Banshee Livie (Band 9): Lügen für Laien - Miriam Rademacher - E-Book
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Banshee Livie (Band 9): Lügen für Laien E-Book

Miriam Rademacher

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Beschreibung

Livie ist fest entschlossen, das Rätsel um den Tod ihrer Mutter zu lösen. Doch das erweist sich als schwieriger als gedacht, denn kaum jemand ist gewillt, ihr die Wahrheit über das zu verraten, was sich vor zehn Jahren während eines paranormalen Forschungsexperiments ereignete. Erst als Feinde zu Freunden werden und sich Freunde als Feinde entpuppen, kommt Livie dem Gespinst aus Lügen langsam auf die Schliche …

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Danksagung

Miriam Rademacher

Banshee Livie

Band 9: Lügen für Laien

Fantasy

 

 

 

 

Banshee Livie (Band 9): Lügen für Laien

Livie ist fest entschlossen, das Rätsel um den Tod ihrer Mutter zu lösen. Doch das erweist sich als schwieriger als gedacht, denn kaum jemand ist gewillt, ihr die Wahrheit über das zu verraten, was sich vor zehn Jahren während eines paranormalen Forschungsexperiments ereignete. Erst als Feinde zu Freunden werden und sich Freunde als Feinde entpuppen, kommt Livie dem Gespinst aus Lügen langsam auf die Schliche …

Die Autorin

Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf und begann früh mit dem Schreiben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie mag Regen, wenn es nach Herbst riecht, es früh dunkel wird und die Printen beim Lesen wieder schmecken. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Kurzgeschichten, Fantasyromane, Krimis, Jugendbücher und ein Bilderbuch für Kinder veröffentlicht.

 

 

 

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Januar 2024

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2024

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

Lektorat: Lektorat Laaksonen | Stefan Wilhelms

Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-299-1

ISBN (epub): 978-3-03896-300-4

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für Livie

Irgendwie habe ich das Gefühl,

diese Geschichte hast du ganz allein geschrieben.

 

Prolog

 

London, in einer Sommernacht 2010

 

Als Livie aus dem Schlaf hochfuhr, wusste sie im ersten Moment nicht, was sie geweckt hatte und noch weniger erschloss sich ihr, wo sie sich überhaupt befand.

Die brennende Lampe auf dem Tischchen war nicht ihre eigene. In ihrem Kinderzimmer leuchtete jede Nacht ihre gute alte Schlumpflaterne, denn Livie hatte wie viele Mädchen ihres Alters Angst im Dunkeln. Ihre Mutter behauptete, das würde sich irgendwann legen. Livie war sich da nicht so sicher.

Dieser fremde Lampenschirm mit kunterbunten Bommeln am unteren Rand faszinierte und irritierte sie gleichermaßen, bis ihr wieder einfiel, dass sie in dieser Nacht bei Tante Ethel zu Gast war. Ihre Mutter war wieder einmal zu einem Tauchurlaub an der schottischen Küste aufgebrochen und kehrte erst in einigen Tagen nach London zurück.

Nur unter Wasser, so pflegte sie zu sagen, hielten endlich einmal alle die Klappe, und Mums Bedürfnis nach Ruhe war in der letzten Zeit immer größer geworden.

Livie hoffte sehr, dass der Kurzurlaub ein wenig Entspannung brachte, die sich auch im Alltag niederschlug. Die ständige Gereiztheit ihrer Hauptbezugsperson fing an, eine Belastung für sie zu werden.

»Aber wie soll es denn jetzt weitergehen?«

Das war die Stimme von Tante Ethel, die durch die geschlossene Tür hindurch bis an ihr Ohr drang, und sie hatte sehr schrill geklungen.

Plötzlich hellwach warf Livie einen Blick auf den Wecker mit den grünleuchtenden Ziffern. Es war bereits weit nach Mitternacht.

Hatte Tante Ethel um diese Zeit Besuch bekommen oder telefonierte sie mit jemandem? In jedem Fall kam ihr die Aufregung im Ton ihrer Patin merkwürdig vor. Denn diese brachte nämlich so schnell nichts aus der Ruhe.

»Meine Organisation ist sich ihrer Verantwortung voll bewusst und wird Sie keinesfalls im Regen stehenlassen«, sagte nun eine Männerstimme, die Livie noch nie zuvor gehört hatte. Ihr Klang war sanft und mitfühlend, besaß aber einen gebieterischen Unterton, wie Livie ihn bisher nur von ihrem Mathelehrer kannte.

»Sie hat eine Tochter!« Ethel klang sehr aufgebracht. »Das Kind ist erst zwölf Jahre alt! Was soll denn aus ihr werden?«

Livie setzte sich steil im Bett auf.

Wer hatte eine Tochter gehabt, die genau wie sie zwölf Jahre alt war? Wovon redete ihre Patentante da bloß?

»Wir hatten gehofft, dass Sie als Vertraute und gewissermaßen einzige Angehörige …« Das war wieder die Stimme des Mannes gewesen, doch Tante Ethel ließ ihn nicht ausreden.

»Natürlich! Ja. Wer soll es denn sonst tun? Aber das bedeutet einen Heidenpapierkram, und ich bin wirklich nicht gut in so etwas. Bisher war ich nicht einmal für ein Haustier verantwortlich und jetzt gleich ein Kind kurz vor der Pubertät? Hoffentlich schaffe ich das.«

»Um den Papierkram brauchen Sie sich nicht zu kümmern«, erklärte der Mann und klang jetzt wirklich exakt wie Livies Mathelehrer, wenn er wollte, dass Ruhe in der Klasse herrschte. »Auch was das Finanzielle angeht, werden Sie und die Kleine immer gut versorgt sein. Wir haben Möglichkeiten, es Ihnen angenehm zu machen. Diese Wohnung hier wurde Ihnen ebenso wie das Zuhause des Kindes vom Arbeitgeber Ihrer Freundin zur Verfügung gestellt, als das alles begann, richtig?«

»Ein unfassbar großzügiges Angebot, das ich mir selbst nicht recht erklären kann. Schließlich bin ja nicht ich es, die für diese Gesellschaft tätig ist. Aber solch ein Angebot kann man ja nicht einfach ausschlagen.« Tante Ethel klang jetzt weinerlich. »Natürlich werde ich sie räumen, sobald ich etwas Billigeres für mich und die Kleine gefunden habe.«

»Das wird nicht nötig sein«, widersprach der Fremde. »Ich denke, Sie werden bald zur Eigentümerin dieser hübschen Räumlichkeiten, sobald die Zuständigen alles geregelt haben. Und auch ihr eigenes Zuhause wird dem Mädchen nicht verlorengehen. Immer vorausgesetzt, es gibt kein Gerede über diesen schrecklichen Vorfall. Man erwartet von Ihnen im Tausch gegen diese Immobilien ein Höchstmaß an Diskretion.«

Livie spürte mit einem Mal, wie es ihr eiskalt den Rücken hinunterlief. Als ob die Temperatur im ganzen Raum gefallen war und mitten im Sommer der Winter hereinbrechen wollte.

Mit einem Ruck schlug sie die Bettdecke beiseite und schwang die Beine über den Bettrand. Schon tasteten ihre Füße nach den niedlichen rosa Pantoffeln, ein Geschenk von Tante Ethel zum letzten Weihnachtsfest.

»Ein Eigenheim in Kensington ist eine nette Sicherheit, ersetzt einem Kind aber nicht die Mutter.« Das war wieder ihre Patin gewesen.

Livie öffnete die Tür des Gästezimmers und witschte lautlos hinaus auf den dunklen Flur.

Die Wohnzimmertür, direkt gegenüber, war nur angelehnt und ein heller Lichtschein fiel auf Tante Ethels gewaltige hüfthohe Winkekatze, die gleich neben der Eingangstür stand. Wie von Geisterhand bewegt, wippte der Arm der goldenen Statue auf und ab, doch zum ersten Mal kam es Livie nicht wie ein freundlicher Gruß, sondern eher wie eine unheimliche Warnung vor.

»Uns ist völlig klar, wie wenig materielle Dinge den Verlust eines geliebten Menschen ersetzen können«, erwiderte der Mann gerade. »Auf emotionaler Ebene sind unsere Möglichkeiten, fürchte ich, etwas begrenzt. Aber in nahezu allen anderen Bereichen kann Olivia auf uns zählen, solange sie lebt. Und wenn sie es wünscht, auch darüber hinaus.«

»So eine Bemerkung finde ich ganz und gar nicht lustig«, murrte Tante Ethel.

»Es war auch nicht als Witz gemeint.«

Mit zitternden Händen, jedoch fest entschlossen, schob Livie die Tür zum Wohnzimmer auf und trat ein.

Sofort richteten sich die Augen ihrer Patentante auf sie. »Livie-Schatz, haben wir dich geweckt?«

Mit zwei schnellen Schritten war Ethel bei ihr, ging in die Hocke, schlang die Arme um sie und begann hemmungslos zu weinen.

Livie musterte über den Scheitel ihrer rothaarigen Patentante hinweg den Mann, der an dem antiken Buffettisch lehnte, einen dunklen Anzug trug und eine Aktentasche neben sich abgestellt hatte. Seine Haare waren so schwarz, als wären sie mit Schuhcreme behandelt worden, sein Gesicht war schmal und die hellgrauen Augen standen dicht beieinander. Livie bemerkte eine lange Narbe auf seiner Stirn, die seine rechte Augenbraue teilte und ganz frisch zu sein schien.

Die schwarzen Fäden waren blutverkrustet und eine violette Verfärbung auf der Stirn entwickelte sich gerade erst. Er brachte, im Gegensatz zu Tante Ethel, bei ihrem Erscheinen ein Lächeln zustande.

»So. Du bist also die kleine Olivia Eleanor Emerson.«

»Livie«, verbesserte sie ihn automatisch, obwohl sich ihre Kehle wie zugeschnürt anfühlte. »Was ist mit meiner Mum?«

Tante Ethel schluchzte laut auf und hielt sie noch fester, während der fremde Mann den Blick senkte, um dem ihren auszuweichen.

»Sie wird nicht zurückkommen, Livie. Es hat … einen tragischen Unfall gegeben.«

»Beim Tauchen?« Ihre Stimme quietschte in einer unfassbar hohen Tonlage, und das Herz in ihrer Brust raste wie verrückt.

Einen Augenblick lang sah der Fremde verwirrt drein. Dann aber sagte er: »Oh, ja! Beim Tauchen. Ja. Sie ist leider ertrunken.«

Tante Ethel schniefte, lockerte ihren Griff und sah ihr direkt ins Gesicht. »Wir beide sind von jetzt an ein Team, Livie-Maus. Für immer.«

Es war dieses für immer, das Livie die Kraft für den nächsten Atemzug gab. Ihre Welt mochte soeben fast zusammengebrochen sein, aber eben nur fast. Da war weiterhin Tante Ethel, die sie festhalten würde. Für immer.

»Es tut mir sehr leid.« Der Fremde trat näher und strich ihr etwas unbeholfen über das schwarze Haar. Es war so dunkel, wie es das ihrer Mutter gewesen war. Eines der Dinge, die sie von ihr geerbt hatte. »Wir haben versucht, hatten gehofft …« Er brach ab und beendete seinen Erklärungsversuch, wie er begonnen hatte: »Es tut mir sehr leid.«

In diesem Moment wischte sich Tante Ethel mit einer nahezu rabiaten Bewegung die Tränen aus dem Gesicht. »Livie braucht Ihr Mitleid nicht. Aber alles andere werden wir gewiss nicht ausschlagen, denn es ist ihr Recht, für diesen Verlust entschädigt zu werden. Ganz egal, wer dafür geradestehen will, Hauptsache jemand übernimmt die Verantwortung.«

»Natürlich.« Der Mann zog eine Visitenkarte aus der Innentasche seines Jacketts und schob sie unter eine Blumenvase, die ihren Platz auf dem Buffettisch hatte. »Wenn Sie jemals etwas brauchen sollten, wissen Sie, wo Sie mich erreichen können.«

Er packte den Griff seiner Tasche, die sehr schwer zu sein schien, und verließ das Wohnzimmer.

Tante Ethel blieb zurück, inmitten ihrer bunten Seidenkissen und Steppdecken. Sie weinte schon wieder.

Livie rannte dem Fremden nach, der sich gerade selbst die Wohnungstür geöffnet hatte und Anstalten machte, aus ihrem Leben zu verschwinden, kaum dass er darin erschienen war.

»Wer sind Sie?«, rief sie ihm nach.

Er wandte sich zu ihr um. »Ein Freund, wenn du das möchtest. Kein besonders guter, ich bin allerdings bereit, mir Mühe zu geben. Auf Wiedersehen.«

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und Livie blieb allein im Flur zurück. Allein mit einer gewaltigen Winkekatze, die unaufhörlich ihren Arm schwenkte und sie mit kalten Augen anzustarren schien.

Livie wusste es noch nicht, aber von diesem Tag an würde sie Winkekatzen für den Rest ihres Daseins abgrundtief hassen.

Kapitel 1

 

Februar 2020, London

 

Von meinem Platz auf der Fensterbank aus hatte ich einen wunderbaren Blick auf die Geschäftsstraße vor dem Haus. So konnte ich beobachten, wie genau zur verabredeten Zeit ein Taxi vorfuhr und unter meinem Aussichtspunkt hielt. Von der Rückbank kletterte Zach, der kleinste große Zauberer der Welt, der schon ziemlich lange zu meinen besten Freunden zählte. Doch so, wie er sich heute herausgeputzt hatte, war er mir zuvor noch nie unter die Augen gekommen.

Zach trug einen maßgeschneiderten hellgrauen Anzug, darunter eine grellbunte Weste, an der eine goldene Kette glitzerte, deren Taschenuhr er jetzt hervorzog und einen prüfenden Blick darauf warf. Anschließend schaute er hoch zu mir, verkniff sich ein Lächeln und nickte mir fast unmerklich zu.

Ich biss mir vor Aufregung auf die Lippen. Die Operation ›Martha‹, deren Vorbereitung uns mehrere Wochen gekostet hatte, konnte endlich beginnen.

Zehn Jahre lag der Tod meiner Mutter nun zurück, und die meiste Zeit über hatte ich die Umstände nicht hinterfragt.

Mein letztes Abenteuer im Paris der Fünfzigerjahre war für mich allerdings zu einem Wendepunkt geworden. Zum ersten Mal, seit ich durch meinen plötzlichen Tod zur Banshee der Familie Harrowmore geworden war, kümmerte ich mich um meinen eigenen Kram. Denn da gab es ganz offensichtlich einige Ungereimtheiten, die ich bisher verdrängt hatte.

»Mister Bucket?«

Ich wandte ruckartig den Kopf und wäre dabei fast von der schmalen Fensterbank gefallen. Doch das war im Grunde ohne Belang, denn Mister Bucket, dessen Gegensprechanlage soeben seinen Namen ausgespuckt hatte, war nicht in der Lage, mich zu sehen.

In den letzten Wochen hatte ich so viel Zeit in seinem Büro verbracht, wie sonst üblicherweise in meiner Dachkammer auf Schloss Harrowmore. Ich kannte all seine Gewohnheiten, wusste, dass er heimlich in der Nase bohrte, wenn er sich unbeobachtet glaubte, und sich gewohnheitsmäßig im Schritt kratzte, sobald er sich von seinem Bürostuhl erhob.

Bucket war ein älterer Herr von fast siebzig Jahren, und er glaubte fest an die Existenz von Geistern. Nur sehen konnte er sie leider nicht. Nicht einmal hören konnte er mich, wovon ich mich gleich bei meinem ersten Tag in seinem Büro überzeugt hatte. Er war ganz und gar unbegabt und doch hatte er sein ganzes Leben lang der Erforschung von paranormalen Phänomenen gewidmet.

Nun ja, warum nicht? Ich hatte zu Schulzeiten auch viele Lehrer ertragen, die mit Kindern nichts am Hut hatten und sich trotzdem durch eine pädagogische Laufbahn quälten. Jeder, wie er mochte. Von Talent wurde bei der Berufsberatung ja zumeist auch gar nicht gesprochen.

»Mister Bucket, der kleine Herr, der von sich glaubt, ein Zauberer zu sein, ist jetzt da«, quäkte es erneut aus der Gegensprechanlage.

Ulfric Bucket drückte einen Knopf und brüllte so laut, dass er vermutlich auch ohne technische Unterstützung im Nebenzimmer zu hören war: »Danke, Miss Harrowmore! Schicken Sie ihn gleich zu mir herein.«

»Sofort, Sir.«

Einen Wimpernschlag später hielt meine beste Freundin Millicent, ungewöhnlich adrett gekleidet in einem violetten Kostüm mit Rüschenbluse, Zach die Tür auf.

»Mister Biggs, Sir«, meldete sie und zwinkerte mir noch einmal kurz zu, bevor sie die Tür wieder von außen schloss.

Was würde ich froh sein, wenn dieses elende Nicken und Zwinkern ein Ende fand und meine Freunde wieder normal mit mir reden konnten, ohne von einem Mister Bucket oder seinen Kollegen für verrückt gehalten zu werden.

»Mister Biggs. Willkommen in den Räumen der SPR.« Bucket stand auf, kratzte sich ausnahmsweise nicht im Schritt, und begrüßte meinen Freund mit Handschlag, der höflich lächelte und sich schwungvoll vom Boden abstieß, um den Besuchersessel zu erklimmen. »Die Gesellschaft für die Erforschung paranormaler Phänomene freut sich, einen so wichtigen und geheimnisumwitterten Mann begrüßen zu können.«

Zach, der mich, seit er den Raum betreten hatte, geflissentlich ignorierte, erwiderte: »Und ich freue mich. In einer brisanten Angelegenheit auf die Unterstützung Ihrer Society zählen zu können.«

Bucket nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz, faltete seine Wurstfinger und erzählte: »Ja, wir sind eine Gruppe ausgezeichneter Forschender, die weltweit agiert. Wann immer es irgendwo spukt, sind wir nicht weit.«

»Das stimmt«, rief ich Zach von meinem Platz aus zu. »Er bekommt Mails von überall her und die Absender bezeichnen sich zumindest selbst als Wissenschaftler, Professoren und Koryphäen.«

Zach verzog keine Miene, während Bucket weiterplapperte. »Wir sind eine in der Wissenschaft angesehene Institution mit hohem Einfluss.«

»Das ist gelogen«, widersprach ich und verdrehte die Augen. »Bucket hätte gern etwas mehr Anerkennung, bekommt sie aber nicht. Regierung und renommierte Wissenschaftler halten die Mitglieder der SPR für ausgemachte Spinner. Und das schon seit ihrer Gründung im Jahr …«

»1882 war das Jahr, in dem wir diese Räume bezogen, können Sie sich das vorstellen?« Buckets Blick wanderte zufrieden durch sein schlichtes Büro und wie gewöhnlich über mich hinweg.

In Zachs Gesicht hatte es zu zucken begonnen. Meine Kommentare zu Buckets Gewäsch stellten seine Selbstbeherrschung auf eine harte Probe. »Ich denke, Sie können mit Ihrer Selbstbeweihräucherung aufhören, Mister Bucket, denn was Ihre Reputation angeht, bin ich auf dem aktuellen Stand. Ich habe mich dahingehend informiert.«

»Ich bin eben die beste Spionin aller Zeiten«, verkündete ich ein wenig selbstgefällig. »Vielleicht sollte ich daraus ein Geschäftsmodell machen. Unser Mister Bucket hier ist für mich wie ein offenes Buch seit ich ihm beim Kaffeeschlürfen und Furzen zuhöre.«

Zach verlor nun doch kurzfristig die Kontrolle und täuschte einen Hustenanfall vor, um sein Lachen zu verbergen, woraufhin Bucket seinen Barschrank öffnete und dem Gast ein Glas Bourbon kredenzte.

Mit mir lebte er nun seit Wochen zusammen, und ich hatte noch nicht einmal einen Keks angeboten bekommen. Ein klarer Nachteil, wenn man nicht gesehen wurde.

»Ich bin hergekommen, um Einsicht in Ihre geheimen Unterlagen zu nehmen, insofern Sie mich lassen. Dabei spreche ich nicht von den offiziellen Akten, die Sie Ihren gewöhnlichen Besuchern unter die Nase halten, sondern von den etwas spezielleren.«

Buckets buschige Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Woher wissen Sie davon?«

»Von Ihrer doppelten Buchführung, wie ich es mal nennen will?« Zach grinste. »Wie ich bereits sagte, habe ich mich im Vorfeld gut informiert. Und ich hoffe auf unsere uneingeschränkte Zusammenarbeit. Schließlich soll dies doch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft werden, nicht wahr?« Zach baumelte mit den Beinen und nippte am Bourbon.

»Gewiss«, beteuerte Bucket und blies seine Hängebacken auf, bevor er weitersprach. »Ein Zauberer, ein echter Zauberer, nach allem, was man hört, denn niemandem ist es bisher gelungen, etwas anderes in Ihnen zu sehen, ist in jedem Fall eine Bereicherung für die SPR, deren Präsident zu sein, ich die Ehre habe.«

»Whitby Abbey«, sagte Zach und stellte das Glas beiseite.

»Wie bitte?« Bucket schien irritiert.

»Sprechen wir über Whitby Abbey und dem dort beobachteten Spuk. Es geht mir um den Fall von Constance de Beverly. Wer außer Ihnen sollte mir da weiterhelfen können?« Zach hatte aufgehört, mit den Beinen zu baumeln und fixierte sein Gegenüber. »Die uralte Sage, der zufolge diese Nonne wegen eines moralischen Fehlverhaltens eingemauert wurde, ist natürlich ein alter Hut und jedem bekannt. Vielmehr will ich wissen, was vor zwanzig Jahren in den Ruinen der alten Abtei geschah, als zwei ahnungslose Touristen von jetzt auf gleich ihren Verstand verloren.«

»Aber mein lieber Freund …« Bucket fächelte sich einen Moment lang vergeblich Luft zu, bevor er aufsprang, ans Fenster eilte und mich beim Öffnen fast hinausgedrängt hätte.

Gerade rechtzeitig konnte ich mich vor seinem Kugelbauch in Sicherheit bringen, doch seine rechte Hand durchbohrte meine Schulter, um den Drehgriff zu betätigen. Ich hasste solche Situationen, die für mich immer mit einem Gefühl der Angst und Unterlegenheit einhergingen.

»Der Fall dieser armen Menschen ist topsecret.« Bucket kehrte an seinen Schreibtisch zurück, während Zach mich fixierte, um zu sehen, wie es mir ging. Ich winkte ab und konzentrierte mich auf Bucket. »Selbstverständlich sind wir der Angelegenheit damals nachgegangen. Whitby Abbey ist quasi seit Gründungszeiten unser Revier. Wir haben dort sogar eine Art Unterschlupf, in dem wir gelegentliche Testreihen und Experimente durchführen.«

»Ich weiß.« Zachs Gesicht blieb völlig ausdruckslos.

»Was? Ich wusste das nicht«, entfuhr es mir. »Ich dachte, die SPR hat ihren Sitz hier in London. Von Außenstellen höre ich gerade zum ersten Mal. Und wo in aller Welt liegt überhaupt Whitby Abbey? Ist dieser Fall wirklich nur ein Ablenkungsmanöver, wie wir es vorher besprochen haben, oder für mich von Bedeutung?«

»Das meiste, was in der alten Abtei vor sich geht, ist kalter Kaffee«, fuhr Zach ungerührt fort, ohne auf meine Fragen einzugehen. Konnte er ja auch nicht. Mist, verfluchter. »Wer interessiert sich heute noch für kopflose Kutscher und Schlangenopfer? Aber der wiederkehrende Spuk der eingemauerten Nonne und Ihre Forschungen dazu sind für mich aktuell von großer Bedeutung. Ich möchte Ihre Messergebnisse der letzten Jahrzehnte mit den meinigen abgleichen. Und da auch Sie davon profitieren würden, was sollte Sie daran hindern, mich einen kurzen Blick in Ihre streng geheimen Aufzeichnungen werfen zu lassen?«

Bucket schien kurz überlegen zu müssen. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Ja, das Alter des Falles ist ein Punkt, der mir einen gewissen Spielraum lässt. Tatsächlich sind die beiden armen betroffenen Touristen, sowie der von uns mit den Nachforschungen beauftragte Experte, bereits verstorben. Man kann also keine lebenden Personen mehr in Misskredit bringen.« Er sah noch einen Moment lang versonnen zu mir in Richtung Fenster, dann klatschte er in die Hände. »Gut, ich werde die vollständige Akte holen.«

»Holen lassen«, korrigierte Zach. »In der Zwischenzeit wäre ich bereit, Ihnen ein paar echte Zauberkunststücke zu zeigen.«

»Aber das geht nicht!«, rief der Präsident und schlackerte mit seinen Hängebacken. »Niemand außer mir darf den Schrank öffnen, in dem diese Akten lagern. Sehen Sie?« Er zog einen Schlüssel aus der hinteren Gesäßtasche, der an einer langen Metallkette hing. »Den trage ich immer bei mir. Tag und Nacht.«

»Er sitzt drauf«, ergänzte ich. »Da hilft es nicht mal, dass ich als Banshee alles öffnen kann. Ich komme an das Ding nicht heran. Und meine Fähigkeiten als Taschendiebin sind ohnehin nicht der Rede wert, weil ich den blöden Schlüssel nicht greifen kann.«

»Wie ärgerlich«, meinte Zach und reagierte damit sowohl auf meine als auch auf Buckets Worte.

Inzwischen war ich an dessen Schreibtisch herangetreten und konzentrierte mich auf seinen Briefbeschwerer. Meine telekinetischen Kräfte waren leidlich gut entwickelt und so vertauschte ich den Marmorklotz mit seinem Anspitzer.

»Erstaunlich«, rief Bucket und sah den beiden Gegenständen, die sich aus seiner Sicht von ganz allein bewegten, beim Tanzen zu. »Sie können tatsächlich zaubern, Mister Biggs.«

Selbstgefällig stieß ich mittels meiner Gedanken gegen den Papierkorb, dessen Inhalt sich sogleich über den Teppich ergoss.

»Wunderbar!« Bucket klatschte in die Hände und wirkte so glücklich, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. »Könnten Sie eventuell auch an mir ein wenig herumzaubern?«

Ich runzelte die Stirn und zog widerwillig an seinem Schnurrbart, bevor ich mir seine Lesebrille direkt von der Nase schnappte und in Zachs Bourbon fallen ließ.

»Klappt doch super«, meinte Zach. Eine Bemerkung, die Bucket kurz irritierte.

»Ja, weil er diese Dinge weder festgekettet hat noch unter seinem Hintern versteckt«, maulte ich und dachte an den Schlüssel.

»Unglaublich! Das ist echte Zauberei!« Bucket war so weit. Während Zach sich zufrieden grinsend zurücklehnte, drückte er den Knopf der Gegensprechanlage und rief mit donnernder Stimme: »Miss Harrowmore? Würden Sie bitte einmal kurz hereinkommen?« Er ließ den Knopf los und ergänzte in Zachs Richtung gewandt: »Eine wunderbare neue Schreibkraft, diese Miss Harrowmore. Sie arbeitet seit fast drei Wochen für uns und hat sich jetzt schon als wahre Perle erwiesen. Ordentlich, zuverlässig und absolut vertrauenswürdig. Ihr kann ich den Schlüssel zum Aktenschrank guten Gewissens für eine Weile überlassen.«

»Es ist wichtig, von Leuten umgeben zu sein, denen man vertrauen kann«, gluckste Zach und schien sich gut zu amüsieren.

Die Tür flog auf und Millie erschien wieder auf der Bildfläche. Sie war die Freundlichkeit in Person und rief fast ein wenig zu eifrig: »Was kann ich für Sie tun, Mister Bucket?«

»Ja, also …« Er erhob sich und löste die Schlüsselkette von seinem Hosenbund. »Gehen Sie mal runter in den Keller und öffnen Sie die rotlackierte Tür. Keine andere, nur die rote, wenn ich bitten darf. Es ist eine ganz besondere Tür, ein mongolischer Schamane hat sie vor einer Ewigkeit angefertigt.«

»Das Scheißteil geht einfach nicht auf«, motzte ich und dachte an all meine vergeblichen Versuche, die Tür kraft meiner Gedanken zu öffnen.

Bis zu dieser Erfahrung war ich ausschließlich an magisch verschlossenen Orten gescheitert. Demnach musste es dieser unbekannte Schamane wirklich draufgehabt haben.

»Dahinter befindet sich ein Schrank, der Staatsgeheimnisse enthält«, schärfte Bucket meiner Freundin gerade ein. »Seien Sie sich der Verantwortung bewusst.«

»Mal nicht übertreiben.« Ich stellte mich zu Millie, die dienstbeflissen vor sich hin nickte, als sie den unscheinbaren schwarzen Schlüssel aus Ulfric Buckets Händen entgegennahm.

»Suchen Sie mir die Akte Whitby Abbey 2000 heraus, verschließen Sie alles sorgsam und kommen Sie augenblicklich zurück.«

»Ja, Sir.« Millie nickte und drehte auf dem Absatz um.

Ich warf Zach einen raschen Blick zu, der völlig gelassen wirkte, und schloss mich meiner Freundin an, die gerade durch das Vorzimmer hastete.

»Er wird die Uhr im Auge behalten«, raunte ich ihr zu. »Egal wie viel Mühe Zach sich gibt, um ihn abzulenken, letztendlich traut er doch niemandem.«

»Ich weiß«, antwortete Millie und raste durch das Treppenhaus in Richtung Keller. »Wenn wir uns verspäten, stecken wir in Schwierigkeiten. Keine Ahnung, wie die aussehen werden, aber wir beeilen uns besser.«

Der Keller roch seltsam, was daran lag, dass im Gebäude auch eine Zahnarztpraxis untergebracht war. Was immer die hier unten lagerten, und ich hoffte sehr, dass es keine maroden Zähne waren, sonderte einen sehr eigenwilligen Geruch ab.

Hier unten gab es mehrere Türen, von denen keine so gut gesichert war, wie das von Bucket erwähnte rot lackierte Hindernis auf unserem Weg.

»Wir sind am Ziel. Zumindest hoffe ich das.« Millie steckte den Schlüssel ins Schloss und die verhasste Schamanentür öffnete sich problemlos.

Sie gab den Blick in eine fensterlose Kammer frei, die nur ein einziges Möbelstück beinhaltete: Es war ein schlichter Metallschrank, wie man ihn in jedem gewöhnlichen Baumarkt finden konnte. Seine Klappen standen weit offen, und Millie und ich sahen uns einer Fülle von Akten gegenüber, deren Rücken glücklicherweise allesamt beschriftet waren.

»Wonach soll ich suchen?«, fragte Millie und wirkte etwas planlos.

»Die Akte von Whitby Abbey 2000«, gab ich zurück, während ich gleichzeitig nach meinem eigenen Nachnamen Ausschau hielt.

»Ah, da ist sie ja«, rief Millie und klemmte sich das Gesuchte unter den Arm. »Wo ist deine?«

»Ich kann sie nicht finden«, rief ich leicht hysterisch. »Aber sie muss einfach hier unten sein, sie muss!«

»Und wenn sie eben doch nicht mehr über den Tod deiner Mutter wissen, als sie in der offiziellen Akte festgehalten haben?« Millies Stimme klang plötzlich sehr sanft. »Was, wenn es darüber gar nicht viel zu wissen gibt?«

»Sie wissen etwas«, behauptete ich stur. »Sie haben mir und meiner Tante Wohnungen in einem der teuersten Stadtteile Londons überlassen. Wozu, wenn ihr Gewissen nicht schwer wie Blei ist?« Ich suchte verbissen weiter.

»Da steht sie.« Millies Hand schoss vor. »Martha Emerson, 2010.«

»Ich habe es gewusst!« Erleichterung durchflutete mich. »Jetzt aber schnell, bevor Bucket misstrauisch wird.«

Millie antwortete gar nicht erst. Sie schnappte sich beide Akten, lief aus der Kammer und verschloss die Tür. Anschließend öffnete sie planmäßig die nächstgelegene Tür, an der die naive Bleistiftzeichnung einer Kaffeetasse klebte. Eigentlich erwartete ich deshalb, dahinter eine Teeküche vorzufinden, doch es war ein vollständig eingerichteter Büroraum, und er besaß, genau wie wir vermutet hatten, einen Lichtschacht. Millie flitzte direkt zu dem Kellerfenster, öffnete es und rief leise: »Cameron? Bist du da?«

»Ich bin hier«, hörte ich die Stimme ihres Bruders, der dort draußen auf dem Bürgersteig auf seinen Einsatz gewartet hatte.

Sofort stellte Millie sich auf die Zehenspitzen und schob die Akte meiner Mutter in den Kellerschacht. Gleichzeitig tauchte von oben eine Hand in meinem Blickfeld auf, packte zu, und schon hatte unsere Beute das Gebäude der SPR verlassen.

»Jetzt kann nichts mehr schiefgehen, oder?«, flüsterte sie mir zu.

Doch genau daran waren mir soeben Zweifel gekommen, denn ich glaubte, eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Direkt hinter den zwei zu einer Arbeitsinsel mitten im Raum zusammengeschobenen Schreibtischen raschelte es verdächtig. Auch Millie starrte nun mit weit aufgerissenen Augen in dieser Richtung, schnappte sich ein Namensschild, das den Aufdruck ›Gilbert‹ trug, von der Tischplatte, und hielt es wie ein Messer vor sich.

»Raus hier«, flüsterte sie und bewegte sich langsam in Richtung Ausgang. »Lass uns verschwinden, wer weiß, was diese verrückten Forscher hier unten verwahren.«

Gerade wollte ich ihr zustimmen, als ich ein blaues haariges Ohr über die Tischkante ragen sah.

»Moment mal«, rief ich und sprintete um die Arbeitsinsel herum.

Auf der anderen Seite sah ich mich dem einem Koala nicht unähnlichen kleinen Dämonenwesen gegenüber, das mich verdutzt anschaute.

»Ein Babu?«, rief Millie erstaunt, die mir gefolgt war. »Ich dachte, die gibt es nur in der Hölle und der Ewigen Bibliothek. Was hat der hier verloren?«

»Und wer hat ihm erlaubt, die ganzen Unterlagen zu fressen?«, ergänzte ich und deutete auf einen Stapel Papiere, die auf der Sitzfläche des Drehstuhls lagen und von denen sich der Babu das oberste soeben in seinen Mund voller spitzer Zähne gestopft hatte.

»Die SPR hat einen Babu und versucht noch immer verzweifelt, wenigstens einen einzigen Fall von Spuk wissenschaftlich belegen zu können? Warum veröffentlichen Sie nicht ein Foto von ihm?« Millie kratzte sich am Kopf.

»Vielleicht wissen sie nicht, dass sie ihn haben«, flüsterte ich. »Möglicherweise ist der Kleine genau wie wir in geheimer Mission hier.«

»Dann wollen wir ihn nicht stören. Uns brennt ohnehin die Zeit unter den Nägeln.«

Millie schloss die Tür mit der aufgemalten Kaffeetasse hinter uns und rannte wie von Furien gehetzt die Treppen nach oben. Ich blieb dicht hinter ihr und prallte gegen ihren Rücken, als sie vor Buckets Büro eine unerwartete Vollbremsung hinlegte.

»Wie sehe ich aus?«, flüsterte sie mir zu und zupfte an ihren Rüschenärmeln.

»Wie jemand, der einen Marathon hinter sich hat«, erwiderte ich und konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemandem die roten Flecken auf ihren Wangen und der Schweißfilm auf der Stirn entgingen.

»Mist. Wie soll ich das erklären? Er wird wissen, dass ich mich länger als nötig im Keller aufgehalten habe und den Weg hierher deswegen gerannt bin.«

Ich zuckte ratlos mit den Schultern, während sie sich mit der für uns völlig wertlosen Akte von Whitby Abbey 2000 etwas Luft zufächelte. Dann riss sie schwungvoll die Tür auf und lief kaum weniger eilig als zuvor auf Mister Bucket zu, der gerade mitten im Raum stand und sie konsterniert anstarrte.

»Mäuse!« Millie ließ die Akte fallen und schlang ihre Arme um Buckets kurzen Hals. »Im Keller leben gigantische Mäuse! Zwingen Sie mich nicht, jemals wieder da hinunter zu gehen!«

»Aber, aber meine Liebe.« Hilflos in ihrem Klammergriff gefangen, versuchte er, Millie den Rücken zu tätscheln. »Ich kann Sie beruhigen. Für gewöhnlich hole ich diese speziellen Akten selbst aus dem Archiv.«

Augenblicklich ließ sie von ihm ab. »Dann ist ja gut. Ich bin schließlich keine Raubtier-Dompteurin.«

Während ich vor Lachen schon fast am Boden lag, saß Zach mit todernster Miene in seinem Besucherstuhl und beobachtete das Schauspiel. Entweder war er ein Meister der Selbstbeherrschung oder er hatte Millies Auftritt tatsächlich nicht komisch gefunden.

»Ach, Mister Bucket?« Millie hob die Akte auf, deren Inhalt sich über den Boden zu ihren Füßen verteilt hatte. »Mein Bruder ist heute in der Stadt. Darf ich etwas früher in die Pause gehen? Wir wollen zusammen Mittag essen.«

»Gehen Sie nur.« Bucket nickte gönnerhaft. »Eine Weile kommen wir schon ohne Sie zurecht.«

Unter dem seltsam verschlossenen Blick von Zach, dem Bucket nun die Whitby Abbey-Akte überreichte, verließen wir beide in Hochstimmung die Räumlichkeiten der SPR und rannten die Straße hinunter, um so schnell wie möglich zur nächsten Teleportzone zu gelangen.

In wenigen Augenblicken würde ich endlich wieder in meiner Dachkammer auf Schloss Harrowmore sein und sehnsüchtig die Rückkehr von Cameron erwarten, der alle Informationen über den Tod meiner Mutter bei sich trug.

Sicherlich saß er bereits in seinem Auto und hatte den Heimweg angetreten. Dank meiner wunderbaren Freunde bekam ich nun endlich Antworten auf all meine Fragen.

Kapitel 2

 

»Du warst brillant!«, rief Millie und fiel ihrem Bruder überschwänglich um den Hals, als dieser Stunden später behutsam die Tür meiner Dachkammer öffnete.

Seit ich die Banshee der Familie war, hatte er mir hier oben nur wenige Besuche abgestattet.

»Ich habe nicht das Gefühl, eine große Leistung vollbracht zu haben.« Er wagte ein zaghaftes Lächeln, während er sich umsah. »Wenn allerdings in den nächsten Stunden der Geheimdienst an meine Tür klopft, um mich wegen Spionage zu verhaften, ändert sich das vielleicht.«

Cameron war es nicht vergönnt, mich, seine Banshee, sehen zu können, aber wenn ich mir Mühe gab, die Muskeln anspannte und mich konzentrierte, war es mir möglich, für ihn sichtbar zu werden.

Und das tat ich jetzt. Mit meinem breitesten Grinsen und einer Geste großer Dankbarkeit erschien ich neben dem Rundfenster, woraufhin Cameron mir lächelnd die Akte entgegenstreckte.

»Tote können nicht einfach zupacken«, erklärte Millie und riss ihm die Unterlagen fast aus der Hand.

Ich wurde rasch wieder unsichtbar und nahm schon mal auf meinem Sofa Platz, begierig, Millie gleich beim Durchblättern der Seiten über die Schulter zu schauen.

»Sag ihm, er ist der allerbeste Harrowmore, und ich bin ihm ewig dankbar«, erklärte ich.

»Warum heult sie denn jetzt?«, wollte Cameron wissen und sah verstört aus.

»Sie heult nicht, sie spricht, du kannst sie nur nicht verstehen, weil du in etwa so magisch begabt bist wie deine Frühstücksflocken.« Millie legte tröstend einen Arm um seine Schultern und schob ihn sacht in Richtung Tür. »Sei uns nicht böse, aber wir brennen darauf, die Wahrheit über Livies Mutter herauszufinden, und dich mit einzubeziehen, könnte etwas anstrengend für mich werden, wenn ich jedes Wort übersetzen muss.«

»Schon gut.« Cameron war offensichtlich kein bisschen beleidigt wegen dieser Abfuhr. »Ich kehre jetzt zurück in die Welt der Normalen und Lebenden. Wenn du mich dort später auf einen Drink besuchen willst, um unseren Erfolg zu feiern, würde ich mich freuen.«

»Prima Idee.« Millie schlug die Tür hinter ihm zu und setzte sich neben mich, die Akte auf den Knien.

Wir sahen einander an und wussten, dass dies der Moment war, den wir seit Wochen herbeigesehnt hatten. Seit ich erfahren hatte, dass es um den Tod meiner Mutter ein Geheimnis gab, war ich nicht mehr dieselbe. Ohne Pause kreisten meine Gedanken um das Wenige, was mir darüber gesagt worden war und noch viel mehr um all das, was man mir vorenthalten hatte.

Eines war gewiss: Meine Mutter war nicht während eines Tauchurlaubs ertrunken. Ihr war etwas zugestoßen, das vor allem in zwielichtigen Kreisen zu einer seltsamen Wortschöpfung geführt hatte: eher überlebt Martha Emerson. Und jetzt würde ich bald wissen, was es mit dieser Floskel auf sich hatte.

»Wollen wir nicht auf Walt warten?«, fragte Millie unvermittelt.

Ich schüttelte den Kopf. »Das hat keinen Sinn. Er ist noch immer fest davon überzeugt, dass viele Antworten auf unsere Fragen in der Ewigen Bibliothek zu finden sein müssten und durchsucht die alten Schriften in der verbotenen Abteilung. Keine Ahnung, warum er unseren Plan des Rätsels Lösung direkt aus dem Keller der SPR zu klauen, doof fand. Zach hat uns doch bestätigt, dass diese Leute auf jeden Fall mehr über meine Mutter wissen, als sie zugeben wollen.«

»Und er war bereit, uns zu unterstützen«, stimmte Millie zu und strich immer wieder aufgeregt über den Aktendeckel. »Auch wenn er heute ebenfalls nicht so richtig begeistert auf mich wirkte. Jedenfalls nicht, nachdem ich aus dem Keller zurückkam.«

»Ja, das war schon merkwürdig«, stimmte ich zu. »Das wird sich bestimmt noch aufklären. Legen wir jetzt los?«

Millie nickte und klappte den Aktendeckel auf. »Eine Kopie des Totenscheins deiner Mutter«, stellte sie fest und klang enttäuscht. »Aber den kennen wir ja schon aus der offiziellen Akte der SPR, die nicht unter Verschluss gehalten wurde.« Sie blätterte weiter. »Eine Kopie des Briefes, mit dem sich Martha Emerson an die Gesellschaft für die Erforschung des Paranormalen wandte.«

»Den kennen wir auch schon«, rief ich ungeduldig. »Darin steht nur, dass sie ein seltsames Erlebnis gehabt hat und dringend professionelle Hilfe benötigt. Blätter weiter.«

»Eine Aufstellung sämtlicher Kosten rund um dem Fall Martha Emerson.« Millie ächzte und fuhr mit dem Fingernagel über die einzeln aufgelisteten Posten. »Sie haben haufenweise Material verpulvert, nur steht nicht drin, wofür. Außerdem findet sich hier der Verweis auf ein Ferienhaus in Yorkshire. Das ist wenigstens mal etwas Neues.« Sie blätterte weiter. »Jetzt kommen schon die Kaufverträge für die beiden Wohnungen in Kensington. Du verdankst dein damaliges Zuhause einem gewissen Professor Aigen, der die beiden Objekte in einem der teuersten Stadtteile direkt an die SPR vererbte. Wow, die müssen sich aber wirklich schuldig gefühlt haben, wenn sie so eine wertvolle Immobilie an dich und deine Tante verschenkt haben. Und hier klebt eine Rechnung für ein kirschrotes Jugendfahrrad.«

»Dieses Rad habe ich geliebt«, murmelte ich und schwelgte einen kurzen Moment lang in der Erinnerung an längst vergangene Tage. »Ich hatte es mir gewünscht, obwohl ich wusste, wie wenig Geld Tante Ethel damals erübrigen konnte. Trotzdem stand das Rad an meinem Geburtstag vor der Haustür. Ich dummes Kind habe mich einfach nur gefreut und nicht hinterfragt, wer es bezahlt hat.«

»Tja, jetzt weißt du es. Es war die SPR.« Millie blätterte um. »Und die Hotelrechnung für einen Sommerurlaub mit Tante Ethel in einem berühmten Spukschloss haben sie auch beglichen. Dann kommt ein Verweis auf ein ominöses Aktenzeichen und das war’s.« Sie schlug die Mappe zu und ließ die Schultern hängen.

»Es ist so ziemlich derselbe Kram wie in der offiziellen Akte«, stellte ich fest und konnte es einfach nicht fassen. »Was soll das? Warum haben sie die gleichen Informationen noch einmal weggeschlossen, als ob es um ein Staatsgeheimnis geht? Und warum ist das alles so nichtssagend?«

»All die Arbeit für nichts und wieder nichts.« Millie war im Gegensatz zu mir schon über das Stadium der Fassungslosigkeit hinaus. In ihr stieg Wut auf, die sich gegen die unschuldige Akte richtete, welche nun prompt quer durch den Raum flog und gegen den einzigen Stützpfeiler der Dachkammer knallte. »Kaffee kochen, Bleistifte spitzen, Telefonanrufe entgegennehmen, und wir sind nicht einen Schritt weitergekommen!«

»Ob die uns verarscht haben?«, fragte ich tonlos. »Vielleicht haben sie doch gemerkt, dass etwas vor sich ging.«

»Und wenn schon? Sie war deine Mutter, du hast ein Recht darauf, zu erfahren, was wirklich mit ihr passiert ist«, fauchte Millie. »Sie vertuschen etwas. Sie haben damals Mist gebaut und wollen nicht, dass irgendjemand die Wahrheit erfährt.«

»Das glaubt Zach ja auch.« Ich spürte, wie Tränen hinter meinen Augen drückten und blinzelte hektisch. »Deswegen haben sie Tante Ethel und mich all die Jahre über mit ihrer Großzügigkeit beschwichtigt. Damit wir gar nicht auf die Idee kommen, Fragen zu stellen. Und das haben wir ja auch nicht.« Ich schniefte. »Meinst du, es gibt noch jemanden, der die Wahrheit kennt?«

»Jemanden, der sie uns sagen wird?« Millie pustete verächtlich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. »Eher überlebt Martha Emerson.«

»Ich will nicht, dass du diese fürchterliche Redewendung benutzt!«, entfuhr es mir. »Zumal niemand wirklich zu wissen scheint, was sie bedeutet und woher sie stammt.«

»Entschuldigung.« Millie sah betreten drein. Dann packte sie das Goldfischglas vor uns auf dem Couchtisch und schüttelte es, woraufhin mein kleiner Wassergeist aus dem Schlaf gerissen wurde.

»Sniff!«, brüllte Millie und schüttelte weiter »Sniff! Sag uns, was du über Livies Mutter weißt!«

Sniff gähnte und ließ sich provozierend langsam an die Oberfläche treiben. »Mummel petzen nicht. Mummel zeigen nur, was du ohnehin schon weißt. Sniff ist es leid, das ständig wieder erklären zu müssen. Außerdem sind ihre letzten Tage topsecret. Sniff kann dazu gar nichts zeigen, er würde ohnmächtig werden, wenn er es versucht.«

»Oh, verdammt!« Millie knallte das Glas auf den Tisch, woraufhin Sniff einen kleinen Purzelbaum im Wasser schlug, bevor er gelassen im Kreis herumzuschwimmen begann.

Millie aber sprang auf die Füße und tigerte in der Dachkammer umher.

Ich konnte sie gut verstehen, besaß allerdings selbst nicht mehr die Kraft, um mich mit ihr zusammen aufzuregen. Als mir vor Wochen klarwurde, dass es rund um meine Mutter dieses Geheimnis gab, hatte ich geglaubt, es aufdecken zu können.

Doch nichts, was ich oder meine Freunde seitdem unternommen hatten, war von Erfolg gekrönt gewesen. Auch Walt, mein Todesbote, Geliebter und Vorgesetzter, hatte in der Ewigen Bibliothek bisher keinen Erfolg gehabt. Einem Ort, von dem ich geglaubt hatte, dass dort alles zu finden sein musste, was jemals aufgeschrieben worden war.

»Vielleicht sollten wir aufgeben«, flüsterte ich. »Letztlich ändert es doch nichts mehr. Ich bin tot, meine Mutter ist tot, wen juckt es schon, was im Sommer 2010 mit einer jungen Frau geschehen ist.«

»Mich juckt es.« Millie kam auf mich zugestürmt und ging vor mir in die Hocke, um mir in die Augen schauen zu können. »Und dich auch. Und vor allem jene, die nicht wollen, dass die Details bekannt werden. Wir können sie nicht damit durchkommen lassen. Wir dürfen nicht aufgeben.«

Ein Teil von mir wusste, dass sie recht hatte. Aber ein anderer, ebenso großer, war einfach erschöpft und mutlos.

In diesem Moment erhob sich in meiner Dachkammer eine Windhose aus rosigem Licht, in deren Zentrum die Gestalt eines Menschen sichtbar wurde. Eine kleine Gestalt mit dichtem lockigem Haar. Zach teleportierte sich direkt an meine Sofakante.

»Mäuse? Euer Ernst?«, war das Erste, was er sagte, als sich der Strudel aus Farben um ihn herum gelegt hatte. Dann wackelte der Zauberer mit den eisgrauen Locken auf Millie zu. Noch immer trug er den eleganten Anzug und die farbenfrohe Weste. »Warum um alles in der Welt mussten es ausgerechnet Mäuse sein?«

»Warum denn nicht?«, erwiderte Millie erstaunt. »Ich brauchte eine Erklärung für meinen aufgelösten Zustand und diese war so gut wie jede andere.«

»Das war sie nicht«, entgegnete Zach und presste die Lippen aufeinander, bevor er uns eine Erklärung für seinen Ärger lieferte. »Mäuse sind bekanntermaßen Schädlinge. Und Schädlinge in unmittelbarer Nähe geheimer Akten erfordern Maßnahmen. Was glaubt ihr, was Bucket jetzt gerade tut oder schon getan hat?«

Millie und ich schauten einander an. Uns schwante Übles.

»Richtig, er wird überprüfen, ob irgendetwas durch die Nager beschädigt wurde. Bei der Gelegenheit kann er dann auch gleich die Akte Whitby Abbey 2000 zurück in den Keller bringen und in die freie Lücke stellen. Aber was für eine Überraschung: Es gibt zwei Lücken. Die andere ist die, in der die Akte Emerson stehen sollte. Emerson?« Er legte einen Finger ans Kinn und blickte übertrieben nachdenklich zu den Dachbalken empor. »Hatten an diesem Fall nicht erst kürzlich einige Leute Interesse gezeigt und die offizielle Akte einsehen wollen? Mal überlegen. Ach ja, das war ja schon wieder dieser Mister Biggs. Wie eigenartig. Und wo bleibt eigentlich die neue Sekretärin, die nur kurz mal mit ihrem Bruder zu Mittag essen wollte?«

»So clever ist der nicht«, entfuhr es mir. »Ich weiß das. Ich habe wochenlang auf seiner Fensterbank gesessen, um ihn auszuspionieren.«

»Oh, doch, so clever ist er, lass dich bloß nicht täuschen, Livie.« Zach zog sich auf das Sofa herauf und setzte sich zu uns. Wie die Hühner auf der Stange hockten wir nebeneinander. »Bucket wäre nicht in der Position, die er innehat, wenn er nicht clever wäre. Der Mann ist uns jetzt schon auf der Spur, und unser Vorsprung schwindet.«

»Wir haben nicht mal einen«, motzte Millie. »Die geheime Akte enthält nicht mehr als ihr offizieller Zwilling. Wir sind am Arsch.«

Ein zaghaftes Klopfen brachte unser Gespräch völlig zum Erliegen. Gleich darauf steckte Cameron den Kopf zur Tür herein. Er war ziemlich blass um die Nase. »Ich fürchte, der Geheimdienst ist tatsächlich gekommen, um mich zu verhaften. Kennt jemand einen guten Anwalt? Daddys Rechtsbeistand möchte ich damit eher nicht belasten.«

Erneut wechselten meine Freundin und ich betretene Blicke.

»Ich bring das in Ordnung«, rief Zach und rutschte von der Sofakante. »Ihr beide wartet hier.«

»Auf keinen Fall«, widersprach ich. »Ich habe euch alle angestiftet, ich gehe mit zum Schafott. Wobei mein Vorteil ist, dass Bucket mich sowieso nicht wahrnemen kann.« Ich zog eine Grimasse.

»Na gut, aber die Geschwister Harrowmore halten sich bitte bedeckt.« Zach warf den beiden einen strengen Blick zu, und gemeinsam liefen wir viele Treppen hinunter, bis unsere kleine ›Gang‹ schließlich in der großen Eingangshalle des Schlosses ankam.

Doch der Mann, der dort wartete, war zu meiner Überraschung nicht Ulfric Bucket. Es war jemand, der einige Jahre jünger als der Präsident der SPR zu sein schien. Er war hochgewachsen und trug einen schwarzen Anzug. Sein pechschwarzes Haar war von ersten grauen Strähnen durchzogen.

Zuerst wusste ich nicht, wo ich diesen Mann, der eine Aktentasche neben sich auf dem Boden abgestellt hatte, hinstecken sollte. Bestimmt waren wir einander bereits begegnet, aber wann und wo?

Dann erst bemerkte ich die feine weiße Narbe, die seine rechte Augenbraue in zwei Hälften teilte und sich weiter bis hoch über die Stirn zog.

Ich erstarrte. Die Erinnerung an eine Sommernacht vor zehn Jahren kehrte mit aller Macht zurück. Ich war wieder das kleine Mädchen in rosa Pantoffeln, gerade erst aufgewacht, das mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass die eigene Mutter nie mehr zurückkehrt.

»Galen Henderson.« Floskeln wie ›Guten Tag‹ schien er nicht nötig zu haben. »Ich bin gekommen, um etwas abzuholen, das Ihnen nicht gehört.«

Seine Worte galten ausschließlich Zach, der neben mir stand und die Hände vor dem Bauch gefaltet hatte. »Informationen sind nichts, das nur der Institution gehören sollte, die sie betreffen. Was wir an uns genommen haben, geht uns sehr wohl etwas an.«

Ich trat vor und wedelte probehalber mit meiner Hand dicht vor Hendersons Augen herum. Als er nicht reagierte, gab ich vor, ihn mit der Faust ins Gesicht schlagen zu wollen. Henderson zuckte mit keiner Wimper.

»Er sieht mich nicht«, stellte ich enttäuscht fest. »Aber ich erkenne ihn wieder. Das ist der Mann, der Tante Ethel die Nachricht von Mums Tod überbracht hat. Er sieht aus wie damals. Sogar die Aktentasche scheint noch dieselbe zu sein.«

»Der SPR war nicht bekannt, dass es lebende Angehörige von Martha Emerson gibt«, sagte Henderson gerade und sah auf Zach hinab.

»Muss man lebendig sein, um einen gesunden Wissensdurst an den Tag zu legen?« Zach schaute ungerührt zu ihm auf. »Gerade von Ihrer Gesellschaft hätte ich diesbezüglich etwas mehr Toleranz erwartet.«

»Frag ihn, was er in der Tasche hat?«, bemerkte ich und beugte mich über das Gepäckstück. Es war aus Leder mit zwei Schnappverschlüssen aus Messing. »Vielleicht hat er uns ja etwas mitgebracht.«