Harrowmore Souls (Band 3): Brise No. 4 - Miriam Rademacher - E-Book

Harrowmore Souls (Band 3): Brise No. 4 E-Book

Miriam Rademacher

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Beschreibung

In Higher Down, einem kleinen Dorf in Nordengland, herrscht dicke Luft. Und weil es für den infernalischen Gestank keine normale Erklärung zu geben scheint, ruft der Schriftsteller Marvin Bitterton die Kanzlei Harrowmore Souls zu Hilfe. Doch nicht jedem im Dorf sind die Eindringlinge willkommen. Schließlich naht Halloween und mit dem Fest für viele Dorfbewohner ein ganz besonderer Moment …

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Dank

 

Miriam Rademacher

 

 

Harrowmore Souls

Band 3: Brise № 4

 

 

Fantasy

 

 

Harrowmore Souls (Band 3): Brise № 4

In Higher Down, einem kleinen Dorf in Nordengland, herrscht dicke Luft. Und weil es für den infernalischen Gestank keine normale Erklärung zu geben scheint, ruft der Schriftsteller Marvin Bitterton die Kanzlei Harrowmore Souls zu Hilfe. Doch nicht jedem im Dorf sind die Eindringlinge willkommen. Schließlich naht Halloween und mit dem Fest für viele Dorfbewohner ein ganz besonderer Moment …

 

 

Die Autorin

Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf und begann früh mit dem Schreiben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie mag Regen, wenn es nach Herbst riecht, es früh dunkel wird und die Printen beim Lesen wieder schmecken. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Kurzgeschichten, Fantasyromane, Krimis, Jugendbücher und ein Bilderbuch für Kinder veröffentlicht.

 

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Januar 2022

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2022

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig

Korrektorat Druckfahne: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-233-5

ISBN (epub): 978-3-03896-234-2

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für Thorsten.

Den besten Ehemann von allen. ;-)

Prolog

 

Oktober 2018

 

Es besaß keinerlei Ähnlichkeit mit dem Turmzimmer einer alten Burg oder einer hippen Sommerresidenz mit Meerblick, aber es war für drei Monate seine Zuflucht. Zufrieden blickte sich Marvin Bitterton in der bescheiden möblierten Wohnküche um und nickte der freundlichen Dame, die ihm bei seinem Eintreffen den Blumenstrauß überreicht hatte, dankbar zu.

Mrs Amelia Clark, wie sie sich vorgestellt hatte, war eine Frau in den späten Sechzigern. Sie war klein, zart und ihre weich schimmernde Haut faltig wie das Äußere einer Rosine. Ihr schlichtes Hauskleid hatte die Farbe von Lavendel, doch leider roch sie nicht auch so, sondern eher streng. Ein Hauch von ranzigem Fett erfüllte die Luft als Folge jeder noch so kleinen Bewegung ihrerseits. Das Duftwässerchen der Dame musste an diesem Abend versagt haben.

»Es ist wirklich sehr hübsch hier. Sie haben sich sicher große Mühe gemacht, Mrs Clark«, erklärte Bitterton und ging ein wenig mehr auf Abstand.

Sie errötete aufgrund des Lobes wie ein Schulmädchen und wies auf den Kühlschrank. »Das Nötigste für die kommenden Tage habe ich für Sie eingekauft. Ein wenig Fleischpastete, Brot, Butter, Orangenmarmelade und Scones für die Teezeit. Ich wusste nicht, was Sie mögen, also bin ich meinen eigenen Vorlieben treu geblieben. Aber ein paar Schritte die Straße hinunter bekommen Sie bei Ed Halbrook, dem Gemischtwarenhändler, alles, was Sie für den täglichen Bedarf brauchen und was Ihnen am besten schmeckt.«

Geschäftig holte sie eine bauchige Vase aus einem der Küchenschränke, füllte sie mit Wasser und bedeutete Marvin, den Strauß hineinzustellen.

»Im oberen Stockwerk gibt es zwei Schlafkammern«, fuhr sie fort. »In der größeren habe ich für Sie das Bett frisch bezogen. Das Badezimmer befindet sich hier unten im Erdgeschoss. Es wurde nachträglich angebaut, früher gab es hier nur ein Plumpsklo im Garten, das war nicht mehr zeitgemäß. Sie finden das neue Bad gleich hier.« Sie wies auf eine Falttür aus Holzimitat. »Und wenn das milde Wetter der letzten Tage zu Ende geht, liegen hinter dem Haus eine Menge Scheite für den Kamin bereit. Sie können sich einfach selbst bedienen.«

Marvin bedankte sich ein weiteres Mal bei Mrs Clark, was diese aufs Neue verlegen machte.

»Ich möchte Ihnen noch einmal herzlich zu Ihrem Literaturpreis gratulieren, Mister Bitterton. Das ganze Dorf ist hocherfreut darüber, einen so klugen und gebildeten Mann als Gast beherbergen zu dürfen.«

»Und mir ist es eine Ehre, im Geburtshaus des berühmten Humoristen Theo Banning für ein Vierteljahr residieren zu dürfen. Nie hätte ich gedacht, den ersten Preis zu gewinnen und mein Werk hier in dieser Idylle und fern der lärmenden Großstadt vollenden zu können.«

»Darf ich fragen, um was es in Ihrem Buch geht?« Die Augen von Amelia Clark blitzten vor Neugier.

»Es ist eine Politsatire«, erzählte Marvin mit Begeisterung in der Stimme. »Außerirdische besetzen den Mond, woraufhin die Amerikaner ihnen den Krieg erklären, weil sie ja zuerst da waren. Die Außerirdischen argumentieren, dass wir Erdlinge den Mond nicht nutzen und deswegen auch kein Anrecht auf ihn hätten. Verzwickte Situation, nicht wahr? Selbstverständlich wird sie von der Hauptfigur, einem Journalisten, nur noch verschlimmert.«

Die Brauen von Mrs Clark hatten während seiner Schilderung einen wilden Tanz aufgeführt. Jetzt zogen sie sich drohend zusammen. »Aber auf dem Mond gibt es weder Luft noch Wasser. Wer sollte sich um diesen fliegenden Steinhaufen streiten wollen?«

»Ganz richtig. Irgendwann geht es nur noch ums Prinzip.« Marvin nickte voller Stolz bei dem Gedanken an seinen außergewöhnlichen Plot.

Sein Gegenüber kratzte sich am Kopf und schien zu überlegen, was davon zu halten war. Schließlich schüttelte sich die zarte Mrs Clark wie ein nasser Hund und arrangierte mit geübten Handgriffen die Blumen in der Vase um. »Na ja, ich verstehe natürlich nichts von diesen Sachen.«

Marvin hatte das unbestimmte Gefühl, soeben in ihrer Achtung gesunken zu sein, und dieser Eindruck verstärkte sich noch, als sie ihm kurz darauf einen geruhsamen Abend wünschte und sich damit verabschiedete.

Er trug es mit Fassung. Nicht jedem war es gegeben, wahre Kunst auf Anhieb zu erkennen.

Er machte sich daran, die wenigen Räume seiner Schreibresidenz zu erkunden. Schon bald hatte er alles gesehen: Die Schlafzimmer unter den Dachschrägen boten kaum mehr Platz als so mancher Kleiderschrank der heutigen Zeit. Sie waren kärglich eingerichtet und rochen unbewohnt. Gleichwohl faszinierten sie ihn besonders.

In einer dieser beiden Kammern, vermutlich der kleineren, hatte Theo Banning, der Mann, der diesen Schreibaufenthalt als ersten Preis für einen Literaturwettbewerb gestiftet hatte, seine Kindheit und Jugend verbracht. Glaubte man seinen eigenen Schilderungen, so war er damals ein unsicherer linkischer Junge gewesen, der kaum je ein Wort gesprochen hatte. Doch schon damals war sein Kopf voller jener fantastischer Geschichten gewesen, die nun die Welt bewegten.

Heute war Theo Banning ein stattlicher Mann mittleren Alters und ein fester Bestandteil der Londoner Kulturszene. Aber der kleine Junge, der er einmal gewesen war, hatte hier des Nachts aus dem Fenster in die Dunkelheit geblickt und unter der Bettdecke im Licht der Taschenlampe seine ersten Geschichten geschrieben. Allerdings waren Jahrzehnte vergangen, bis sein Talent für komische Schilderungen entdeckt worden war.

Das Leben ging seltsame Wege, und Marvin fragte sich, was es mit ihm vorhatte. Er selbst stand noch am Anfang seiner, wie er hoffte, steilen schriftstellerischen Karriere. Manchmal konnte er es kaum erwarten, endlich reich und berühmt zu sein. Dann redete er sich ein, dass der Weg das Ziel sei und es auf dem Gipfel des Ruhmes einsam sein könnte. Die Möglichkeit, zu scheitern, verdrängte er dabei tapfer. Sie war einfach keine Option.

Das ungewöhnlich milde Wetter und der goldene Sonnenschein lockten Marvin an diesem Herbstabend ins Freie, und er dehnte seine Erkundungen auf das Dorf Higher Down aus, das abseits aller Hauptverkehrsstraßen nahe der schottischen Grenze lag.

Seine Größe war überschaubar. Wenige Häuser, gruppiert um eine renovierungsbedürftige Kapelle, inmitten eines gepflegten Friedhofes bildeten den Ortskern, von dem alle Seitengassen abzuzweigen schienen. Und an den Hängen der nahen Hügel gab es noch einige höher gelegene Bauernhöfe. Jene Höfe sah Marvin als Verursacher des durchdringenden Geruches, der sich gegen den leichten Wind, der die Blätter zu seinen Füßen tanzen ließ, durchzusetzen wusste.

Marvin war zeit seines jungen Lebens ein Stadtmensch gewesen und kannte sich mit lästigen Gerüchen in der Landwirtschaft wenig aus. Doch er hatte natürlich schon von Gülle auf den Feldern und dem besonderen Aroma in den Ställen gehört. So widerlich, wie sie sich ihm hier präsentierte, hatte er sich diese besondere Duftnote allerdings nicht vorgestellt. Sie war von einer süßlichen Schwere, die sich in der Nase festsetzte. Indessen ging er davon aus, dass besagter Herbstwind bei diesem lästigen, aber harmlosen Problem bald Abhilfe schaffen würde. Sicher hatte sich das Aroma bis morgen verflüchtigt.

Das wohl wichtigste Gebäude im Ortskern war Marvins Meinung nach das mit grellem Graffiti beschmierte Bushaltestellenhäuschen, welches für die Jugend vermutlich den einzigen Weg aus der Enge und Perspektivlosigkeit dieses Dorfes bedeutete.

Bald darauf hielt Marvin inne, um den Gemischtwarenladen zu belächeln, der sein Obst und Gemüse in Kisten verpackt auf dem Gehsteig anbot und über dessen rot-weiß gestreifter Markise der Name ›Halbrook’s‹ zu lesen war. Das Geschäft versprühte den Charme längst vergangener Zeiten. Und auch wenn die Einwohner es noch nicht wahrhaben wollten: Die Tage dieser Idylle waren längst gezählt. Der Fortschritt trieb die jungen Menschen in die großen Städte. Dörfer wie dieses waren buchstäblich vom Aussterben bedroht.

Während er so sinnierte, fiel sein Blick auf die rotbackigen Äpfel und die mächtigen Kohlköpfe. Die bemühte Mrs Clark hatte bei den für ihn bereitgestellten Lebensmitteln weder Obst noch Gemüse erwähnt. Auch über Getränke war kein Wort gefallen, und so beschloss Marvin, den ohnehin fälligen Einkauf auf ebendiesen Moment zu legen, und betrat den dunklen Geschäftsraum.

Die Bezeichnung ›Gemischtwarenladen‹ traf genau, worum es sich bei diesem Ort handelte. Hier standen Gummistiefel neben Haarbürsten, Lippenstifte dicht beim Scheuerpulver, und statt kaufanregender Unterhaltungsmusik dröhnten uralte Kühltruhen im hinteren Bereich und wiesen willigen Käufern den Weg zu Fleisch und Käse.

Marvin nahm einen der verbogenen Drahtkörbe an sich und begann seinen Einkauf. Er brauchte eine Weile, um sich zurechtzufinden, und suchte schließlich Hilfe bei einem breitschultrigen Mann in blütenweißem Leinenhemd, der geschäftig zwischen den Regalen herumlief.

»Entschuldigung, mein Herr. Ich suche …«

»Ed, Mister Bitterton. Nennen Sie mich Ed. Wir alle freuen uns über Ihren Besuch in Higher Down und wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

Marvin war sprachlos. »Und mit ›alle‹ meinen Sie vermutlich wirklich alle? Ist das ganze Dorf über meine Ankunft informiert?«

»Selbstverständlich.« Eds Lachen dröhnte durch die Regalreihen. »Wir sind nur eine kleine Gemeinschaft, da sprechen sich Neuigkeiten schnell rum.«

Sosehr Marvin Bitterton sich über ein bisschen Popularität freute – dies hier war ihm schon fast etwas unheimlich. Ein ganzes Dorf voller fremder Menschen, die ihn besser kannten als er sie? Die Vorstellung hatte etwas Befremdliches. Er ließ sich von Ed das Weinregal zeigen, dessen Inhalt aus einer Flasche Rot- und einer Flasche Weißwein bestand, sammelte noch ein paar Kleinigkeiten zusammen und trat an den Tresen, um zu bezahlen.

Während der Schriftsteller die Waren vor Ed ausbreitete, tippte dieser Beträge in eine Registrierkasse, griff zwischendurch in ein Regal hinter sich und stellte beiläufig ein durchsichtiges grünes Fläschchen zu Marvins Einkäufen.

Marvin runzelte die Stirn. »Was ist das? Es sieht aus wie ein Parfümflakon. Ich glaube nicht, dass ich dafür Verwendung habe.«

Ed sah ihn überrascht an und zupfte seine Manschetten zurecht, bevor er antwortete. »Das ist Brise Nummer 4. Ich führe es als Parfüm, Deodorant und Duftstift. Auch als Wäschezusatz ist es sehr beliebt. Ich verkaufe es schon fast gewohnheitsmäßig jedem, der den Laden betritt.«

Er wies hinter sich, und jetzt erkannte Marvin, dass die dortigen Regale ausschließlich mit sich ähnelnden Produkten befüllt waren. Auf dem schlichten Etikett der grünen Flaschen hatte ein Künstler mit eher bescheidenen Fähigkeiten eine blühende Wiese abgebildet, über der hellblaue Wölkchen dahinzogen.

»Vielen Dank, aber ich verzichte auf die Brise.« Marvin stellte das Fläschchen, das der Ladeninhaber ihm zugedacht hatte, vor diesen hin.

Ed sah ihn an. Seine Miene drückte Zweifel aus. »Sind Sie ganz sicher? Jeder hier hat mindestens eine Brise Nummer 4 im Haus.«

»Nun, ich denke, ich werde ohne dieses Duftwässerchen zurechtkommen, vielen Dank.«

Ed bemühte sich nicht weiter. Er räumte das Fläschchen an seinen Platz zurück und tippte unter dem Geklapper der Tasten die Beträge ein. Marvin zahlte, ließ sich die Waren in eine Papiertüte packen und verabschiedete sich. Dann trat er wieder auf die Straße und war noch immer nicht bereit, auf geradem Wege zu seiner Unterkunft zurückzukehren.

So schlenderte er mit seiner Tüte im Arm weiter über die menschenleeren Gehsteige. Langsam wurde es dämmrig und auch ein wenig kühler. Noch immer lag der faulige Geruch in der Luft, von dem Marvin hoffte, dass er sich bald verzog.

Gemütlich schlenderte er weiter und bog in eine Seitengasse ein, an deren Ende ein ehrwürdiger Steinbau mit hohen Fenstern lange Schatten warf. Aus der Ferne betrachtet, konnte es sich um ein Verwaltungsgebäude oder gar ein Krankenhaus handeln, entpuppte sich aber als Schule, wie ein altmodischer Schriftzug über dem Eingangsportal verriet. Der sich davor ausbreitende Rasen war gepflegt, an einem gusseisernen Zaun lehnten ein paar moderne Fahrräder.

Marvin war beeindruckt. Higher Down war es gelungen, seine Dorfschule am Leben zu erhalten. Damit hatten sie sich eine tragende Säule ihrer Gemeinschaft bewahrt, die andere Ortschaften dieser Größe längst eingebüßt hatten.

Im Näherkommen hörte er durch ein geöffnetes Fenster die kräftige Stimme eines Mannes. In dem Gebäude fand tatsächlich noch immer Unterricht statt. Oder möglicherweise schon wieder?

Marvin warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Kinder sollten seiner Meinung nach um diese Zeit nicht mehr mit Zahlen und Buchstaben belästigt werden. Aber vielleicht handelte es sich ja um ein freiwilliges Bildungsangebot, das von älteren Einwohnern oder der gelangweilten Jugend gerne angenommen wurde.

Er stellte die Tüte mit den wenigen Einkäufen zu seinen Füßen ab und hüpfte in die Höhe, um einen Blick in das Klassenzimmer werfen zu können.

Zu seinem Erstaunen waren die Zuhörer des kahlköpfigen Mannes vor der Tafel höchstens zehn Jahre alt. Und sie alle hingen gebannt an seinen Lippen.

Marvin trat noch näher unter das offene Fenster und lauschte. Er erwartete, Teile eines Vortrags über Modellbau oder Zierfischhaltung aufzuschnappen. Irgendetwas, das Kinder in diesem Alter faszinieren konnte. Doch das, was er dann zu hören bekam, verschlug ihm den Atem …

Kapitel 1

 

»Nigel sprang 1956 aus Liebeskummer vor einen einfahrenden Zug, und das erzählt er üblicherweise jedem schon beim ersten Aufeinandertreffen.« Conny Bligh, der einzige studierte Anwalt der Kanzlei Harrowmore Souls, saß auf der Schreibtischplatte, den Blick auf seine verstockte Reinigungskraft Miranda gerichtet.

Zum wiederholten Mal bemühte er sich, der stummen Frau zu erklären, was mit dem gesunden Menschenverstand kaum zu begreifen war.

»Nigel hat zu keinem Zeitpunkt ein Geheimnis aus der Tatsache machen wollen, dass er ein Geist ist. Es ist irgendwie passiert. Und dann hat er etwas zu lange damit gewartet, sich dir anzuvertrauen.«

Miranda hob die Brauen und tippte auf das Glas ihrer Armbanduhr. Ihre Mimik und Gestik ersetzten Worte in vielen Fällen perfekt, jetzt aber wurde Conny unsicher.

Wollte Miranda ihm bedeuten, dass Nigels Timing grottenschlecht gewesen war, oder wollte sie auf dessen Taschenuhr anspielen, zu der Nigel eine innige wie seltsame Abhängigkeit pflegte?

Als er ratlos mit den Schultern zuckte, kritzelte sie ein paar Worte auf den Block, der an einer Schnur um ihren Hals hing.

»Du gibst mir noch fünf Minuten?« Conny rang die Hände. »Okay, ich mache es kurz: Dieser Geist liebt dich und würde alles für dich tun. Es lag ihm fern, deine Gefühle zu verletzen, zumal er ja weiß, wie du zu Geistern stehst.«

Miranda öffnete den Mund, steckte zwei Finger hinein und gab ein deutliches Würgen von sich.

»Ja, ich weiß. Er war es allerdings nicht, der dich so erschreckt hat, dass du deine Stimme verloren hast. Er ist ein guter Kerl, das kannst du mir glauben. Vielleicht ein bisschen tot, aber niemand ist perfekt.«

Mirandas Reaktion bestand aus einer sich hebenden Augenbraue.

Conny deutete dies vorsichtig als Kritik an Nigels Zustand und nicht an seiner eigenen Argumentationsweise.

Er sprach einfach weiter. »Du solltest ihm euren holprigen Start verzeihen und Nigel eine Chance geben. Ich weiß nicht, vor was für Schwierigkeiten euch das im Alltag stellen könnte, ich schätze, niemand kann beurteilen, wie es ist, einen Geist zum Partner zu haben. Trotzdem weiß ich sehr genau, dass Nigel einer von den Guten ist. Ein sehr emotionaler Untoter, der dich liebt und sein Leben … ähm … oder was auch immer … für dich geben und nur zu gerne mit dir teilen würde.«

Miranda verschränkte die Arme vor der Brust und begann mit ihrem Stuhl zu kippeln. Dabei widmete sie ihre Aufmerksamkeit zunehmend der spärlichen Büroeinrichtung und ihren Fingernägeln. Offensichtlich predigte er tauben Ohren.

Er gab auf, erhob sich von seiner Schreibtischkante und reichte Miranda das Fläschchen mit der Möbelpolitur, welches er ihr zuvor abgenommen hatte, damit sie überhaupt gewillt war, ihm zuzuhören.

»Eines Tages wirst du mir recht geben.« Er wandte sich ab und öffnete seine Bürotür. »Wenn es dann nicht schon zu spät ist.«

Er war kaum auf den Flur hinausgetreten, als er auch schon von Nigel am Kragen gepackt und in den von ihm liebevoll dekorierten Empfangsraum der Kanzlei geschleppt wurde.

»Wie ist es gelaufen?« Nigels Augen glühten in seinem schmalen Gesicht unter dem akkurat gezogenen Scheitel. Sein ganzes Erscheinungsbild entsprach einem gut gekleideten jungen Mann aus einer längst vergangenen Zeit.

Nigel hatte zu Lebzeiten eine Vorliebe für Längsstreifen gehabt, die sich in seinem cremefarbenen Dreiteiler widerspiegelte. An seiner Weste blinkte die Kette seiner Taschenuhr, seinem größten Schatz. Neben Miranda selbstverständlich, doch die war nach wie vor nicht gewillt, ihm seinen sehr toten Zustand zu verzeihen.

»Ehrlich gesagt, genau wie gestern«, gestand Conny und sah seinen Freund mitleidig an. »Und wie vorgestern und die ganze letzte Woche.«

Das Glühen in Nigels Augen erlosch. Schwerfällig nahm er hinter seinem Schreibtisch Platz und begann mit unglücklicher Miene perfekt gespitzte Bleistifte der Größe nach zu sortieren. »Ich habe das Herz meiner großen Liebe gebrochen. Ich bin ein Versager in Gefühlsangelegenheiten.«

»Ich würde eher sagen, sie ist drauf und dran, dein Herz zu brechen«, korrigierte ihn Conny. »Ich bin eigentlich ganz froh darüber, dass ein zweiter Sprung vor den fahrenden Zug für dich folgenlos bleiben würde.«

Nigel schlug mit der Stirn demonstrativ auf die Tischplatte. »Was kann ich nur tun, um sie zurückzugewinnen?«

Conny zuckte mit den Schultern. »Bau ihr ein Schloss, pflück für sie den Mond oder rette sie vor einem Drachen«, schlug er vor.

Der Geist hob den Kopf. Ein Hauch Hoffnung kehrte in seine Stimme zurück. »Haben wir einen Drachen?«

»Noch nicht. Aber der nächste, der zur Tür hereinkommt, gehört dir, in Ordnung?« Conny wies auf die große Glastür, durch die seit Tagen kein einziger Auftraggeber geschritten war.

Die Auftragslage war mehr als dünn und die Flaute schien kein Ende nehmen zu wollen. Alle Geister des Landes hatten offensichtlich beschlossen, sich auf den Winterschlaf vorzubereiten. Sie konnten von Glück sagen, dass Tante Ethel, die Patentante der Patentante seiner Freundin und Kollegin Allison, sie gratis in ihrem Gästezimmer wohnen ließ. Das ersparte ihnen das Campieren in den Büroräumen.

»Das ist eine famose Idee«, hörte er Nigel gerade sagen. »Die nächste Herausforderung, egal was für eine es ist, werde ich dazu benutzen, Miranda zurückzugewinnen.«

»Einverstanden.« Conny streckte ihm die leere Hand auffordernd entgegen. »Und jetzt hätte ich gern meine Zeitung. Wir haben einen Deal, wenn du dich recht erinnerst. Ich versuche Miranda davon zu überzeugen, dass du das Beste bist, was ihr passieren kann, und du …«

»Ich verschaffe Ihnen im Gegenzug das exklusivste Zeitungsabonnement von ganz London«, führte Nigel seinen Satz zu Ende. »Hier, Sir Bligh. Druckfrisch aus dem Jahr 2040. Aber wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Sie machen einen Fehler. Es ist nicht gut, zu viel über die eigene Zukunft zu wissen. Zumal diese eine Variable darstellt und Veränderungen durchaus noch möglich sind.«

»Das will ich doch hoffen.« Conny nahm die Zeitung an sich und klemmte sie sich unter den Arm.

Er nickte Nigel noch einmal zu und schloss sich mit seiner Lektüre im Badezimmer ein.

Nachdem er auf dem Klodeckel Platz genommen und die entscheidenden Dinge gelesen hatte, würde er die Zeitung in einem dafür bereitgestellten Putzeimer aus Blech verbrennen, damit sie nicht in falsche Hände geriet.

Conny studierte die Schlagzeile eines Montags, der erst in vielen Jahren kommen würde. Lottozahlen und andere Kleinigkeiten, die für andere Leser seiner Zeit vielleicht von Interesse gewesen wären, waren für ihn ohne Belang. Ihm ging es um das eigene Überleben.

Während ihres letzten Auftrags war er von einer Seherin namens Dotty Prim übel gespoilert worden. Seitdem wusste er, dass man ihn eines Tages an seinem Schreibtisch erschießen würde, und zwar irgendwann in seinen mittleren Jahren, wenn die Haare wichen und der Bauchansatz sich nicht mehr kaschieren ließ.

Zunächst hatte Conny vorgehabt, diese unerfreuliche Entwicklung einfach zu ignorieren. Doch im Laufe der Zeit hatte er immer häufiger über sein Schicksal, und wie es noch abzuwenden war, nachgedacht, bis es schließlich sein Denken beherrschte. Da hatte er sich entschlossen, mit dem verzweifelten Nigel einen Pakt zu schließen. Wie sein toter Sekretär, der im Gegensatz zu Allison nicht selbstständig durch die Zeit reisen konnte, es anstellte, ihm fast täglich die Times aus der Zukunft zu organisieren, war ihm ein Rätsel. Nachdem Nigel ihm auf Nachfrage einmal die Antwort schuldig geblieben war, hatte er von weiteren Versuchen, ihn diesbezüglich zum Reden zu bringen, abgesehen.

Conny begann seine Recherche und wunderte sich nicht zum ersten Mal über die Beschaffenheit der Seiten, die seltsam glatt waren und laut Nigel nicht mehr das Geringste mit Holz zu tun hatten. Ein Fortschritt, wie Conny vermutete, und er hatte zu seiner Erleichterung feststellen dürfen, dass die Zeitung aus der Zukunft keineswegs schlechter brannte als eine aus der Gegenwart.

»Boris-Johnson-Denkmal im Hyde Park enthüllt? War das wirklich nötig?« Conny blätterte schnell weiter. Mit dem Finger fuhr er über die Spalten und stieß so letztlich auf seinen eigenen Namen. »Sir Conrad Bligh weiht neuen Schultrakt ein und stellt sich der aufgebrachten Menge.«

Aufgebrachte Menge? Schon wieder? Er hatte in der vergangenen Woche bereits einen Artikel über sich gefunden, in dem geschildert wurde, wie er vor einem Tomatenbombardement floh. Allem Anschein nach war er in der Zukunft für seine Politik wenig beliebt. Conny erwog, einfach die Finger von der Staatsführung und damit verbundenen Ämtern zu lassen und allein dadurch seine Zukunft entscheidend zu verändern. Doch konnte es so einfach sein?

Missmutig studierte er ein gestochen scharfes Foto seiner selbst. Das Haar des älteren Conny war dünn und akkurat geschnitten, die Backen hingen wie bei einem Basset herunter und seine Statur zeugte von viel gutem Essen, das er in den kommenden Jahren genießen würde. Die Tränensäcke unter den Augen verliehen ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit Michael Caine, und auch der grimmige Gesichtsausdruck trug dazu bei. Die ihm gegenüberstehende Menge, die mehr als aufgebracht wirkte, setzte sich vorwiegend aus jungen Männern und Frauen zusammen, die Plakate schwangen und ihm mit Fäusten drohten.

Wenn er den Artikel richtig deutete, so hatte er sich einige unverzeihliche Fehler in der Bildungs- und Umweltpolitik erlaubt. So etwas musste sich doch ändern lassen.

Er wollte die Zeitung schon zusammenfalten, um sie im dafür vorgesehenen Eimer in Asche zu verwandeln, als er sie entdeckte. Sie stand inmitten der Menge, reckte ihre Faust in die Höhe, und der Mund in ihrem wutverzerrten Gesicht war zu einem Schrei geöffnet. Allisons schwarzes Haar wehte wild um ihren Kopf, und sie überragte die meisten anderen Demonstranten um Haupteslänge.

Conny saß wie erstarrt auf seinem Klodeckel und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Dies war die Zukunft, in der er selbst auf der einen und Allison Harrowmore auf der anderen Seite zu stehen schien. Der Artikel nannte weit unten sogar ihren Namen und zitierte ihre Worte, die ihn als verknöcherten Ignoranten und Fossil bezeichneten.

Conny biss sich auf die Lippen. Natürlich sah sie nicht einen Tag älter aus als jetzt. Die Zukunft war ihre Gegenwart. Aber musste sie das so raushängen lassen? Im Jahre 2040 war er ganz sicher noch kein verknöcherter Ignorant.

Conny las den Artikel noch einmal von vorn bis hinten und verfluchte den Journalisten, der einiges an Wissen über die Kernproblematik frech voraussetzte. Er würde den Namen des Verfassers im Hinterkopf behalten und ihm dazu in einigen Jahren mal ein paar Takte erzählen.

Seine Armbanduhr gab ein leises Piepsen von sich. Es war elf Uhr. In einem anderen Zimmer im Stadtteil Kensington schlug Allison gerade erst die Augen auf und würde sich nach einem Frühstück, das nur aus einem Becher Kaffee bestand, auf den Weg in die Kanzlei machen. Sein Countdown lief. Ganz besonders, da sie sich gern per sekundenschnellem Teleport fortbewegte.

Rasch blätterte er weiter, kam zu den Klatschspalten und fand Allisons Gesicht ein weiteres Mal. Das Bild war in einer Londoner Diskothek aufgenommen worden, der Text kaum mehr als drei Zeilen lang. In ihm wurde Allison als Umweltaktivistin und Stilikone bezeichnet.

Conny ließ die Zeitung sinken. Allison – eine Stilikone? Bedeutete dies, dass sie in der Zukunft mehr als Overalls und Armeestiefel in ihrem Kleiderschrank verwahrte? Oder rannten etwa alle so rum? Den Fotos nach zu urteilen, eher nicht.

Er wollte sich gerade erneut in die Zeitung vertiefen, um auf seine Fragen noch ein paar Antworten zu finden, als er vor der Tür Stimmen hörte. Nigel sprach laut und in herablassendem Ton mit einem Fremden, der ziemlich aufgebracht zu sein schien.

Conny beschloss, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, um die Zeitung den Flammen zu übergeben. Er öffnete das Schränkchen neben ihm an der Wand, wo Miranda, die in einer Kammer der Kanzlei wohnte, ihre persönlichen Dinge aufhob, und schob die zusammengerollten Blätter unter eine in rosa Frottee gehüllte Wärmflasche.

Dann trat er ans Waschbecken und vergewisserte sich im Spiegel, dass er noch immer ein junger Mann war. Anschließend straffte er die Schultern und bereitete sich innerlich darauf vor, einem neuen Kunden gegenüberzutreten.

Was für eine Geschichte würde er erzählen? Konnte sie Nigels ersehnten Drachen enthalten?

Als Erstes bemerkte Conny einen seltsamen Geruch, der mit dem neuen Besucher hereingekommen sein musste. Er breitete sich im Empfangsraum aus und überlagerte sogar den penetranten Rosenduft von Nigels Briefbögen. Wenn Conny sich nicht irrte, handelte es sich dabei um eine Mischung aus Minze, Zitrone und etwas Ähnlichem wie Mirandas Möbelpolitur.

Der Mann in der Dunstwolke war genau wie Conny selbst um die dreißig, schlank und von hohem Wuchs. Seine leicht abstehenden Ohren hielten eine schwarz geränderte Brille, die sein Gesicht dominierte, das braune Haar war militärisch kurz geschnitten. Seine Miene verriet Unzufriedenheit. Ebenso wie die Nigels, der einen Fächer aus einer seiner Schreibtischschubladen hervorgekramt hatte und damit energisch herumwedelte.

»Das ist Mister Bitterton«, erklärte Nigel seinem Arbeitgeber und klang ziemlich biestig. »Er hat mindestens ein Problem, bei dem er unsere Hilfe benötigt.«

Marvin Bitterton streckte Conny die Hand entgegen, die dieser zögernd ergriff. Der seltsame Geruch verdichtete sich, je näher man Bitterton kam.

»Was können wir für Sie tun?«, fragte Conny und wies dem Mann den Weg zu seinem Büro, während er gleichzeitig einen Wink gab, der bedeutete, dass er umgehend zwei Tassen Kaffee für die Unterhaltung wünschte. Nigels Antwort bestand aus einer Grimasse.

Kapitel 2

 

»Es ist ein Albtraum«, behauptete Bitterton und warf drei Stück Würfelzucker in den Kaffee, den Nigel hocherhobenen Hauptes hereingetragen hatte.

Das Tablett stand kaum auf dem Tisch, als der Geist auch schon wieder naserümpfend die Flucht ergriff. Conny konnte es ihm nicht verdenken. Inzwischen hatte er zwei weitere Komponenten in der abstrusen Duftmischung, die den Mann einhüllte, ausgemacht. Es musste sich um Zimt und Patschuli handeln.

»Sie haben also bei einem Literaturwettbewerb gewonnen, dessen erster Platz Ihnen drei Monate Schreibaufenthalt ohne Verpflegung in einem Haus in Higher Down einbrachte«, wiederholte Conny die Ausführungen des Mannes. »Herzlichen Glückwunsch.«

»Von Glück kann gar keine Rede sein.« Bitterton rang die Hände. »Und dabei kam dieser Preis genau zur richtigen Zeit, weil ich mein Zimmer hier in London ohnehin aus Kostengründen räumen musste.«

Conny runzelte die Stirn und fragte sich, wie der Mann unter diesen Umständen die Dienste seiner Kanzlei bezahlen wollte. Signierte Bücher würde Conny keinesfalls als Lohn für seine Arbeit annehmen.

»Und am ersten Tag war es auch gar nicht so schlimm, weil der Wind wehte. Doch seit zwei Wochen ist es nahezu windstill im Tal von Higher Down, und über allem liegt diese Wolke infernalischen Gestanks, die einem die Luft zum Atmen nimmt. Schreiben kann ich überhaupt nicht mehr, meine Konzentration ist zum Teufel. Ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich nur einatme.«

Conny glaubte genau zu wissen, wovon der Mann sprach. Auch er empfand den Geruch, den Bitterton eingeschleppt hatte, als Belästigung. »Und die Einwohner? Haben sie keine Erklärung für diesen Mief?«

»Allerdings!« Bitterton verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie entschuldigen sich in einem fort für die Gülle auf den Feldern, die Misthaufen der Höfe und die marode Kanalisation. Wen auch immer ich frage, jedes Mal wird mir eine andere Erklärung serviert, und der Albtraum hält weiter an. Es ist die Hölle. Gäbe es einen Ort, an den ich zurückkehren könnte, würde ich es tun. Leider kann ich die nächste Bleibe in exakt neun Wochen beziehen. Ein Freund von mir geht für eine Weile nach Asien und überlässt mir sein Loft. Doch bis dahin muss ich den Gestank entweder erdulden oder ihm auf den Grund gehen.«

»Und Sie haben sich für Letzteres entschieden?« Connys Frage war eher eine Feststellung.

Bitterton beugte sich auf seinem Stuhl vor und kam Conny mit seiner Duftwolke bedenklich nahe. »Mister Bligh, ich habe alle Behauptungen der Leute überprüft. Ich war auf einem frisch gedüngten Acker, habe Misthaufen inspiziert und meine Nase über jeden Gully der Dorfstraße gehalten, den ich finden konnte. Der Gestank rührt nicht daher. Er schwebt einfach wie eine gewaltige Dunstwolke über allem.«

Conny, der sich weit auf seinem Stuhl zurückgelehnt hatte, sprang auf und öffnete die Fenster. Er glaubte Bitterton. Der Geruch, der dem Mann bereits anhaftete wie eine unsichtbare Hülle, hatte nichts mit den von ihm aufgezählten möglichen Ursachen zu tun. So weit kannte der Anwalt sich mit Gerüchen aus.

»Mister Bitterton, unsere Kanzlei kümmert sich um die Angelegenheiten von Geistern und jenen Personen, die durch die bloße Existenz des Übernatürlichen beeinträchtigt werden. Ihr Duft ist zwar nicht zu greifen, genau wie so mancher Geist, fällt aber trotzdem nicht in unser Ressort. Ich fürchte, wir können Ihnen da auch nicht weiterhelfen.«

»Verstehen Sie denn nicht?« Bitterton klang verzweifelt. »So ein Mief ist einfach nicht von dieser Welt. Es handelt sich möglicherweise um ein Fabelwesen, ein Tier, von dem wir noch nie gehört haben. Oder vielleicht kommt der Gestank auch direkt aus der Hölle. In beiden Fällen weiß ich nicht, an wen ich mich wenden sollte. Außer an eine Kanzlei wie Ihre. Bitte, nehmen Sie sich meiner an.«

In diesem Moment öffnete sich die Bürotür, und Allison, gekleidet in einen ihrer unvermeidlichen grauen Kampfanzüge, betrat den Raum. Ihr schwarzes Haar hatte noch keine Bürste gesehen und der Gürtel hatte einige Schlaufen verfehlt.

Conny vermutete, dass Nigel sie zu Hause angerufen und aufgefordert hatte, so schnell wie möglich hier einzutreffen. Also hatte Allison dem Kaffee eine Absage erteilt und war direkt ins Büro teleportiert, wofür Conny ihr sehr dankbar war. Möglicherweise konnte sie Bittertons Problem einer übernatürlichen Ursache zuordnen.

»Guten Morgen«, rief sie fröhlich. »Ich habe gehört, hier gibt es Kaffee?«

Wie aufs Stichwort erschien Nigel hinter ihr, drückte Allison eine eigene Tasse in die Hand und verschwand naserümpfend wieder von der Bildfläche.

»Gut, dass du kommst«, begrüßte Conny die Frau, die er liebte. »Es geht um einen unheimlichen Geruch oder vielmehr Gestank. Schnüffel doch bitte mal und sag uns, woran dich diese Duftnote erinnert.« Und in Gedanken an Nigel ergänzte er: »Könnte es ein Drache sein?«

»Sicher nicht.« Allison schüttelte den Kopf und nahm auf der Fensterbank Platz. »In letzter Zeit hing zwar öfter mal ein leichter Brandgeruch in der Luft, wenn ich ins Büro kam, aber das hier hat definitiv nichts mit Drachen zu tun. Setzt mich bitte ins Bild.«

Conny, dem augenblicklich siedend heiß die verkohlten Tageszeitungen aus der Zukunft eingefallen waren, wies auf Bitterton, der seine Geschichte ein weiteres Mal erzählte.

Allison hörte konzentriert zu, ohne eine Zwischenfrage zu stellen. Ihre Miene war unergründlich. Als Bitterton begann, die Erklärungen der Dorfbewohner herunterzuleiern, schnüffelte sie und sah ihren Gast erstaunt an.

»Mister Bitterton, selbst wenn man kein Landei ist, wird einem doch augenblicklich klar, dass dieser Geruch mit Gülle oder Kanalisation nicht das Geringste gemein hat.«

Jetzt war es an Bitterton, nicht minder verwirrt zurückzustarren. »Dieser Geruch? Was meinen Sie damit?«

Conny riss die Augen auf und hob fragend den Zeigefinger wie ein Schulkind. »Soll das heißen, Sie sind sich der Duftwolke nicht bewusst, die Sie umgibt?«

»Duftwolke?« Der Autor griff nach dem Revers seines Mantels, hob ihn an seine Nase und schnupperte. »Du meine Güte, sollte es schon an mir haften? Was, wenn es nie wieder weggeht?«

Er beschnüffelte auch noch seine Hände, dann schien ihm ein Licht aufzugehen. »Ach, Sie meinen die Brise Nummer 4. Nein, das ist nicht der Gestank, wegen dem ich Sie aufgesucht habe. In Higher Down riecht es um ein Vielfaches schlimmer.«

»Brise Nummer 4?«, wiederholte Conny. »Soll das heißen, Sie haben sich aus freien Stücken derart parfümiert?«

Bitterton hob entschuldigend die Schultern. »Alle dort benutzen es. Zuerst wollte ich nicht, aber Ed, der Gemischtwarenhändler, hat mir versichert, dass die Brise den allgegenwärtigen Gestank überlagern und den Alltag erträglicher machen würde. Ich muss sagen, er hatte recht. Ohne die Brise hätte ich keine drei Tage dort überstanden.«

Conny gab ein verlegenes Hüsteln von sich, während Allisons Augen sich weiteten. »Bedeutet das etwa, dass alle Einwohner dieses Ortes eher bereit sind, diese Duftnote zu ertragen als den Geruch, wegen dem sie zu uns gekommen sind?«

Bitterton nickte.

»Das muss ein infernalischer Gestank sein.« Die Seelensorgerin klang beeindruckt. »Und niemand ereifert sich darüber? Alle versuchen, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren?«

»Die wissen irgendetwas. Es ist kaum vorstellbar, dass ein unhaltbarer Zustand von allen Einwohnern grundlos stoisch hingenommen wird«, schlussfolgerte Conny. »Das ganze Dorf hält zusammen, aber warum?«

Allison stimmte ihm mit einem Nicken zu. Sie schien der gleichen Meinung zu sein, und ihr Interesse an diesem Fall stieg ebenso rasch wie bei Conny.

»Haben Sie sich an den Besitzer Ihrer Schreibresidenz gewandt?«, wollte sie von Bitterton wissen. »Diesen Theo …?«

Der Schriftsteller nickte. »Allerdings. Gleich am zweiten Tag habe ich ihn angerufen. Ich habe ihn gefragt, ob es dieses Problem schon gegeben hat, als er in Higher Down aufwuchs. Seine Antwort wurde immer wieder von kleinen Heiterkeitsausbrüchen begleitet. Er riet mir, die Gerüche in meinem Buch zu verarbeiten, es würde dadurch sicher zu einem Bestseller.«

»Er wusste also genau Bescheid, doch eine Erklärung gab auch er nicht ab?« Allison wirkte immer faszinierter.

»Er wusste es«, bestätigte Bitterton. »Er ließ mich wissen, das Dorf würde schon seit dem Krieg zum Himmel stinken, und riet mir, ebenfalls zur Brise Nummer 4 zu greifen. Dann hat er mir viel Glück gewünscht und mich noch einmal aufgefordert, diese Erfahrung literarisch zu verarbeiten. Damit war das Gespräch zu Ende.«

»Noch ein Eingeweihter«, schlussfolgerte Conny und fuhr seinen Laptop hoch. »Ob er will, dass Fremde auf dieses Problem aufmerksam werden? Ist er eine Art Abtrünniger, während der Rest des Ortes beharrlich schweigt?«

»Möglich.« Allison rutschte mit nachdenklichem Blick von der Fensterbank. »Wir werden uns des Problems annehmen, Mister Bitterton. Unabhängig davon, ob dieser Geruch gespenstischen oder fabelhaften Ursprungs ist. Was unser Honorar angeht, so werden wir uns sicher einigen.«

»Das hatte ich gehofft.« Ihr Klient atmete erleichtert auf. »Vielleicht können wir für Higher Down ein neues Zeitalter der Frischluft einläuten, und man beteiligt sich dort aus Dankbarkeit an den Kosten. Eigentlich ist das Örtchen nämlich ganz nett.«

»Nun.« Conny fiel es schwer, dem Mann einen Dämpfer verpassen zu müssen. »So wie Sie es schildern, ist niemand in diesem Dorf an Abhilfe wirklich interessiert. Ich denke nicht, dass uns große Dankbarkeit entgegenschlagen wird, wenn wir dort aufschlagen. Aber ich stimme Allison zu. Was das Finanzielle angeht, werden wir schon eine akzeptable Lösung finden.« Er tippte auf der Tastatur seines Computers herum. »Higher Down hat keinen Bahnhof?«

Bitterton schüttelte den Kopf. »Aber eine Bushaltestelle, gar nicht weit von meiner Unterkunft entfernt.«