Barbara stirbt nicht - Alina Bronsky - E-Book
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Barbara stirbt nicht E-Book

Alina Bronsky

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Beschreibung

»Barbara stirbt nicht« ist das urkomische Porträt einer Ehe, deren jahrzehntelange Routinen mit einem Schlag außer Kraft gesetzt werden, und ein berührender Roman über die Chancen eines unfreiwilligen Neuanfangs. Walter Schmidt ist ein Mann alter Schule: Er hat die Rente erreicht, ohne zu wissen, wie man sich eine Tütensuppe macht und ohne jemals einen Staubsauger bedient zu haben. Schließlich war da immer seine Ehefrau Barbara. Doch die steht eines Morgens nicht mehr auf. Und von da an wird alles anders. Mit bitterbösem Witz und großer Warmherzigkeit zugleich erzählt Alina Bronsky, wie sich der unnahbare Walter Schmidt am Ende seines Lebens plötzlich neu erfinden muss: als Pflegekraft, als Hausmann und fürsorglicher Partner, der er nie gewesen ist in all den gemeinsamen Jahren mit Barbara. Und natürlich geht nicht nur in der Küche alles schief. Doch dann entdeckt Walter den Fernsehkoch Medinski und dessen Facebook-Seite, auf der er schon bald nicht nur Schritt-für-Schritt-Anleitungen findet, sondern auch unverhofften Beistand. Nach und nach beginnt Walters raue Fassade zu bröckeln – und mit ihr die alten Gewissheiten über sein Leben und seine Familie. »Barbara war perfekt, dachte er überrascht. Natürlich gab es auf der Welt noch mehr alte Frauen, schon wegen der Statistik, aber Herr Schmidt hatte sie alle gesehen: kein Vergleich zu Barbara.«

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Alina Bronsky

Barbara stirbt nicht

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Alina Bronsky

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Alina Bronsky

Alina Bronsky, geboren 1978 in Jekaterinburg/Russland, lebt seit den Neunzigerjahren in Deutschland. Ihr Debütroman »Scherbenpark« wurde zum Bestseller und fürs Kino verfilmt. »Baba Dunjas letzte Liebe« wurde für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert und ein großer Publikumserfolg. 2019 erschien ihr Roman »Der Zopf meiner Großmutter«, der ebenfalls wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stand.

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Über dieses Buch

Herr Schmidt taut auf.

Walter Schmidt ist ein Mann alter Schule: Er hat die Rente erreicht, ohne zu wissen, wie man sich eine Tütensuppe macht und ohne jemals einen Staubsauger bedient zu haben. Schließlich war da immer seine Ehefrau Barbara. Doch die steht eines Morgens nicht mehr auf. Und von da an wird alles anders.

Mit bitterbösem Witz und großer Warmherzigkeit zugleich erzählt Alina Bronsky, wie sich der unnahbare Walter Schmidt am Ende seines Lebens plötzlich neu erfinden muss: als Pflegekraft, als Hausmann und fürsorglicher Partner, der er nie gewesen ist in all den gemeinsamen Jahren mit Barbara. Und natürlich geht nicht nur in der Küche alles schief. Doch dann entdeckt Walter den Fernsehkoch Medinski und dessen Facebook-Seite, auf der er schon bald nicht nur Schritt-für-Schritt-Anleitungen findet, sondern auch unverhofften Beistand. Nach und nach beginnt Walters raue Fassade zu bröckeln – und mit ihr die alten Gewissheiten über sein Leben und seine Familie.

»Barbara stirbt nicht« ist das urkomische Porträt einer Ehe, deren jahrzehntelange Routinen mit einem Schlag außer Kraft gesetzt werden, und ein berührender Roman über die Chancen eines unfreiwilligen Neuanfangs.

»Barbara war perfekt, dachte er überrascht. Natürlich gab es auf der Welt noch mehr alte Frauen, schon wegen der Statistik, aber Herr Schmidt hatte sie alle gesehen: kein Vergleich zu Barbara.«

Inhaltsverzeichnis

Romanbeginn

Leseprobe »Pi mal Daumen«

Als Herr Schmidt Freitagfrüh aufwachte und den Kaffeeduft vermisste, dachte er zuerst, dass Barbara im Schlaf gestorben sein könnte. Das war zwar eine absurde Vorstellung – Barbara war gesund wie ein Pferd –, noch abwegiger schien allerdings die Möglichkeit, dass sie verschlafen haben könnte. Sie verschlief nie. Doch als er sich im Bett umdrehte und sah, dass die Betthälfte neben ihm leer war, schien ihm plötzlich am wahrscheinlichsten, dass Barbara auf dem Weg in die Küche tot umgefallen war.

Herr Schmidt richtete sich auf und steckte die Füße in die Pantoffeln. Seine Nasenflügel bebten sehnsüchtig, das vertraute Aroma vermissend. Was auch immer Barbara zugestoßen war: Wenn sie es vorher geschafft hätte, den Kaffee aufzusetzen, wäre der Duft auf jeden Fall die Treppe hochgestiegen und hätte das Schlafzimmer erreicht. Aromen ließen sich nicht einsperren. Herr Schmidt machte sich auf den Weg, hoffend, dass sie nicht die Treppe runtergefallen war. Wobei ihn das Gepolter vermutlich geweckt hätte. Andererseits vielleicht auch nicht: Barbara war eine leise Frau, schon immer gewesen.

Er kam nicht weit. Eine ungewohnte Stolperfalle ragte aus der halb offenen Badezimmertür. Herr Schmidt näherte sich, erkannte Barbaras Fuß, dann auch den Rest. Sie lag auf den Fliesen und schaute ihm aus einem Auge entgegen, während sich das andere mit Verzögerung und auch dann nicht komplett öffnete.

»Walter«, sagte sie. »Gib mir mal die Hand.«

Herr Schmidt beugte sich über seine Frau und versuchte, sie hochzuziehen. Barbara stöhnte und wehrte ihn ab, was ihm angesichts der Aufforderung, ihr zu helfen, recht unsinnig erschien. Sie drehte sich auf die Seite, stützte sich mit den Händen ab und kämpfte verzweifelt gegen die Schwerkraft. Herr Schmidt griff ihr unter die Achseln und zog sie hoch. Er warf ihren Arm um seinen Hals, brachte sie Schritt für Schritt zurück ins Bett und hob ihre überraschend schweren Beine auf die Matratze. Ihre Füße steckten noch in den gefilzten Hausschuhen, er zog sie ihr aus und stellte sie nebeneinander auf den Bettvorleger.

»Der Kaffee«, flüsterte Barbara.

»Schon gut«, sagte Herr Schmidt. »Ich brauch grad keinen.«

»Aber ich«, sagte Barbara.

Das war überraschend. Herr Schmidt stieg Schritt für Schritt die Treppe hinunter und sah sich in der Küche um. Das hier war Barbaras Reich, die Oberflächen glänzten ihm entgegen. Er hatte ihr zur goldenen Hochzeit eine neue Küche geschenkt, ein Sammelgeschenk für all die anderen Hochzeitstage und Geburtstage, an denen er nichts geschenkt hatte, und auch für alle künftigen, an denen er nichts schenken würde. Die Kaffeemaschine stand neben dem Herd, der Stecker war aus Gründen der Sicherheit und der Energieersparnis gezogen.

Herr Schmidt stöpselte ihn wieder ein. Er öffnete probeweise einen Schrank, dann den nächsten. Er hatte noch nie Kaffee gekocht, worüber sich seine Tochter Karin und ihre beste Freundin Mai bei ihren Besuchen jedes Mal amüsierten.

»Papa, du weißt wirklich nicht, wo das Kaffeepulver ist?«

»Ich mische mich nicht in Barbaras Angelegenheiten ein und sie sich nicht in meine.«

»Aber wenn sie mal nicht da ist? Oder nicht kann?«

»Warum sollte sie nicht da sein?«

»Das kann nicht dein Ernst sein, Papa. Du weißt nicht mal, wo die Milch steht.«

Das war natürlich eine unsinnige Unterstellung. Er wusste, dass die Milch in den Kühlschrank gehörte, auch wenn der weiß gefärbte Mist, der inzwischen als Milch verkauft wurde, wochenlang in der Sonne stehen konnte, ohne schlecht zu werden. Richtige Milch gehörte in den Kühlschrank.

Herr Schmidt öffnete die Schränke und setzte sich wieder hin, schaute von seinem Platz aus in den linken, dann in den rechten Schrank, Reis, Haferflocken, Grieß, Polenta, was zum Teufel lagerte da nur alles?

Seine nächste Idee war, Karin anzurufen und zu fragen, wie man Kaffee kocht. Als Frau musste sie so was wissen. Andererseits würde sie dann sofort merken, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie würde Fragen stellen und Aufhebens machen. Das würde wiederum Barbara nicht gefallen, die sicher keine Aufregung wollte. Herr Schmidt schloss die Augen, der Kaffeedurst zermürbte ihn.

Der Kaffee war immer fertig gewesen, wenn er morgens in die Küche kam. Der Tisch gedeckt, zwei Teller, die Butter, der Brötchenkorb. Er setzte sich hin, Barbara schenkte ihm ein und fügte seiner Tasse die richtige Menge Milch hinzu. Er wusste nicht einmal das genaue Verhältnis. Wenn sie mal essen gingen, was eigentlich nie vorkam, tat sie ihm auch die Kaffeesahne rein.

Sein Blick streifte das Regal mit den Kochbüchern. Es waren zu viele, kein Mensch brauchte die alle. Die deutsche Küche, noch mal die deutsche Küche, die französische, die italienische, die vegetarische, Backen mit Liebe, Backen zu Weihnachten, Brotbacken für Fortgeschrittene. Herr Schmidt blätterte ein paar durch, alles keine Hilfe.

Plötzlich hatte er eine Eingebung. Die Dose mit dem Kaffeepulver sprang ihm ins Auge, er hatte sie tausendmal im Blick gehabt und doch nie wahrgenommen. Die Kaffeefilter standen genau daneben. Herr Schmidt steckte einen Filter in die Plastikhalterung, füllte ihn bis zum Rand mit dem schwarzbraunen Pulver, schlussfolgerte, dass trinkfertiger Kaffee wasserbasiert war, stöpselte die Maschine wieder aus, trug sie zum Wasserhahn und kippte sie leicht: etwas Kaffeepulver rieselte wieder heraus. Als er den Hohlraum im hinteren Teil der Maschine mit Wasser gefüllt hatte, stellte Herr Schmidt das Gerät wieder hin und schaltete es ein. Das einsetzende Gurgeln gab ihm recht.

Er ging Schritt für Schritt hoch ins Schlafzimmer, um nach Barbara zu sehen. Es war nicht ihre Art, morgens auf dem Badezimmerboden herumzuliegen, aber sie sagte nichts weiter dazu und hielt die Augen geschlossen. Man musste ja auch nicht über alles reden.

In der Küche war die durchsichtige Kanne bereits halb voll mit öliger schwarzer Flüssigkeit. Herr Schmidt probierte und spuckte aus. Er verdünnte das Gebräu mit Leitungswasser und fügte Milch hinzu. Der Durst war zu stark, er trank die Tasse in einem Zug aus, das einsetzende Sodbrennen ignorierend. Barbara aber war in Essensdingen mäkelig, ihr konnte er so etwas nicht anbieten.

Er leerte eine zweite Tasse und dachte nach.

Lebensmittel einkaufen war Barbaras Sache, manchmal aber gab sie ihm eine kleine Einkaufsliste mit, wenn er sowieso mit dem Hund unterwegs war. Meistens sollte er beim Bäcker vier Wasserbrötchen, zwei Laugenbrezeln, zwei Mohn und zwei Vollkorn holen. Das war der Wocheneinkauf, den Barbara einfror und nach und nach zum Frühstück auftaute. Beim Bäcker roch es zu jeder Tageszeit nach Kaffee, und in der Ecke des Verkaufsraums röchelte eine Maschine. Herr Schmidt hatte sich immer gefragt, welche armseligen Gestalten hier ihren Kaffee kauften.

Er machte sich ohne Helmut auf den Weg, sosehr dieser auch mit dem Schwanz schlug und die Leine anhechelte. Helmuts vorwurfsvoller Blick durch die Milchglastür verfolgte Herrn Schmidt bis zur nächsten Straßenecke. Zum Bäcker brauchte er ohne Hund weniger als die üblichen elf Minuten.

Der Kaffee kostete unverschämte 2,80 Euro. Herr Schmidt war zwar grundsätzlich der Meinung, dass Lebensmittel ihren Preis haben sollten, aber alles hatte Grenzen. Das dicke Aushilfsmädchen warf ihm kaugummikauend Fragen ins Gesicht, die er gescheit mit »Nur Kaffee« abwehrte. Er sah nicht ein, warum er für die Milch extra zahlen musste, wo sie doch bessere zu Hause hatten. Ein paar Brötchen nahm er aber noch mit. Er trug den Pappbecher über die Straße. Weil er nichts verschütten wollte, war er diesmal deutlich langsamer. Mendel vom Nachbarhaus stand am Küchenfenster und glotzte grinsend. Herr Schmidt ignorierte ihn. Zu Hause angekommen, ging er am jaulenden Helmut vorbei in die Küche, kippte den mitgebrachten Kaffee in eine saubere Tasse, fügte Milch hinzu, probierte. Es schmeckte kalt.

Barbara lag immer noch im Bett. Sie schlug die Augen auf, als er sich von ihrer Seite näherte, auf die er sonst nie ging. Für einen Augenblick überraschte ihn die Perspektive, er sah seine eigene, unordentliche Betthälfte, den Abdruck seines Hinterkopfs auf dem Kopfkissen. Noch war unklar, ob Barbara heute dazu kommen würde, das Bett zu machen. Er reichte ihr die Tasse. Sie stützte sich auf den Ellbogen, probierte und lächelte mit einer Mundhälfte.

»Was?«, fragte Herr Schmidt. Dann erst fiel ihm auf, dass sich eine Wunde quer über ihre Schläfe zog. Musste er vorhin übersehen haben. Sie war bereits verkrustet, auch in den Haaren entdeckte er etwas trockenes Blut.

»Willst du dich nicht mal waschen?«

»Bin ich etwa schmutzig?«

»Ja.«

Er fand einen blassblauen Waschlappen im Bad und feuchtete ihn an. Barbara wischte sich den Mund und die falsche Hälfte des Gesichts ab.

»Bin etwas schwach«, sagte sie.

»Das sehe ich.« Er wollte nicht gereizt klingen. Er hatte noch nicht gefrühstückt und schon so viele Schritte gemacht wie sonst an manchen ganzen Tagen nicht.

 

Auf dem erneuten Weg in die Küche lief Herr Schmidt am Telefon vorbei, das auf dem kleinen Beistelltisch im Flur stand, daneben der Zettel mit Karins Nummer und die Liste mit den Nummern vom Notarzt, dem Hausarzt und der Frau Pfarrerin. Sebastians Nummer kam an vierter Stelle, dabei wohnte er in der Nähe, aber im Gegensatz zu Karin hatte er Familie.

Herr Schmidt aß normalerweise keine Fleischwurst zum Frühstück, aber an diesem Morgen hatte er keine Wahl. Er schnitt sich ein großes Stück ab. Von dem ganzen Küchengerät war Herr Schmidt am besten mit dem Messer vertraut. Er schnitt das Laugenbrötchen durch, die aß er am liebsten. Die Butter aus dem Kühlschrank erwies sich als hart. Barbara nahm sie sonst gleich nach dem Aufstehen heraus, damit sie richtig temperiert auf dem Frühstückstisch wartete. Herr Schmidt platzierte ein paar gelbe Rechtecke nebeneinander auf der Brötchenhälfte und verstrich darauf die Johannisbeermarmelade. Dann stieg er schon wieder die Treppe hoch, hätte allerdings fast den Teller vergessen. Barbara lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, die lädierte Gesichtshälfte sah nicht gut aus. Herr Schmidt stellte ihr den Teller auf den Bauch. Sie öffnete die Augen.

»Mir ist heute nicht so, Walter.«

»Du musst was essen.«

»Vielleicht später.«

Er streckte die Hand aus und kratzte mit dem Nagel des Zeigefingers das Blut von ihrem Ohr. Sie verzog keine Miene. Die Fleischwurst hatte ihm nicht gutgetan, es war zu früh dafür, er brauchte erst sein Brötchen. Wenn Barbara ihres nicht aß, konnte er vielleicht abbeißen.

Die Butter war zu dick, gab der Marmelade einen fettigen Beigeschmack, der den ganzen Mund ausfüllte, aber das frische Laugengebäck glich es aus. Er aß die ganze Hälfte, tapfer die Butterklumpen schluckend.

»Walter.«

Er zuckte zusammen, fühlte sich ertappt.

»Ich hab nicht gekocht.«

Als ob es ihm nicht selbst aufgefallen wäre. »Ist ja auch noch früh.«

»Guck in die Tiefkühltruhe. Nimm die Suppe mit den Fleischklößchen.«

Er klopfte beruhigend auf Barbaras Decke, musste ihr etwas Nettes sagen, so elend, wie sie dreinschaute. »Die ess ich am liebsten.«

»Musst aber vorher warm machen, gell.«

Offenbar hielt sie ihn für blöd.

»Du musst auch essen, Barbara. Ich mach dir noch ein Brötchen.«

»Vielleicht später.« Sie schloss wieder die Augen.

 

Die Tiefkühltruhe war natürlich voll. Die hatte er Barbara vor zehn Jahren gekauft, als sie sagte, sie wolle nicht mehr alles einkochen, sie wolle auch mal einfrieren. Sie hatten ja den Garten, und auch Karin war da längst ausgezogen. Sebastian kam sowieso nicht so oft und nahm jedes Mal nur ein Glas Marmelade mit und auch das mit einem Gesichtsausdruck, als täte er Herrn Schmidt damit einen persönlichen Gefallen. Im Regal standen elf Gläser aus diesem Jahr und sieben aus dem Jahr davor, die älteren zählte Herr Schmidt nicht.

Barbara hatte in der letzten Zeit zu viel gekocht, vielleicht aßen sie aber auch weniger. Was übrig blieb, fror sie ein, damit sie auch mal eine Pause einlegen konnte. Aber eigentlich kochte sie trotzdem jeden Tag. Ein einziges Mal war sie vor vier Jahren mit einer Freundin zum Wandern weggefahren, ohne Herrn Schmidt, und hatte eine Liste dagelassen, wann er welchen Behälter aufzutauen hatte. Herr Schmidt hatte nichts gegen die Reise gehabt, erinnerte sich aber noch an die hilflose Wut, die ihn ergriffen hatte, als er die Tiefkühltruhe öffnete und ein vereistes Gefäß herausholte, das seine Finger schmerzen ließ und dessen Inhalt er nach einer genauen Anleitung auftauen und aufwärmen sollte. Aus stummem Protest hatte er sich damals nicht an Barbaras Vorgaben gehalten und statt Gulasch Kohlrouladen genommen, fest davon ausgehend, dass es ihr auffallen, sie vielleicht sogar ärgern würde. Doch als sie wieder zurück war, strahlend, gut gelaunt und braun gebrannt, hatte sie nichts dazu gesagt.

Er hob den Deckel von der Tiefkühltruhe. Die Behälter waren säuberlich mit dem Gericht und dem Datum beschriftet. Die Suppe mit den Fleischklößchen lag ganz oben, wieder schmerzten die Fingerkuppen bei der Berührung. Herr Schmidt spürte einen kurzen Anflug von Ärger, wenn auch nicht so stark wie damals, es war mehr ein Nadelstich.

Barbara war nie krank. In den ersten Jahrzehnten ihrer Ehe hatte er es kaum glauben können, weil sie als Mädchen gar nicht gesund ausgesehen hatte, dünne blonde Haare, blasses Gesicht. Er hatte damals seine Zweifel, eine kranke Frau wäre einfach zu viel gewesen. Aber das Äußere täuschte, innerlich war sie aus Stahl. Als sie mit den Kindern schwanger war, hatte sie sich kein einziges Mal tagsüber hingelegt, und zwei Stunden vor der Geburt hatte sie noch einmal die Küche gewischt. Als sie mit den Neugeborenen zu Hause war, kochte sie sofort wieder. Einmal hatte sie sich das Handgelenk verletzt und mit links gekocht, den dicken Verband an der Rechten. Wenn ihr dabei etwas herunterfiel, sagte Herr Schmidt nichts.

Herr Schmidt ließ heißes Wasser ins Spülbecken laufen und versenkte den Behälter mit der eingefrorenen Fleischklößchensuppe darin. Helmut setzte sich vor seinen Napf und schaute Herrn Schmidt an. Herr Schmidt schaute zurück. Helmut winselte und bedeckte die Schnauze mit den Pfoten.

 

Barbara hielt sich die Hand vor die Augen, als Herr Schmidt den Vorhang beiseiteschob. »Der Hund«, sagte er und versuchte, ihr nicht ins Gesicht zu schauen, weil es immer noch nicht ganz sauber war.

»Oh«, sagte Barbara und erhob sich sogar etwas. Ihre Blässe fiel umso mehr auf, als sie nun fleckenweise errötete. »Sein Hackfleisch ist in der Plastikdose im Kühlschrank, musst du anbraten.«

»Wie, anbraten?«

»In der kleinen Pfanne, ohne Öl, die ist ja beschichtet. Dann Haferflocken dazu und eine Kartoffel.«

»Aber warum anbraten?«

»Damit er nicht krank wird.«

»Er ist doch ein Hund. Hunde fressen Dreck.«

»Du weißt doch, wie es mit seiner Verdauung ist.«

Herr Schmidt wusste es nicht. »Frisst er nicht aus der Dose?«

»Um Himmels willen, Walter.«

»Du musst auch was essen.«

»Später vielleicht.« Sie hatte die Augen schon wieder geschlossen.

Helmut schlug mit dem Schwanz, als Herr Schmidt erneut in die Küche kam.

»Schon gut, schon gut.«

Herr Schmidt öffnete den Kühlschrank. Er war sehr aufgeräumt, die Eier und die Milch in der Tür, die Butterdose stand noch draußen. In einer mit Plastikfolie abgedeckten Schüssel lagen in Schale gekochte Kartoffeln vom Vortag. Auf einer Plastikdose klebte ein Zettel »Für Helmut«. Machte Barbara das immer so, oder hatte sie schon gestern geahnt, dass sie heute umfallen würde? Herr Schmidt nahm den Deckel ab, schnupperte. Helmut tobte.

»Ruhig!«, rief Herr Schmidt, auch um sein eigenes Magenknurren zu übertönen. Er schaltete den Herd ein – ein Kinderspiel –, stellte eine Pfanne auf die Platte, kippte den Inhalt der Plastikdose hinein. Es passierte erst mal nichts. Herr Schmidt setzte sich hin, nahm die Zeitung von gestern. Die von heute früh hatte er wegen Barbara im Rohr vergessen. Er las den Artikel auf der Titelseite noch mal, es ging um Großbritannien. Etwas roch verbrannt, die Pfanne dampfte. Herr Schmidt richtete sich auf und riss sie vom Herd. Obwohl ein Teil des Hackfleischs angebrannt war und der Rest noch roh schien, duftete es gut. Helmut jaulte.

»Ruhe!« Herr Schmidt stellte die Pfanne zurück und begann zu rühren, bis sich das ganze Hackfleisch erst entfärbte, dann dunkel wurde. Bevor er alles in den Napf schüttete, tat er sich noch etwas auf den Teller und salzte kräftig.

»Vorsicht, heiß!«, rief Herr Schmidt, als Helmut sich auf das Fleisch stürzte. Der Hund hörte nicht, ließ manchmal einzelne Brocken fallen und leckte sie sofort wieder auf. In Sekundenschnelle war der Napf leer.

»Bist du dumm«, sagte Herr Schmidt. »Was machst du den ganzen Tag, wenn du so schnell frisst? Wartest aufs Abendessen? Du musst es langsamer angehen.«

Helmut wedelte mit dem Schwanz.

Herrn Schmidts Blick fiel auf die Schale mit den Kartoffeln. Barbara hatte sie doch erwähnt und auch irgendwas von Haferflocken gesagt.

»Willst du noch Kartoffeln?« Er streckte die Hand aus und zeigte Helmut eine Knolle. »Schau, vom Vortag.«

Helmut wandte sich ab.

»Wie du willst.« Herr Schmidt schnitt die Kartoffel, kalt und mit Schale wie sie war, zu dem Hackfleisch auf seinem Teller, überlegte, ob er Haferflocken draufschütten sollte, entschied sich aber dagegen. Er probierte und salzte noch mal nach.

»Du hast es gut bei Barbara«, sagte er, als er fertig war. »Dich verwöhnt sie. Und was gibt’s heute Abend?«

Helmut schien es auch nicht zu wissen.

 

Der Tag verging schnell. Herr Schmidt führte Helmut aus und schaute wieder nach Barbara, die immer noch nicht essen wollte. Er überlegte, ob er Karin anrufen sollte, beschloss aber, damit bis morgen zu warten. Er schaute im Garten nach dem Rechten, aber hier war noch nicht viel zu tun, die blauen und gelben Krokusse zeigten sich zaghaft, die Narzissen hatten sich ausgebreitet, blühten aber noch nicht. Der Birnbaum stand nackt da, die wenigen Knospen waren fest verschlossen. Für Tomaten- und Paprikasetzlinge war es noch zu kalt. Barbara hatte sie im Gartenzimmer in Joghurtbechern vorgezogen, es waren wieder viel zu viele geworden.

Herr Schmidt löste ein Kreuzworträtsel und fünf Sudokus, die lächerlich einfach waren, ging mit Helmut raus, diesmal in den Wald. An einem Werktag konnte man es dort noch aushalten, da war noch Luft und Platz. Am Wochenende dagegen zog es alle in den Wald, und Barbara schien jeden Einzelnen von ihnen zu kennen und mit jedem Zweiten etwas Dringendes besprechen zu müssen.

Herr Schmidt hatte keine zwanzig Schritte gemacht, schon wurde er von einer dicken Frau im Trainingsanzug überholt, die beim Laufen mit Skistöcken herumwedelte. Als sie schon gute zwei Meter voraus war, drehte sie sich plötzlich um, sah erst Helmut an, dann unvermittelt auch Herrn Schmidt.

»Walterrr!«, brüllte sie mit starkem Akzent, der Herrn Schmidt körperlich wehtat. Das R rollte wie eine Steinlawine, die einen Berg herunterstürzte, um Herrn Schmidts Seelenfrieden unter sich zu begraben. »Wo ist Barrrbarrra, Walterrr?«

Er kannte diese Frau nicht. Oder vielleicht doch? Er fühlte sich ertappt.

»Ruht sich aus«, sagte er schließlich.

»Ist sie denn krrrank?«

Endlich fiel es ihm ein, das war Natalja, Barbara ging mit ihr zum Bauchtanz oder was sie sonst für einen Quatsch in ihrer Freizeit machte. Bauch hatte Natalja jedenfalls. Plötzlich wurde ihm klar, dass Barbara mit Natalja vermutlich Russisch sprach, die Gelegenheit ausnutzend, dass er nicht dabei war, wenn die beiden sich trafen. Er war am Anfang sehr streng mit Barbara und ihrer Aussprache gewesen, und wenn er Natalja so hörte, dann musste er sich im Nachhinein für die eigene Konsequenz loben. Nicht auszudenken, wenn Barbara jetzt immer noch so reden würde.

»Wie lange bist du schon in Deutschland?«, fragte er.

Die Dicke richtete die Augen gen Himmel. »Lass zählen. Zehn, zwanzig, einundzwanzig, vierundzwanzig. Vierundzwanzig Jahre! Nächstes Jahr silberne Hochzeit mit Deutschland.« Sie strahlte ihn an. »Also, was ist mit Barrrbarrra?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ist sie dir weggerannt?« Das fand sie auch noch komisch. »Kommt sie heute nicht?«

»Wohin?«

»Zum Kurs.«

»Nein, heute kommt sie wohl nicht.«

»Ich rrruf sie an.«

»Lieber nicht.«

»Hast du sie umgebracht?« Jetzt guckte sie für einen Moment ernst, bevor sie wieder schrecklich lachte.

»Nein«, sagte Herr Schmidt.

»Das ist gut.« Sie kraulte Helmut zwischen den Ohren, und Herr Schmidt ärgerte sich, dass der Schäferhund, vor dem Frauen normalerweise Angst hatten, es sich auch noch gefallen ließ. Barbara hatte ihn zu sehr verwöhnt. »Grrruß an Barrrbarrra.« Sie wedelte mit ihren Skistöcken davon.

 

Bis zum Abend war die Fleischklößchensuppe im Waschbecken aufgetaut und sogar zimmerwarm. Herr Schmidt teilte sie sich mit Helmut. Als sie fertig waren (Helmut sehr viel schneller, aber auch Herr Schmidt trödelte nicht), fiel ihm Barbara wieder ein. Er war seit Stunden nicht mehr im Schlafzimmer gewesen. Barbara schlief, im Bad brannte das Licht. Offenbar war sie zwischendurch auf Toilette gegangen, was Herrn Schmidt hoffnungsvoll stimmte. Er machte das Licht aus, setzte sich vor den Fernseher und schaute einen Western, während Helmut zu seinen Füßen lag und bei jedem Schuss zusammenzuckte. »Ist nur Fernsehen«, sagte Herr Schmidt, und Helmut bewegte aufmerksam die spitzen graubraunen Ohren. Herr Schmidt genoss es, dass er den Film ohne Barbaras Kommentare sehen konnte, sie fand Filme mit Schießereien zu brutal und verstand sowieso höchstens die Hälfte. Er schaute einen zweiten Western, der direkt im Anschluss gezeigt wurde, und ging ins Bett.

 

Herr Schmidt träumte schlecht, und zwar von Sebastian. Einmal mehr sah er das enttäuschte, leicht angewiderte Gesicht seines Sohnes vor sich und verstand wieder nicht, was der Grund dafür sein mochte. Herr Schmidt fuhr hoch und setzte sich auf. Er hatte das Gefühl, Sebastians unzufriedene Stimme gehört zu haben. Er drehte sich auf die Seite, streckte die Hand aus und griff ins Leere. Im ersten Moment freute er sich. Meist war die Bettseite neben ihm leer, wenn er aufwachte, und dann zog schon gleich von unten der Kaffeeduft hoch. Aber draußen war es noch dunkel, und dann hörte er Schritte. Etwas Langsames, Schwerfälliges schleppte sich über die Fliesen, aus dem Bad ins Schlafzimmer. Ein gebeugter Schatten baute sich im Türrahmen auf und setzte seinen Weg zum Bett fort. Eine alte Frau, wie eine Hexe aus einem Kinderbuch, das Nachthemd leuchtete im Mondlicht.

»Barbara?«

»Wer sonst.«

Sie setzte sich auf den Bettrand und zog mit einem Seufzer die Beine auf die Matratze hoch.

»Was ist mit dir?« Seine Stimme zitterte plötzlich.

»Nichts. Bin müde.«

»Ist ja auch Nacht.«

Sie gefiel ihm nicht. Das war nicht die Barbara, die er kannte. Er streckte die Hand aus und berührte ihr Gesicht. Sie schreckte zurück, aber er konnte sie kurz mit den Fingerkuppen streifen. Die Haut war unangenehm kühl und etwas feucht.

»Du stirbst mir doch nicht, oder, Barbara?«

Sie schwieg.

»Du bist noch jung!«, sagte er, es sollte streng klingen, hatte aber einen flehenden Unterton.

Jetzt lachte sie, was ihn an die Frau im Wald erinnerte.

»Doch«, beharrte er, »du bist jünger als ich.«

»Und?«

»Ich hab heute diese Dicke im Wald gesehen. Deine Freundin. Die Russin. Hat nach dir gefragt.«

»Und du?«

»Was ich? Nichts. Sie hat gedacht, ich hätte dich umgebracht.«

Barbara lächelte, und Herr Schmidt spürte, wie eine Spannung, die er gar nicht wahrgenommen hatte, von ihm abließ.

»Diese Dicke stirbt vor dir, so wie sie wabbelt.«

»Sie ist zwanzig Jahre jünger als ich.«

»Du siehst besser aus.«

»Quatsch.« Barbara hatte den Kopf schon wieder aufs Kissen gebettet, dafür war Herr Schmidt jetzt hellwach.

»Willst du wieder schlafen? Du hast den ganzen Tag verschlafen.« Er zupfte am Ärmel ihres Nachthemds.

»Bin irgendwie müde.«

Am liebsten hätte er ihr befohlen, sofort mit dem Müdesein aufzuhören. Sie hatte genug geschlafen. Aber Barbara war stur, schon als junge Frau, und mit dem Alter war es nicht besser geworden.

»Sie spricht so schlimm Deutsch, deine Freundin.«

»Das ist einfach ein Akzent. Ich hab auch einen.«

»Deiner ist nicht so schlimm. Hört man gar nicht. Stell dir vor, ich wäre nicht so streng gewesen, was wären wir jetzt?«

Sie blieb stumm.

»Wir wären hier Russen, Barbara. Und unsere Kinder wären Russen. Hättest dir deinen deutschen Pass auf die Stirn kleben können – hätte nichts geholfen.«

»Reg dich ab.« Sie drehte sich auf die andere Seite.

Seine Laune, schon vorher nicht besonders gut, war endgültig hinüber. Selbst nachts konnte ihn Barbara auf die Palme bringen, selbst wenn sie so schwach war, dass er Angst haben musste, dass sie doch nicht so gesund war, wie sie immer ausgesehen hatte, nachdem er sie in den ersten Jahren aufgepäppelt und mit ihr die Sprache gebüffelt hatte, damit auch die anderen nett zu ihr waren. Ohne gutes Deutsch war man verloren. Sie war eine vorbildliche Schülerin, irgendwann hatte sie sogar behauptet, er würde Ausdrücke falsch benutzen, weil er nicht so viel las wie sie. Sie wollte sich damals mit ihm über das richtige Deutsch streiten. Sie. Mit ihm. Widerwillig spürte er, wie seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen.

»Ich brauch jetzt was Süßes, Barbara.«

»Guck in der Schublade nach«, murmelte sie, ohne sich umzudrehen.

»In welcher?«

»Mein Gott, Walter. In der Küche, gleich unter dem Besteck.«

Das bedeutete, dass er schon wieder in die Küche musste. Nicht mal nachts hatte man seine Ruhe. Er ging barfuß, weil er im Dunkeln die Hausschuhe nicht fand. Auf der Treppe machte er das Licht an, nicht dass er jetzt auch noch stürzte und sich den Schädel zerschlug. Was wären sie dann für ein schönes Paar, er und Barbara.

Helmut freute sich und wedelte mit dem Schwanz, als er ihn sah, aber Herr Schmidt winkte ab. »Ist Nacht, merkst du nicht?«

Helmut trottete zurück zu seinem Korb.

Er hatte die Schublade noch nie aufgemacht. Es war die geheime Schublade, die Barbara angelegt hatte, er sollte ja wegen seines Bauchs nicht so viel Süßes essen. Dabei war er nicht dick, ein normaler Mann mit starker Mitte. Sie gab ihm dennoch seine Ration, wenn ihm nach Süßem war, und das ließ er sich gefallen. Jetzt fühlte er sich wie ein kleines Kind, das Omas Marmelade heimlich aus dem Glas löffelt. Die Schublade war voll mit Schokolade und Keksen. Er nahm die oberste Tafel und trug sie ins Schlafzimmer, legte sich ins Bett, öffnete sie knisternd.

»Du auch ein Stück, Barbara?«

Sie tat schlafend.

»Du musst doch was essen.« Er legte sich das erste Schokoladenrechteck auf die Zunge. Es war Vollmilch, seine liebste Sorte. Nicht Bitterschokolade, Pfeffer, Ingwer oder irgendein anderer schwer zu kauender Kram, den Barbara mochte. »Weißt du noch, als du hier neu warst und wir gerade verheiratet, ohne Geld, da hast du uns Brotscheiben mit Zucker bestreut und bisschen Wasser drübergesprenkelt, das war dann unser Kuchen.«

Barbara antwortete nicht. Herr Schmidt aß die ganze Tafel auf, faltete das Papier zu einem kleinen Rechteck zusammen und legte es auf den Nachttisch. Es war zu viel Schokolade gewesen, jetzt hatte er einen faden Nachgeschmack im Mund. Barbara würde ihn morgen schelten, wenn sie es merkte. Er schob das Papiereck unters Kopfkissen, um es morgen schnell entsorgen zu können, bevor sie die Betten machte.

*

Den Morgen verschlief Herr Schmidt, was ihn nicht wunderte, schließlich war er die ganze Nacht unterwegs gewesen. Helmut bellte unten in der Küche. Barbara rührte sich nicht. Er schaute nach: Sie atmete.

Diesmal versuchte er es gar nicht erst mit dem Kaffeekochen. Er nahm Helmut an die Leine und ging direkt zum Bäcker. So spät war er noch nie da gewesen. Die Auslage war fast leer, aber Brötchen hatte er gestern genug eingekauft. Er bestellte zwei Kaffee, schwarz, und zählte unglaubliche 5,60 Euro in Münzen ab.

»Zu teuer«, sagte er, als die dicke Verkäuferin ihm zwei Plastikbecher reichte. »Warum so teuer?«

»Ich mach die Preise nicht«, sagte sie.

»Wer kauft so was überhaupt?«

»Sie zum Beispiel.«

»Doch nur, weil meine Frau gerade nicht selber kochen kann.«

Das Mädchen schaute ihn unter den gigantischen Wimpern an, die ihn an behaarte Raupen erinnerten. »Was hat sie denn?«

Als ob es sie was anginge.

»Wenn ich das wüsste«, sagte Herr Schmidt, beschämt über seine eigene Geschwätzigkeit. »Liegt im Bett, steht nicht auf.«

»Dann ist sie bestimmt depressiv.«

Herr Schmidt überlegte. »Weiß nicht. Gestern ist sie im Bad umgefallen.«

»Vielleicht hat sie was mit dem Kreislauf. Sie sollte mal einen Kaffee trinken.«

»Deswegen bin ich doch da.« Widerwillig erzählte Herr Schmidt, wie er gestern versucht hatte, Kaffee zuzubereiten. Das Mädchen mit den Raupen im Gesicht hörte zu und schob gelegentlich den Kaugummi von einer Backentasche zur anderen.

»Ist nicht schwer«, sagte sie dann. »Sie nehmen einen Teelöffel pro Tasse und einen für die Kanne. Meine Oma hat noch immer ein Körnchen Salz dazugetan.«

»Warum?«

»Mit Salz schmeckt alles besser.«

Herr Schmidt erinnerte sich an das eigentlich Helmut zugedachte, von ihm nachgesalzene Hackfleisch. »Ist der hier auch mit Salz?« Er deutete auf die beiden Becher.

»Nee. Da drücke ich einfach auf den Knopf, die Maschine macht alles.«

»Für Faule«, sagte Herr Schmidt missmutig.

»Genau.«

Der Kaffee in den Bechern wurde kalt, er konnte nicht den ganzen Tag verschwätzen.

 

Er brachte Barbara den Kaffee, umgefüllt in eine Tasse, zusammen mit einem Marmeladenbrötchen, obwohl sie gar nicht darum gebeten hatte. Barbara nahm die Tasse entgegen.

»Ist kalt«, sagte Herr Schmidt.

»Macht nichts. Schmeckt gut.« Sie trank einen Schluck und stellte die Tasse ab.

»Du musst was essen!«

»Später.«

»Nicht später. Jetzt.« Er nahm das Marmeladenbrötchen vom Teller und versuchte, es ihr in die Hand zu schieben, aber sie nahm es nicht. Dann hob er es an ihre Lippen. »Mach den Mund auf!«

»Walter, du spinnst.«

»Mund auf. Du weißt doch, was mit Leuten passiert, die nicht essen?«

Sie wollte protestieren – immer musste sie sich mit ihm streiten –, doch in diesem Moment schob er ihr das Brötchen in den Mund. Sie biss ein wenig ab und begann zu kauen.

»Ich rufe Karin an«, sagte Herr Schmidt.

»Lass sie doch. Sie ist beschäftigt.«

»Vielleicht redet sie dir ins Gewissen.«

»Ich bin bloß etwas schwach. Stehe bald wieder auf.«

»Das hast du gestern auch gesagt.«

*

Der nächste Tag war ein Sonntag. Herr Schmidt hatte nicht gemerkt, wohin der Samstag verschwunden war, all die zähen Stunden, in denen er sonst auf Barbara wartete, bis sie vom Sport kam, vom Treffen mit Freundinnen, selbst wenn sie telefonierte. Manchmal versuchte er, sie davon abzubringen, aber seit er in Rente war, schien sein Wort weniger zu zählen. Früher hätte er sie mit dem Hinweis auf die Rechnung dazu bringen können, sich am Telefon kürzer zu fassen, aber inzwischen schien auch das Telefonieren nichts mehr zu kosten, weswegen alle ununterbrochen miteinander quasselten, ihre Hörer zum Einkaufen mitnahmen, zum Sport und sogar in den Wald, wo sie einander selbst beim Spazierengehen irgendeinen Mist erzählten. In diesen Momenten wünschte sich Herr Schmidt einen Stock, mit dem er den Schwätzern ihre Plappergeräte aus den Händen schlagen könnte, damit sie ihn nicht weiter belästigten. Aber noch brauchte er keinen Stock, im Gegenteil, er stand noch sehr gut auf den eigenen Beinen.

Barbaras Im-Bett-Herumliegen bekam ihm nicht gut. Selbst Dinge, an die er sich scheinbar gewöhnt hatte, reizten ihn. Am Sonntag hatte auch noch der Bäcker geschlossen. Doch das sah Herr Schmidt erst, als er vor dem Schaufenster stand. Normalerweise verschafften ihm geschlossene Geschäfte Genugtuung: Früher war es normal gewesen, dass die Läden nicht rund um die Uhr geöffnet hatten, die Leute mussten sich eben anpassen. Aber wenn man noch keinen Kaffee getrunken hatte, war es schon ungünstig, vor verschlossenen Bäckereitüren zu stehen.

Herr Schmidt kehrte nach Hause zurück, fütterte Helmut mit dem am Vortag aufgetauten Kalbsgulasch und stellte sich nachdenklich vor die Kaffeemaschine. Die Großmutter des dicken Mädchens musste wohl wissen, wie man Kaffee kocht. Er sprach die Anweisung laut nach, füllte zwei Löffel Pulver in den Filter, gab einen weiteren für die Kanne dazu, salzte kräftig, füllte Wasser ein und drückte auf den Knopf. Es war ein Kinderspiel.

Der Kaffee hatte einen intensiven Beigeschmack, der auch durch die Milch nicht verschwand. Er brachte Barbara ihre Tasse. Sie nippte vorsichtig. »Der ist ja heiß heute. Und versalzen, wenn du mich fragst.«

Er hätte etwas mehr Dankbarkeit erwartet.

»Den anderen Kaffee, die Tage davor, habe ich aus der Bäckerei geholt. 2,80 der Becher.«

»Dieser hier ist aus der Dose in der Küche, oder?«, fragte sie. »Der ist entkoffeiniert und schon ziemlich schal. Ich mahle sonst immer frisch. Die Bohnen sind in der Tüte im Kühlschrank.«

»Du machst was damit?«

»Mahlen. Mit der Kaffeemühle.«

Herr Schmidt fiel das schreckliche morgendliche Geknatter ein, das Helmut immer in die Flucht schlug. Barbara reichte ihm die leere Tasse. Das Brötchen rührte sie nicht an.

Er war unzufrieden, dass sie alles so selbstverständlich nahm. Auf dem Weg in die Küche blieb er am Telefon stehen, nahm den Hörer ab und wählte die Nummer. Er hätte schwören können, dass er Karin anrief, bis Sebastian genervt »Schmidt« sagte.

»Vater hier«, sagte Herr Schmidt überrascht.

Sebastian sagte ziemlich lange nichts. Herr Schmidt hörte, wie am anderen Ende der Leitung etwas laut verschoben wurde, als würde Sebastian beim Telefonieren Möbel verrücken. Herr Schmidt gab als Erster nach.

»Wo bist du?«

»Im Büro.«