Schallplattensommer - Alina Bronsky - E-Book

Schallplattensommer E-Book

Alina Bronsky

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Alina Bronsky – spannend wie immer, gefühlvoll wie nie! Als einziges Mädchen im Umkreis von 13 Kilometern ist Maserati Aufmerksamkeit gewohnt. Dabei will sie nur eines: Den Feriengästen selbstgemachte Limonade ihrer Oma servieren und die Tage bis zur Volljährigkeit zählen. Mit der Liebe will sie nichts zu tun haben – und schon gar nichts mit den Annäherungsversuchen der Söhne der reichen Familie, die gerade die Villa im Dorf gekauft hat. Doch dann stellen Caspar und Theo verbotene Fragen: Warum hat Maserati kein Smartphone? Wovor hat sie solche Angst? Und wie kann es sein, dass ihr Gesicht das Cover einer alten Schallplatte ziert? Plötzlich steckt Maserati bis zum Hals in Geheimnissen zweier Familien und im eigenen Gefühlschaos.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 185

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Über das Buch

Der alte Song, der dich besser kennt als du selbst

 

Als einziges Mädchen im Umkreis von dreizehn Kilometern ist Maserati Aufmerksamkeit gewohnt. Dabei will sie nur eines: den Feriengästen in der Dorfkneipe Pommes und selbstgemachte Limonade ihrer Oma servieren und die Tage bis zur Volljährigkeit zählen. Mit der Liebe will sie nichts zu tun haben – und schon gar nichts mit den Annäherungsversuchen der Söhne der steinreichen Familie, die gerade in die verfallene Villa am Rand des Dorfs gezogen ist. Was spielt es schon für eine Rolle, dass einer der beiden extrem gut aussieht und scheinbar sogar Maseratis geheimste Gedanken lesen kann? Doch dann stellen Caspar und Theo verbotene Fragen: Warum hat Maserati kein Smartphone? Wovor hat sie solche Angst? Und wie kann es sein, dass ihr Gesicht das Cover einer alten Schallplatte ziert? Maserati wird erst wütend, dann neugierig – und steckt plötzlich bis zum Hals in Geheimnissen zweier Familien und im eigenen Gefühlschaos.

 

Eine trügerisch schöne Liebesgeschichte von Bestsellerautorin Alina Bronsky

 

 

Von Alina Bronsky ist bei dtv außerdem lieferbar:

Und du kommst auch drin vor

Alina Bronsky

Schallplattensommer

Roman

 

 

 

Es gab Tage, da wurden nur Pommes bestellt, zum Beispiel montags und donnerstags. Es gab auch andere, da wollten alle nur Teigtaschen: freitags und samstags. Dann gab es Männer, bei denen Maserati die Bestellung unabhängig vom Wochentag vorhersagen konnte, weil sie zuverlässig eines davon verabscheuten, entweder Pommes oder Teigtaschen. Bei Frauen kam es eher vor, dass sie beides ablehnten, weil Pommes und Teigtaschen dick machten. Diese Frauen kamen aus der Stadt, trugen helle, trügerisch schlichte Kleidung und mädchenhafte sonnengeblichene Pferdeschwänze in jedem Alter. Sie fragten fast immer nach Fisch, den es grundsätzlich nicht gab, waren dann aber auch mit Gemüse und gebackenem Käse zufrieden. Beim Essen klauten sie ihren Männern mehrere Teigtaschen und den Kindern die Hälfte der Pommes.

Die Familie am Ecktisch wirkte schweigsam und erschöpft. Maserati hatte sie noch nie gesehen: ein Ehepaar mit zwei Söhnen etwa in Maseratis Alter. Der eine sah aus, als wäre er gerade vom Surfbrett gestiegen, blondes Haar und kitschig-blaue Augen im gebräunten Gesicht, dazu ein Lächeln, das aus der dunklen Ecke des Raums wie ein Scheinwerfer leuchtete. Bei der Bestellung (Cola mit Eiswürfeln, Teigtaschen mit dreierlei Hack) hatte er Maserati angegrinst, als ob er ihr persönlich ein Geschenk damit machte. Der zweite Typ wirkte kleiner, das dunkle Haar fiel ihm ins Gesicht, sodass davon kaum etwas zu erkennen war. Er blickte nur auf seine Hände.

Maserati ordnete ihn der Teigtaschen-Fraktion zu, aber sie täuschte sich, was selten vorkam. Er wollte Pommes mit Ketchup, ohne Wurst, ohne Getränk, was prompt eine Diskussion mit den Eltern auslöste: Trinken sei wichtig, er habe den ganzen Tag zu wenig zu sich genommen. Maserati wartete geduldig, bis die Frau erschöpft verkündete, dass sie eine große Flasche Mineralwasser und drei Gläser bringen dürfe, ohne Eiswürfel, ohne Zitrone. Ob sie hier vielleicht doch Fisch hätten? Okay, könne man wohl nichts machen, dann den Camembert.

Eiswürfel gab es grundsätzlich nicht, Oma verabscheute Eiswürfel.

»Schade.« Der Surfjunge hörte nicht auf zu lächeln. »Bringe ich nächstes Mal welche mit.«

Die Frau sah ihn begeistert an. Offensichtlich der Lieblingssohn, dachte Maserati angeödet. Aber nächstes Mal, wirklich?

In der Küche legte sie die Bestellung Oma hin, nahm eine große Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank, immer wieder nach Oma schielend. Heute war ein guter Abend, an dem Maserati ihre eigenen Sorgen unbegründet fand. Oma arbeitete konzentriert und blitzschnell, rotierte beschwingt zwischen der Tiefkühltruhe, der sie die Pommes entnahm, und der Fritteuse, die erschöpft aufzischte. Im Riesentopf simmerte Wasser, in das sie zwei Portionen vorbereitete Teigtaschen warf. Omas Hände flogen nur so durch die Luft, kein Tropfen ging daneben. Dann die misstrauischen Blicke am Tisch, als Maserati das Essen brachte.

»So schnell?!«

Fast hätte sie gefragt, ob sie die Sachen wieder in die Küche mitnehmen und dort noch ein bisschen warten sollte, damit sie zufrieden waren. Aber sie hatte in den letzten Wochen mit ihren pampigen Antworten schon einige Gäste verprellt.

Die Frau mit dem Pferdeschwanz nahm sich sofort eine Pommes vom Teller des Dunkelhaarigen. Der Mann versenkte die Gabel in seine Teigtaschen mit Hack und Sauerkraut, nachdem er die dazu gereichten Töpfchen mit Senf und Schmand beiseitegeschoben hatte.

In der Küche fiel etwas krachend um. Alle vier am Tisch zuckten zusammen.

»Ich schau mal nach.« Maserati war blitzschnell an Omas Seite. »Was ist passiert?«

Der Topfdeckel war heruntergefallen. Maserati hob ihn auf, wischte ihn mit dem Küchentuch ab und legte ihn zurück auf den Topf. Oma stand blinzelnd daneben, und Maseratis Herz zog sich zusammen. »Ich übernehme jetzt«, sagte sie. »Geh ruhig schon mal hoch. Bist ja den ganzen Tag auf den Beinen.«

»Bin ich im Weg?«, fragte Oma.

»Die werden sowieso nichts mehr bestellen. Ich mach hier gleich alles sauber. Wer sind die überhaupt?«

Oma warf einen Blick um die Ecke in den Gastraum. »Nie gesehen. Obwohl … Nein, doch nicht.« Sie setzte sich auf einen Hocker und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Du hast seit heute früh nichts gegessen.«

»Wenn du schlafen gehst, esse ich was.«

»Raub und Erpressung.« Omas Gesicht blieb streng, aber Maserati wusste, dass sie diesmal gewonnen hatte.

Als sie endlich allein in der Küche war, häufte sie die Reste der übriggebliebenen Teigtaschen auf einen großen Teller. Oma taute immer ein paar mehr als nötig auf, für Maseratis Abendessen, mit dreierlei Hack, Kartoffeln und Sauerkraut. Sie waren inzwischen kalt geworden, gelblich von erhärtetem Fett. Maserati war zu müde, um sie jetzt noch in der Pfanne aufzuwärmen. Vielleicht würde sie es irgendwann schaffen, Oma davon zu überzeugen, dass eine Mikrowelle ihnen nicht die Organe bei lebendigem Leib rösten würde.

Maserati ging mit ihrem Teller zurück in den Gastraum, damit sie ansprechbar blieb, falls die Gäste doch noch etwas wollten. Sie setzte sich schräg gegenüber an den Tisch, der am weitesten entfernt stand, und schlug ihr Buch auf. Die kalten Teigtaschen schmeckten fade. Oma hatte recht, kaltes Essen war barbarisch und unverdaulich. Maserati kaute lustlos und spürte Blicke auf sich, hörte die gesenkten Stimmen.

Sie schluckte herunter, stand wieder auf und arrangierte die Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln. »Kann ich noch etwas bringen?«

Der Teller des Mannes glänzte leer, das Besteck bildete mit dem Rand ein vorbildliches Q. Die Frau hatte einen Rest Preiselbeermarmelade übrig gelassen. Der Sonnyboy kaute immer noch, und dies mit sichtlichem Genuss. Sein Bruder spielte an einem großen Ring, den er am Daumen trug. Seine Pommes standen in der Mitte des Tisches, offensichtlich für alle freigegeben und zur Hälfte aufgegessen, vermutlich von der Frau.

»Hast ja gar keinen Hunger.« Seit wann kommentierte Maserati das Essverhalten anderer Menschen?

Der Junge wischte sich schwungvoll die Haare aus dem Gesicht, hielt es aber nicht für nötig, sie anzusehen. »Offensichtlich nicht.«

»Sind Sie aus der Gegend?«, fragte die Frau.

»Ich wohne hier«, sagte Maserati.

»Dann sind wir jetzt wohl Nachbarn. Das Grundstück am Ende der Hauptstraße, das kennen Sie sicher …«

Maserati spürte, wie ihr Mund sich rundete, und klappte ihn wieder zu. Natürlich kannte sie das Grundstück am Ende der Hauptstraße, die zugleich die einzige Straße des Dorfes war. Es war riesig, umgeben von einer hohen, inzwischen bröckeligen Mauer, hinter der sich die Umrisse von Baumkronen und einem gespenstisch verfallenen Haus erahnen ließen.

Das gusseiserne Tor war bis vor zwei Wochen verschlossen gewesen. Doch dann stand es plötzlich offen, sodass man in die Einfahrt hineinsehen konnte, die von wuchernden Fliedersträuchern gesäumt war. Ab da war es mit der Ruhe im Dorf vorbei. Handwerker aus den Nachbarorten wuselten herum. Omas Gaststätte war schon mittags voll gewesen, Pommes und Bratwurst gingen nur so weg, die Vorräte an Teigtaschen hatten sich von einem Tag auf den anderen geleert, sodass Oma mehrere Nächte lang durchknetete, bis die Tiefkühltruhe wieder voll war. Maserati musste zweimal mit dem Anhänger zum Getränkemarkt radeln, um neue Kisten mit Mineralwasser zu holen. Ein Bier erlaubten sich diese Männer höchstens nach Feierabend, bevor sie nach Hause aufbrachen, um das ganze Dorf am nächsten Morgen um kurz nach sechs mit ihrem Krach zu wecken.

Natürlich hatte es Gespräche gegeben, wer da wohl einzieht. Das Grundstück gehörte angeblich einer Familie aus Westdeutschland, die aber niemand jemals gesehen haben wollte. Die Spekulationen klangen abenteuerlich, Namen von Hollywoodstars fielen regelmäßig.

Wenn das die neuen Nachbarn waren, sollte Maserati vielleicht doch lieber freundlich sein.

»Es gab schon Gerüchte, dass Brad Pitt die Villa gekauft hat«, sagte sie und spürte, dass ihr Lächeln unnatürlich schief war.

»Tut mir leid, Sie zu enttäuschen«, sagte der Mann. »Sind nur wir.«

»Herzlich willkommen«, murmelte Maserati. »Es ist schön hier.«

»Wirklich?« Die Frau sah sie hoffnungsvoll an.

»Sicher«, sagte Maserati halbherzig. »Die Natur und so. Die ganzen Seen. Birken ohne Ende. Im Herbst Pilze. Im Winter Schnee.«

Die Familie lauschte ergriffen.

»Und die Schule? Sie gehen bestimmt noch zur Schule? Ist die Schule in Ordnung?«

»Die Schule ist ganz okay«, sagte Maserati ausweichend. »Kann ich Ihnen noch etwas bringen?«

 

Es hatte gedauert, bis sie die vier endlich los war. Sie wollten nichts mehr essen, hatten sich aber nach Kaffee erkundigt, so zaghaft und umständlich, dass klar war: Sie fürchteten nichts so sehr wie löslichen Kaffee, wollten Maserati aber zugleich nicht mit Unterstellungen verletzen, dass man hier nur minderwertige Plörre bekommen würde. Sie waren überrascht, dass sie zwischen Mokka und Espresso wählen konnten. Als die Frau hörte, dass es den Espresso auch entkoffeiniert gab, hellte ihr Gesicht sich auf. Sie sah plötzlich aus wie jemand, der davon ausgeht, dass doch noch alles gut werden kann. Sie warteten geduldig, bis Maserati die kleinen Portionen von Hand auf dem Gasherd zubereitet hatte, immer wieder darüber fluchend, dass Oma sich gegen eine Espressomaschine wehrte und sogar gegen eine Espressokanne in einer vernünftigen Größe.

Am Ende kassierte Maserati fast zehn Euro Trinkgeld und freute sich, auch wenn es bedeutete, dass sie für ein armes Dorfmädchen gehalten wurde. Oma hasste Trinkgeld, sie war der Meinung, dass die Leute fürs Essen schon genug bezahlten. Aber sie war ja auch nicht diejenige, die volle Teller balancieren und blöde Fragen beantworten musste.

Als die vier endlich weg waren und Maserati die Küche saubermachte, quietschte die Tür.

»Hey!«, rief eine dunkle Stimme.

Maserati wischte den Herd und drehte sich nicht um. Dass der grinsende Sonnyboy früher oder später wiederkommen würde, war abzusehen gewesen. Alle männlichen Nachbarn, Bauarbeiter und gelegentliche Feriengäste drehten sich nach ihr um, egal, ob sie achtzig waren oder Ehefrau und drei Kinder im Schlepptau hatten. Nicht, weil sie besonders schön, sondern weil sie das einzige weibliche Wesen unter fünfundfünfzig im Umkreis von dreizehn Kilometern war.

»Die Tür stand noch offen«, sagte die Stimme.

Das ist halt so bei uns, wollte Maserati antworten, zuckte aber nur mit der Schulter.

»Bist du ganz allein hier?«

Sie drehte sich überrascht um. Es war nicht der Sonnyboy, es war sein düsterer, dunkelhaariger Bruder.

»Sorry«, sagte er. »Bin nur ich.«

So viel Gedankenlesen war Maserati auch nicht recht.

»Hast du was vergessen?«

Er war doch nicht so mickrig, wie sie zuerst gedacht hatte. Einen Kopf größer als sie, und sie war selbst nicht klein. Er sah seinem Bruder kein bisschen ähnlich, der ganzen Familie nicht. Vielleicht war er adoptiert.

Er schüttelte den Kopf. »Ich kenne dich«, sagte er.

»Was?«

»Ich kenn dich von der Schallplatte.«

Sie atmete aus: ein Spinner. Vielleicht sollte sie ihn jetzt fragen, welche Schallplatte. Aber darauf konnte er lange warten. Sie wischte mit dem Finger über die blankgescheuerten Oberflächen.

»Wie heißt du?«, fragte er.

Sie zögerte, auch wenn es dumm war: Wenn er ab jetzt hier wohnte, würde er es schon rausfinden.

»Dann halt nicht«, sagte er schließlich. »Ich bin jedenfalls Theo. Man sieht sich.«

 

Maserati schlief schlecht. Die bewölkte Nacht war stockdunkel. Die schwere Stille wurde durch vereinzeltes Geheul und Gebell unterbrochen, das durch das geöffnete Fenster drang und sich trotz einiger Kilometer Entfernung anhörte, als stünde ein Monsterhund direkt neben dem Bett. Dazu knirschte und knarzte es, als würde jemand die ganze Nacht auf Zehenspitzen über die Dielen schleichen. Maserati schreckte immer wieder hoch, stieg aus dem Bett, lief über den Flur und guckte durch die angelehnte Tür in Omas Schlafzimmer. Omas Kopf war ein dunkler Schatten auf dem Kopfkissen, der Atem gleichmäßig mit gelegentlichen Schnarchern.

In manchen Nächten entdeckte Maserati sie sitzend im Bett, das Kissen im Rücken, die Brille auf der Nase, in der Hand das Heft mit den Kreuzworträtseln.

»Bist noch zu jung, um schlaflos zu sein«, rügte sie Maserati. »Ab ins Bett.«

Dann gab es noch andere Nächte, an die Maserati lieber nicht denken wollte.

Auch heute schlief sie wie so oft erst wieder ein, als die Dunkelheit sich zu lichten begann, kurz bevor der Lärm der Bauarbeiten am Ende der Hauptstraße sie wieder aus dem Schlaf riss. Sie zog ein T-Shirt und Jeans an, die zu kurz geworden waren und die sie mit der Küchenschere über den Knien abgeschnitten hatte, und griff das Handtuch von der Wäscheleine.

Oma war bereits mit einem Putzlappen im Gastraum unterwegs. Sie sah unwirklich jung und fröhlich aus. Aus dem Kassettenrecorder dudelte Money Money. Oma sang in ihrer eigenen Version des Englischen mit.

»Bin gleich wieder da«, sagte Maserati.

»Frühstück!«, rief Oma hinterher, aber Maserati winkte nur.

Sie sah schon von Weitem, dass die Badestelle besetzt war, und fluchte. Die Sommerferien hatten noch gar nicht begonnen. Sie hatte sich daran gewöhnt, hier morgens allein zu sein. Kein Mensch aus dem Dorf schwamm im See, schon gar nicht um diese Zeit. Und die Feriengäste würden erst in einigen Wochen alles überfluten mit ihren Kindern in Badewindeln, den aufblasbaren Schwimmtieren, zahllosen Bällen, Picknickkörben, hysterischen Stadthunden, die mit den Dorfhunden um die Wette bellten, dem Geruch von Bier, Schweiß und Sonnenmilch.

Auf dem Steg, den Maserati bis dahin als ihren persönlichen, wenn auch inoffiziellen Besitz betrachtet hatte, saß der Sonnyboy in einer Badehose, die mit Sonnenblumen gemustert war. Sein Haar glänzte in der Morgensonne.

Maserati ging ohne zu grüßen an ihm vorbei und begann, sich auszuziehen. Unter dem T-Shirt und der Jeans hatte sie nur ihre Unterwäsche an, und sie traute ihm durchaus zu, den Unterschied zwischen einem Bikini und einem normalen schwarzen BH schneller zu erkennen, als sie es selbst tun würde. Sie verbot sich, sich zu ihm umzudrehen, ließ ihre Sachen auf den Steg fallen und sprang ins Wasser. Sie würde extra lange schwimmen, beschloss sie. Wenn er bei ihrer Rückkehr weg war, würde alles gut werden. Wenn sein Bruder bis dahin dazukäme, würde sie beide für immer hassen.

Auf dem Rückweg sah sie schon von Weitem, dass Sonnyboy sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Als sie prustend aus dem Wasser stieg, sprang er auf und kam näher, als hätte er auf sie gewartet. Er braucht jemanden, den er vollquatschen kann, dachte Maserati. Wieder einer, der die Stille nicht aushalten konnte. Er hielt einen Kaffeebecher in der Hand und hatte sich die Sonnenbrille in die Stirn geschoben.

»Du schwimmst aber weit hinaus.«

»Habt ihr keinen eigenen Steg bei euch an der Villa?« Sie brauchte keine Antwort, sie hatte es gerade von der Seeseite aus noch einmal überprüft.

»Der ist morsch, sagt Annabell.«

»Annabell?«

»Die Frau mit dem Fisch beziehungsweise mit dem Käse.«

Sie versuchte, trotz der aufschlussreichen Beschreibung nicht zu grinsen. »Du nennst deine Mutter beim Vornamen?«

»Sie ist meine Lieblingstante. Theo ist mein Cousin.«

Maserati nickte. Sie wollte keineswegs interessiert wirken. Sie war auch nicht interessiert. Aber die Hand, die er ihr entgegenstreckte, musste sie schon aus Höflichkeit schütteln.

»Ich bin Caspar.«

Klar, dachte sie. So heißen sie immer. »Ich bin Maserati.«

Sie wusste selbst nicht, warum sie es einfach aussprach. Sie behielt den Namen in der Regel für sich. Nicht, weil sie sich schämte. Die Zeiten waren vorbei. Trotzdem fühlte sie sich plötzlich bloßgestellt. Sie schlang das Badetuch um sich, sich schmerzlich dessen bewusst, dass es fadenscheinig und ausgefranst war und dass es ihr mehr ausmachte, als sie sich eingestehen wollte.

»Wow«, sagte Caspar. »Ist dein Vater Rennfahrer?«

»Keine Ahnung.«

»Darf ich dich Ferrari nennen?«

»Nein.«

»Schade.« Er hielt ihr den Kaffeebecher hin. »Deine Lippen sind blau.«

Sie nahm den Becher und trank einen Schluck starken, bitteren, irgendwie sehr erwachsenen Kaffees.

»Warum bist du nicht in der Schule? Ihr habt doch noch keine Ferien hier?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Hab heute frei. Und selbst?«

»Ich bin gerade aus den Staaten zurück«, sagte Caspar, leuchtend vor Stolz. »Mein Austauschjahr ist zu Ende, ich muss erst nach den Sommerferien wieder zur Schule.«

»Du warst bestimmt in Kalifornien«, sagte Maserati. »So wie du aussiehst.«

»Fast. In Ohio.«

»War dein Cousin mit in Ohio?« Maserati gab ihm den Becher zurück, verwundert über die eigene Gesprächigkeit. »Oder sind dort, wo ihr herkommt, jetzt schon Ferien?«

»Nein. Theo ist krankgeschrieben.« Er sprach es mit der gewohnten Leichtigkeit aus, aber Maserati registrierte den Tonfallwechsel. Sie wandte sich ab, zog sich hastig Jeans und T-Shirt über die nasse Wäsche und murmelte einen Abschiedsgruß.

»Man sieht sich«, rief ihr Caspar hinterher, und diesmal war sie sich sicher, dass irgendwas an seiner Fröhlichkeit sich nicht ganz echt anhörte.

 

Mit der Ruhe im Dorf war es nun endgültig vorbei. Das Tor zur Villa stand nahezu immer offen, und es herrschte Hochbetrieb. Jedes Mal, wenn Maserati dachte, jetzt müsste es endlich zu Ende sein, kam es schlimmer. Eine Gärtnerei brachte Baumsetzlinge, mehrere Männer brüllten sich beim Einpflanzen an. Ein Rasenmäher von der Größe eines kleinen Traktors donnerte hinter den Mauern herum und verbreitete Benzingestank. Ein Versandhaus lieferte Gartenmöbel an, während Bauarbeiter sich über die eingerüstete Fassade der Villa bewegten, die sich als weniger marode herausstellte, als Maserati vermutet hatte. Eine Scheune wurde abgerissen, ein Gewächshaus an einem halben Tag aufgebaut. Ein Container transportierte Bauschutt ab.

Die Oma witterte ein gutes Geschäft und erweiterte die Speisekarte. Die Pommes, behauptete sie, würden den Handwerkern sonst bald zum Hals raushängen. Morgens früh schnippelte Maserati Gemüse für den Eintopf, der in einem riesigen Topf auf dem Herd gerührt wurde, und servierte selbstgemachte Zitronenlimonade zu einem Spottpreis: Die durstigen Männer sollten sich Getränke leisten dürfen, meinte Oma.

Die durstigen Männer bezahlten auf den Cent genau und starrten Maserati mit ölig glänzenden Augen auf die Schlüsselbeine und die Knie. Sie aßen alles leer und fragten nach Eis, also radelte Maserati zum nächsten Discounter und stopfte Großpackungen mit Eis am Stiel in die Tiefkühltruhe zu den Teigtaschen.

Annabell kam mehrmals die Woche vorbei. Ihr blonder Pferdeschwanz wirkte perfekt in seiner Nachlässigkeit, in den Ohrläppchen schimmerten kleine, matte Perlen. Im Gesicht sah sie allerdings ziemlich verlebt aus. Maserati, die sie bei der ersten Begegnung im Halbdunkel der Gaststätte auf Mitte vierzig geschätzt hatte, fragte sich inzwischen, ob Annabell nicht altersmäßig näher an der Oma war, die wiederum deutlich älter als ihre Mitte sechzig wirkte.

Auf der Baustelle schien nichts zu klappen, hier kamen morsche Balken, da verschimmelte Wände zum Vorschein. Annabell übernachtete allein im einstöckigen Nebenbau auf dem Grundstück, der weit besser erhalten war als die Villa. »Ihre Männer« waren in die Stadt geflohen. Auf Nimmerwiedersehen, dachte Maserati.

Annabell brauchte Ratschläge und wandte sich an Oma, die sie für ortskundig und weise hielt. Oma konnte tatsächlich so wirken. Überhaupt war sie eine Meisterin der Täuschung. So konnte sie ihren Akzent nach Belieben nahezu verschwinden lassen oder wieder verstärken. Manchmal sprach sie fließend in korrekten Sätzen, dann schien sie wiederum die deutsche Grammatik komplett zu vergessen – vor allem, wenn sie aufgeregt war.

In der Villa fehlte eine Reinigungskraft und zusätzlich jemand, der nach dem Haus und dem Grundstück sehen würde, sobald die Renovierungshölle einmal abgeschlossen sein sollte (also in fünf Jahren, schätzte Maserati). Oma, die jegliche Gespräche nur ertrug, wenn sie dabei Teig ausrollen konnte, sah bei der Frage nach »einer Hilfe bei der Reinigung und im Haushalt« zu Maserati rüber. Maserati schüttelte heftig den Kopf. Auch in Omas guten Phasen fragte sie sich immer häufiger, auf welchem Planeten diese eigentlich lebte. Offenbar ging sie davon aus, dass Maseratis Tag achtundvierzig Stunden hatte.

Als wäre das alles nicht genug, hatte es auch noch der benachbarte Kirschgarten auf eine Internetseite geschafft, die »Ausflugsziele, die noch niemand kennt« anpries. Das bescherte unter der Woche neue Gäste aus der Stadt, die zum Kaffee Kuchen wollten, gern auch leichte Mahlzeiten, am liebsten Fisch, notfalls gebackenen Käse. Die Teigtaschen stapelten sich in der Tiefkühltruhe, und Maserati fuhr mit dem Fahrradanhänger zwischen dem Discounter und der Gaststätte hin und her, um neue Zutaten zu holen, bis sie Wadenkrämpfe bekam. Manchmal hielt sie auf einem Feldweg an und setzte sich auf einen sonnenwarmen Stein, um ein paar Minuten Nichtstun wie einen geklauten Schokoriegel auszukosten.

Sie kam gerade von einer dieser Einkaufstouren zurück, als sie schon von Weitem Oma im Garten stehen sah, die energisch winkte. Maserati trat heftiger in die Pedale. Jedes Mal, wenn sie länger als eine Stunde weg war, hatte sie Angst, dass etwas Schreckliches passieren würde. Dass Oma lächelte, beruhigte sie nicht: Die schlimmsten Sachen passierten, wenn Oma lächelte. Sie sprang vom Fahrrad und schob es durch das schiefe Tor.

»Lenchen«, sagte Oma. Ihr Gesicht war entspannt und glücklich. »Da sind zwei Jungen für dich.«

Die Vorahnung des Unglücks rauschte in Maseratis Ohren. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie hatte Angst, dass Oma beschämt wäre, wenn man sie auf den Fehler hinwies. Oma war eine stolze Frau, die Fehler hasste.

Und tatsächlich, zwischen Omas Augenbrauen bildete sich eine kleine Falte. Sie kniff die Augen zusammen, als versuchte sie, Maserati schärfer zu sehen. Es stimmte schon, Maserati und Lenchen waren sich ähnlich, genug, um sie zu verwechseln, wenn Lenchen nicht siebzehn Jahre älter wäre und inzwischen ganz anders aussähe.

»Ist gut«, sagte Maserati hastig und lehnte das Fahrrad gegen den Zaun, da der Ständer abgebrochen war. »Ich seh mal nach.«

Sie wusste bereits, wen sie antreffen würde. Welche anderen Jungs würden sich sonst um diese Zeit hierher verirren? Tatsächlich waren es Theo und Caspar, die in den wackligen Gartenstühlen um einen runden Holztisch saßen und sich leise unterhielten. Warum sollten sie auf sie gewartet oder gar nach ihr gefragt haben? Bestimmt wollten sie bei ihrem Landausflug einfach nur eine kalte Limo trinken, wahrscheinlich war der Kühlschrank in der Villa immer noch nicht angeschlossen.

»Hey«, sagte Maserati.

»Hey«, erwiderte Caspar, und auch Theo ließ einen Mundwinkel nach oben zucken. »Die ältere Dame meinte, wir sollen hier auf Lenchen warten. Wer ist Lenchen, Ferrari?«