Und du kommst auch drin vor - Alina Bronsky - E-Book + Hörbuch

Und du kommst auch drin vor Hörbuch

Alina Bronsky

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Beschreibung

Schräg, witzig, hintergründig – und endlich auch im Taschenbuch! Seit der ersten Klasse sind Kim und Petrowna beste Freundinnen. Petrowna fällt immer und überall auf, während Kim sich zurückhält. Doch das ändert sich schlagartig, als ihre Klasse zu einer Lesung geht. Fast niemand hört der Autorin zu, außer Kim – denn die Frau liest ihre Geschichte vor! Die Namen und ein paar Details stimmen nicht, aber der ganze Rest. Und ihre Geschichte geht nicht gut aus – zumindest nicht für Jasper, für den ein Wespenstich tödlich endet. Um das zu verhindern, stellt Kim ihr Leben völlig auf den Kopf …

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Zeit:3 Std. 36 min

Sprecher:Jasna Fritzi Bauer

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Alina Bronsky

Roman

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Über Alina Bronsky

Über das Buch

1

Als Frau Meier sagte, dass wir heute zur Lesung gehen, haben alle gestöhnt. Ich habe große und kleine Ts in mein Hausaufgabenheft gemalt. Ob Lesung oder nicht, das war mir schnuppe. Für Donnerstag stand dort in der Tat reingekritzelt – LÄSUNG. Franz hat den Kopf auf den Tisch gelegt und geschnarcht. Nur Petrowna hat ihre Stimme erhoben.

»Schnauze, ihr Idioten! Wollt ihr lieber Mathe?«

Petrowna schaffte es immer, alle mit einem Satz zu verwirren und dadurch für einen Moment der Stille zu sorgen.

Frau Meier sagte, wir sollten unsere Sachen im Klassenraum lassen. Sie würde auch abschließen, wir bräuchten uns keine Sorgen um die Wertsachen machen. Der eigentliche Grund war, dass sie wollte, dass nach der Lesung die komplette Klasse schön brav mit ihr in die Schule zurückkommt, um die Taschen wieder mitzunehmen. Sonst geht unterwegs immer die Hälfte der Leute verloren. Die Absicht war allen klar und fast alle nahmen ihre Taschen genau deswegen mit. Frau Meier hat so getan, als merke sie das nicht. Sie ist eine kleine Referendarin und hat Angst vor uns.

Ich hoffe, dass sie während unserer Busfahrt unter ihren blonden Strähnchen nicht ergraut ist. Beim Umsteigen hat Petrowna mich um zwei Euro angepumpt und sich am Automaten einen Schokoriegel gezogen. Die Hälfte hat sie dann mir abgegeben. Irgendwann waren wir da und es war eine Bücherei.

»Eine Bücherei!«, haben alle gestöhnt. »Iiih, was sollen wir da? Bücher lesen?«

»Schnauze«, brüllte Petrowna. »Was habt ihr gedacht, wo wir hingehen, in eine Leichenhalle?« Das war nicht wirklich logisch, aber schon wieder waren alle verwirrt und die kleine Frau Meier sah Petrowna dankbar an.

Petrowna ist meine beste Freundin seit der Grundschule. Wir sitzen seit dem ersten Schultag nebeneinander. In der allerersten Pause unseres Lebens haben wir uns geprügelt. Wegen Kindern wie Petrowna wollte meine Mutter mich lieber auf eine Privatschule schicken, aber mein Vater hat gemeint, es ist nie zu früh, das normale Leben kennenzulernen. Am zweiten Schultag kam ich mit einem Veilchen nach Hause, um den Finger eine Strähne von Petrownas Haar gewickelt, die ich ihr im Kampf ausgerissen hatte. Meine Mutter rief sofort die Klassenlehrerin, die Schulleiterin und die Schulpsychologin an und prophezeite, dass Kinder wie Petrowna mit dreizehn auf dem Straßenstrich landen. Am dritten Schultag haben wir aufgehört, uns zu prügeln, und sind seitdem unzertrennlich. Am vierten hat Petrowna mir erklärt, was meine Mutter damals mit »Straßenstrich« gemeint hatte.

Jetzt sind wir beide vierzehn. Petrowna war zwei Jahre lang Klassensprecherin und lässt mich oft abschreiben. Leider hat sie seit der ersten Klasse Hausverbot bei uns.

In der Bücherei roch es nach halbtoten Omas und Staub. Ich habe sofort angefangen zu niesen. Blöderweise hatte ich mein Nasenspray nicht dabei. »Ich hoffe, ich sterbe hier nicht«, sagte ich zu Petrowna, und die sagte: »Wäre kein großer Verlust.« So reden wir miteinander, aber sie meint es nicht so.

Frau Meier schüttelte die Hand einer anderen, ebenfalls kleinen und irgendwie mausgrauen Frau mit einer Frisur, die einen violetten Stich hatte. Das war die Bibliothekarin. An der Wand hing ein Plakat, auf dem irgendwas mit Buchwoche stand.

Wir gingen wie eine Schafherde in einen Nebenraum mit Stuhlreihen. Alle verteilten sich auf die Plastikstühle und legten die Füße auf die Stuhlrücken, die vor ihnen standen. Einige warfen mit Sitzkissen und Bilderbüchern. Keiner kriegte mit, dass die Lesung schon losgegangen war und die Bibliothekarin vorn stand und irgendwas redete. Frau Meier guckte Petrowna flehend an.

»Schnauze, alle!«, brüllte Petrowna.

Dann sahen wir, dass da noch jemand war. Die Autorin.

Sie war eine ziemlich lange und schmale Person. Sie saß hinter einem Tischchen, das für ihre langen Beine viel zu mickrig war, und sah unglücklich aus. Ihr speckiges Haar war schwarz gefärbt und hing ihr in die Augen. Vom Gesicht sah man deswegen nicht viel. Neben ihr lag ein Stapel Bücher.

Frau Meier und die Bibliothekarin begannen in die Hände zu klatschen wie bei einem Stuhlkreis im Kindergarten. Wenig später klatschten wir alle. Wir klatschten eine Minute durch, dann zwei, dann fünf. Man konnte mit ganz einfachen Dingen ziemlich viel erreichen. Die Bibliothekarin bekam rote Flecken im Gesicht. Frau Meier fuchtelte mit den Händen wie eine Dirigentin. Wir klatschten ungerührt weiter. Petrowna war abgelenkt, weil sie gerade eine Nachricht auf ihrem Samsung las.

Ich hörte auf, als mir die Handflächen wehtaten. Bei den anderen muss es ähnlich gewesen sein, auch die hörten irgendwann auf und begannen ihre Finger zu massieren.

Die Autorin sagte, sie heiße Leah Eriksson, habe fünf Bücher geschrieben und würde jetzt anfangen zu lesen. Danach dürften wir ihr Fragen stellen. Sie begann dann in der Tat zu lesen. Ihre Stimme war sehr leise und einige von uns riefen »Hören nix!«. Andere tuschelten und zwei Mädchen kämmten sich die Haare. Petrowna sah mit gerunzelter Stirn auf den Baum vorm Fenster.

Nur ich, ich hörte zu.

Und ich konnte es nicht fassen.

Was diese Leah Eriksson da nuschelte, handelte von mir.

Von meiner Familie.

Von meinem Leben.

Von meinen Gedanken.

Es kamen andere Namen drin vor und ein paar unwichtige Details stimmten nicht. Aber der Rest war ich.

 

Und dabei fiel niemandem irgendwas auf. Es hörte ja niemand zu. Ich glaube, selbst Frau Meier hörte nicht zu. Sie war einfach froh, dass alle gerade still waren, und hing ihren eigenen Gedanken nach. Vielleicht zählte sie die Jahre bis zur Rente. Ich schubste Petrowna an, sie verstand es falsch und schubste zurück.

»Hörst du das?«, fragte ich sie, aber sie guckte weiter auf den Baum, als gäbe es nichts Spannenderes auf der Welt.

Es ärgerte mich, dass die anderen immer lauter wurden. Ich konnte kaum noch etwas verstehen. Ich wünschte mir, dass diese Leah aufhörte zu lesen. Und hatte gleichzeitig Angst davor, als könnte ich aufhören zu atmen, wenn sie aufhören würde zu lesen. Meine Hand tastete in der Tasche nach den Münzen, die ich noch übrig hatte. Blöd, dass ich Petrowna vorhin die zwei Euro gegeben hatte. Dann stießen meine Finger auf einen zusammengerollten Zwanziger. Ich hatte keine Ahnung, was Bücher kosteten.

»Habt ihr Fragen?« Leah Eriksson guckte durch ihre Strähnen auf uns.

Meine Hand schoss in die Höhe, aber andere waren schneller.

»Warum machen Sie das?«

»Wie viel verdienen Sie?«

»Was machen Sie heute Abend?«

Leah Eriksson blinzelte.

Ich schnipste mit den Fingern, dann rief ich laut, um die anderen zu übertönen: »KANNICHMIRDASBUCHSOFORTKAUFEN?«

Alle drehten ihre Köpfe in meine Richtung. Selbst Petrowna. Vor allem Petrowna. Obwohl sie auch schon mal in einem unbeobachteten Moment ein Buch gelesen hatte. Sie hatte dann so getan, als wäre nichts gewesen, aber ich, ich hatte es mitgekriegt.

»Was ist?«, sagte ich. »Es klingt voll spannend.«

Franz tat so, als würde er ein unsichtbares Buch halten und mit einem bekloppten Gesichtsausdruck reingucken. Alle wieherten. Am meisten verwirrt war Leah Eriksson.

»Ich verkaufe keine Bücher«, sagte sie.

»Hä? Wer dann?«

»Die Buchhandlungen.«

»Aber Sie haben doch eins daliegen.«

»Das ist mein eigenes Exemplar.« Sie hielt es entschlossen fest, als wollte ich ihr Buch klauen und nicht kaufen. »Das brauche ich selbst.«

»Ich geb Ihnen Geld dafür!«

Sie stand auf, um klarzumachen, dass die Lesung vorbei war und das Gespräch ebenfalls. Das haben alle sofort richtig verstanden. Die eine Hälfte der Klasse fegte die lilahaarige Bibliothekarin aus dem Weg und verstopfte die Eingangstür. Die andere versuchte, das Fenster zu öffnen und hinauszuklettern. Frau Meier lief fuchtelnd und mit verschwitzter Frisur zwischen den beiden Gruppen hin und her.

Ich nutzte den Moment und ging zur Autorin, die ihre Bücher in eine Tasche packte. Sie überragte mich um zwei Köpfe. Ich lugte von unten unter ihren Haarsträhnen hindurch, um einen Blick in ihr Gesicht zu erhaschen.

»Hallo«, sagte ich.

»Hallo.« Sie fuhr vor Schreck zusammen.

»Sie haben schön gelesen«, log ich.

»Danke.« Sie wusste genau, dass ich log.

»Ich würde mir das Buch, wie gesagt, total gern kaufen.«

»Dann tu das.«

»Ich habe zwanzig Euro dabei.«

»Es kostet 14,95.«

Ich holte triumphierend den Zwanziger aus der Tasche, entrollte ihn und legte ihn vor Leah Eriksson auf den Tisch. »Können Sie rausgeben?«

»Ich hab doch gesagt, ich verkaufe keine Bücher. Ich schreibe sie.«

»Soll ich jetzt in eine Buchhandlung oder was?«

Sie schob den fettigen Haarvorhang beiseite. Ein Paar stahlblaue Augen sahen mich an. »Mir doch egal«, sagte sie.

Ich fand es ein bisschen dreist von ihr. Schließlich schrieb sie doch Bücher, um Geld zu verdienen, da konnte ihr das wohl kaum gleichgültig sein.

»Sie sollten froh sein, wenn jemand Ihren Kram lesen will.«

Das Augenpaar verschwand wieder hinter den Haaren. Sie ließ den Verschluss ihrer Tasche zuschnappen und machte sich auf den Weg zur Tür, wo sich der Pfropf schon wieder aufgelöst hatte. Mein Zwanziger lag auf dem Tisch, unbeachtet wie ein platt gefahrener Kronkorken.

»Hallo, Sie! Autorin! Leah!«

Die blöde Ziege drehte sich nicht einmal um.

 

Im Bus saß ich neben Petrowna und zupfte den Flyer der Buchwoche, den ich beim Hinausgehen vom Stapel gepflückt hatte, in tausend kleine Fetzen. Zwei Drittel der Klasse hatten sich nach der Lesung, genau wie erwartet, in Luft aufgelöst. Frau Meier guckte resigniert auf den kümmerlichen Rest, der sich im Bus verteilt hatte. Anstatt uns dankbar zu sein, dass wenigstens wir mit ihr zurück zur Schule fuhren, machte sie ein miesepetriges Gesicht.

»Hast du zugehört, was die gelesen hat?«, fragte ich Petrowna. »Hast du verstanden, worum es ging?«

»So halb. Scheidung irgendwie.«

»Nicht nur. Es ging um ein Mädchen.«

»Voll die Sensation«, gähnte Petrowna.

»Nein, hör zu. Bei der war alles so wie bei mir. Bei diesem Mädchen im Buch. «

»Ist ja ein Ding.« Wenn sie so weitermachte, verstauchte sie sich noch den Unterkiefer.

»Ehrlich, Petrowna. Die sagte die Dinge, die ich immer sage.«

»Jeder Zweite labert den gleichen Scheiß wie du.«

Ich hatte das Gefühl, sie wollte mich nicht verstehen.

»Was ist das für ein komischer Name, Leah Eriksson«, wechselte ich das Thema.

»Bestimmt ein Pseudonym.«

»Ein was?«

»In Wahrheit heißt sie garantiert Claudia Pupsmaus. Den anderen Namen hat sich der Verlag für sie ausgedacht. Das machen die immer, alles verschönern, damit die Leute die Frau cool finden und ihre Bücher kaufen, anstatt sich über sie kaputtzulachen.«

An der Frau war gar nichts cool. Mir war trotzdem nicht zum Lachen zumute.

Frau Meier wankte durch den Bus zu unserem Doppelsitz.

»Ich wollte dich fragen, wie es dir gefallen hat, Kim«, sagte sie und schaute mich mit einem wohlwollenden Mit-etwas-Mühe-kriegst-du-eine-Drei-minus-Blick an.

»Wieso ausgerechnet mich?« Ich wurde misstrauisch. Worauf wollte sie hinaus?

»Ich habe dich beobachtet. Du hast sehr aufmerksam zugehört.«

»Hä, was hätte ich auch sonst tun sollen?«

»So einen Gesichtsausdruck wie bei dir habe ich noch nie bei einem Schüler gesehen.«

Ich griff mir automatisch ans Kinn und betastete Nase und Wangen. Alles schien normal.

»Wie hat es denn Ihnen gefallen?«, fragte ich. Angriff war bekanntlich die beste Verteidigung.

»Ich denke, es ist gut für Jugendliche. Ziemlich aus dem Leben gegriffen.«

Mein Herz begann verdächtig zu pochen.

»Aber kein Meisterwerk«, fügte Frau Meier hinzu. »Liest du viel?«

Ich hätte lügen sollen, dann hätte sie mir vielleicht eine bessere Note gegeben. Aber ich sagte, wie es war: »Ich lese gar nicht.«

 

Nach der Schule schlug Petrowna vor, in den Park zu gehen. Das war ihr neues Hobby: in den Park zu gehen und unter einem Baum zu sitzen. Weil wir Freundinnen sind, komme ich immer mit. Während Petrowna Löcher in die Luft starrt und ab und zu irgendwelche Sachen auf ihre Handfläche kritzelt, mache ich meine Hausaufgaben. Das heißt, ich schreibe ab, was Petrowna schon in der Pause erledigt hat.

An diesem Tag hatten wir aber nichts auf. Weil wir ja auf der Lesung gewesen waren. Frau Meier hatte erst mit einer Hausaufgabe gedroht, die mit der Lesung zu tun hatte. Aber dann kam es sogar ihr unfair vor, das ausgerechnet den wenigen Leuten aufzubrummen, die mit ihr zurück zur Schule gefahren waren. Ich war ganz ihrer Meinung.

»Macht euch trotzdem Gedanken über das Buch«, verabschiedete uns Frau Meier. »Wir werden uns noch ausführlich damit beschäftigen. Es fließt mit in die Deutschnote ein.«

»Scheeeissseeee«, sagte Franz, und die anderen vier, die außer uns noch da waren, stimmten ein. »Was hat die überhaupt erzählt? Hat jemand zugehört?«

»Tja, vielleicht müsst ihr es sogar lesen, das Buch«, sagte Frau Meier spitz und guckte mich an. Ich schaute weg.

»Wie hieß es denn noch mal? Und wie hieß die Tante, die es geschrieben hat?«, nölte Franz.

»Idiotenbuch für Fortgeschrittene«, knurrte Petrowna und hakte sich bei mir ein.

Später saßen wir zu zweit unter einer Kastanie und hatten nasse Hintern, weil das Gras feucht war, was wir zu spät gemerkt hatten. Wir waren aber zu faul, um aufzustehen. Petrowna hatte ein Blatt vom Boden aufgelesen und zeichnete mit dem Nagel die feinen Adern nach. Ich aß mein Pausenbrot auf. Meine Mutter hatte mir ausnahmsweise eins eingepackt, was sie in der letzten Zeit fast immer vergaß. Vollkornschnitten mit Käse und Salat. Ich biss die Mitte heraus und gab die Rinde Petrowna. Die hatte nie Pausenbrote, schon in der ersten Klasse nicht.

»Ich glaube, ich muss dieses Buch lesen«, sagte ich.

»Welches?« Petrowna hatte es schon vergessen. Sie schaute hoch zur Baumkrone. »Weißt du, dass diese Kastanie hier über hundert Jahre sein kann? Es gab sie schon, da waren unsere Eltern noch gar nicht geboren.«

Ihre romantische Stimmung war mir unheimlich. Um sie zurück in die Spur zu bringen, zeigte ich ihr den Flyer. Darauf waren Namen der Autoren abgedruckt, die bei der Buchwoche gelesen hatten, und außerdem die Namen ihrer Bücher und die Fotos ihrer Gesichter.

»Guck mal, wie die darauf aussieht, diese Leah«, sagte ich. »Ganz anders als in echt.«

»Sie hat sich vielleicht fürs Foto die Haare gewaschen.«

»Und weißt du, wie ihr Buch heißt, Petrowna?«

»Nerv mich nicht die ganze Zeit damit.«

»Falsch. Es heißt: Dinge, die du nie erfährst. Was meint sie überhaupt damit?«

»Keine Ahnung. Vielleicht passt es zu ihrem Buch.«

Eigentlich hatte ich vor, zu Hause zu gucken, ob ich es mir irgendwo umsonst runterladen konnte. Nachdem diese Leah so doof zu mir gewesen war, hatte ich keine Lust, für ihr Buch auch noch Geld auszugeben. Sie würde bestimmt mindestens die Hälfte davon einstecken, wenn nicht alles, und das war mir nicht recht. Dafür konnte ich mir mehrere Döner kaufen. Aber ich hatte keine Geduld mehr.

»Weißt du, wo der nächste Buchladen ist?«, fragte ich Petrowna.

»Du läufst ständig dran vorbei. Neben Starbucks«, sagte sie.

2

Es war gleichzeitig gut und schlecht, dass Petrowna mit mir in die Buchhandlung gekommen war. Gut, weil mit ihr alles besser lief. Schlecht, weil ich das Gefühl hatte, dass das hier vielleicht zu den Dingen gehörte, die man allein machen musste. Wie aufs Klo gehen. Obwohl wir auch öfters zusammen aufs Klo gingen.

Neben dem Starbucks gab es in der Tat einen Buchladen, der mir noch nie aufgefallen war. Wir gingen rein und dabei klingelte ein Glöckchen. Aber keiner achtete auf uns. Drin waren Regale mit Büchern und Tische mit Büchern und Ständer mit Katzenkalendern. Ich hatte gedacht, dass nur alte Frauen mit großen Brillen in solche Läden gingen. Aber in einer Ecke stand ein verschwitzter junger Typ mit einer Sporttasche und etwas weiter hinten sogar ein Mädchen unseres Alters. Sie las in einem großen glitzernden Buch, das in der Mitte aufgeschlagen war. Ich wunderte mich, wer ihr das erlaubte, ein ungekauftes Buch einfach so zu lesen. Wer wollte es dann noch haben.

Es roch weniger staubig als in der Bücherei. Vielleicht, weil die Bücher hier neu waren, oder die hier hatten die bessere Putzfrau.

»Kann ich euch helfen?« Eine Frau mit Haarknoten hatte sich an uns herangeschlichen. Um ihren Hals baumelte eine Kette aus Holzperlen. Sie hatte Pantoffeln an, also wohnte sie wahrscheinlich hier.

Ich guckte sie nur an. Ich wusste nicht, wie man Bücher kaufte. Bei Timberlands hätte ich zum Beispiel die Farbe und meine Schuhgröße genannt. Sollte ich hier sagen: »Ich hätte gern ein blaues Buch mit zweihundert Seiten«?

»Wir wollten uns erkundigen.« Petrowna schob mich vor. »Nach einem Buch von Leah Dingsbums.«

»Leah Eriksson?« Die Holzperlenfrau lächelte verständig.

Ich nickte. Woher kannte sie denn diese Leah?

»Ist sie etwa bekannt?« Petrowna schien schon wieder meine Gedanken zu lesen.

»Eine wunderbare Berliner Autorin«, sagte die Holzperlenfrau.

»Wir hatten eine Lesung bei ihr«, gestand ich. Meine Stimme klang piepsig.

»Ach, bei der Buchwoche!«, strahlte die Holzperle. »Wie war es denn so?«

»Kacke«, sagte Petrowna. »Hat keiner zugehört. Außer ihr.« Und sie deutete auf mich. Ich trat ihr auf den Fuß, bevor sie der Perle auch noch verriet, warum ich zugehört hatte. Ich hatte das Gefühl, das ging nur mich was an.

»Ihr seid in einem schwierigen Lesealter«, sagte die Holzperle.

»So würde ich das nicht nennen«, sagte Petrowna höflich. Die beiden lächelten sich an, als wären sie einst BFF gewesen, dann total zerstritten, und würden gerade erst wieder anfangen, sich zu grüßen.

»Welches Buch von Leah Eriksson interessiert dich denn?«, wandte sich die Holzperle an mich.

Blöderweise hatte ich in diesem Moment den Titel vergessen. Ich wühlte in meinen Taschen nach dem Flyer.

»Es ging um ein Mädchen, dessen Eltern sich trennen«, sagte ich. Dabei wurde ich rot, als würde ich vor fremden Leuten das Muster auf meiner Unterhose beschreiben.

»Dinge, die du nie erfährst!«, sagte die Holzperle mit dem Lächeln eines Zauberers, der ein Kaninchen aus dem Hut zieht. »Ich schaue gleich mal nach, ob wir es dahaben.«

Sie schaute im Computer nach, dann stand sie eine Weile vor einem Regal, dann ging sie in einen hinteren Raum. Vielleicht gab es dort noch mehr Bücher. Ich schwitzte. Petrowna nahm ein Buch vom Stapel, auf dessen Umschlag ein Strauß abgebildet war. Sie schlug es in der Mitte auf. Die Holzperle kam zurück. In ihren Händen war das Buch von heute Morgen.

»Das ist es! Genau das ist es!«

Die Holzperle lächelte. »Da freut sich aber jemand.«

»Haben Sie es gelesen?«, fragte ich mit einem komischen Stechen im Herzen. Ich wollte nicht, dass sie durch ihre dicke Brille meine Geschichte las. Obwohl ich sie gar nicht kannte und eigentlich nicht kennen wollte. Sie sollte mich auch nicht kennen, nicht so jedenfalls.

»Nein, aber eine Kollegin, und die war begeistert.« Sie nahm meinen Zwanziger entgegen und faltete ihn zärtlich auseinander, dann gab sie mir einen Fünfer und fünf Cent zurück. Ich sah meinem Schein wehmütig hinterher. Es war albern viel Geld. Ich hätte im Leben nicht dran gedacht, so viel Kohle für 150 Seiten hinzublättern. »Würdest du das Buch weiterempfehlen?«

»Nein!«, rief ich. »Keinesfalls! Lesen Sie was anderes!«

Die Holzperle gab mir leicht irritiert das Wechselgeld, packte das Buch in eine Papiertüte und schenkte mir ein Lesezeichen.

 

Wie so oft wollte Petrowna zu Starbucks, wo wir schon mal in der Nähe waren. Starbucks, hatte Petrowna einmal gesagt, sei für sie Inbegriff von Wohlstand und Stabilität. Schon deshalb sei sie ihren Eltern dankbar für die Auswanderung. In ihrem kirgisischen Dorf hätte sie an diesem Nachmittag höchstens bei irgendeiner Tante schwarzen Tee mit Butter bekommen.

»Igitt«, hatte ich gesagt. »Mit Butter?«

»Ist so. Tradition. Weil es bei uns so kalt ist. Und Fett hält warm.«

Heute allerdings wollte ich mit dem Buch allein sein. Ich hatte das Gefühl, dass es in der Papiertüte zappelte. Aber Petrowna hatte mir schon beim Einkauf beigestanden und ich wollte ihr dafür auch was Nettes tun. Sie trank sehr gern Frappuccino, und ich wollte ihr einen ausgeben. Ihr selbst war der zu teuer.

Wir gingen also zu Starbucks und ich kaufte ihr vom Wechselgeld den Frappuccino.

»Beeil dich«, sagte ich. »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Hast du noch ein Date?«

»Ja. Nein.«

»Musst du aufpassen, dass deine Mama sich nicht aus dem Fenster stürzt?«

»Du solltest nicht von euch auf andere schließen.«

»Was krallst du dich eigentlich so an diesem komischen Buch fest?«, wechselte Petrowna das Thema. Wenn einer Witze über ihre Familie machen durfte, dann nur sie. Für alle anderen Familien der Welt galt in ihren Augen keinerlei Einschränkung.

»Mit dem Buch stimmt was nicht«, sagte ich. Ich merkte, ich hatte fast ein bisschen Angst davor. »Willst du es vielleicht zuerst lesen und mir erzählen, worum es geht?«

»Ich bin nicht dein Sklave.« Petrowna schlürfte aus ihrem Becher.

 

Auf dem Weg nach Hause packte ich das Buch in der Bahn aus.

Es hatte keine richtigen Kapitel mit Überschriften, sondern durchnummerierte Abschnitte. Das war schon mal öde. Es fing damit an, dass ein Mädchen in die Küche kam, wo ihre Mutter stand und Kalorien zählte. Das machte meine Mutter auch immer. Wenn sie kochte, wog sie alles in kleinen Schälchen auf der Küchenwaage ab, und wenn es zu viel war, dann löffelte die Mutter im Buch die Haferflocken zurück in die Packung. Dann trug sie die Kalorien in eine App auf dem iPhone ein. Genau wie meine.

Es gab einen kleinen Unterschied: Die Mutter im Buch war blond und meine brünett. Ich regte mich trotzdem so auf, dass ich meine Haltestelle verpasste und eine Viertelstunde in die Gegenrichtung zurücklaufen musste.

 

Zu Hause stand meine Mutter in der Küche und wog Haferflocken ab. Das Schreckliche war, sie war blond.

»Was ist mit dir passiert?«, fragte ich.

»War beim Friseur«, sagte sie.

»Das sehe ich.«

»Und, was sagst du?«

»Ist okay. Bisschen grau.«

»Grau?« Sie rannte entsetzt zum Spiegel. Kam aber gleich stirnrunzelnd zurück. »Was hast du da? Drogen?«

Ich versteckte das Buch hinter meinem Rücken.

Sie drehte sich zur Arbeitsplatte und löffelte die Haferflocken aus der Schüssel zurück in die Packung.

»Warum tust du das?«, fragte ich. »Ich will nicht, dass meine Mutter dünner ist als ich.«

»Wie war es in der Schule?«, fragte sie, als hätte sie mich nicht gehört.

»Wir waren auf einer Lesung.«

»Schön.«

Es interessierte sie einfach nicht.

Ich guckte im Kühlschrank nach, dort stand ein Teller mit kalorienreduzierter Hühnerbrühe. Ich krümelte trockenes Brot hinein und stellte ihn in die Mikrowelle. Während ich wartete, schlug ich das Buch erneut auf.

Ich will nicht, dass meine Mutter dünner ist als ich, las ich.

Ich packte das Buch und rannte in mein Zimmer. Den Suppenteller ließ ich in der Mikrowelle stehen.

Ich steckte das Buch unter mein Kopfkissen und streckte mich auf dem Bett aus. Mein Herz klopfte. Die Ikea-Blümchen, die in jedem zweiten Kinderzimmer blühten, prangten auch auf meiner Bettwäsche. Woher wusste Leah, wie mein Zimmer aussah? Das erklärte sich noch aus dem Satz. Jedes zweite Kinderzimmer sah so aus.