Barfuß und wild - Jan Frerichs - E-Book

Barfuß und wild E-Book

Jan Frerichs

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Beschreibung

Ein Buch für Menschen, die das Abenteuer wagen, Gott mitten im Leben zu suchen und dadurch sich selbst zu finden. Der Mensch ist Teil der kosmischen Zyklen, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Auch der Mensch durchwandert auf dem Lebensweg innere "Jahreszeiten" der spirituellen Entwicklung. Es ist deshalb eine Herausforderung, die Natur wieder als einen spirituellen Wegweiser zu entdecken. Die Natur ist die erste Bibel. Immer haben sich Menschen in die Natur begeben, um in diesem Buch zu lesen und an den Grund von allem zu gehen. Auch dies Buch führt zu vielen Übungen in die Natur. Dabei geht es nicht um ein Wildnis- oder Überlebenstraining. Entscheidend ist die Bereitschaft, sich auf einen inneren Weg einzulassen. Auf diesem Weg kennt die lebendige Tradition weitere Wegweiser: die Heilige Schrift, die franziskanische Lebensweise, die Mystik, ein Leben in der Balance aus Kontemplation und Aktion, aus Hinwendung zu Gott und dadurch Hinwendung zum Leben. Jan Frerichs lädt seine Leserinnen und Leser ein auf einen spannenden Weg zu einer eigenen Spiritualität, die trägt.

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Für Kolya und Leo

Inhalt

Zur Einführung: An die Suchenden

Barfuß zur Quelle

Der erste Wegweiser: die Natur

Der zweite Wegweiser: die Heilige Schrift

Der dritte Wegweiser: franziskanische Tradition

Der vierte Wegweiser: Mystik

Der fünfte Wegweiser: Kontemplation und Aktion

VATER

Begegnung mit dem wilden Gott

Mensch, wo bist du? (Gen 3,9)

Das Leben: wild, kreativ, göttlich

Das heilige Feuer entfachen

Leg deine Schuhe ab (Ex 3,5)

Die Natur als Spiegel der Seele

in praxi: Visionssuche / Quest – über die Schwelle gehen

SOHN

Mit Christus durch das Lebensrad

Das Lebensrad als Orientierungsmodell

Die Wurzeln des Lebensrades

Der Christus im Rad

Nackt dem nackten Christus folgen

Sie küsste seine Füße und salbte sie (Lk 7,38)

Das Geheimnis der Inkarnation

in praxi: Süden – mit dem inneren Kind gehen

Mit dem Schatten tanzen

Verkauf alles, was du hast! (Lk 18,22)

Dem Drachen gegenübertreten

in praxi: Westen – hinabsteigen

Dem Leben dienen

Gebt ihr ihnen zu essen! (Mk 6,37)

Vom Lebenskampf zum Lebenstanz

in praxi: Norden – Rituale gestalten

Dem eigenen Mythos auf die Spur kommen

Brannte uns nicht das Herz? (Lk 24,32)

Begegnung mit dem kosmischen Christus

in praxi: Osten – Geschichten erzählen

HEILIGER GEIST

Von der Askese zur Hingabe

Du bist ein tüchtiger Diener! (Lk 19,17)

Mit Demut und Noblesse

in praxi: Beten

Zum Abschluss: Über den großen Wandel

Dank

Quellen und Literatur

ÜBER DEN AUTOR

ÜBER DAS BUCH

IMPRESSUM

HINWEISE DES VERLAGS

Zur Einführung: An die Suchenden

Die Leute sagen,dass wir alle nach einem Sinn des Lebens suchen.Ich glaube nicht, dass es das ist, was wir wirklich suchen.Ich glaube, was wir suchen,ist eine Erfahrung des Lebendigseins.Joseph Campbell

»Ach, wenn mir nur gruselte!«, sagt der Furchtlose im Grimmschen Märchen immer wieder. Er zieht in die Welt, um das Fürchten zu lernen, aber nichts vermag seine Furcht zu erregen. Keine Gespenster und nicht einmal die Toten. Am Ende ist es seine Gemahlin, die ihn erlöst. Er ist mittlerweile König und sehr reich. Als er schläft, zieht sie seine Bettdecke zurück und überschüttet ihn mit einem Eimer kalten Wassers voller zappelnder Fische. »Nun weiß ich, was Gruseln ist!«, sagt der Erwachte.

In religiöser Hinsicht gleichen viele Menschen heute dem Furchtlosen. Kaum etwas in der Welt erscheint ihnen noch geheimnisvoll, numinos und in dem Sinne furchterregend. Was sollte uns auch – bei vernünftiger Betrachtung – Angst einjagen? Die Dunkelheit? Ein Gewitter? Die Tiefen des Meeres? Oder vielleicht die unendlichen Weiten des Weltalls? Wir entzünden ein Licht, leiten den Blitz ab, schweben in Metallröhren durch die Atmosphäre und haben schon auf dem Mond unsere Fußspuren hinterlassen. Zwar gibt es Ereignisse wie Naturkatastrophen und unglückliche Unfälle. Aber weder Zufall noch Unfall ändern grundsätzlich etwas an der Art, wie wir in der Welt sind.

Wir sind aufgeklärt und in gewisser Hinsicht auch abgeklärt. Wir haben alles unter Kontrolle. So scheint es. Und so gleichen wir dem Furchtlosen im Märchen. Er ist am Ende ein reicher König – und doch leidet er einen Mangel. Es gehört zu den Phänomenen unserer Zeit, dass trotz all der Möglichkeiten, Errungenschaften und Reichtümer viele Menschen in den westlichen Industrienationen eine mysteriöse Leere erfahren. Etwas fehlt. Eine tiefe Sehnsucht bleibt unerfüllt. Es ist, als ob eine wesentliche Lebenserfahrung nicht (mehr) möglich ist. Nicht alle spüren das gleichermaßen. Aber es gibt Suchende.

An die Suchenden richtet sich dieses Buch. Ich möchte behaupten: Was dem Furchtlosen da abgeht, ist im Grunde nichts anderes als »eine Erfahrung des Lebendigseins«, wie der Mythenforscher Joseph Campbell sie beschreibt: eine Erfahrung, bei der »unsere Lebenserfahrungen auf der rein physischen Ebene in unserem Innersten nachschwingen«. Ich möchte das eine echte spirituelle Erfahrung nennen. Spiritualität kommt von »spiritus«, »Geist«. Eine geistliche Erfahrung berührt das Herz, um es mit einem Begriff aus der jüdisch-christlichen Tradition zu sagen, unseren innersten Wesenskern. Das Herz ist das Zentrum unserer Existenz. Kurzum: Viele Erfahrungen, die wir modernen Menschen machen, berühren unser Herz nicht wirklich. Wir versuchen vielleicht, uns mit künstlichen Abenteuern, gekauften Höhenflügen zu befriedigen. Aber das wirkt nicht nachhaltig.

Für viele Generationen vor uns war der christliche Glaube ein Schlüssel zu jener tiefen »Erfahrung des Lebendigseins«, der geistliche Schlüssel zu einem »Leben in Fülle« (Joh 10,10), von dem Jesus spricht. Was ist daraus geworden? Mindestens in Westeuropa steckt das Christentum in einer Krise. Es wirkt seltsam blutleer. Religion ist hier weitgehend reduziert auf theoretische Fragen und leere Rituale. Viel zu viel wird über den Schlüssel geredet. Es geht um die richtige Lehre über Gott, Jesus, den Heiligen Geist. Aber immer weniger Menschen verbinden mit diesen Worten überhaupt noch eine Erfahrung. Und ein Gott, der nicht erfahrbar ist, existiert auch nicht. Fast scheint in Vergessenheit zu geraten, wozu der Schlüssel da ist und in welches Schloss er passen könnte.

Viele wenden sich heute vom Christentum ab. Hinter vordergründiger Gleichgültigkeit sitzen vielfach schlechte Erfahrungen. Viele sind im Namen der Kirche und der Nächstenliebe schlecht behandelt worden, was auch immer das im Einzelnen heißt. Anderen ist Religion schlichtweg gleichgültig. Niemand vermochte offenbar je, ihnen überzeugend darzulegen, wofür Religion gut sein soll. Zu guter Letzt trägt heute ein Terrorismus im pseudo-religiösen Gewand beständig dazu bei, dass sie Religion per se für gefährlich halten. Dass viele vom Christentum nichts mehr erwarten, ist vor diesem Hintergrund nur zu verständlich.

Es gibt auch Menschen, die zwar spirituell auf der Suche sind, dabei aber einen großen Bogen um die christliche Tradition machen. Sie nehmen Zuflucht im Buddhismus, in indianischen oder anderen Traditionen oder auch Mischformen aus alledem. Sie müssen dabei ertragen (wenn sie das überhaupt interessiert), dass die offiziellen Vertreter der Kirchen entweder auf sie herabschauen oder aber versuchen, mit angepassten Angeboten ihr Interesse zu wecken. Da gibt es dann Zen-Meditation in christlichen Bildungshäusern. Oder schamanisch-indianische Retreats, bei denen abschließend noch ein Vaterunser gebetet wird. Um nicht missverstanden zu werden: Gegen die Freiheit, andere Traditionen kennenzulernen und sich inspirieren zu lassen, gibt es gar nichts einzuwenden. Allerdings bleiben auch diese Versuche künstlich und oberflächlich, wenn sie keine stimmige Verbindung zu den eigenen Wurzeln herzustellen vermögen.

Ich meine, es ist Zeit, sich die Religion der eigenen Väter und Mütter, Großväter und Großmütter (wieder) anzueignen. Umfassend. Die Aufforderung dazu kommt sogar von nichtchristlicher Seite. Der Dalai Lama etwa füllt in Deutschland Stadien und könnte sich doch freuen, dem Buddhismus so viele neue Anhänger zuzuführen. Er ruft stattdessen bei seinen Unterweisungen dazu auf, nicht zum Buddhismus zu wechseln, sondern zuerst die Erfüllung in der eigenen Religion zu suchen. Folgt man dem Dalai Lama, bedeutet Religionsfreiheit nicht nur, seine Religion frei zu wählen. Vielmehr geht es auch um die Freiheit, die eigene Religion an sich zu nehmen und – gleichsam von innen her – sich wieder zu eigen zu machen. Ähnliche Impulse kommen derzeit auch aus dem Vatikan. Papst Franziskus weist in seinem Apostolischen Schreiben »Evangelii gaudium« auf den »Spürsinn« der Gläubigen hin (EG 31). Dem sind die Bischöfe aufgefordert zu folgen wie Hirten, die der Herde nachziehen, weil die am besten weiß, wo die saftigsten Weidegründe liegen. Das brächte allerdings eine Umkehrung der gewohnten Verhältnisse: Im Mittelpunkt stünde dann das Leben der Gläubigen und nicht mehr die Institution Kirche, auf die alles ausgerichtet ist und um die sich alles dreht.

Es ist Zeit, das Christentum wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Es ist Zeit, das heilige Feuer wieder zu entfachen. Und dieses Buch will einen Beitrag leisten zum Aufrühren der Glut. Es ist eine Einladung, die alten Schuhe und Schutzhäute abzustreifen und den »Spürsinn«, von dem der Papst spricht, zu wecken. Wer »barfuß« geht, spürt den Weg unter den Fußsohlen und verlagert seine Aufmerksamkeit ganz von selbst praktisch vom Kopf in die Füße. »Barfuß« steht symbolisch für eine Haltung, die sich unmittelbar berühren und einbeziehen lässt und nicht in der Rolle des Zuschauers bleibt. Es bedeutet, Sicherheiten und Vorstellungen beiseitezulegen und bereit zu sein für den »heiligen Boden« (Ex 3,5), auf dem eine Begegnung mit dem Göttlichen ihren Ort finden kann.

Am Ende ist es im Märchen ein Eimer Wasser mit Fischen, der den Furchtlosen aufwachen lässt. Das »Erwachen« ist ein uraltes Symbol der Mystik. Wasser und Fische? Nichts weiter? Genau das ist vielleicht die Wahrheit, die das Märchen zeigt: Lebendigsein ist nicht unbedingt eine außerordentliche, übernatürliche Erfahrung. Lebendigsein bringt uns in Kontakt mit der Gegenwart. Mit dem Jetzt und Hier. Und umgekehrt: Der unmittelbare Kontakt mit der Gegenwart, dem Hier und Jetzt, lässt uns unser Lebendigsein spüren.

Das Wasser im Märchen symbolisiert das Unbewusste und Wilde. Wenn man so will, stehen die Fische für unsere Bedürfnisse, Wünsche und Triebe, die in unserem Inneren schlummern und von dort aufsteigen. Der Eimer Wasser und die zappelnden Fische ziehen den Furchtlosen mit einem Ruck in die Gegenwart. Man könnte in dem Motiv das Symbol einer sexuellen Erfahrung sehen. Ich möchte das weiter fassen: Es ist, als hätte der Furchtlose sich vorher »nicht gespürt«, wie wir heute sagen. Das heißt, Lebendigsein ist dann erfahrbar, wenn alle Dimensionen unseres Menschseins verbunden sind.

Dieses Buch ist eine Einladung, dem wilden Gott zu begegnen und die eigene »Wildheit« wiederzuentdecken: Verbundensein mit dem Kosmos, Eingebundensein in die Gemeinschaft der Geschöpfe und die Erfahrung von Lebendigsein. Ich gliedere es in drei Teile und folge dabei dem, was alle Christen weltweit eint: der Dynamik der Trinität. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind aufeinander bezogen, und das sagt nichts anderes als: Gott selbst ist Gemeinschaft. »Am Anfang steht nicht die Einsamkeit des Einen, eines ewigen, einzigen, unendlichen Seins. Am Anfang ist die Gemeinschaft der drei Einzigen«, sagt Leonardo Boff (Boff 1990: 21).

Diese Gemeinschaft ist eine universale Wirklichkeit. Das Glaubensbekenntnis bringt das Prozesshafte der Schöpfung und auch des spirituellen Weges des Einzelnen zum Ausdruck. Die Schöpfung ist kein abgeschlossener Vorgang, aus dem sich Gott zurückgezogen hat, um nun als ferner Weltenlenker unserem Treiben zuzuschauen. Wir sind eingeladen, an diesem Prozess und dieser universalen Gemeinschaft teilzunehmen. Vielleicht gelingt es, diesen Prozess im Verlauf des Buches sichtbar und begreifbar zu machen und damit auch den Kern christlicher Überlieferung aus dem Schattendasein theologischer Diskurse ans Licht zu holen.

Dazu kommen Vorschläge für die konkrete spirituelle Praxis. Es sind Übungen und Rituale, die einen Raum öffnen für das Wichtigste: die eigene Erfahrung. Die Initiation in die eigene Spiritualität ist nämlich nicht zuerst eine Orthodoxie, sondern eine Orthopraxie: sich wieder verbinden mit der Kraft des Ursprungs. Im Fluss des Seins den eigenen Standort bestimmen. Versöhnt mit der Wirklichkeit den nächsten Schritt gehen. Dafür lohnt es sich, die Schuhe auszuziehen (vgl. Ex 3,51).

Am 4. Oktober 2017, dem Fest des hl. Franziskus

Jan Frerichs

Barfuß zur Quelle

Über die Erdesollst du barfuß gehen.Zieh die Schuhe aus,Schuhe machen dich blind.Du kannst doch den Wegmit deinen Zehen sehen,das Wasser,den Wind.Martin Auer

Es gibt eine ungezähmte und wilde Seite des Christentums mit einer lebendigen, ursprünglichen Spiritualität, die nichts ausklammert. Es ist dies ein kräftiger Strom, der allerdings in weiten Teilen der Geschichte unterirdisch verläuft und manchmal schwer zu entdecken ist. Dann und wann aber gelangt er ins Freie. Dann wird er – manchmal nur für einen Augenblick – sichtbar und kann seine ganze, mitreißende Kraft entfalten.

In unserer Zeit ist es notwendig, neu auf die Suche zu gehen nach diesem lebendigen Wasser, wie die folgende Geschichte illustriert. Sie gehörte – so heißt es – zu den Lieblingsgeschichten von C. G. Jung. Aus einer Quelle sprudelte anfangs das reine Wasser des Lebens. Seine Klarheit und Kraft lockte Menschen von überall her, um sich an ihm zu erfreuen und zu nähren. Einige begannen aber damit, einen Brunnen zu bauen und um den Brunnen herum einen Zaun. So konnten sie den Zugang zur Quelle kontrollieren und Eintritt verlangen. Sie ernannten sich zu Besitzern des Brunnengrundstücks und stellten Regeln auf, wer würdig sei, den heiligen Bezirk zu betreten und wer nicht. Es dauerte nicht lange, und das ganze Brunnenheiligtum war im Besitz der mächtigen Elite des Landes. Das Wasser indes spielte da nicht mit. Die Quelle versiegte und begann an einem anderen Ort zu sprudeln, ohne dass es die selbsternannten Besitzer überhaupt merkten. Sie waren so beschäftigt mit ihren Hierarchien und Vorschriften. Die hochkomplexen Lehren über das Wasser des Lebens, seinen Ursprung und seine Wirkung waren ihnen offenbar wichtiger geworden als das Wasser selbst. Sie verkauften weiter den Zugang zur Quelle, die gar kein Wasser mehr hervorbrachte. Erstaunlich, dass nur wenige das merkten. Es gab allerdings einige Unzufriedene, die sich mutig auf die Suche nach der neuen Quelle machten (vgl. Müller 2015: 9).

Dieses Buch zeichnet eine Landkarte, die es ermöglicht, das lebendige Wasser aufzuspüren. Wir sind nicht die Ersten, die dieses Abenteuer auf sich nehmen. Jede Generation hat ihre Suchenden. Der große Schatz ihrer Erfahrungen kann uns bei unserer Suche helfen. Ich möchte eingangs einige Wegweiser vorstellen, die ich teils für unverzichtbar, teils für bemerkenswert halte: die Natur, die Heilige Schrift, die franziskanische Tradition, die Mystik und schließlich Kontemplation und Aktion.

Der erste Wegweiser: die Natur

Das, was unbestreitbar uns alle verbindet, ist die Natur, in der wir leben. »Das ganze materielle Universum ist ein Ausdruck der Liebe Gottes, seiner grenzenlosen Zärtlichkeit uns gegenüber«, schreibt Papst Franziskus in seiner Öko-Enzyklika »Laudato si’«. »Der Erdboden, das Wasser, die Berge – alles ist eine Liebkosung Gottes« (LS 84). Diese Worte knüpfen an die biblische Schöpfungserzählung an, in der es heißt, alles Geschaffene sei »sehr gut« (Gen 1,31). Und dennoch sind sie in mehrerlei Hinsicht eine Provokation. Die Natur ist ja auch bedrohlich und stellt eine Herausforderung dar. Nicht wenige würden wahrscheinlich behaupten, wir Menschen hätten viele unserer Errungenschaften geradezu gegen die Natur erkämpft. Unser Überleben und unseren Wohlstand haben wir ihr abgetrotzt. Allerdings bleiben wir ein Teil der Natur, und es stellt sich die Frage, wie wir uns selbst verstehen und welche Rolle wir spielen wollen.

Die Unterscheidung zwischen uns hier und der Natur dort ist an sich schon Ausdruck einer Entfremdung. Die Worte des Papstes sind auch eine Anklage angesichts der unermesslichen Naturzerstörung, die wir Menschen verursachen. Wir weisen die göttliche »Zärtlichkeit uns gegenüber« zurück. Abgesehen von dem Leid, das Menschen einander zufügen, sind die Folgen für die nichtmenschlichen Lebewesen gravierend: »Jedes Jahr verschwinden Tausende Pflanzen- und Tierarten, die wir nicht mehr kennen können, die unsere Kinder nicht mehr sehen können, verloren für immer. Die weitaus größte Mehrheit stirbt aus Gründen aus, die mit irgendeinem menschlichen Tun zusammenhängen. Unseretwegen können bereits Tausende Arten nicht mehr mit ihrer Existenz Gott verherrlichen noch uns ihre Botschaft vermitteln. Dazu haben wir kein Recht«, so der Papst (LS 33).

Für Christen – daran erinnert Franziskus in seinem Schreiben – ist die Natur ein Ort der Offenbarung Gottes. Sprich: Wenn ich Gott erfahren will, dann kann ich das nur in seiner Schöpfung. Die gesamte Natur ist »der Ort seiner Gegenwart« (LS 88), zitiert der Papst die brasilianischen Bischöfe. Dieses Bewusstsein ist in der westlichen Tradition des Christentums in den vergangenen Jahrhunderten verlorengegangen oder mindestens stark eingetrübt.

Die Trennung zwischen Mensch und Natur ist aber nicht nur ein abstraktes Phänomen unserer Kulturgeschichte. Diese Trennung bestimmt unsere Weltanschauung bis in die Alltagsvollzüge. So wie wir als moderne westliche Menschen die Natur kontrollieren, so kontrollieren wir auch den »wilden« Teil unseres Daseins. So trennen wir auch zwischen heilig und profan, zwischen dem nach oben orientierten »reinen« Geist und der nach unten ziehenden, »geistlosen« Erde. In die Natur zu gehen, heißt Körper und Geist verbunden und als Einheit wahrzunehmen. Indem wir uns bewusst der äußeren Wildnis aussetzen, geben wir auch der wilden Seite unseres Daseins wieder Raum. Unsere Sinne sind dann keine Anhängsel eines abstrakten Geistes mehr. Sie nehmen die umgebende Welt wahr. Wind streicht über die Haut. Luft schmeckt. Farben leuchten. Wir sind ein Teil des Kreislaufs, wenn wir atmen und den Sauerstoff inhalieren, den die Pflanzen abgeben. Wasser fließt durch unseren Körper und zurück in die Erde.

Wir sind ein Teil der Natur. Die Natur ist daher nicht nur ein Gegenüber, das wir als Zuschauer betrachten, analysieren und bewerten. Für unsere Vorfahren in archaischen Kulturen war die Natur nie eine Kulisse, sondern durch und durch beseelt und ein Spiegel des eigenen Daseins. Der Mensch ist ein Teil der kosmischen Zyklen, aber nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Auch der Mensch durchwandert auf dem Lebensweg die Jahreszeiten.

Seit einigen Jahrzehnten wächst dieses Bewusstsein wieder im Westen. Diese Entwicklung geht einher mit der tiefenökologischen Bewegung, die angesichts der Umweltprobleme nach umfassenden wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und spirituellen Ansätzen und Lösungen sucht. Wenn der Mensch ein Teil des Ganzen ist, dann ist die ihn umgebende Natur genau genommen nicht die Umwelt, sondern die Mitwelt. Die christliche Tradition ist für viele dabei ein Teil des Problems und weniger der Lösung: »Es waren Europäer, die sich zum Christentum bekannten, die die halbe Welt eroberten und dabei oftmals riesige Wälder und Ökosysteme ebenso zerstörten wie sie die kolonisierten Völker ausbeuteten« (Boff / Hathaway 2016: 343). Wahrscheinlich kommen die Impulse zur sozialen und ökologischen Neuorientierung christlicher Theologie genau deshalb nicht aus Europa, sondern aus Asien, Afrika und Lateinamerika. Dort entstanden Theologien »der Befreiung« oder »des Volkes«, die längst nicht mehr nur die sozialen Probleme in den Blick nehmen. Papst Franziskus spricht von einer »ganzheitlichen Ökologie«, die notwendig sei, um »die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde« (LS 49). Zur »Option für die Armen« gehört die »Option für die Erde« und umgekehrt.

Nun geht es um die Frage, wie eine »ökologische Spiritualität« aussehen kann, das heißt, nicht nur »über Gott im Kosmos nachzudenken, sondern Gott in allen Dingen zu erfahren« (Boff / Hathaway 2016: 367). Außerhalb der christlichen Tradition gibt es dazu Ansätze: Eine ökologische Spiritualität begegnet in verschiedenen Formen initiatorischer Prozessarbeit in der Natur und vor allem im modernen Ritual der Visionssuche oder Vision Quest, das an indigene Traditionen anknüpft und sie für unsere Zeit zugänglich macht.

Es ist eine Herausforderung für Christen, eine ökologische Spiritualität zu entwickeln und die Natur als einen spirituellen Ort zu entdecken. »Wieder« zu entdecken, müsste es genau heißen, denn eine christliche Schöpfungsspiritualität hat es immer gegeben. Die Natur ist ein »kostbares Buch« (LS 85), erklärt Papst Franziskus. Und noch mehr: Die Natur ist als Ort der Gottesoffenbarung die erste Bibel. Der Blick in die jüdisch-christliche Geschichte bestätigt das. Immer haben sich Menschen in die Natur begeben, um in diesem Buch zu lesen und allem auf den Grund zu gehen. Mose gehört dazu, der in der Wüste in einem brennenden Dornbusch Gott begegnete (Ex 3). Jesus »lebte bei den wilden Tieren« (Mk 1,13), bevor er öffentlich zu predigen begann. Auch später zog er sich immer wieder an »einsame Orte« zurück (Mk 1,35 ff) und er predigte oft in Naturgleichnissen (Lk 12,24 ff). Da sind die Wüstenväter, die das Mönchtum begründen. Und dann Franz von Assisi. Der sprach mit Tieren, Pflanzen, Steinen und mit dem Feuer. Er erfasste »mit dem scharfen Blick seines Herzens die Geheimnisse der Geschöpfe« (1 Cel 81), heißt es über ihn.

Der zweite Wegweiser: die Heilige Schrift

Wer die Natur als erste Bibel wahrnimmt, blickt auch anders auf die zweite Bibel, in der wir die »eigentliche, in der Heiligen Schrift enthaltenen Offenbarung« (LS 85) finden. Mit der Heiligen Schrift geht es uns aber in unserer westlichen Weltsicht ganz ähnlich wie mit der Natur. So wie wir als Zuschauer die Natur nur wie ein Gegenüber betrachten und behandeln, gehen wir meist auch mit der Heiligen Schrift um. Dann haben die Worte, Geschichten und Bilder, die sie enthält, nicht mehr unmittelbar mit uns zu tun. Wir können ihre Geschichten analysieren und interpretieren, so wie die moderne Biologie die Natur katalogisiert und in ihre molekularen Einzelteile zerlegt. Wenn es nur dabei bleibt, ist es ein einseitiger Zugang.

Wenn wir das Wort Gottes hören und aufnehmen, sind wir in Wahrheit selbst ein Teil der Heiligen Schrift, so wie wir auch ein Teil der Natur sind. Dieser Gedanke klingt schon im Alten Testament an: »Denn wie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht dorthin zurückkehrt, sondern die Erde tränkt und sie zum Keimen und Sprossen bringt, wie er dem Sämann Samen gibt und Brot zum Essen, so ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will, und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe« (Jes 55,10–11). Das Wort Gottes ist für den Propheten Jesaja keine statische Größe. Es stößt Wachstums- und Entwicklungsprozesse an, wie wir sie in der Natur erleben. Unser individuelles Leben ist in jedem Fall ein Teil davon. Alles entwickelt sich. Nichts ist gänzlich vorherbestimmt. Die Schöpfung liegt in »Geburtswehen«, wie es Paulus formuliert (Röm 8,22).

In biblischer Sprache ausgedrückt: Wir alle sind Söhne und Töchter Gottes, und zwar nicht erst in einem fernen Jenseits, wenn wir diese Welt »überwunden« haben. Gerade weil wir Geschöpfe dieser Erde sind, gehören wir zu Gott. Das hebräische Wort für Mensch, adam, ist eine Ableitung von dem Wort für Erde, adamah. Der erste Mensch – so erzählt es demnach die Bibel – ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Erdling. Christen dürften mit diesem Gedanken eigentlich keine Schwierigkeiten haben. Sie verehren in Jesus Christus schließlich einen Gott, der Mensch geworden ist. Umso mehr erstaunt es, dass das Christentum in weiten Teilen seiner Geschichte – und gerade in den vergangenen Jahrhunderten – vielfach so weltabgewandt und geradezu allergisch gegen das irdische Hier und Jetzt erscheint.

Die Menschwerdung Gottes ist die Heiligung unseres Menschseins. Ein großes Missverständnis liegt darin, immer noch einen Unterschied zwischen »heilig« und »profan« anzunehmen. In der Aschermittwochs-Liturgie heißt es: »Bedenke, Mensch, dass du Staub bist.« Das erinnert an die Vergänglichkeit unserer Existenz, die eine schlichte Tatsache ist. Wir sterben und »kehren zurück zum Staub« (Ps 90,3). Der Staub steht symbolisch stellvertretend für die Materie, die wir biologisch sind. Es wäre aber ein Irrtum, dieses Symbol negativ zu deuten. So als sei die Materie wertlos und als müssten wir diesen Zustand überwinden, um das zu erreichen, was dann als heilig oder gar göttlich bezeichnet werden könnte.

Leider hat diese »Spiritualität von oben« mit ihrer tendenziell negativen Bewertung alles Materiellen viele Generationen geprägt. Inkarnation, Fleischwerdung heißt aber: Gott selbst hat unser vergängliches Dasein ganz materiell geteilt. Und eben nicht, um uns hier »rauszuholen«, sondern um uns die Augen zu öffnen und uns mitzuteilen, dass es keinen anderen Ort des Heils gibt als hier und jetzt. Vielleicht würde das deutlicher, wenn es am Aschermittwoch einmal hieße: »Bedenke, Staub, dass du Mensch bist!« Die Botschaft lautet: Du musst dich nicht anstrengen, wie Gott zu werden, denn Gott hat sich angestrengt, so zu werden wie du.

Wir schreiben das Wort Gottes fort mit unserer eigenen Geschichte. Die Bibel ist also nicht einfach ein für alle Mal erzählt, sondern öffnet die Tür für eine tiefere Wahrheit. Diese Wahrheit lässt sich nicht reduzieren auf ein paar abstrakte Lehraussagen. Die Bibel besteht aus gutem Grund aus Geschichten. Die Wahrheit zeigt sich zwischen den Zeilen. Die Bibel ist – wenn man so will – die Essenz der zu Geschichten geronnenen Erfahrung unserer Vorfahren. Geschichten, in denen sich immer auch ein Teil unserer eigenen Geschichte spiegelt. Die Heilige Schrift ist folglich – ebenso wie die Natur – ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können.

Der Gedanke der Fortschreibung des Wortes Gottes ist im Grunde der Kern dessen, was in der katholischen Kirche unter Tradition verstanden wird. Die Kirche, so stellt das Zweite Vatikanische Konzil fest, schöpft »ihre Gewissheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein« (DV 9), sondern auch aus der »Heiligen Überlieferung«, also der nachbiblischen Tradition. Die Heiligenverehrung in der katholischen Tradition ist eine Ausdrucksform dieser Fortschreibung, allerdings sehr anfällig für Missverständnisse. Mit Recht haben Martin Luther und andere Reformatoren Fehlformen der Heiligenverehrung kritisiert. Allerdings mit der Begründung, nur Gott dürfe angebetet werden, womit sie das eigentliche Problem nur verschoben haben. Es geht überhaupt nicht um die Frage der »richtigen« Verehrung. Es geht darum, selbst heilig zu sein – heilig im Sinne von »heil sein«, sprich: Die Heiligen sollen uns ermutigen, unser ganzes Potenzial zu entfalten. Daran sollen ihre Geschichten erinnern. Leider gerät immer wieder in Vergessenheit, dass die Fortschreibung der Tradition die Sache aller Getauften ist und nicht die eines exklusiven Zirkels von Experten und Auserwählten. Alle Getauften bilden »die Gemeinschaft der Heiligen«, wie es im Glaubensbekenntnis heißt.

Der dritte Wegweiser: franziskanische Tradition

Einer der bekanntesten Heiligen der katholischen Kirche ist Franz von Assisi. Er verkörpert geradezu die Vorstellung einer Spiritualität der Schöpfung, die in den vergangenen Jahrzehnten angesichts der Industrialisierung und Umweltzerstörung wieder stärker ins Bewusstsein getreten ist. Papst Johannes Paul II. erklärte Franziskus 1979 zum Patron des Umweltschutzes und der Ökologie. 2013 nahm erstmals ein Papst den Namen dieses Heiligen an und verfolgt seitdem beharrlich sein Programm eines Umbaus der römisch-katholischen Kirche zu einer »armen Kirche für die Armen« (EG 198).

Franz von Assisi sticht deshalb heraus, weil er – sowohl innerkirchlich als auch außerhalb – überaus großes Ansehen genießt. Er wurde schon früh von seinen Anhängern als »zweiter Christus« verehrt (Feld 2001: 63). Aber er hat auch Nichtkatholiken inspiriert. Unter anderem Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie. Der hält Franz von Assisi für eine Wiedergeburt des Gautama Buddha. Für die ökologische Bewegung ist Franziskus ebenfalls eine Symbolfigur geworden. Leonardo Boff beschreibt ihn als »westlichen Archetyp des ökologischen Menschen« (Boff 1994: 57 ff).

Franz von Assisi ist der spirituelle Lehrer für unsere Zeit, wenn wir ihn richtig verstehen und seine unbequeme, ja geradezu »wilde« Seite nicht ausblenden. Er gehört zu den Figuren, die vielleicht das Zeug zum Religionsstifter gehabt hätten, aber auch kaum ein Heiliger wurde so verzerrt dargestellt wie er. Das verbreitete Bild von einem naiven Romantiker, der in Armut lebt, mit Tieren und Pflanzen spricht und Sonne, Mond und Sterne besingt, hat nichts mit dem radikalen Mystiker zu tun, der er war. Seine Verkitschung hilft vielleicht, sich die unbequemen und herausfordernden Seiten dieses Heiligen vom Leib zu halten. Kaum ein Heiliger war so radikal wie er, und dennoch hatte kaum einer einen so schnellen Heiligsprechungsprozess wie Franz von Assisi. Die Heiligsprechung in Rekordzeit war auch eine Reaktion auf die große Verehrung des Heiligen im Volk und zudem ein Versuch, diese Verehrung in amtskirchlich geordnete Bahnen zu lenken.