beide auch nichts anderes. Und wir können doch eine ganze Menge.«

»Sniff ist kein Aberglaube, sondern ein Held. Eine Legende. Ein Mythos«, verkündete mein kleiner Freund stolz und sprang einen Salto, durch den das Wasser aus seinem Aquarium bis auf mein Sofa spritzte.

Doch ich war zu träge, um mich darum zu kümmern. Ganz sacht dämmerte ich weg, war in Gedanken bei Walt und hoffte, es würde ihm genauso gehen. Ganz egal, wo er gerade steckte.

Kapitel 2

 

Ich erwachte im Licht der Herbstsonne, das durch mein Fenster schien. Aber es war nicht die Helligkeit, die meinen Träumen ein Ende gesetzt hatte. Irgendetwas zog ziemlich energisch an meinen Haaren.

»Blblbmmm.«

»Dir auch einen guten Morgen, Allison.« Ich beäugte das Kleinkind an meiner Sofakante mit kritischem Blick. »Toll, wie gut du schon teleportieren kannst. Hast du zufällig irgendwem gesagt, wohin du verschwindest?«

»Blblblm.« Ein glasklarer Faden Babyspeichel tropfte zu Boden, während sie mich anstrahlte.

Musste dieses Kind nicht eigentlich langsam in der Lage sein, sich verständlich auszudrücken? Doch so rasant Allisons Entwicklung war, wenn es darum ging, eine gewisse Mobilität und Selbstständigkeit zu entwickeln, so zögerlich verbesserte sich ihr Wortschatz. Allisons Prioritäten waren schon jetzt klar erkennbar.

»Blblblm also? Ja, das habe ich mir gedacht.« Schwungvoll stand ich auf, packte Allison und hob sie hoch. »Dann wollen wir dich mal schnell zurück zu deiner Mutter bringen, bevor sie vor Sorge um dich noch den Verstand verliert.«

»Blm.«

»Nein, das kannst du ihr selber sagen«, erwiderte ich.

Natürlich ohne zu wissen, was mir der kleine Pampersrocker mitteilen wollte. Aber das würde ich ihr nicht verraten.

»Auf!« Das Kommando zeigte Wirkung und meine Tür gab den Weg frei.

Mit Allison auf dem Arm stieg ich die gewundene Treppe hinunter und erreichte glücklicherweise unbemerkt Millies Zimmer. Es hätte für die übrigen Schlossbewohner auch höchst eigenartig ausgesehen, wenn Allison, getragen von unsichtbaren Mächten, durch die Flure geschwebt wäre.

Schon von Weitem hörte ich Millie lamentieren.

»Reg dich ab, ich habe, was du suchst«, rief ich und trat ein.

Millie stand in ihrem rosa Nachthemd mitten im Zimmer und war den Tränen nahe. »So geht das nicht weiter. Ich werde ihr doch einen Tracker um den Bauch binden müssen. Dann finde ich sie zumindest wieder, solange sie sich in derselben Zeit aufhält.«

»Keine schlechte Idee.« Vorsichtig setzte ich Allison neben ihren Bruder Badria auf den Fußboden. »Und was passiert, wenn sie sich aus dem Tracker herausteleportiert?«

»Mal den Teufel nicht an die Wand«, knurrte Millie und lehnte sich gegen ihren Kleiderschrank. »Ich brauche Hilfe. Professionelle Hilfe, jetzt da Maude die meiste Zeit über damit beschäftigt ist, in der Hölle Karriere zu machen. Doch wem kann ich zwei Kleinkinder anvertrauen, wenn eines der beiden Allison ist?«

»Ich weiß es nicht, aber ich denke bereits angestrengt darüber nach«, log ich. »Bis dahin wird es uns schon irgendwie gelingen, sie im Auge zu behalten.«

»Ach ja?« Millies Lachen klang ein bisschen verzweifelt. »Dreh dich mal um, Livie. Sie ist schon wieder weg.«

Hastig suchte ich den Platz neben Badria und schließlich den ganzen Fußboden mit Blicken ab. Es stimmte. In diesem Zimmer befand sich nur noch ein Baby, und das kaute gelassen am Schnürsenkel eines Turnschuhs.

»Schau doch mal zur Abechslung nicht nach Badria, wenn du in die Zukunft flitzt, sondern finde heraus, wie wir dieses Problem lösen werden«, schlug ich vor.

»Habe ich versucht«, meinte Millie. »Aber anscheinend lösen wir es überhaupt nicht. In acht Jahren treffe ich am Schlosstor ihre Klassenlehrerin, und die findet es gar nicht witzig, dass Allison irgendwie immer unbemerkt das Klassenzimmer verlässt, wann es ihr passt.«

»Sie wird schon zurückkommen«, behauptete ich und versuchte, so etwas wie Zuversicht zu verbreiten.

»Wann? Wenn sie erwachsen ist?« Millie öffnete den Schrank und riss einen Jogginganzug vom Kleiderbügel. »Ich gehe sie suchen. Genau wie gestern, vorgestern und den Tag davor. Und ich wage mal eine ganz mutige Prognose: Morgen wird es auch nicht anders sein.«

Während ich noch überlegte, wie es mir gelingen sollte, Millie aufzumuntern, klopfte jemand gegen den Rahmen ihrer Zimmertür. Als ich mich umwandte, entdeckte ich Lord Alistair persönlich, der seine lange Adlernase in das Zimmer seiner Tochter steckte.

»Wir haben Besuch«, verkündete er und wirkte kein bisschen glücklich über diese Tatsache. »Meine Cousine, Lady Augusta, ist überraschend auf Schloss Harrowmore eingetroffen, und sie will hofiert werden. Meinst du, du könntest mir dabei etwas zur Hand gehen? Deine Mutter ist leider gerade unauffindbar.«

»Genau wie deine Enkelin.« Millie schnappte sich noch einen Turnschuh aus ihrem Schrank, nahm Badria den zweiten ab und ignorierte dessen Protest. »Ich komme gleich und umarme Tante Augusta so liebevoll, wie ich nur kann.«

»Gut.« Ihr Vater musterte kritisch ihren Aufzug. »Ich dachte schon, du willst auch lieber weglaufen.«

»Gar keine schlechte Idee.« Millie sah an sich herab und verdrehte die Augen. »Gib mir fünf Minuten Zeit. Ich wette, ich finde auch noch etwas anderes in meinem Schrank. Etwas, das einem Besuch von Lady Augusta angemessen ist.«

Taktvoll zog Lord Alistair sich zurück und schloss die Tür. Im selben Augenblick traf mich Millies Umarmung mit voller Wucht. »Du musst mir helfen, hörst du. Kümmere dich ein bisschen um meine beiden Kinder. Und wenn es nur für eine halbe Stunde ist. Ich kann meinen Vater nicht mit Augusta allein lassen. Er hatte doch gerade erst einen Herzinfarkt.«

»Ist sie so schlimm?«, fragte ich neugierig. »Wer ist denn diese Lady Augusta? Ich habe ihren Namen noch nie zuvor gehört.«

Millie öffnete ihren Schrank erneut und zog ein zerknittertes violettes Etuikleid unter einem Stapel Jeans hervor. Als sie nach den passenden Schuhen darunter griff, stieß sie einen überraschten Schrei aus. »Allison! Komm sofort da raus!«

»Na bitte«, stellte ich zufrieden fest. »Ein Problem hätten wir schon mal gelöst. Also? Wer ist Lady Augusta?«

Millie schnappte ihre Tochter und platzierte sie mittig auf dem Himmelbett. »Daddy nennt sie seine Cousine, aber den genauen Verwandtschaftsgrad kenne ich gar nicht. Und sie ist auch nicht etwa grässlich oder gemein. Sie ist nur entsetzlich alt und ein bisschen wunderlich. Damit kann sie einem schon den letzten Nerv töten.«

»Und sie kommt einfach so unangekündigt zu Besuch?«, fragte ich verwundert, setzte mich auf Millies Bett und zog Allison auf meinen Schoß.

»Ja, das wundert mich eigentlich auch.« Millie hielt in ihrem hektischen Treiben für einen Moment inne. »Es muss fast drei Jahre her sein, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Damals hat sie versucht, mir das Stricken beizubringen. Sie war eine unerbittliche Lehrerin, aber beim Zopfmuster habe ich gestreikt.«

»Vielleicht eignet sie sich ja als Babysitter«, schlug ich vor. Es sollte ein Scherz sein, doch Millies Miene verriet mir, dass sie diesen Vorschlag durchaus in Betracht zog. Dann aber schüttelte sie den Kopf.

»Vergiss es. Ein Kind, das einfach von jetzt auf gleich verschwindet, würde sie in schiere Panik versetzen. Sie hat nämlich selbst zwei ihrer drei Söhne auf der Vermisstenliste. Und das schon seit mehr als drei Jahrzehnten.«

»Wie bitte?« Ich sah sie konsterniert an. »Wie ist denn das passiert?«

»Das weiß niemand.« Millie zog den Saum in Form und schlüpfte in die violetten Pumps. »Sie waren einfach weg. Unsere damalige Banshee kam, heulte Augusta etwas vor, doch dadurch wurde die auch nicht schlauer. Sie hat nie erfahren, was aus den beiden Brüdern geworden ist. Ich vermute, sie sind tot, denn irgendwann hörte deine Vorgängerin auf, zu klagen. Und das war’s dann.«

»Gruselig.« Unwillkürlich hielt ich Allison eine Spur fester. »Die arme Augusta. Vermutlich ist sie nie über den Verlust hinweggekommen.«

»Das denke ich auch. Jetzt ist ihr nur noch Bobby geblieben. Und der ist nicht gerade eine Leuchte, um es vorsichtig auszudrücken. Seine beiden Brüder habe ich zwar nie kennengelernt, aber einem Gerücht nach waren Joshua und Nicolas so ziemlich das Gegenteil von ihm. Kluge Jungs und echte Herzensbrecher. Tja, für mich wären sie jetzt ohnehin zu alt.«

Und damit marschierte Millie aus dem Zimmer. Ich blieb in Gesellschaft zweier Kleinkinder zurück und musste feststellen, dass schon diese kurze Geschichte über zwei verschwundene Brüder mich getriggert hatte. Ich konnte meinen Blick kaum von Allison lassen.

 

Eine knappe Stunde später, ich hatte unzählige Türmchen aus Bauklötzen errichtet und von meinen beiden Fans umschmeißen lassen, zeigten die Zwillinge deutliche Anzeichen von Müdigkeit. Hoffnungsvoll verfrachtete ich sie in Millies Himmelbett und wartete, bis beiden die Augen zugefallen waren. Dann war der Zeitpunkt gekommen, um meine Neugier zu befriedigen, und ich schlich mich leise hinaus, um einen Blick auf Lady Augusta zu werfen. Einem weiteren Mitglied der Familie Harrowmore, dem ich noch nie begegnet war.

Ich stieg die lange Treppe zur Halle hinunter und lauschte auf jedes Geräusch. Doch erst als ich mich der Bibliothek näherte, hörte ich leises Stimmengemurmel.

»Auf«, flüsterte ich, und etwas sanfter als gewöhnlich glitt der Bolzen aus dem Türschloss und ich in den dahinterliegenden Raum.

Wie schon so oft, schenkte keiner der Anwesenden einer sich selbst öffnenden Tür große Beachtung. Solche Ereignisse wurden nur zu gern dem Wind oder dem Alter des Schlosses zugeschrieben An ihre Banshee dachten sie zwar auch gelegentlich, doch solange ich ihnen nicht erschien oder zu heulen begann, spielte ich für die meisten Harrowmores keine Rolle. Das galt natürlich nicht für Millie.

»Was für ein nettes Mitbringsel, Augusta«, rief diese gerade und hielt ein Paar Inlineskater in die Höhe. »Etwas gewagt, aber nett.«

»Ich für meinen Teil bin mir nicht ganz sicher, ob ich überhaupt weiß, was das ist«, sagte der Lord und drehte ein längliches Gebilde in seinen Händen.

»Das ist ein Pogo-Stick«, verkündete eine winzige, alte Dame mit fliederfarbener Haartönung, die im Sessel am Kamin Platz genommen hatte. Zweifellos handelte es sich um Tante Augusta. »Man hat mir gesagt, sportliche junge Männer hätten viel Spaß daran.«

Ich war unendlich froh, weil nur Millie meinen Heiterkeitsausbruch hören konnte. Lord Alistair als jungen und sportlichen Mann zu bezeichnen, war schon recht mutig. Selbst aus der Perspektive von Lady Augusta, die über zwei Jahrzehnte älter sein musste als er.

»Ein Kürbisschnitzset«, rief Lady Claire, die sich mittlerweile offensichtlich doch wieder angefunden hatte und freudig das Einwickelpapier von ihrem Geschenk riss. »Was für eine wundervolle Idee. Wo doch bald Halloween ist. Autsch!«

Ich warf einen prüfenden Blick auf ihr Handgelenk und stellte fest, dass sie die Pulsader knapp verfehlt hatte.

»Liebes, du hast dir doch nicht etwa wehgetan?« Lady Augusta beugte sich in ihrem Sessel vor, um besser sehen zu können, und für einen kurzen, völlig irrationalen Moment hatte ich den Eindruck, als wäre der Anblick des harmlosen Kratzers eine Enttäuschung für sie.

»Rosenscheren und ein Kantenschneider.« Erst jetzt bemerkte ich Lord Alistairs Schwester Deborah und deren erwachsene Tochter Jennifer, die aus dem Ostflügel herübergekommen waren, um Lady Augusta ebenfalls zu begrüßen. Die beiden teilten sich einen der klobigen Clubsessel am Fenster und schauten etwas ungläubig auf die Gegenstände in ihrer Hand.

»Für deine Zwillinge habe ich natürlich auch etwas mitgebracht, liebe Millicent«, erklärte unser Besuch soeben. »Einen Chemiebaukasten. Meinst du, sie können damit etwas anfangen?«

»In zehn Jahren bestimmt«, erwiderte Millie ernst und drehte noch immer die Inliner in ihren Händen.

»Ach, da ist ja schon einer der beiden Süßen.« Lady Augusta streckte die knotigen Hände aus und zog ein neben ihrem Sessel hockendes Baby vom Boden hoch. »Du bist also die kleine Allison, richtig?«

Millie warf mir einen finsteren Blick zu, woraufhin ich hilflos mit den Schultern zuckte.

»Sie haben beide geschlafen, als ich sie verließ«, versuchte ich mich zu rechtfertigen und stieß Millie heftig in die Rippen, als ich bemerkte, wie Lady Augusta einen Lolli aus der Tasche zog und umständlich begann, das Einwickelpapier abzureißen.

»Sie ist zu jung für solche Freuden«, rief Millies aus, schnappte sich den Lolli und schob ihn schnell in den eigenen Mund. »Und überhaupt sollte Allison eigentlich gerade ihr Nachmittagsschläfchen halten. Ich bringe sie wieder nach oben.«

»Aber du kommst gleich zurück, oder?« Panik schwang in der Stimme des Lords mit, während er vergeblich versuchte, die Füße auf dem Pogo-Stick zu platzieren.

»Na klar.« Mit einer Spur von Verzweiflung auf dem Gesicht, trug Millie ihre Tochter aus der Bibliothek.

Vermutlich hätte ich ihr folgen und meine Dienste als Babysitter erneut anbieten sollen, doch ich nutzte die Gelegenheit, Lady Augusta zu begutachten.

Sie war alt, ohne jeden Zweifel. Eine richtig alte Dame, deren Gesicht von unzähligen Runzeln durchzogen war. Und trotzdem erkannte ich noch die unterschwellige Schönheit, die die Zeit ihr nicht hatte nehmen können.

»Was hat es mit deiner Haartönung auf sich?«, wandte Lady Claire sich gerade an ihren Besuch, während sie gleichzeitig versuchte, die Blutung an ihrem Handgelenk mit einem Taschentuch zu stillen. »Willst du dich zu Halloween als Dame Edna verkleiden?«

»Ein Missgeschick«, erklärte Augusta säuerlich und strich sich über die fliederfarbene Pracht. »Ich habe das Kleingedruckte auf der Verpackung nicht aufmerksam gelesen. Es war allerdings auch winzig geschrieben. Kleine Buchstaben langweilen mich schnell.«

»Wie funktioniert denn das hier?«, hörte ich Lord Alistair sagen, der gerade den zweiten Fuß auf dem Trittbrett platzierte. Entsetzt beobachtete ich, wie er nur seine Sekunde später samt dem Pogo-Stick lang hinschlug.

»Hast du dich verletzt?«, rief Lady Augusta und ihre von Altersflecken übersäten Hände krampften sich um die Lehne ihres Stuhls. Interessanterweise lag ihr Blick bei dieser Frage nicht auf dem am Boden liegenden Mann, sondern wanderte durch die Bibliothek, und streifte mich, jedoch ohne ein Zeichen des Erkennens.

»Ein wenig, vielleicht.« Der Lord gab ein Stöhnen von sich. »Aber ich werde es wohl überleben.«

»Ach. Na dann.« Die Finger der alten Frau entspannten sich wieder und für einen kurzen Moment wirkte sie erneut regelrecht enttäuscht auf mich.

»Ob Millie etwas dagegen hat, wenn ich mir die Inliner einmal ausleihe?« Jennifer hatte die Gartenschere beiseitegelegt und streckte bereits die Hände nach dem wohl gefährlichsten Gastgeschenk aus.

»Ach, bestimmt nicht«, behauptete Lady Augusta.

»Du kannst sie jederzeit haben.« Millie war unbemerkt zur Tür hereingekommen und eilte zu ihrem Vater, der noch immer auf dem Teppich saß und missmutig den Pogo-Stick in seinen Händen betrachtete. »Daddy, lass diese Kindereien und denk an deine Gesundheit. Herumspringen wie ein Känguru steht dir auch gar nicht. Das ist eher etwas für Kinder.«

»Vermutlich hast du recht.« Schwerfällig kam der Hausherr wieder auf die Füße. »Augusta, hast du schon eine Ahnung, wie lange du bleiben wirst? Nur, damit unsere Köchin weiß, wie sie die nächsten Einkäufe zu planen hat.«

»Ach, ich weiß nicht genau.« Seine Cousine hob die Schultern. »Das hängt von Dingen ab, die ich nicht beeinflussen kann. Vielleicht nur ein paar Tage, vielleicht auch eine Woche.«

»Eine Woche?«, echote der Lord und ich konnte ihm ansehen, wie gern er protestiert hätte. Doch er schwieg.

»Kann dich dein Hausstand denn so lange entbehren?«, hakte Millie nach, die ebenfalls Mühe hatte, ihre Gefühle zu verbergen. Zweifellos verspürte sie keinerlei Interesse, die nächsten Tage damit zu verbringen, Tante August Gesellschaft zu leisten oder das Studium des Strickens wieder aufzunehmen. »Ich meine, du hast doch noch immer eine Firma zu leiten, oder nicht?«

Ich horchte auf. Lady Augusta sollte eine Geschäftsfrau sein? Und das in ihrem Alter? Dem äußeren Eindruck nach hätte ich ihr nicht einmal zugetraut, eine E-Mail korrekt zu verschicken.

»Ich habe meine Leute, die sich um alles kümmern, liebe Millicent«, erwiderte Lady Augusta. »Allen voran natürlich Bobby.«

»Ach ja. Bobby.« Lord Alistair setzte eine Leichenbittermiene auf. »Glaubt dein Sohn immer noch, der Mensch stammt vom Erdmännchen ab?«

Millie prustete leise und ergänzte: »Oder dass der Mond eine geheime Kommandozentrale der Russen ist?«

Jetzt kicherte auch Deborah verhalten, und Lady Augustas Teint nahm die Farbe ihrer Haare an.

»Es liegt an den Augen«, sagte unser Gast steif. »Auch Bobby hat manchmal Schwierigkeiten mit dem Kleingedruckten. Genau wie ich.«

»Na sicher.« Millie sah genervt zur Zimmerdecke empor. »Deswegen ist er auch durch alle Prüfungen gefallen, die ihm das Leben beschert hat.«

Lady Augusta biss sich kurz auf die Lippen, senkte den Blick und wechselte dann geschickt das Thema, indem sie Lord Alistair in ein Gespräch über alte Rosensorten verwickelte.

Mir tat sie in diesem Augenblick leid. Bobby war nach Millies Erzählung der einzige Sohn, der ihr geblieben war. Ich fand es unfair, sich in ihrer Gegenwart über ihn lustig zu machen. Doch bevor ich für sie Partei ergreifen konnte, kam Ruthie, ihres Zeichens Küchenfee des Schlosses, in die Bibliothek und rief die ganze Familie zum Tee.

Während alle der Aufforderung augenblicklich nachkamen, hielt ich meine Freundin am Ärmel zurück. Schließlich standen nur noch wir beide in der Bibliothek.

»Was ist los?«, wollte Millie wissen und warf dem Babyphon, das sie am Gürtel trug, sorgenvolle Blicke zu. »Mach schnell, dies ist eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen ich, ohne meine Kinder unter Kontrolle halten zu müssen, einen Tee trinken kann. Immer vorausgesetzt, sie wachen nicht gleich wieder auf.«

»Gut, ich mache es kurz«, begann ich. »Was stimmt nicht mit Tante Augusta?«

»Was soll die Frage?« Millie betrachtete mich stirnrunzelnd.

»Sie taucht hier unangemeldet mit einer ganzen Wagenladung Geschenke auf, von denen mir das eine gefährlicher erscheint als das andere. Versteh mich nicht falsch, viele Leute sind in der Lage, mit einem Kürbisschnitzset, Inlinern oder einem Pogo-Stick zurechtzukommen, aber ihr doch nicht. Ihr seid Harrowmores! Ich bin täglich dankbar, wenn ihr es heil eine Treppe hinunterschafft.«

»Sie hat es doch nur nett gemeint«, verteidigte Millie ihre Familienangehörige. »Du witterst schon wieder eine Verschwörung, wo keine ist. Nur, weil sich der australische Zweig unserer Familie erst kürzlich als hinterhältig und gemein entpuppt hat, muss das ja nicht auch für Tante Augusta gelten.«

Ich schwieg und dachte an den Blick, mit dem diese Frau den am Boden liegenden Lord Alistair bedacht hatte. Mir war es so vorgekommen, als hätte sie mindestens auf einen Schädelbruch gehofft.

Ein leises Wimmern aus dem Babyphon unterbrach meine Gedanken.

»Auch das noch.« In Millies Gesicht trat ein weinerlicher Ausdruck. »Livie, darf ich dich noch einmal einspannen? Nur für eine Tasse Tee und ein paar Krümel Shortbread, bitte! Ich verhungere.«

»Schon gut, überlass das mir«, verkündete ich. »Ich werde das Kindermädchenproblem lösen, und zwar jetzt.«

»Was hast du vor?«, wollte Millie wissen.

»Ich suche eine Vertretung für Maude, solange sie damit beschäftigt ist, Karriere zu machen. Was bei all den Intrigen in der Hölle eigentlich nicht lange dauern kann. Verlass dich nur auf mich.«

Damit verließ ich die Bibliothek, huschte in Millies Zimmer, wo zwei plärrende Harrowmores auf dem Himmelbett saßen, packte beide und teleportierte mich davon.

 

Kapitel 3

 

Ein Kind auf dem linken Hüftknochen sitzend, das andere auf dem rechten, marschierte ich durch die Schluchten endloser Regale, direkt auf das Herz der Ewigen Bibliothek zu. An diesem Ort regierte einer meiner besten Freunde, der Bibliotheksdrache Friedrich. Und tatsächlich fand ich ihn zwischen seinen Karteikästen sitzend, einen Bleistift in den Klauen, während unaufhörlich kleine Brocken glühender Kohle aus seinen Nasenlöchern purzelten.

»Bist du erkältet?«, fragte ich und wich dem Feuerstoß aus, der sein Niesen begleitete.

»Kaum der Rede wert«, schniefte Friedrich und breitete seine rotgrauen, pergamentartigen Flügel aus, während ein grollender Husten aus seinem langen Hals ertönte und seine goldenen Barthaare erzittern ließ. »Ich habe mich im Urlaub lediglich etwas verkühlt.«

»Wo warst du denn?«, fragte ich und setzte die Zwillinge vor mich auf den moosgrünen Teppich.

»In Grönland. Wusstest du, dass es dort nachweislich keine Drachenjäger gibt?« Er schniefte. »Es ist nicht immer leicht, ein geeignetes Urlaubsziel zu finden.«

»Nichts ist leicht zu finden«, bestätigte ich. »Uns hat das Kindermädchen im Stich gelassen, und Millie dreht am Rad.«

»Ich hätte ein paar nette Erziehungsratgeber für sie.« Friedrichs Klaue deutete über mich hinweg. »Gang 23 ganz hinten neben den Fachbüchern zur Apokalypse.«

Ich nickte anerkennend. »Ein guter Platz. Sehr feinsinnig. Aber eigentlich wollte ich dich bitten, unseren Aushang am Schwarzen Brett zu erneuern. Vielleicht findet sich ja eine qualifizierte Person für diesen Job.«

»Aushang«, brummelte Friedrich. »Ja, gut.« Er schnappte sich ein unbeschriebenes Karteikärtchen und begann, mit seiner goldenen Klaue ungelenke Buchstaben aufs Papier zu schreiben.

»Kindermädchen für zwei reizende kleine Kinder gesucht. Kost und Logis frei. Genießen Sie geregelte Arbeitszeiten und idyllische Ruhe auf Schloss Harrowmore.«

»Wow.« Ich war ehrlich beeindruckt. »Das entspricht zwar nicht unbedingt der Wahrheit, aber damit könnten wir tatsächlich deutlich mehr Bewerber anlocken als beim ersten Mal.«

»Keine Überstunden, keine Lärm- oder Geruchsbelästigung«, ergänzte Friedrich und schniefte. Ein paar Funken brannten dekorative Löcher ins Papier.

»Ähm …« Ich hob mahnend den Zeigefinger. »Jetzt übertreibst du doch ein wenig. Vielleicht wäre es besser …«

Ich verstummte, als ich bemerkte, wie eine winzige menschliche Hand sich von hinten über Friedrichs massige Stirn in mein Blickfeld schob. Sofort schaute ich auf den Platz vor meinen Füßen. Er war leer. Beide Harrowmores hatten erneut das Weite gesucht, und wenigstens eines der beiden Kinder hatte sich entschieden, den Drachenberg zu besteigen.

Ich sah wieder hinauf zu Friedrichs gehörntem Schädel und wartete gespannt, welches Gesicht sich nun neben der kleinen Hand zeigen würde. Gleich darauf wurde meine Neugier befriedigt. Allison packte den Drachen bei den Hörnern, zog sich daran hoch und sah dabei äußerst zufrieden aus. Wo aber steckte ihr Bruder Badria?

»Den hat doch hoffentlich kein Babu aufgeräumt«, brummte ich und schaute mich suchend um.

»Wie bitte?« Friedrich unterbrach seine Schreibtätigkeit und kratzte sich mit der linken Klaue dicht neben Allison am Kopf, als würde ihn etwas jucken. Ich hätte ihn aufklären können, hielt mich aber zurück.

»Gar nichts«, beteuerte ich, drehte mich um und spähte in einen der Regalgänge. Da bemerkte ich gerade noch, wie weit hinten ein unförmiger Windelpopo um eine Ecke bog.

»Ich bin gleich wieder da«, rief ich dem Drachen zu und rannte los, ohne eine Reaktion von Friedrich abzuwarten.

Ich war entschlossen, den kleinen Ausreißer einzufangen, bevor er eines von Friedrichs geliebten Büchern zum Beißring degradieren konnte. Doch als ich die Stelle erreichte, an der ich ihn aus den Augen verloren hatte, war Badria nirgends zu sehen.

»Suchst du das hier?«, rief eine Stimme, die von weit oben zu kommen schien.

Ich legte den Kopf in den Nacken und entdeckte Odette, Friedrichs rechte Hand, die in ihrer schicken Livree auf einer langen Regalleiter herumturnte. Über ihr, auf einer der höchsten Sprossen, saß Badria und gluckste.

»Ja, genau«, rief ich erleichtert aus. »Ich schätze, wenn ich ohne ihn nach Hause komme, dreht mir seine Mutter den Hals um.«

»Er ist niedlich«, stellte Odette fest. »Seine Nase ist zwar etwas langweilig, aber dafür kann er ja nichts.«

»Nur weil seine nicht mit einer Steckdose verwechselt werden kann wie deine, ist sie doch nicht langweilig«, protestierte ich, reckte die Arme nach oben und wartete darauf, dass Odette mir das Kind reichen würde. Sie tat es nicht.

»Was willst du für ihn haben?«, fragte sie stattdessen und legte den Kopf schief.

»Er ist nicht verkäuflich«, erklärte ich missmutig. Da zuckte ein Gedanke durch mein Hirn. »Aber vermieten könnte ich ihn dir. Für ein paar Stunden.«

»Fein.« Sie sah zufrieden aus und wiederholte: »Und was willst du dafür haben?«

Freudige Erregung ergriff mich. Konnte es so einfach sein?

Odette kitzelte den Jungen am Bauch, der vergnügt zu krähen begann.

»Ich mache einen kleinen Bibliothekar aus dir«, hörte ich Odette sagen. »Wie findest du das? Als ich mit der Ausbildung begann, war ich noch jünger als du.«

Ihre Worte erinnerten mich daran, dass Trickser wie Odette zu ihrem Nachwuchs üblicherweise keine besonders große Bindung aufbauten. Odette selbst war Friedrich einst als Anzahlung überlassen worden, weil ihre Eltern ihre entliehenen Bücher verspätet zurückgegeben hatten. Offensichtlich sah sie den Umgang mit Kindern nun ähnlich entspannt.

Ich überlegte kurz und meinte schließlich: »Ich weiß nicht, was ich für die Vermietung von Badria haben möchte, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Wie wäre es, wenn ich dafür einfach einen Gefallen bei dir gut habe?«

»Okay. So machen wir das. Hoffentlich entdeckt Friedrich ihn nicht so bald.«

»Wieso?«, fragte ich und dachte unbehaglich an das Kleinkind zwischen den Drachenhörnern. »Würde er ihm etwas antun?«

»Etwas antun?« Odette sah mich verständnislos an. »Er würde ihn vermutlich völlig mit Beschlag belegen. Drachen sind so. Sie bauen Nester, schon vergessen? Friedrich üblicherweise aus Büchern, aber die bleiben immer leer. Nun, er hat wenigstens mich.«

Meine Miene blieb ausdruckslos, aber innerlich jubilierte ich. Die Bibliothek hatte sich soeben als perfekter Hort für die Zwillinge entpuppt. Etwas Besseres würde ich in der Kürze der Zeit vermutlich kaum auftreiben. Auch wenn es mich bei dem Gedanken gruselte, die Kinder könnten doch noch den Zorn eines Drachen auf sich ziehen. Schon eine geknickte Buchseite konnte einen Feuersturm heraufbeschwören.