Das Geschenk - Alina Bronsky - E-Book

Das Geschenk E-Book

Alina Bronsky

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Beschreibung

Wie wollen wir Weihnachten feiern? Besinnlich, kitschig oder ganz anders? Endlich an Weihnachten nur das machen, was man selbst möchte: Nachdem die erwachsenen Kinder aus dem Haus sind, wollen Peter und Kathrin das erste Weihnachtsfest zu zweit ganz in Ruhe feiern. Doch dann meldet sich überraschend ihr alter Freund Klaus, seit Jahren verwitwet, und schlägt vor, das Fest zusammen zu verbringen. Peter und Kathrin wollen ihn nicht seiner Einsamkeit überlassen und stimmen widerwillig zu. Doch es kommt nicht so wie erwartet, denn Klaus ist in Begleitung seiner neuen, deutlich jüngeren Lebensgefährtin, die ganz eigene Vorstellungen von einem stimmungsvollen Weihnachtsabend hat… - Für Freunde des schwarzen Humors: ein Weihnachtsbuch für Erwachsene von Alina Bronsky - Weihnachten mal anders: eine ungewöhnliche Erzählung die an die Tiefe eines Romans heranreicht - Das Fest der Liebe? Verstrickungen im Eheleben – witzig und hintergründig - Zum Vorlesen, selbst Lesen und Verschenken: eine Weihnachtserzählung aus der edition chrismon Ein Weihnachtsfest voller Verwicklungen und Offenbarungen Spätestens seit dem Roman "Baba Djunas letzte Liebe", der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, sind die Bücher der Schriftstellerin Alina Bronsky einem großen Lesepublikum bekannt. Mit "Das Geschenk" hat sie ein außergewöhnliches Weihnachtsbuch in der edition chrismon veröffentlicht. Bronsky erzählt darin von unseren Wünschen und Träumen. Sie behandelt die Frage, wie wir miteinander leben wollen, und zeigt die Realität, die manchmal ganz anders ist. Denn auch an Weihnachten ist das Leben, wie es ist – und nicht, wie wir es gern hätten. Und genau darin kann etwas Tröstliches liegen!

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Alina Bronsky

Das Geschenk

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 by edition chrismon in der Evangelischen Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Printed in Germany

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

Coverabbildung: Orlando Hoetzel, Berlin (Illustration), lisel24/Pixabay.com (Hintergrundbild)

Cover: Anja Haß, Leipzig

Satz: Formenorm · Friederike Arndt, Leipzig

Druck und Bindung: CPI books GmbH

ISBN 978-3-96038-296-6 // eISBN (PDF) 978-3-96038-297-3

eISBN (E-Pub) 978-3-96038-298-0

www.eva-leipzig.de

Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn nicht Kathrin, sondern ich ans Telefon gegangen wäre. Kathrin konnte grundsätzlich nicht Nein sagen, ich dagegen sehr wohl, wofür es jetzt allerdings zu spät war, da sie bereits Ja gesagt hatte. Ihr war wichtig, dass andere sie für einen guten Menschen hielten.

„Wir können immer noch absagen und auf eine Insel fahren“, hatte ich ihr in den Stunden nach dem Telefonat immer wieder vorgeschlagen.

„Das geht nicht. Wir haben es ihm versprochen.“ Du hast es ihm versprochen, dachte ich. Du allein. Mich hast du streng genommen nicht einmal gefragt.

„Ich hatte keine Wahl“, verteidigte sich Kathrin. „Die Vorstellung, dass er allein da sitzt, sein altes Telefonbuch durchgeht und dann ausgerechnet uns anruft …“

„Ich hätte einfach gesagt, wir haben schon gebucht.“

„Das wäre aber gelogen.“

„Das hätte er aber nicht gewusst.“

„Ich kann nicht lügen.“ Sie war auch noch stolz auf sich. „Komm, vielleicht wird es sogar schön.“ „Glaubst du das wirklich? Und du behauptest, nicht lügen zu können?“

Sie blieb dabei: Es könnte schön werden. Nordhessische Kuhweiden statt Wellen und weißem Sand, der angemessene Preis für das gute Gefühl, zuverlässige Freunde zu sein.

„Wir können nicht immer nur an uns denken.“ Aus purer Nettigkeit verzichtete sie darauf, die zweite Person Singular zu benutzen.

Ich dachte durchaus gern auch einmal an mich. Jahrzehntelang hatte ich um die Weihnachtstage herum meine persönliche Opferwoche vollbracht: Baum bestellen, abholen, aufstellen, Gans bestellen, abholen, zubereiten. Zerstochene Hände, müde Beine vom ewigen Schlangestehen mit all den anderen Weihnachtswahnsinnigen. Mit den Geschenken hatte ich immerhin nichts zu tun, die waren Kathrins Aufgabe. Ich war fürs Essen zuständig, für die ellenlangen Listen und die vollgepackten Einkaufstüten, als gälte es, ein halbes Dorf durchzufüttern und keine vierköpfige Familie plus gelegentlichem, handverlesenem Besuch. Die drei Feiertage verbrachte ich größtenteils in der Küche.

Die Familienlegende wollte es so, dass ich das weihnachtliche Kochen liebte. In Wirklichkeit war es eine Flucht: Ich machte auch gern einmal die Küchentür zu und träumte davon, dass die Festtage endlich vorübergingen und ich mit einem der geschenkten Bücher in meinem Sessel zusammensacken konnte.

Dieses Jahr hätte es das erste Weihnachtsfest ohne Kinder, ohne Baum, ohne Verpflichtungen werden sollen. Kathrin hatte es vorgeschlagen, ich war erstaunt gewesen, hatte aber sofort gedacht: Je weniger, desto besser. Der Zeitpunkt schien perfekt: Die Kinder waren erwachsen, aber noch keine Enkel in Sicht. Kathrin wollte über die Feiertage zu zweit verreisen, und zwar ursprünglich nicht nach Nordhessen. Dann aber hatte Klaus angerufen, und sie war ans Telefon gegangen.

„Wann haben wir ihn überhaupt das letzte Mal gesehen?“ Wir saßen schon im Auto, ich konnte mich immer noch nicht einkriegen. Ich war im Gegensatz zu Kathrin kein netter Mensch.

„Vor etwas weniger als vier Jahren.“ Sie hatte eine Engelsgeduld. „Bei der Beerdigung.“

„Warum haben wir seitdem nichts mehr voneinander gehört?“

Kathrin zuckte mit den Schultern. „Weil du dich nicht bei ihm gemeldet hast.“

„Ich hab sicher mal angerufen.“

„Klar, bestimmt.“

„Nein, wirklich.“

„Ich glaube dir“, sagte die Frau, die von sich behauptete, nicht lügen zu können. In Wirklichkeit konnte sie es einfach nicht so gut – warum versuchte sie es dann immer wieder?

Tatsache war, dass wir bereits in den Jahren vor Almuts Tod nicht mehr so viel Kontakt miteinander gehabt hatten. Dabei hatte es mindestens ein Jahrzehnt gegeben, in dem Klaus und Almut fest zu unserem Leben gehört hatten. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob wir uns damals besonders gemocht hatten oder ob es einfach passend gewesen war: jeweils zwei Kinder im gleichen Alter, die gut miteinander auskamen, und vor allem ähnliche Vorstellungen von gelungenen Abenden und Reisen. Wir waren zusammen im Skiurlaub gewesen, wir hatten Silvester gefeiert, es war alles so lange her, dass es schon wieder unwirklich schien. Ich sah Kathrin an, dass auch ihr der Entschluss, eine gute Freundin zu sein, ganz schön viel Kraft abverlangte. Wir hatten den Kofferraum mit Essen voll („Klaus soll jetzt nicht auch noch für uns alle einkaufen müssen“), wir hatten warme Klamotten eingepackt („Ist ja bisschen rau dort“). Ich hatte drei Bücher dabei, entschlossen, die Tage lesend zu verbringen. Als wir von der Autobahn auf die Landstraße herunterfuhren, begann Kathrins Nasenspitze blasser zu werden. Graubraune Felder, kahle Bäume, dazwischen düstere Tannen zogen an uns vorüber. Es begann zu nieseln.

Ich tätschelte Kathrins Kopf. „Wird schon. Wie hat er eigentlich am Telefon geklungen?“

„Schwer zu sagen“, sagte Kathrin. „Wie früher. Glaub ich.“

Wir fuhren durch die Dörfer. Hier und da standen vereinzelte Kühe im Regen und schauten uns entgegen. Dann wieder eine Schafsherde, die sich gegen die Kälte zusammendrängte. Die Ortsnamen wurden skurriler, die Lichterketten in den Fenstern und Vorgärten blinkten in einem Rhythmus, der mein Herz zum Stolpern brachte.

„Warum eigentlich ausgerechnet hier?“

„Hör auf, an allem herumzumeckern!“, schrie Kathrin ohne Vorwarnung los. „Ich kann auch nichts dafür. Ich hab’s mir nicht ausgesucht. Es ging nicht anders. Und ich glaube, es ist das Haus von irgendwessen Eltern. Seinen oder Almuts oder was weiß ich.“

„Waren wir hier nicht schon einmal gewesen, 1987 oder so?“

„Keine Ahnung.“ Kathrin sprach wieder mit ihrer fast normalen Stimme.

Der Regen wurde stärker. Das Navi lenkte uns durch ein kleines Dorf, das so tot wirkte, dass es nicht einmal Weihnachtsdeko gab, über die wir uns hätten lustig machen können. Einige Häuser hatten zugenagelte Fenster. Wir fuhren an einer Bushaltestelle vorbei und nahmen eine scharfe Abbiegung auf einen unasphaltierten Weg. Der Kies knirschte unter den Rädern.

Es war eine merkwürdige Straße mit mehreren so neu wie verlassen wirkenden Häusern. Wir hielten vor dem letzten, das sich durch die kleine Anhöhe trotz der Flachbauweise ein wenig über die anderen erhob.

„Nein“, sagte Kathrin zweifelnd. „Ich glaube nicht, dass wir hier jemals Silvester gefeiert haben.“

Das Grundstück war groß und leer, wenn man das leuchtende Rentier nicht mitrechnete, dessen Umrisse neonblau blinkten. Über dem Ganzen ragte eine einzige, riesige Kiefer. Der Boden war mit Nadeln und Zapfen übersät. Die Fenster des einstöckigen Bungalows waren beleuchtet.

„Ist das sein Rentier?“, Kathrin reckte den Hals, und ich konnte zusehen, wie ihr Mut sank. „Ist er vor Kummer verrückt geworden?“

Wir holten unsere Reisetaschen und die Kiste mit den Lebensmitteln aus dem Kofferraum und gingen über vergilbte Tannennadeln auf den Eingang zu. Wir liefen langsam, und ich rätselte, ob Kathrin auch gerade daran dachte, dass wir immer noch ins Auto steigen und wegfahren konnten. Inzwischen war mir auch egal, wohin.

Die Tür des Bungalows wurde aufgerissen, und ein kläffendes, schmutzigweißes Knäuel raste auf uns zu. Kathrin schrie auf und versuchte sich hinter mir zu verstecken. Ich trat nach dem Tier, traf es aber nicht.

„Rex, komm her!“ Ein Mädchen rannte aus dem Haus und versuchte, das Knäuel einzufangen. Kathrin und ich warteten wie erstarrt, während die beiden um uns herumwuselten. Das Mädchen schaffte es nach drei Runden und hob das Tier hoch, drehte uns ihr gerötetes Gesicht zu. Sie hatte eine Trainingshose an, ihr Haar war blond mit vereinzelt rosa gefärbten Strähnen.

„Hi. Cool, dass ihr da seid. Rex beißt nicht.“

Kathrin und ich wechselten Blicke. Ich sah ihr an, dass sie genau wie ich gerade versuchte, sich zu erinnern. Unsere Tochter Johanna war vor zwei Monaten sechsundzwanzig geworden. Klaus’ und Almuts Tochter – der Name war mir natürlich entfallen – dürfte nicht viel älter sein. Kathrin wusste beides bestimmt noch, weil wir auch Kindergeburtstage zusammen gefeiert hatten. Ungünstig, dass sie mich in dieser Frage nicht gebrieft hatte. Die Kinder von Almut und Klaus hatten wir nach meiner Erinnerung zuletzt bei der Beerdigung gesehen. Ich hätte sie nicht mehr auf der Straße erkennen können, was mir jeder verzeihen musste: Meine Prosopagnosie, die Unfähigkeit, mich an Gesichter zu erinnern, war inzwischen ärztlich bestätigt worden. Dennoch verursachte die ganze rosa-blonde Erscheinung bei mir eine kognitive Dissonanz, die leichte Übelkeit auslöste.

Ich dachte schicksalsergeben, dass Kinder anderer Leute sich manchmal geradezu schockierend veränderten.

„Ich bin Sharon“, sagte das Mädchen mitten in meine Nostalgie hinein. „Die Neue von Klaus. Und Sie müssen Kathrin und Peter sein.“

Kathrin bekam einen Hustenanfall. Sie konnte gar nicht mehr aufhören. Sie bückte sich, stützte sich auf den Knien ab. Ich klopfte ihr auf den Rücken. Das Mädchen sah geduldig zu.

„Wasser?“, fragte sie irgendwann. Kathrin richtete sich auf, ihr Gesicht war knallrot.

„Geht schon“, krächzte sie. „Hab mich verschluckt.“

„Dann kommt doch rein. Das Wetter ist scheiße.“ Das Mädchen packte eine unserer Reisetaschen und marschierte voran. Wir folgten ins Haus, direkt in eine Wohnküche mit Sitzecke, Fernseher und zwei im rechten Winkel zueinander aufgestellten Sofas.

Kathrin ließ sich auf eine davon sinken und drückte sich die Hand gegen den Hals. Das Mädchen setzte unsere Tasche und den Hund ab.

„Geht’s wieder?“

„Ja. Immer noch verschluckt.“

Kathrin machte es mir mit ihrem rot angelaufenen Gesicht leicht, im direkten Vergleich souverän zu wirken. Das Mädchen brachte ihr ein Glas Wasser und griff wieder nach unserem Gepäck. „Das Haus ist voll klein. Hier ist das Klo.“ Sie stieß mit dem Fuß eine Tür auf. „Hier ist Ihr Schlafzimmer. Und hier schlafe ich mit Klaus.“

„Nett“, sagte ich, weil Kathrin immer noch, ganz untypischerweise, schwieg. „Herrlich gemütlich, die Hütte.“

„Na ja“, sagte das Mädchen. „Klaus meinte, Sie hätten hier schon mal Silvester zusammen gefeiert.“

„Das muss aber irgendwann vor Ihrer Geburt gewesen sein.“

„Ich bin nicht so jung, wie ich aussehe.“

Ich blickte ihr nach. Ich hätte sie gern genauer betrachtet, aber sie blieb wie ein Quecksilbertropfen immer in Bewegung. Angesichts der Enge des Hauses legte sie eine erstaunliche Dynamik an den Tag. Ihr Hund, dem ich erst ebenfalls Hyperaktivität unterstellt hatte, hatte es sich dagegen auf der Couch neben Kathrin bequem gemacht und verfolgte die Schritte seiner Besitzerin aus dunklen Knopfaugen.

„Wo ist eigentlich Klaus?“

„Der besorgt noch was. Eine Überraschung.“

„Noch eine Überraschung?“ Kathrin richtete sich schwer atmend auf.

Klaus kam, als wir am Tisch bei Früchtetee und selbst gebackenen Plätzchen saßen, die ich aus unserer Kiste geholt hatte. Der Hund war von der Couch heruntergesprungen und rotierte kläffend vor der Tür. Draußen die schweren Schritte auf dem Fußabtreter. Ich hätte es für möglich gehalten, dass jetzt gar nicht Klaus reinkäme, sondern ein völlig anderer Mensch, und mein Problem wäre gewesen: Ich mit meiner Gesichtsblindheit hätte den Unterschied womöglich gar nicht gemerkt.

Deswegen fixierte ich Kathrin, um an ihrer Reaktion ablesen zu können, ob wir hier richtig waren. Die Anspannung in ihrem Gesicht war fast schon unhöflich. Sie hatte seit der Ankunft immer noch nicht die Worte wiedergefunden, so dass ich ganz untypischerweise für Unterhaltung am Tisch hatte sorgen müssen, während ich das Mädchen auf Zeichen ihres möglichen Alters scannte. Mal kam sie mir wie eine Abiturientin vor, dann runzelte sie die Stirn, und ich zählte die Falten.

„Leute!“ Klaus kam herein, stellte eine große Einkaufskiste ab. „Ihr seid ja schon hier. Hab das Auto gesehen. Ach, Mensch. Kommt her.“

Kathrin sprang auf und schmiss sich Klaus um den Hals. Das Mädchen legte den Kopf schief und sah aufmerksam zu. Kathrin ließ Klaus los, trat einen Schritt zurück, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Klaus strecke mir die Hand entgegen.

„Mann, Peter. Hast dich kaum verändert.“

Ich war nicht sicher, ob es als Kompliment gemeint war. Ich hatte einmal zwanzig Kilo mehr gewogen, bis Kathrin es vor zwei Jahren mit einer Ernährungsumstellung versucht hatte. Klaus selbst sah kräftig und irgendwie fast schon unanständig munter aus. Ich hätte schwören können: Wenn Kathrin geahnt hätte, wie gut er in Wirklichkeit aussah, hätte sie eventuell zweimal überlegt, ob sie immer noch ein guter Mensch sein wollte. Klaus’ graues Haar war für meinen Geschmack einen Tick zu lang, die Jeans einen Tick zu eng. Die Wanderschuhe trieften von Matsch.

„Ihr glaubt gar nicht, wie viel es mir bedeutet, dass ihr hier seid.“ Klaus drehte sich um, angelte nach dem Mädchen und drückte sie an sich. „Ihr habt Sharon schon kennengelernt.“

Er war einen Kopf größer als sie. Sie lehnte sich gegen ihn und lächelte uns entgegen.

Ist sie überhaupt schon volljährig?, dachte ich. Plötzlich wusste ich, an wen sich Kathrin erinnert fühlen konnte. Meine Hand rutschte unwillkürlich in die Tasche und überprüfte, ob mein Telefon auf lautlos gestellt war.

Klaus stellte die Kiste schnaufend auf dem Boden ab. „Ich hab bisschen Zeugs mitgebracht. Ist ja Weihnachten.“

Sharon quietschte vergnügt.

„Für’n Baum ist hier zu wenig Platz. Ich hab meiner Süßen natürlich versprochen, dass sie es hier schön machen kann. Sie steht auf das Gedöns. Ich mach mir selbst nichts aus Deko, aber sie meinte, für euch soll es schließlich auch weihnachtlich werden.“

Kathrin unterdrückte einen Seufzer. „Wir haben noch nie Weihnachten zusammen gefeiert, kann das sein?“

„Denke nicht. An solchen Feiertagen bleibt man ja in der Familie.“

Zu Kathrins wesentlichen Charakterzügen gehörte nicht nur, dass sie ein guter Mensch war, sondern auch, dass sie Geschmack hatte. Sie legte Wert darauf, dass das zum ersten Eindruck gehörte, den Menschen von ihr bekamen. Ein mögliches Missverständnis bezüglich ihres Geschmacks hätte sie nachhaltig unglücklich gemacht. Unser Heim war minimalistisch eingerichtet, und ich wäre ein Narr gewesen, hätte ich mit Kathrin jemals über irgendwelche Vasen und Stoffmuster diskutieren wollen. Weihnachtsengel, Blattgold und Glitzer kamen grundsätzlich nicht vor. In den letzten Jahren hatten wir eine Krippe aufgestellt, die aus unterschiedlich geformten Naturholzklötzchen bestanden hatte, für viel Geld einem mir unbekannten Künstler abgekauft. Jetzt sah Kathrin versteinert zu, wie Sharon Lametta auspackte.