Baronica: Eine Welt aus Stahl und Glas - Jon Barnis - E-Book

Baronica: Eine Welt aus Stahl und Glas E-Book

Jon Barnis

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Beschreibung

Nachdem die Letzte Wacht bezwungen ist, trennt die Abenteurer nur noch die Kornkoppen von ihrem Ziel. Ein ehemals fruchtbares, inzwischen brach liegendes Land. Doch verlassen ist es keineswegs. Moderne Maschinen durchstreifen das Gebiet. Unter der Herrschaft des Alchemisten Hakkenbeisser und seiner Trand entsteht hier ein Ring aus Stahl um die vernebelte Hauptstadt. Zu allem Übel macht auch noch der wiedererweckte Baron die Kornkoppen unsicher und bekommt dabei unverhoffte Unterstützung. Auf welcher Seite er steht, weiß niemand. Samuel und seine Gefährten müssen sich erneut einen Pfad durch gefährliches Gelände bahnen ...

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

11/2021

 

Baronica – Eine Welt aus Stahl und Glas

 

© by Jon Barnis

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2021 by Jon Barnis

Lektorat: Rudolf Strohmeyer

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto: privat

 

 

Coverbild › Das Geheimnis von Talmi‘il‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

Artwork © by Mika Jänisen

Coverbild › Inepu – Die Herren des Schakals‹

© 2020 by Creativ Work Design, Homburg

 

 

 

ISBN 978-3-96741-120-1

 

 

 

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

Printed in Germany

 

 

Jon Barnis

 

Baronica

-

Eine Welt aus Stahl und Glas

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fantasy

 

Vorwort von Jon Barnis

Was bisher geschah

42

Land aus Stahl

43

Die Garnison des Westens

44

Eine Tür ohne Tür

Anmerkung des obersten Lektors Juis

45

Also doch ein Fluchtweg

46

Gestatten, Dreizehn

47

Durrhams höchst sonderbarer Wald

48

Alte Kellerfreunde

49

Lindgram Federkiel

50

Zurück in Durrhams höchst sonderbarem Wald

51

Das geschmacklose Jagdhaus des Richters

52

Eine Nacht mit dem Mechanic

Anmerkung des Obersten —

ach, vergessen Sie es.

53

Nach Lambeerdon mit Hindernissen

54

Durch Lambeerdon auf leisen Sohlen

55

Der Mann in Creme

56

Flucht durch die Stadt der Maschinen

57

Die geopferte Brücke

58

Im Dauerlauf zum Klauenberg

Anmerkung des obersten Lektors Juis

59

Die zwei Gesichter der Grendic

60

Alles, was man nicht über den Klauenberg wissen muss

61

Abstieg in die Glasgrotten

62

Welt aus Glas und Licht

63

Der verhasste Weltenspiegel

64

Die Felsenge

Anmerkung des Obersten Lektors Juis

65

Wahre Größe, mit Kristallen gespickt

Anmerkung des obersten Lektors Juis

66

Die Gruft der Corba

67

Das letzte Kokroto

Anmerkung des obersten Lektors Juis

68

Na wunderbar, wieder ein Tunnel!

69

Flammenglas, wer tauscht denn sowas?

70

Verdammtes Levitat!

71

Böse alte Steine

72

Aufstieg ins Niemandsland

73

Ver(w)irrt im Händlerring

74

Ein Blick auf den Stahlgürtel

Anmerkung des obersten Lektors Juis

75

Dauerlauf im Nebel

Anmerkung des obersten Lektors Juis

76

Von Brüdern und verschollenen Schwestern

77

Celias Reise

78

Das letzte Tor, und wir davor

79

Schlüssel und Schloss

80

Hinter dem Tor

Memoria des obersten Lektors Juis

DER AUTOR

Danksagung

Hybrid Verlag …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine liebe, geduldige Frau und meine beiden wunderbaren Kinder, die auf ihre Art mein Leben reicher, interessanter und farbenfroher machen.

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort von Jon Barnis

 

Als ich einst an Patrius’ Geschichte über die Vergessenen Lande gelangte, war mir sofort klar, dass sein Volk der Sanktoben Literatur anders konsumiert als wir Menschen. Sein Rats-Manuskript, inklusive der Kommentare des Obersten Lektors Juis, besitzt für ein gedrucktes Buch wirklich gigantische Ausmaße. Um das einmal anschaulich zu verdeutlichen: Wenn ich es aufgeschlagen auf dem Küchentisch liegen habe, ist der Küchentisch verschwunden. Dann breitet sich dort ein unglaublich mächtiger Wälzer vor mir aus, 742 Seiten dick, eng beschrieben und mit allerlei Anmerkungen versehen.

Die Erklärung dafür ist schnell gefunden, zumindest, wenn man sich mit den Sanktoben etwas näher befasst. Sie lesen nicht, um sich die Zeit zu vertreiben, oder weil ihnen langweilig ist. Sie lesen aus Leidenschaft, mit festen, fast heilig wirkenden Ritualen, eigenen Regeln und aus innigster Überzeugung heraus. Daher sucht man so etwas wie Taschenbücher auf Sanktus auch vergeblich. Ihrer Auffassung nach gehört es sich nicht, Bücher einfach überall mitzuschleppen, um ein, zwei Kapitel darin zu lesen und sie dann wieder zur Seite zu legen. Das wäre, als schauten wir einen monumentalen Film in kleinen, fünfzehnminütigen Schnipseln. Ein Unding, wenn man vorhat, ernsthaft der Handlung zu folgen.

Daher gehört zu jedem Sanktoben-Haushalt auch immer ein Lesezimmer, genauso selbstverständlich wie für uns die Küche oder das Bad. Niemand würde dort ein Haus bauen, ohne diesen besonderen Raum einzuplanen. Meist im Obergeschoss, mit riesigen Fenstern und ausladenden Fensterbänken, in denen es vor gemütlichen Sitzkissen nur so wimmelt. An den Wänden drängen sich wuchtige Schränke aneinander, um die dicken Wälzer zu verstauen. In der Mitte des Raumes steht immer ein Lesepult, idealerweise mindestens so groß wie mein Küchentisch, und davor ein bequemer Sessel. Natürlich sind auch noch andere Sitzgelegenheiten darin verteilt, denn die Kunst des Vorlesens hat hier eine bedeutsame, tief emotionale Tradition. So gesellt sich die Familie abends im Kreis um die Vorleserin — tatsächlich gebührt diese Ehre nur den weiblichen Sanktoben — und lauscht gespannt ihren Geschichten. Langen Geschichten, sehr langen Geschichten. Wie die der alten Baronica.

Würde man dieses Werk in einem Buch unserer Größenordnung veröffentlichen, hätte es locker an die zweitausend Seiten. Das druckt mir natürlich kein Verlag, ganz zu schweigen davon, dass ein so mächtiger Schinken selbst als Taschenbuch eher einem Backstein ähnelt und genauso schwer ist. Mal schnell im Zug zur Arbeit ein Kapitel lesen, wird so zu einem Akt größter, körperlicher Anstrengung. Daher blieb mir nur, die Baronica in drei mehr oder weniger handliche Happen zu zerteilen, von denen Sie nun den zweiten vor sich liegen haben. Daraus ergibt sich einerseits, dass die Fortsetzung gegen jede Regel mit Kapitel 42 beginnt, da der erste Band mit dem 41. endete. Außerdem schrieb Patrius natürlich weder einen Prolog zu diesem Buch, noch eine Zusammenfassung der vergangenen Ereignisse. Zumindest Letzteres halte ich für wichtig, so dass nun hier ein kleines »Was bisher geschah« folgt, bevor die Geschichte des ersten Buches nahtlos fortgesetzt wird. Selbstverständlich sind auch wieder die Anmerkungen des obersten Lektors Juis enthalten, nebst einer persönlichen handschriftlichen Notiz, welche die Sanktoben Memoria nennen. Sicherlich sollte diese nie an die Öffentlichkeit gelangen, was es für mich noch reizvoller macht, sie dennoch in das Buch aufzunehmen.

Sollten Ihnen die Geschehnisse dieses Bandes noch taufrisch im Gedächtnis sein, können Sie das folgende Kapitel natürlich bedenkenlos überspringen. In ihm gibt es kein Fünkchen Neues zu lesen, nur alte, aufgewärmte Geschichten, für vergessliche Zeitgenossen tunlichst kompakt zusammengestaucht. Falls sie Baronica — Aufbruch zur Letzten Wacht allerdings noch gar nicht gelesen haben, wie immer das auch möglich sein soll, dann tun Sie es lieber vorher. Ja, natürlich genügt die Kurzzusammenfassung, um der Handlung des zweiten Teils folgen zu können. Aber warum am kargen Haferkeks knabbern, wenn man doch die Sahnetorte mit Kirsche obendrauf bekommen kann?

 

Was bisher geschah

 

Alles fing damit an, dass der Sanktobe Patrius einen jungen Mann namens Samuel beobachtete, der mitten in der Wilden Ebene auf einem Hügel herumlungerte. Das wäre an sich noch nicht dramatisch, allerdings gilt dieser Landstrich als der gefährlichste in der gesamten, neunten Welt.

Nur wenig später kam eine berittene Kämpferin des Weges und blieb entsetzt an des Mannes Hügel stehen. Die berühmte Lady Yock höchstpersönlich, und äußerst besorgt ob Samuels Leichtsinnigkeit. Es stellte sich heraus, dass dieser ein mächtiges Artefakt besaß, StoAx genannt, welches ihm vor allem Lebendigem Schutz gewährte. Den konnten sie auch brauchen, denn schon wenig später fiel eine Horde Grinks über unsere Protagonisten her, die aber kläglich am StoAx scheiterte. Samuel überredete die Lady, unter Zuhilfenahme einiger silberner Münzen, ihn ins Herz der Wilden Ebene zu begleiten. Genauer gesagt, in die sagenumwobene Stadt Baronica. Von dort aus regierte vor vierhundert Jahren der berüchtigte Schmale Baron das riesige Reich, welches nach seinem Sturz nur noch als Vergessene Lande bekannt ist.

So übernachteten sie auf dem Hügel und brachen im Morgengrauen erst einmal zum Kirchberg auf, dem einzigen, sicheren Flecken in diesem Gebiet, um dort mit Goldrahm Lepperding zusammenzutreffen. Ein berühmter und gleichsam berüchtigter Alchemist, den alle nur Golepp nannten, vermutlich um Zeit zu sparen. Darüber hinaus verfügte er über das Wissen, um die Tore zur sogenannten Letzten Wacht zu öffnen. Diese wiederum kann man als äußersten Verteidigungsring bezeichnen, der die Baronica damals vor Feinden und Aufständischen beschützen sollte. Wie wir heute wissen, gelang aber beides nicht.

Nach einer kurzen Aufwärmphase vertrugen sich die Lady und der Alchemist sogar sehr gut, was die weitere Reise deutlich erleichtern sollte. Des Nachts führte Patrius eine aufschlussreiche Unterhaltung mit Onni, dem Hund der Taverne zum Silberschuh, welche sich auf dem Kirchberg befindet. Zudem begegnete er einer Verlorenen Seele, die seit ihrem Tod dort ruhelos wandelte. Als diese noch einen Körper besessen hatte, hörte sie auf den Namen Theim Timbel. Zufällig genau jener Theim Timbel, der durch die Ermordung seines Vaters den umliegenden Ort Bokkbergen in den Untergang getrieben hatte.

Am nächsten Morgen ging es endlich los. Nachdem sie im alten Keller der Taverne noch einige nützliche Hinweise fanden, brachen sie in Richtung Süden auf, um dem Gewundenen Pfad zu folgen. An den ehemaligen Stadtgrenzen Bokkbergens trafen sie nur wenig später auf zwei versteinerte, wiedererweckte Brüder. Natürlich ließen diese es sich nicht nehmen, ihre Legende zum Besten zu geben. Die wahre Geschichte der Brüder vom Graben soll hier jedoch unerwähnt bleiben, damit der Begriff Zusammenfassung nicht seinen Sinn verliert.

Der weitere Weg nach Süden führte die Drei an einem sehr dunklen Wald vorbei, in dem Skuggen hausten. Niemand verspürte das Verlangen, diesen zu betreten, allerdings interessierte das die Biester reichlich wenig. Sie entführten die Lady und Golepp kurzerhand, sodass Patrius sich zusammen mit dem Pferd Gemschen und Samuel auf die Suche nach ihnen machen musste. Um wilden Wortschöpfungen vorzubeugen, es wird Gems-chen ausgesprochen, als Verniedlichung seines alten Namens Gemos. Sie stießen recht bald auf einen Turm, mitten im Skuggenwald, in dem einst der mächtige Alchemist Julius Hakkenbeisser hauste. Kein netter Zeitgenosse, wie sich später herausstellen sollte, doch galt er schon lange Zeit für tot. In den alten Gemäuern lebte an seiner Statt eine junge Dame namens Evlin, die er vor Jahren entführt hatte, um — ja, warum eigentlich? Nun, das ist bisher noch nicht geklärt. Nachdem sie die lästigen Skuggen mittels Feuer in leblose Asche verwandelt hatten, und gleich den ganzen Skuggenwald ringsherum ebenfalls, bat Evlin darum, sich ihnen anschließen zu dürfen. Ehrlich gesagt, sie erpresste die Reisenden, aber in ihrem Fall heiligte wohl der Zweck die Mittel.

Hakkenbeisser, ein früherer Weggefährte des Barons, war angeblich noch quicklebendig und vor vielen Jahren zur Baronica gereist. Nicht, ohne der jungen Frau vorher einen Teil ihrer Seele zu entreißen, um sie gefügig und auf ewig am Leben zu halten. Den wollte sie sich nun, mit Hilfe der neuen Gefährten, von ihrem Peiniger zurückholen. Ich sag ja, kein netter Zeitgenosse. Also schloss sie sich der Expedition an, schließlich war Samuel für sein weiches Herz bekannt. Aber auch für seinen taktischen Scharfsinn, denn er erkannte schnell, dass die junge Frau ihnen auf der weiteren Reise noch sehr nützlich werden könnte.

Am nächsten Morgen machten sie sich wieder auf den Weg, immer der Beschreibung folgend, die ein Unbekannter in Gedichtform am Kirchberg hinterlassen hatte. Diese führte die Reisenden zum Weißen Tal, einem langgezogenen, tiefen Einschnitt in der Landschaft, welcher von unglaublich vielen, winzigen, weißen Gettel-Käfern besiedelt und bedeckt wurde. Sie bildeten eine Art Schwarm-Intelligenz und besaßen die Fähigkeit, Illusionen zu erzeugen. Wovon sie auch ausgiebig Gebrauch machten. Hauptsächlich, um an die Knochen jener Elenden zu gelangen, die sich davon täuschen ließen. Letzten Endes kam den Reisenden eine große Katze zur Rettung, welche die Gruppe schon seit einiger Zeit aus sicherer Entfernung beäugte und begleitete. Ohne sie wäre Samuel wohl zerfleischt worden, und dieses Buch würde gar nicht existieren.

Danach führte sie ihr Weg durch einen sehr langen, unterirdischen Tunnel, da niemand den Wunsch verspürte, weiterhin den heimtückischen Illusionen der Käfer ausgeliefert zu sein. Natürlich durchschreitet man so alte Höhlensysteme nicht einfach ungestört und kommt dann quietschvergnügt am anderen Ende wieder heraus. Nein, hier waren es die unvorsichtigen Schritte der Lady, welche sie in eine missliche Lage brachten. Ein Teil des Tunnels hatte die Zeit nicht gut überstanden. So verschlug es die tapfere Kämpferin auf den Grund eines riesigen Hohlraums. Dieser Sturz hätte normalen Menschen mindestens ein Leben gekostet, doch sie genoss das zweifelhafte Glück, direkt auf einem Staubriesen zu landen. Ach, was für eine schöne, dramatische und anrührende Geschichte, auch wenn sie dabei fast von Grinks ausgesaugt worden wäre. Letztendlich rettete der Riese aber ihr Leben, indem er sein eigenes opferte. Ein Erlebnis, das die Lady für den Rest ihres irdischen Daseins prägen würde.

Als sie dann endlich wieder ans Tageslicht kamen, kurz hinter dem Weißen Tal, offenbarte sich ihnen ein Bild, das komplett fehl am Platz schien. Ein kleiner See, der wiederum direkt neben einem hübschen Anwesen lag. Allerdings hätte dieses Anwesen längst verlassen und verfallen sein müssen, doch es stellte sich heraus, dass beides nicht der Fall war und dort sogar eine rüstige Haushälterin lebte. Sie beteuerte eifrig, dass weder sie noch das Haus an diesem Ort existieren dürften. Ihren Angaben zufolge wurde die ganze Gegend um den See herum »aus der Vergangenheit geholt«. Wobei man es offenbar nur auf den Herrn des Anwesens abgesehen hatte, einem Trafael Vetter, seines Zeichens größter Minenbetreiber der alten Baronic.

Die Frau ließ man einfach zurück, was wiederum gut für die Besucher war, da diese so ihr Wissen weitergeben konnte. Sie bot ihnen sogar einen Platz zur Nachtruhe, was die Reisenden dankbar annahmen. Als es dunkel wurde, schlichen zwei Gestalten am Haus vorbei, die ein paar Verlorene Seelen im Schlepptau hatten. Anscheinend wollten sie ebenfalls nach Süden, doch durch einen Trick konnte Patrius sie daran hindern und die hilflosen Geschöpfe befreien. Darunter auch jene aus Bokkbergen, wahrlich eine traurige, unglückselige Gestalt. Es war nun an der Haushälterin, die beiden Seelenfänger in Schach zu halten, da die Gruppe ihren Weg am nächsten Tag fortsetzen musste.

So gingen unsere Protagonisten am Morgen weiter, nach einer ausgiebigen Verabschiedung versteht sich, nur, um wenig später erneut von Grinks belästigt zu werden, die sich in einem alten Stollen breitmachten. Durch das StoAx drohte ihnen aber keine Gefahr, und dank Evlin fanden sie sogar heraus, dass diese Biester auch schon Bekanntschaft mit Julius Hakkenbeisser gemacht hatten.

Die weitere Reise führte Samuel und seine Begleiter bald auf eine riesige, flache Ebene, die sie einen halben Tag lang durchwandern mussten. Erst am Abend offenbarte sich ein Wesen, welches hier das Sagen hatte und sie nur durchlassen wollte, wenn es ihnen gelänge, sein Geheimnis zu lüften. Dank Samuels gesammelten Hinweisen fand man schnell des Rätsels Lösung, womit klar wurde, dass das Wesen eigentlich ein Baum war. Besser gesagt eine Bäumin, sogar die Königin aller Bäume, zumindest, was diesen Landstrich anbetraf.

Durch eine ziemlich rührende Auflösung der tragischen Vorgeschichte konnten sie erfahren, dass auch hier der Herr Hakkenbeisser seine Trankmischerfinger im Spiel gehabt hatte und die Königin dazu benutzte, ungebetene Reisende aufzuhalten. Dieses Mal war es Golepp, der seine Fähigkeiten ausspielen konnte, um die Geknechtete von ihrer wenig ehrenvollen Aufgabe zu befreien. Als Dank wies diese ihnen den weiteren Weg, welcher durch ein steiniges, unwirtliches Gebiet führte.

Dort hatten die Felsen die Fähigkeit entwickelt, Erinnerungen zu speichern und immer wieder sichtbar zu machen. Ein seltsamer verstörender Ort, den sie erst bei Sonnenaufgang verlassen konnten.

Gleich darauf ergab sich ein weiteres Hindernis, wie sollte es auch anders sein. Die Gruppe stand vor einem breiten Fluss, hinter dessen Ufern ein riesiger Wald begann. Der Königin zufolge würde die Letzte Wacht in diesem dichten Forst zu finden sein, womit das Ziel schon zum Greifen nahe wäre. Leider wurde die einzige Brücke hinüber von einem turmhohen Yock und einigen eifrigen, uneinsichtigen Berglingen bewacht.

Letztere stellten kaum ein Problem dar, doch das überdimensionale Tier erwies sich als harter Brocken. Zumindest bis Evlin erkannte, dass es sich dabei um Tessa handelte, die sie damals selbst quasi mit der Flasche aufgezogen hatte, bevor Hakkenbeisser sie fortbrachte. Ab dem Zeitpunkt stand ihnen die Brücke über den Zornigen offen, sie mussten den Fluss also nicht schwimmend überqueren. Ganz im Gegensatz zu den Berglingen.

Nun lag der Wald vor den Reisenden, ausnahmsweise mal hell, einladend und freundlich. Das änderte sich aber schon auf halbem Wege, als ihnen eine Erscheinung auflauerte, die Patrius aus der ersten Welt kannte und hier gar nicht existieren sollte. In letzter Sekunde konnten sie das Geheimnis aufdecken. Eine Apparatur, die deutlich hochtechnologischer war, als in den Landen üblich. Wieder nur Illusionen, aber dieses Mal von elektronischer Energie und Schaltkreisen verursacht.

Wenig später gelangten sie unbeschadet an die Lichtung, auf der Samuel damals Gemschen gefunden hatte. Er war vor zwei Jahren schon einmal hier gewesen, konnte aber die Letzte Wacht ohne die Hilfe eines Runenkundigen nicht überwinden. Dieses Mal stand dort kein Pferd, dafür saß der Schmale Baron höchstpersönlich auf einem umgekippten Baumstamm und wartete bereits auf sie.

Es ist gar nicht in Worten wiederzugeben, wie wenig begeistert sie von dieser Überraschung waren. Schockiert trifft es wohl besser, und verwirrt, da der Baron schon seit über vierhundert Jahren hätte tot sein sollen. In sechs handliche Teile zerschnitten, wenn man den Legenden Glauben schenkt. Er offenbarte ihnen, dass er sie hergeführt habe, und machte klar, was sein Ziel war. Durch die Letzte Wacht zu gelangen, mit ihrer Hilfe, um dort, im Inneren der alten Hauptstadt mit den neuen Machthabern kurzen Prozess zu machen.

Nach längerer Diskussion musste sich Samuels Gruppe eingestehen, dass sie nichts unternehmen konnten, um ihn daran zu hindern. Widerwillig öffnete Golepp das Runenschloss und wenig später standen sie bereits der Wächterin gegenüber. Überraschenderweise war sie aber keine Frau, sondern eine riesige Raubkatze. Das rief das zweite, katzenartige Wesen auf den Plan, jenes Tier, welches Samuel im Weißen Tal gerettet hatte und das ihnen nun heimlich bis zur Wacht gefolgt war. Im folgenden Kampf wurden Samuel und der Baron vom Rest der Gruppe getrennt, wodurch sie die Flucht durch einen Seitengang antreten mussten. Die Lady, Golepp, Evlin und das Pferd dagegen verließen die Wacht auf offiziellem Weg durch die Vordertür.

Samuel hatte mit dem Baron zusammen einen kleinen Ausgang gefunden, gerade noch rechtzeitig, bevor die wütende Wächterin sie zerfleischen konnte. Doch just in diesem Moment wurde der einstige Herrscher vor aller Augen entführt, verschleppt ins Innere des unbekannten Landes. Nun galt es also, die Gruppe wieder zusammenzuführen und herauszufinden, was in Muris Namen hier vorging. Denn schon zu diesem Zeitpunkt der Expedition wurde klar, dass man die Geschichtsbücher neu schreiben musste. Die Baronica war alles andere als verlassen und zerstört.

Ab hier übergebe ich das Wort wieder an den Beobachter Patrius von Gaden und zitiere weiter aus seinem Rats-Manuskript.

 

 

42

Land aus Stahl

 

Schon als wir damals am Vetter-Anwesen vorbeikamen und erfuhren, dass dort jemand im wahrsten Sinne des Wortes an der Uhr gedreht hatte, kreisten meine Gedanken um eine zentrale Frage. Wenn tatsächlich findige Wissenschaftler einen Weg gefunden hatten, Personen oder Orte aus der Vergangenheit auszuschneiden und in die Gegenwart zu versetzen: Warum sucht man sich dann ausgerechnet einen Minenbetreiber aus? Herr Trafael Vetter war weder ein Feldherr, noch verstand er irgendetwas von Magie oder Alchemie. Sein Wissen beschränkte sich darauf, wie man ahnungslosen Bergen ihre wertvollen Bodenschätze entreißt, sie einschmilzt und veredelt.Was konnte es für einen Grund geben, gerade ihn gegen seinen Willen in unsere Zeit zu zerren? Als wir dort standen, die Mauern der Letzten Wacht im Rücken, klärte sich dieses Mysterium schlagartig auf. Stahl. Unmengen an Stahl.

Wie schon beschrieben, umfasst das Gebiet der Baronica etwa ein Fünftel der Wilden Ebene. Eine gigantische Fläche, die sich aufteilt in drei Viertel Umland und ein Viertel separat ummauertes Stadtgebiet. Wir hatten nun die Kornkoppen betreten, eine Region, die früher hauptsächlich fleißigen Bauern und dem waffenstarrenden Heer gehörte. Um die Stadt im Falle einer Belagerung autark mit Nahrung versorgen zu können, ließ der Baron rings um sie herum kleine Dörfer entstehen.

In denen waren unzählige Menschen damit beschäftigt, Felder zu bestellen, Kühe zu melken, Gokksen zum Eierlegen zu überreden, Schafe zu scheren und rund gefütterte Welker um ihr Fleisch zu erleichtern. Dazwischen befanden sich große militärische Komplexe, Ausbildungslager, Garnisonen, Produktionsstätten für Waffen und Rüstung. Alles, was im eigentlichen Stadtbereich der Baronica keinen Platz fand, oder den feinen Leuten dort zu sehr nach körperlicher Arbeit roch. So beschrieb es zumindest Golepp kürzlich in seiner unnachahmlichen Art.

An dieser Struktur hat sich offenbar wenig geändert, denn auch heute noch ist das Umland grün, wird bestimmt von kleinen Dörfern und Weiden, Feldern, einigen Wäldern und wasserreichen Seen. Mit einem Unterschied.Vom Militär gibt es keine Spur mehr, zumindest auf den ersten Blick. Dort, wo einst truppenstarke, gut bewachte Kasernen standen, taten sich vor uns nur noch verwaiste, traurige Ruinen auf. Wer immer heute das Sagen in den Kornkoppen hatte, scherte sich kaum um die Verteidigung nach außen. Wozu auch, galt dieses Gebiet ja schon seit Ende des Krieges als verlassen.

Dafür konnte man am Horizont, dort wo einst die Baronica in den Himmel ragte, fünf hohe, starke Türme erkennen, massig, klobig und im Sonnenlicht glänzend wie feinstes Silber. Es müssen unglaubliche Mengen an Metall in diese Bauten geflossen sein und sicher stammte nicht wenig davon aus den neuen Minen des Herrn Vetter. Von der Stadt selbst allerdings fehlte jede Spur. Eingefasst durch die stählernen Türme waberte lediglich ein hoch aufgeschichteter Haufen Nebel vor sich hin, absolut undurchsichtig und geheimnisvoll.

Mehr war aus der jetzigen Position leider nicht erkennbar, obwohl die Mauern der Letzten Wacht auf einem aufgeschütteten Wall errichtet wurden und unter uns das Land in eine Senke abglitt. Nur der strahlende Tag machte es möglich, so weit ins Umland hinein zu schauen. Doch was wir dort sahen, genügte, um den Eindruck zu festigen, dass die neuen Herrscher über dieses Land einen ausgeprägten Hang zu Metall pflogen. Nicht nur die fünf Türme glänzten hier erhaben in der Sonne, auch die Dächer des nächstgelegenen Dorfes waren komplett mit Stahl beschlagen. Darüber hinaus erhoben sich aus der Landschaft an verschiedenen Stellen kleinere Burgen, Wachttürme und andere Verteidigungsanlagen, deren Kuppeln ebenfalls aus Metall bestanden.

Direkt vor uns, nur etwa hundert Schritt entfernt, erstreckten sich die ersten Ausläufer eines mittelgroßen Waldes. Dieser wirkte nicht natürlich gewachsen, eher wie ein Wirtschaftsforst, der in den letzten Jahrhunderten immer mehr über seine einstigen Ränder hinausgewachsen war. Noch kein Urwald, nein, dazu konnte man die alten Pflanzreihen zu gut erahnen. Aber auf dem besten Weg dahin.

»Dort haben sie ihn hinein verschleppt, denke ich«, sagte Samuel und wies auf eine kleine Lücke in der Baumreihe.

»Und die Katze ist ihnen auf den Fersen«, ergänzte ich.

»Ja, erstaunlich, oder? Eine ehemalige Wächterin, die sich gegen die Baronica gewandt hat und ihrem früheren Herrscher folgt, um ihn aus den Fängen von — wem zu befreien?«

Der junge Mann hatte Schwierigkeiten, die Geschehnisse richtig aneinanderzureihen, aber seine Schlussfolgerungen klangen logisch.

»Wir können ihnen nicht folgen, müssen erst die anderen wiederfinden«, gab ich zu bedenken.

Er wirkte zwiegespalten. Einerseits wollte er den Entführern nacheilen, nicht hauptsächlich wegen des Barons, sondern weil vor seinen Augen ein Mensch verschleppt worden war. Schon sein Ehrgefühl befahl ihm, diese Schmach nicht einfach hinzunehmen. Allerdings wusste er wohl auch, dass die Chance auf Erfolg ohne die Hilfe der anderen gering war. Zudem wäre Samuel von seiner Gruppe getrennt, welche er eigentlich beschützen wollte.

»Richtig, lass uns gehen. Hier lässt sich alleine nichts ausrichten. Links an der Mauer entlang sollten wir ihnen direkt in die Arme laufen.«

Er warf einen Blick in die angestrebte Richtung, dann zurück zu mir. »Danke übrigens. Ohne deine Ablenkung …«

»Schon gut, keine Ursache. Sonst wäre mein Reisebericht jetzt beendet, wo er doch gerade erst interessant wird«, grinste ich und er tat es mir gleich.

So machten wir uns auf den Weg. Ganz dicht an der Letzten Wacht führte ein schmaler, gut befestigter Grat entlang. Von hier aus konnte man die gigantischen Dimensionen dieses Bauwerks zwar immer noch nicht komplett überschauen, aber zumindest erahnen. Egal ob der Blick nach vorn oder zurück fiel, in jeder Richtung verschwand der fast weiße, silbrig schimmernde Schutzwall irgendwann ganz in der Ferne hinter sanften Hügeln oder wurde vom Morgendunst verschluckt.

»Weißt du, der Baron hatte diese Mauer schon sehr früh errichten lassen«, erklärte mir mein Begleiter unterwegs, als er bemerkte, wie ich fasziniert die absolut plane Oberfläche des Bollwerks betastete. »Bereits wenige Jahre, nachdem er auf den zerfallenen Grundmauern einer alten Festung Baronica entstehen ließ. Da die früheren Besitzer offenbar schon vor allen bekannten Zeitrechnungen das Weite gesucht hatten, kam auch niemals ein Nachfahre und erhob Anspruch auf das Gebiet. Außerdem — oh, schau, Patrius! Dort vorn!«

Etwa zweihundert Schritte entfernt gab es einen Vorsprung in der Mauer, hinter dem gerade ein leuchtend roter Feuerball hervorgeschossen kam. Allerdings nicht auf uns zu, sondern in die Senke hinein, welche von hier aus kaum einsehbar war. Wir wussten sofort, wer Verursacher dieser magischen Entladung sein musste, erhöhten daher das Tempo und versuchten gleichzeitig, einen Überblick über die Lage zu erringen. Der Vorsprung gehörte zum Ausgangstor der Wacht, war natürlich ebenfalls halbrund und ragte etwa fünf Schritt ins Land hinein. Vermutlich hatte man ihn angebaut, um einstigen Besuchern Schutz vor Regen oder Sonne zu spenden, wenn sie aus dem Inneren der Mauer ins Freie traten. Auf dem Hang davor lag, mit dem Gesicht im Gras, ein riesiges Wesen, dessen Rüstung ganz aus einem mattgolden glänzenden Metall bestand. Es bewegte sich nicht, schien also entweder tot oder bewusstlos zu sein.

Erst als wir fast den Ort des Geschehens erreicht hatten, erkannte ich, dass sein rechter Arm abgerissen war. Doch aus der Wunde traten kein Blut, sondern lustig sprühende Funken. Dann hörte man die Lady schimpfen und ich wusste, dass die Situation so dramatisch nicht sein konnte. Solange sie nur fluchte, war alles einigermaßen unter Kontrolle. Erst wenn sie schwieg, war es wirklich ernst.

»Idiot! Warum tust du das schon wieder?«

Wir konnten die Ayten noch nicht sehen, da sie vom Vorsprung verdeckt wurde, aber es war wohl klar, wen sie damit meinte.

»Um … euch zu schützen!«, ertönte die gebrechlich wirkende Stimme des Alchemisten. »Was denkst du denn? Sieht das so aus, als würde es mir Spaß machen?«

Nun endlich hatten wir sie erreicht.

»Samuel!«, rief die Lady erleichtert. »Muri sei Dank! Du kommst genau zur richtigen Zeit!«

»Was ist hier geschehen?«, wollte er wissen, sah sich gleichzeitig verwundert um und beschloss, die Frage zurückzuziehen.

Es war unübersehbar, dass an diesem Ort ein Kampf stattgefunden hatte. Evlin stand etwas weiter hinten und hielt sich den linken Arm. Zwischen ihren Fingern rann dunkelrotes Blut hindurch, nicht viel, doch es genügte, um Samuel ein mulmiges Gefühl in der Magengegend zu verschaffen. Die junge Frau war offensichtlich leicht verletzt, verzog aber deswegen keine Miene.

Den rechten Bereich unter dem Vorsprung dominierte Gemschen. Das Pferd schien unversehrt, dafür lag zu seinen Hufen ein weiteres dieser metallenen Wesen, äußerst grob in mehrere Einzelteile zerpflückt. Auf seiner Panzerung waren deutlich tiefe Hufabdrücke zu erkennen; in Verbindung mit dem stolzen Blick des Pferdes musste man also nicht lange raten, wer das Metallwesen zur Strecke gebracht hatte. Golepp kniete neben der Lady auf dem Boden. Er schien geschwächt zu sein, wirkte um einiges älter, kam aber dank des Fläschchens in seinen Händen langsam wieder zu Farbe und Kräften.

»Ich bin erleichtert, dass du es auch geschafft … hast«, sagte er und zog sich an der Schulter der Lady nach oben. »Wir wollten euch eigentlich zu Hilfe eilen, aber die Dinger da haben uns überrascht. Konnte ja keiner ahnen, dass …«

»Schon gut, mein Freund, schon gut«, beschwichtigte der junge Mann. »Ihr habt euch wacker geschlagen, wie mir scheint, und wir auch. Mit Verlusten allerdings.«

Dann ging er nach hinten zu Evlin, ließ seine letzte Bemerkung trotz fragender Blicke unerklärt und vermied es auffällig, direkt auf ihre Wunde zu sehen.

»Wie schlimm ist es?«

»Ist auszuhalten. Nur eine Schnittwunde«, sagte sie, was ehrlich und gewohnt emotionslos klang.

»Ich habe Verbandsmaterial in meinem Rucksack dabei, warte.«

Während er eifrig darin kramte, hörte ich die Lady rufen »Das Ding lebt noch!«

Alle wirbelten erschrocken herum und sahen hinaus ins Grüne, wo sich gerade eines der Metallwesen mühevoll den Hang hinaufschleppte. Es brannte an einigen Stellen und zog das Bein nach, was es aber nicht davon abhielt, den Kampf wieder aufzunehmen.

»Lass mich durch«, sagte Evlin kühl, drängte sich an Samuel vorbei und ließ ihn mit einer Rolle Mull in der Hand verdutzt stehen.

Die Lady hatte schon das Schwert gezückt; da Golepp aber noch ihre Hilfe brauchte, um auf den Beinen zu bleiben, konnte sie nicht sofort angreifen. Im Vorbeigehen schnappte sich Evlin die Waffe des Metallwesens, welches Gemschen auf dem Pferdegewissen hatte. Ein langer Stab, am oberen Ende zu einem Schwert angespitzt, nach unten breiter auslaufend, so dass man ihn sowohl als Hieb- als auch als Stichwaffe benutzen konnte.

»Was hast du vor?«, rief die Lady ihr hinterher. Eine unnötige Frage, es war ganz klar, was nun passieren würde. Mit wenigen, schnellen Schritten hatte die junge, barfüßige Frau das Wesen bereits erreicht. Sie holte kräftig aus und traf den stählernen Kopf mit voller Wucht, ehe der Stahlmensch den verbliebenen Arm zur Abwehr einzusetzen konnte. Ein blechernes Geräusch ertönte aus dem Inneren, so als würde jemand schmerzvoll in einen leeren Eimer stöhnen. Nun taumelte er bedrohlich, konnte aber noch mühevoll das Gleichgewicht halten. Mit letzter Kraft versuchte die schwer angeschlagene Maschine, nach vorn zu springen. Doch im gleichen Moment ließ die junge Frau ihre neue Waffe auf das verletzte Bein herabsausen und stoppte so den Vorstoß. Das Wesen, welches ich mal vorsichtig als Roboter beschreiben würde, sackte in sich zusammen, fiel auf die Knie und rauchte aus allen Ritzen der Rüstung. Irgendetwas schmolz in seinem Inneren und erzeugte einen beißenden Geruch.

»Warum stirbst du nicht!«, fauchte sie den Schrotthaufen wütend an, der nun krampfhaft versuchte, auf allen Vieren die Eindringlinge zu erreichen.

Ein weiterer Schlag, dieses Mal seitlich auf den Kopf. Endlich kippte das Ding funkensprühend nach links, fiel regungslos ins Gras und rollte langsam den Hang herunter. Evlin richtete sich auf, den mit blutigen Handabdrücken dekorierten Stab fest umklammernd. Auch ihre rechte Schulter glänzte nass und rot, doch das schien ihr momentan egal zu sein. Der Angreifer war erledigt, alles andere spielte keine Rolle. Wieder einmal hatte uns die junge Frau überrascht. Nur wenige Augenblicke des Verschnaufens später ertönte ein ohrenbetäubender Knall am unteren Ende des Hangs. Die leblosen Überreste des Roboters waren explodiert und hatten einen beachtlichen Krater in der Wiese hinterlassen. Evlin blickte noch einmal hinter sich, runzelte die Stirn, als wolle sie sagen >das war ich jetzt aber nicht< und gesellte sich wieder zu uns.

»Du wärst eine gute Ayten geworden.«

Ein großes Kompliment, das die Lady da so gelassen aussprach. Evlin sah sie nur stumpf über die Schulter an, nickte dankend und ließ ihren Blick dann ins Umland schweifen, hin zu den fünf stählernen Türmen und der gigantischen Nebelglocke.

»Was geht hier vor? Was erschaffst du hier, Julius?«, fragte sie sich selbst.

Dann kehrte sie zurück an ihre alte Position, wo Samuel immer noch mit dem Verbandsmaterial in der Hand stand und sie staunend ansah.

»Du musst das nicht tun«, sagte sie zu ihm, so freundlich es gerade möglich war. »Gib her, ich mach das schon.« Bevor er es sich versah, hatte sie die Binde bereits aus seiner Hand genommen, begann, sie professionell um den Oberarm zu wickeln und sah dann wieder zu ihm auf. »Wie gesagt, in meinem ersten Leben habe ich Menschen geheilt. So etwas verlernt man nicht.«

»Aber ich hätte dir auch dabei geholfen, ich …«, begann Samuel, doch sie ließ ihn nicht ausreden.

»Als Heilerin erkennt man schnell, welche Menschen den Anblick von Blut ertragen können und welche nicht. Du gehörst zu Letzteren. Es ergibt also keinen Sinn, wenn du dich quälst und beim Verbinden umkippst. Habe ich alles schon erlebt. Aber trotzdem danke.«

Samuel sah sie nur an und war sich wieder einmal nicht sicher, was er von dieser seltsamen Evlin halten sollte. Einerseits wirkte sie unendlich zerbrechlich, andererseits stark, kalt und unberechenbar. Er nickte freundlich und drehte sich wieder nach vorn. Als sie sich unbeobachtet wähnte, bückte sich die junge Frau und hob etwas auf, das nahe beim Roboter zu ihren Füßen lag. Ich konnte es nicht genau erkennen, aber so, wie sie den Gegenstand neugierig in den Händen drehte, besaß er eine runde Form. Dann ließ sie ihn in die Tasche wandern und rückte den Verband zurecht.

»Das hat gesessen«, kam es gleichzeitig von vorn. Golepp stand wieder auf einigermaßen sicheren Beinen und wirkte etwas gesünder als noch vor wenigen Momenten.

»Hätte ich gewusst, dass auch der Ausgang hier bewacht wird, wäre ich dem Baron …«

»Quatsch, Samuel, es ist nicht deine Schuld.« Nun war es die Lady, die ihm ins Wort fiel. Das wurde langsam zur Gewohnheit. »Du hättest uns kaum helfen können gegen diese Dinger«, machte sie klar und sah verächtlich auf die ausgeschalteten Roboter hinab.

»Ich habe zumindest noch das StoAx.«

»Welches aber nur lebende Wesen abhält, richtig? Das dort lebt nicht. Es lebte auch ganz sicher nicht, bevor sich Evlin darum gekümmert hat. Menschen aus Stahl und Drähten, angetrieben mit Elektrizität. Wo sind wir hier hineingeraten?«

Ich teilte die Einschätzung der Lady. Falls die Kornkoppen tatsächlich von Robotern beherrscht wurden, wäre das Geschenk des Waldes hier nutzlos. Auf einen Schlag änderten sich die Voraussetzungen. Wo wir bisher sicher sein konnten, dass uns das StoAx zuverlässig Schutz gewährt, gab es nun nichts mehr außer unserer kläglichen Bewaffnung.

In diesem Moment sah ich einen milchigen, wabernden Schleier, welcher direkt aus dem gerade zerstörten Roboter entwich. Erst wollte ich meinen Augen nicht trauen, doch als die Erscheinung langsam die Form einer älteren Frau annahm, wurde mir schlagartig einiges klar.

»Samuel!«, rief ich, »Eine Verlorene Seele!«

Er drehte sich ruckartig um, sah hinüber zu mir, dann den Hang hinab, wo die zersprengten Überreste des Roboters im selbst erschaffenen Krater vor sich hin qualmten.

»Tatsächlich, es ist eine Verlorene Seele.«

»Bitte? Was redest du da?«

Die Lady war verwirrt, sie hatte wohl eine andere Antwort auf ihre letzte Bemerkung erwartet.

»Dort, aus dem Wächter, den Evlin zerstört hat. Ihr könnt sie nicht sehen, aber ihm entflieht gerade eine Verlorene Seele. Entführen sie die hilflosen Gestalten deswegen? Um die leeren Metallhüllen mit Leben zu füllen?«, fragte sich Samuel und sah, wie die ältere Frau durch das Gras in Richtung der Türme davonschlich.

»Das wäre eigentlich genial«, bemerkte Golepp mit einer gewissen Bewunderung in der Stimme. »Es gibt Literatur darüber, zwei wenig beachtete Bücher, in denen man so etwas theoretisch beschreibt. Aber die Autoren sind sich einig, dass es technisch niemals machbar sei.«

»Wenn das wirklich eine Verlorene Seele war, hat es wohl jemand trotzdem geschafft.« Die Lady sah angewidert aus bei der Vorstellung, in einem metallenen Körper gefangen zu sein. Da kann einem schon mal der ein oder andere Schauer über den Rücken gleiten.

»Was ist eigentlich aus dem Monster geworden?«, fragte die Ayten beiläufig, da sie wohl gerade erst bemerkt hatte, dass hier jemand fehlte.

»Die Katze ist in den Wald dort hinten gelaufen und verfolgt den Roboter, der wiederum den Baron entführte«, erklärte Samuel trocken, als wäre das ein ganz alltägliches Ereignis.

»Ich meinte eigentlich den Baron, aber gut zu wissen, dass es die Katze auch nach draußen geschafft hat. Wir müssen ihr wohl danken, ohne sie hätte sich die Tür nie geöffnet.«

Die Lady schaute zurück auf die halbrunde Aussparung, die nun wieder geschlossen war. Einen Mechanismus, um sie von dieser Seite aus erneut zu öffnen, gab es aber nirgends.

»Wir sitzen also in der Falle«, sagte Golepp. »Wenn die Aufzeichnungen stimmen, kann man die Tore nach draußen nur von der Baronica aus entriegeln.«

»Nicht ganz. Meines Wissens gab es an jeder Straße, die aus den Kornkoppen hinausführte, eine Garnison. Das da unten müssten die Reste der westlichen sein.«

Samuel zeigte hinunter in das Inland. Einige hundert Schritt entfernt konnte man dort die Überbleibsel eines großen, ummauerten Lagers erkennen, welches vor langen Jahren unverkennbar ein Militärstützpunkt gewesen sein musste. Heute war ein beträchtlicher Teil der recht zweckmäßigen Gebäude zerfallen, nur einzelne schienen noch leidlich intakt zu sein.

»Angeblich gab es in jeder dieser vier Garnisonen einen Schaltraum, der einzig vom Kommandanten betreten werden konnte«, fuhr Samuel fort.

»Ach, woher weißt du das alles? Und von dort aus kann man das Tor hier öffnen?«

»Stimmt genau, werte Lady, zumindest wenn die Kanteppa recht hat. Ein altes Buch aus Golepps Bibliothek, der Autor war wohl ein Weggefährte des Barons. Glauben Sie wirklich, ich führe uns hier hinein, ohne nachzuforschen, wie wir wieder hinauskommen?«

»Oh ja«, bestätigte der Alchemist, »die Kanteppa, sehr interessante Lektüre, nur leider ganz furchtbar geschrieben.«

»Wohl wahr. Also, wenn wir den Rückzug antreten müssen, ist das die beste Möglichkeit. Was mich zu einer wichtigen Frage bringt.« Er blickte seine Mitreisenden nachdenklich an. »Eigentlich sah unser Ziel ja etwas anders aus. Wir wollten die Letzte Wacht überwinden und …«

»Samuel, nun fang nicht wieder damit an!«, unterbrach ihn die Lady harsch. »Glaubst du ernsthaft, dass jemand umkehren möchte? Sicher, die Vorzeichen haben sich geändert. Dein StoAx schützt uns vor diesen Dingern vermutlich nicht, das ist ärgerlich. Aber seht euch um, hier liegt zu unseren Füßen eine ganz neue, unbekannte Welt! Ein riesiges, vergessenes Reich voller Geheimnisse!«

Der prüfende Blick in die Gesichter seiner Begleiter machte klar, dass sie gleicher Auffassung waren. Evlin verfestigte ihren Standpunkt aber zur Sicherheit noch einmal unmissverständlich.»Ich gehe erst durch dieses Tor wieder zurück, wenn mein Werk vollbracht ist.«

»War auch kaum anders zu erwarten«, kommentierte Golepp. »Ich wiederum bin mitgekommen, um die Letzte Wacht zu öffnen. Also ist meine Aufgabe genau genommen bereits abgeschlossen. Wie dieses Tor, tja, somit habt ihr mich wohl weiter am Hals. Aber wo wir schon mal hier sind, kann es sicher nicht schaden, ein paar offene Fragen zu klären. Und davon gibt es seit kurzem noch einige mehr.«

»Richtig, dann ziehen wir das also durch, bis zum Ende.«

Die Lady war entschlossener denn je. Kein Wunder, das Leben eines Ayten mag aufregend sein, doch es führt einen nur selten an neue Orte. Botenritte von AbleTon nach StropTon und zurück, Karawanen-Eskorte, Kopfgeldjagden, alles gut und schön. Aber einfach mal ohne einen drängenden Auftrag im Genick unbekannte Gefilde erkunden, dazu kam sie sicher nur selten. Eine willkommene Abwechslung also, hier gab es noch Neuland zu entdecken und für diesen fast vergessenen Nervenkitzel war sie gerade unübersehbar dankbar.

»Gut, ich wollte mich nur vergewissern«, nickte Samuel beruhigt. »Allerdings müssen wir erst noch etwas an unserer Bewaffnung arbeiten. Hier wird es schwer, direkten Kämpfen aus dem Weg zu gehen. Wenn ich mir die Gesellen so anschaue, waren das nur ein paar schwache Wächter. Im Inneren werden wohl noch stärkere Exemplare auf uns warten.«

»Ich habe mein Schwert und den Revolver«, sagte die Lady nachdenklich und präsentierte ihre Waffen. »Allerdings sind beide nicht besonders effektiv gegen Metall-Rüstungen wie seine.«

Sie zeigte auf den funkensprühenden Roboter zu ihren Füßen. Wie seine wehrhaften Gefährten diesen zur Strecke gebracht hatten, war Samuel noch nicht ganz klar, denn er wies keinerlei Brandspuren auf.

»Oh, den haben wir auch Evlin zu verdanken«, erklärte sie sogleich. »Sie hat dieses — Telekinese? Ich glaube, so hieß es, ja, sie hat ihn damit übel zugerichtet. Von mir bekam er nur den Todesstoß, indem ich die Kabel am Hals durchtrennte.«

»Beeindruckend«, sagte Samuel und war tatsächlich auch beeindruckt. »Kannst du diese Kraft immer einsetzen?«

»Nein, das kommt spontan. Er hat mich verletzt und sogleich spürte ich eine unbändige Wut in mir aufsteigen. Sie ist kaum zu beherrschen«, erklärte die junge Frau etwas zurückhaltend, anscheinend war ihr diese Kraft selbst nicht ganz geheuer. »Aber nun hab ich ja das hier.«In der Zeit, in der sich Samuel und die Lady unterhielten, war Evlin darin vertieft gewesen, sich mit ihrer neuen Waffe anzufreunden. Sie wischte sorgfältig die Blutspuren daran ab, polierte den schon etwas abgewetzten Stahl fast auf Hochglanz und balancierte den Stab geschickt von einer Hand in die andere.

»Na, da haben sich ja zwei gefunden«, sagte Golepp grinsend. »Ich bin allerdings unbewaffnet, vom kleinen Feuer-Zaubertrick mal abgesehen. Aber der ist nur etwas für den Notfall und raubt sehr viel Kraft.«

»Mir geht es ähnlich«, bestätigte Samuel, »bis auf das Säbelmesser bin ich ohne das StoAx schutzlos. Um weiter ins Innere der Kornkoppen vorzudringen, sollten wir in der alten Garnison dort unten nach besseren Waffen suchen. Vielleicht funktioniert sogar der Mechanismus noch, der die Tore der Wacht wieder öffnet.«

Allgemeines Kopfnicken gab ihm recht. Dann stellte Golepp die eine Frage, die auch seinen Mitstreitern noch auf der Seele lag. Obwohl vor allem die Lady versucht hatte, sie solange es ging totzuschweigen.

»Und was ist mit dem Schmalen Baron?«

»Darüber habe ich natürlich schon nachgedacht«, antwortete Samuel. »Doch ohne bessere Ausrüstung können wir auch ihm nicht helfen.«

»Wenn wir das wollten«, ergänzte die Lady sogleich. »Aber das wollen wir doch nicht wirklich, oder? Ich meine, das ist immer noch der Baron, zumindest macht es ganz den Anschein. Selbst wenn er tatsächlich aus einer anderen Zeit hierher geholt wurde, ändert das ja nichts an seiner Person. Der gleiche Wahnsinnige, der tausende Menschen abschlachten ließ, das ist euch sicher bewusst?«

»Natürlich, aber ohne seine Hilfe wäre ich jetzt nicht hier, er hat mir den Seitenausgang gezeigt«, gab Samuel zu bedenken.

»Ohne ihn wärst du gar nicht erst in diesen Gang gelaufen, nur um ihm zu helfen!«, empörte sich die Ayten wütend.

»Das ist richtig, aber ich glaube auch, ohne ihn hätten wir es nie zur Letzten Wacht …«

»Moment!«, fiel sie dem jungen Mann erneut ins Wort. »Das ist doch Unsinn! Die Walsch war es, die den Ausgang öffnete! Nicht der Baron!« Die Lady hatte Mühe, ihre Fassung zu bewahren, Samuel schien aber die Ruhe selbst zu bleiben.

»Ebenfalls korrekt, werte Lady. Allerdings stammt auch die Wegbeschreibung von ihm, ohne die wir gar nicht erst zur Wacht gelangt wären.«

»Du nimmst doch jetzt nicht ernsthaft dieses Monster in Schutz!«, fauchte sie ihn an, aber weiter kam sie nicht, da Golepp dazwischen ging.

»Ach, die heißblütige Jugend immer. Nun mal ruhig, ganz ruhig.« Seine Stimme war tief und fest, er fixierte beide kurz mit einem strengen Blick und versuchte dann, die Wogen zu glätten. »Sicher hat jeder von euch irgendwie recht. Aber schaut, die Frage, ob wir ihn suchen sollten, stellt sich ja gar nicht. Wir haben keine Waffen, richtig? Und wenn die Katze seinen Entführern gefolgt ist, sind die es eher, die unsere Hilfe bräuchten. Ist ja wohl deutlich geworden, dass Walsch und Baron unter einer Decke stecken, oder ist da jemand anderer Meinung?«

Tatsächlich war dies eine sehr treffende Zusammenfassung der Situation, womit auch die Lady wieder etwas ruhiger wurde.

»Es geht ums Prinzip«, versuchte sie zu erklären. »Wir sollten dieses Wesen, welches vorgibt, der Baron zu sein, nicht unterstützen. Wenn er es wirklich ist …«

»Ich weiß, werte Lady, gewiss«, entgegnete Samuel ruhig. »Aber mein Gefühl sagt mir, dass wir sein Schicksal nicht ganz aus den Augen verlieren dürfen, um zu erfahren, was hier vorgeht.«

Sie dachte ein paar Augenblicke über seine Worte nach und blickte zu den fünf stählernen Türmen hinüber, die immer bedrohlicher wirkten, je öfter man sie ansah.

»Gut möglich. Es gefällt mir nicht, aber vermutlich habt ihr recht. Trotzdem wäre es besser, wenn sich unsere Wege und die des Monsters nie wieder kreuzen würden. Ich kann diesem Schlächter nicht ins Gesicht sehen, ohne dass mein Schwertarm kribbelt.«

Samuel grinste. »Ich denke, keiner von uns legt viel Wert auf seine Anwesenheit, außer Gemschen vielleicht.«

Sie drehten sich zu dem Pferd um, doch das kaute nur genüsslich an einem Büschel Gras, welches am Rande der Mauer so unvorsichtig war, nicht rechtzeitig Deckung gesucht zu haben.

»Meinst du, es gibt eine Verbindung zwischen ihnen?«, fragte die Lady leise. »Vielleicht hört er uns ja?«

»Glaube ich kaum, aber wer weiß?«, antwortete Golepp genauso leise.

»Wir sollten da nicht zu viel hineindenken. In erster Linie ist Gemschen immer noch ein treuer Begleiter, der uns schon durch einige missliche Situationen geholfen hat«, nahm Samuel das Pferd in Schutz. »Lasst uns zusammenpacken und die alte Garnison näher unter die Lupe nehmen. Die Explosion ist vermutlich nicht ungehört geblieben. Und selbst wenn, wird es irgendwann auffallen, dass die Wachen fehlen. Dann wäre ich lieber in Sicherheit.«

Ein gutes Schlusswort für diese Diskussion. So begannen sie, ihre Habseligkeiten zu verstauen und alles, was man als Waffe benutzen konnte, griffbereit am Körper anzulegen. Bis auf Gemschen natürlich, welcher noch schnell die Reste des unvorsichtigen Grasbüschels hinunterwürgte, um sich sogleich an seinen angestammten Platz einzugliedern. Sicher, am Ende des Tages war es nur ein Pferd. Etwas intelligenter als viele Artgenossen und deutlich schöner. Aber es gab keinen Grund, es zu vermenschlichen, ihm Eigenschaften zuzuschreiben, die es als Tier nicht haben konnte. Wie der Baron bereits sagte, es folgt dem, der seine Zuneigung gewinnen kann, und im Moment waren dies wohl Samuel und seine Freunde.

 

43

Die Garnison des Westens

 

Während wir uns vorsichtig den Hang hinunterschlichen, auf dem die Letzte Wacht thronte, begannen zum ersten Mal an diesem Tag ein paar Wolken am blauen Himmel aufzuziehen. Weiß und harmlos, wie eine versprengte Schafherde, aber sie schoben sich hin und wieder keck vor die Sonne und verhinderten so, dass sich das Land unter ihr zu sehr aufheizte. Vor allem für Golepp waren diese kleinen, schattigen Momente die pure Erholung. Da der Tag in die Phase des späten Vormittags überging, brannte der hiesige, lebensspendende Stern, um den die neunte Welt kreiste, schon erbarmungslos auf uns hernieder. Auch die besondere Geografie dieser Gegend trug kaum zur Abkühlung bei, lag das Umland der Baronica doch geschätzte sechzig bis achtzig Schritt tiefer als die umgebende Wilde Ebene. Ein abgeschotteter Talkessel also, geschützt vor allzu stürmischen Winden. An brütend heißen Sommertagen vermutlich nicht der angenehmste Ort, um bei Kaffee und Kuchen auf der Terrasse zu sitzen.

Im Vorbeigehen betrachteten wir den zerborstenen Roboter noch einmal genauer. Niemand hatte eine vage Ahnung davon, wie viele dieser mit Verlorenen Seelen gefütterten Maschinen hier in den Kornkoppen Patrouille schoben. Daher blieben wir besonders wachsam und beeilten uns, schnell die Garnison zu erreichen. Auf freiem Feld war die Gruppe schutzlos und angreifbar, weiter unten gab es weitaus mehr Möglichkeiten, sich im Verborgenen zu bewegen. Dort hatte sich der Forstwald schon in den alten Truppenstützpunkt hineingefressen und ihn zur Hälfte verschlungen. Ein gutes Zeichen dafür, dass die neuen Machthaber keinen Wert auf dieses Erbe legten und somit die Garnison wie erhofft verlassen sein dürfte.

Sie lag direkt an der alten Straße, auf der früher die Truppen des Barons ins Land hinaus strömten, um den Widersachern des Reiches möglichst gnadenlos und blutig den Garaus zu machen. Links dieser Straße erstreckte sich ein ruhig dahin glitzernder See, ohne Zweifel künstlich angelegt und umringt von einigen erhabenen, alten Bäumen. So nah an der Garnison konnte er nur aus einem Grund ausgehoben worden sein. Ich vermutete, dass der Baron damals im Kampf auf die Schnelligkeit und Kraft der Pferde gesetzt hatte. Nach besonders langen, anstrengenden Märschen ergab das eine sehr durstige Herde, die zweifelsfrei genau hier getränkt worden war.

Wem diese Theorie zu langweilig ist, dem könnte ich alternativ weismachen, dass der grausame Herrscher den See anlegen ließ, um seinen Soldaten ein schickes Freizeitbad zu gönnen. Klingt für mich noch unwahrscheinlicher, aber wer bin ich schon, der Geschichtsschreibung Vorschriften machen zu wollen.

Die großzügige Weide hinter dem See war ebenfalls verwildert. Hier hatte seit langem kein stolzes Pferd mehr an der Grasnarbe genagt, aber vor über vierhundert Jahren musste sie außerordentlich saftig gewesen sein, wildromantisch und idyllisch. Dennoch sollte man nicht vergessen, dass sich hier ausgezeichnet trainierte Kriegsmaschinen den Bauch vollschlugen.

Von denen gab es nun keine Spur mehr, dafür fraß sich eine kleine Schar Samtwollschafe durch das hohe Gras. Grob geschätzt um die zwanzig Stück, was im Vergleich zu den Herden draußen in der Ebene geradezu mickrig anmutete.

»Wo kommen die denn her?«, wunderte sich Golepp und schirmte mit der Hand die Sonnenstrahlen ab, die sich durch das hohe Geäst der Bäume zwängten.

»Stimmt, die Schafe sollten gar nicht hier sein, schließlich wurde ihre Art erst viel später von den Bokkies gezüchtet«, bestätigte Samuel.

Dieser Umstand war den gemütlich und fast geräuschlos fressenden Fellknäueln offenbar egal. Ein Büschel nach dem anderen wanderte in ihr niemals ruhendes Maul, um von dort aus ein tagelanges Verdauungsmartyrium durchleiden zu müssen.

»Wir sind uns doch einig, dass sie das Runen-Rätsel am Tor nicht geknackt haben können, richtig? Dann kennen sie entweder ein Schlupfloch durch die Letzte Wacht …«

»… oder die neuen Machthaber schleppten sie ein, vermutlich ihrer Wolle wegen«, vervollständigte Samuel.

»Also muss es hier zumindest ein paar Menschen geben, wozu sollten die Roboter wärmende Kleidung brauchen?«

Die Lady hatte sich inzwischen zusammen mit Evlin von den beiden Schafliebhabern abgesondert und näherte sich geduckt der alten Garnison.

»Bleib in Deckung«, flüsterte die Ayten ihrer Begleiterin zu und beäugte die zerfallenen Gebäude misstrauisch.

Evlin zog den Kopf noch etwas tiefer ein und riskierte einen Blick zurück. Dort ließen gerade die beiden Herren von den flauschigen Paarhufern ab und schlossen leise zum Rest der Gruppe auf. Rasch fanden sich alle wieder zusammen und warteten auf eine günstige Gelegenheit, um unbemerkt in den Militärkomplex zu schlüpfen.

»Warum benutzt das niemand mehr?«, fragte die Lady, als wir noch etwa zehn Schritt von der Garnisonsmauer entfernt waren.

Diese hatte leider ihre besten Tage schon hinter sich, also die Mauer, nicht die Lady, und bröckelte an vielen Stellen beträchtlich. Womit ich ebenfalls das Bauwerk meine. Obwohl man damals offenbar Wert darauf legte, sie für die Ewigkeit zu errichten. Aber vierhundert Jahre sind eine lange Zeit und nicht wenige Teile alter baronischer Bausubstanz waren bereits den wütenden Aufständischen zum Opfer gefallen.

»Wie gesagt, die Vermutung liegt nahe, dass die neuen Machthaber keinen Wert auf Verteidigung nach außen legen. Oder auf Pferde«, Samuel sah den begründet verachtenden Blick von Gemschen und musste verhalten lächeln. »Die Zeiten ändern sich, auch hier im Niemandsland. Heute scheint man mehr auf Stahl zu setzen, auf Roboter mit gestohlenen Seelen — mir persönlich wären eine Hundertschaft ordentliche Ritter auf hohem Ross deutlich lieber.«

Samuel strich dem Tier sanft über die Mähne und ging etwas voraus, um sich einen Überblick zu verschaffen. Es hatte sicher viele Nachteile, dass das StoAx hier kaum zum Einsatz kommen konnte. Aber auch einen Vorteil. Man musste sich nicht mehr eng an eng quetschen, durfte ein paar Schritte vorauseilen oder hinterher trotten.

»Das dort muss ein Tor gewesen sein!«, rief er ihnen zu und wies auf eine größere Öffnung in der Mauer.

Da letztere etwa zwanzig Fuß in den Himmel ragte, vermochte keiner zu erspähen, was dahinter lag. Lediglich die Wipfel ein paar besonders hoher Bäume waren zu sehen, dort, wo sich früher die Truppen versammelten, um hinaus in die Schlacht zu ziehen. Selbst von hier aus bekam man bereits eine Ahnung davon, wie viel Kraft die Natur darin investierte, das Gelände zurückzuerobern.

Der Wald hatte über die Jahrhunderte seine Sprösslinge immer weiter ins Innere der Garnison getragen, wo sie Wurzeln schlugen und die felsigen Bodenplatten sprengten. Inzwischen wagten sich ein paar ganz forsche Exemplare bereits bis in die Nähe des früheren Tores vor. Noch hundert oder zweihundert Jahre hin, und es würde von dieser einst stolzen Einrichtung nichts mehr übrig sein als ein Meer aus Bäumen, zwischen denen unkoordiniert ein paar Ruinen vor sich hin bröselten.

»Dort hinten, das müssten die Gebäude der Oberen gewesen sein«, sagte die Lady und wies auf eine Hand voll leidlich gut erhaltener Häuser am nördlichen Ende.

Gegenüber am Südende gab es noch gewaltige Stallungen zu bestaunen, bei denen die Dächer schon vollständig fehlten. Dafür wuchsen aus ihrem Inneren eifrig Bäume gen Himmel, sicherlich begünstigt durch den guten Dünger, welchen die Pferde zurückgelassen hatten. Der Rest der Anlage bestand aus einem weitläufigen Exerzierplatz in der Mitte, der aber schon halb überwuchert war, und den flachen Unterkünften für die Fußtruppen. Diese konnte man mit viel gutem Willen gerade so erahnen, befanden sie sich doch an der Ostseite, dort, wo der Wald begonnen hatte, sich in die Garnison hineinzufressen. Nur mit Mühe waren noch Mauerreste auszumachen, aber das sollte uns egal sein. Naturgemäß lagen Waffenkammer und Offiziersunterkünfte dicht beieinander, so dass lediglich die Gebäude auf der Nordseite von Bedeutung waren.

»Verdächtig ruhig hier, findet ihr nicht auch?«, fragte die Lady, als wir uns verstohlen über den Platz bewegten.

»War doch kaum anders zu erwarten, oder?«, entgegnete Golepp und betrachtete aufmerksam die Gebäudereihe.

»Mir ist das unheimlich. Keine Menschenseele, keine Roboter, nicht mal ein Tier — dabei ist der Wald ganz in der Nähe. Hier müssten doch wenigstens ein paar verwilderte Bokkbeisser herumlaufen. Aber nichts, kein einziges Geräusch.«

»Sie vergessen, dass dieses Gebiet seit Jahrhunderten von der Außenwelt vollkommen abgeschottet ist«, erklärte Samuel. »Hier kommen weder Bokkbeisser noch Wilde herein, außer diejenigen, die hoch genug fliegen können, um die Mauer der Wacht zu überwinden.«

»Du vergisst die Samtwollschafe dort draußen«, gab Golepp zu bedenken. »Welche aber offenbar vor kurzem erst importiert wurden.«

»Und davor? Lebte hier zu Zeiten der Baronica nichts?«

»Nur das, was der Baron hier haben wollte. Nutztiere wie Pferde, Gokksen, Schafe und Trotter. Wenn sie über die lange Zeitdauer hinweg genug zu fressen und ausreichend Artgenossen fanden, um sich zu vermehren, sollten wir früher oder später auf ihre Nachkommen stoßen.«

Nun betrachtete auch Samuel die Gebäude vor ihm aufmerksam. Es waren insgesamt fünf eher schmucklose, quadratische Bauten, die sich jeweils in ein rundes Dach verjüngten.

Die dominante Mitte wurde von einem Prunkbau beherrscht. Über drei Etagen erstreckte sich das mit Abstand auffälligste Haus, überragte alles in der Garnison und gehörte damals zweifelsohne dem Kommandanten. Es beherbergte im Erdgeschoss einen großen Saal mit riesigen, verglasten Fenstern nach außen. Darüber lagen vermutlich die Arbeitsräume, mit mehreren kleinen Emporen und hübschen Stuck-Elementen an den Simsen. Das dritte Geschoss schien noch gut erhalten, ein breiter Balkon war daran angebaut, um die Truppen von dort aus instruieren zu können.

»Da müssen wir hoch, richtig?«, fragte die Lady.

»Ja, wenn mich nicht alles täuscht, ist da die Schaltzentrale untergebracht, welche die Tore zur Letzten Wacht öffnet. Von dort kann man diese sicher gut einsehen, es wäre also nur logisch.«

Samuel warf einen Blick in die entgegengesetzte Richtung. Von hier unten war nichts zu erkennen, doch wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, lugten hinter den grauen Mauern der Garnison die fast weißen der Letzten Wacht auf.

»Aber es sollten nicht alle nach oben gehen«, ergänzte er. »Wenn wir uns Zugang zum Erdgeschoss verschafft haben, bleiben Sie und Evlin bei Gemschen, ich suche mit Golepp den Schaltraum.«

Der Lady schien das nicht zu gefallen, schließlich war sie genau so neugierig auf das, was sich noch in dem Gebäude befand. Aber sie verstand auch, warum der junge Mann diese Aufteilung bevorzugte. Jemand musste bei dem Pferd bleiben, die Ausrüstung bewachen, und da waren natürlich die beiden besser bewaffneten Personen aus der Gruppe die erste Wahl.

Der Zugang zu den oberen Etagen erfolgte bei diesem Gebäude nicht von außen über eine Treppe, sondern musste innen liegen. Daher gingen wir zuerst auf die zweiflügelige Tür zu, welche in das Erdgeschoss führte. Mit ihr waren Wind, Wetter und Zeit vergleichsweise gnädig gewesen. Zwar hing sie ein wenig schief, schien aber noch voll funktionsfähig und ließ sich mit etwas Kraft aufziehen. Der große Raum dahinter war vollkommen verwüstet. Hier fand vor unzähligen Jahren ein Kampf statt, ohne Zweifel, eindeutig schon an den vielen skelettierten Menschen zu erkennen, die hinter Tischen und Schränken vergebens nach Schutz gesucht hatten.

Zwischen ihnen gab es einige stark verrostete Säbel und Speere zu bewundern, doch keine dieser Waffen war noch zu gebrauchen. Am hinteren, rechten Ende des Saals schlängelte sich eine steinerne Treppe nach oben in den ersten Stock. Um dort aber hinzugelangen, war es nötig, ein paar Barrikaden aus dem Weg zu räumen. Sogleich machten sich die beiden Männer an die Arbeit, während die Lady und Evlin im Eingangsbereich Stellung bezogen und nach draußen spähten.

»Wie es wohl damals hier gewesen sein mochte, als Widerstand diese Garnison überrollte?«

»Der Widerstand ist längst Geschichte, genau wie diese Soldaten«, sagte Evlin kühl und blickte ungerührt von der tragischen Historie dieses Ortes durch die fast glasfreien Fensteröffnungen nach draußen.

Dort konnte ich nichts erkennen, außer ein paar welken Blättern, die vom Wind über das ausgefranste Pflaster getrieben wurden.

»War die alte Evlin, als man sie noch Heilerin nannte, gleichsam abgeklärt? Empfindest du gar nichts beim Anblick der vielen Toten?«

»Nein, nicht das Geringste. Und diese Evlin gibt es nicht mehr«, entgegnete die junge Frau kühl. »Sie ist im Moosturm unter tausend Tränen jämmerlich verendet.«

»Das tut mir unendlich leid, beantwortet aber meine Frage nicht«, blieb die Lady hartnäckig. »Wie war Evlin, die Heilerin?«

Nun schien sie tatsächlich darüber nachzudenken, einen kurzen Momentnur, indem sie sich gestattete, Erinnerungen an ihre Zeit vor Hakkenbeisser heraufzubeschwören.

»Sie war gütig, freundlich. Und schwach.«

Der Lady lag noch eine weitere Frage auf der Zunge, doch dazu kam sie nicht mehr, da Samuel im gleichen Moment von hinten rief: »Wir sind durch, ich denke, es wird nicht lang dauern.«

»Gut, wir halten die Stellung«, entgegnete die erfahrene Kämpferin routiniert.

»Warte, Samuel!« Evlin kramte in ihrer kleinen Tasche und holte etwas heraus. »Fang! Wenn es hier Probleme gibt, drücke ich dreimal.«

Sie warf ihm eine weiße Halbkugel zu, etwa so groß wie ein Ei, in der oben ein gelber Knopf eingelassen war.

»Was … ist das? Und woher hast du es?«

»Gefunden. Der Roboter hatte es bei sich. Der mit den Hufabdrücken. Julius besaß sowas früher auch, allerdings erheblich größer. Hier ist das Gegenstück.«

Sie hielt eine ähnliche Halbkugel nach oben, nur dass diese gelb war und der Knopf dafür weiß. Dann betätigte sie diesen, wobei aus Samuels Richtung sogleich ein Piepton erklang.

»Ich verstehe, danke!«, sagte er. »Das könnte hilfreich sein.«

Evlin nickte nur, behielt ihr Gegenstück des Piepers in der linken Hand und legte die rechte an den Griff ihres Kampfstabs. Was hätte ich dafür gegeben, in diesem Moment die Gedanken der Lady zu erfahren. In ihrem Blick spiegelte sich neben Verwirrung und Misstrauen nun auch Bewunderung wieder, als sie Evlin von der Seite musterte.

Dann verschwanden die beiden Männer nach oben, die Treppe zum ersten Stock hinauf. Und ich stand erneut vor der Entscheidung: Sollte ich ihnen folgen, oder bei den Frauen bleiben, um die Geschehnisse aus ihrer Sicht zu beschreiben? Eine Wahl, vor die ich auf dieser Reise schon viel zu oft gestellt worden war, doch bisher hatte ich immer zielsicher die Seite gewählt, auf der mehr Erzählenswertes geschah.Also folgte ich Golepp und Samuel hinauf, denn das versprach interessant zu werden. Die erste Annahme, es könne sich um die Arbeitsräume des Kommandanten handeln, war komplett falsch. Hier hatten Menschen gearbeitet, sicher, aber diese füllten nicht große Landkarten mit ausgefeilten, strategischen Plänen, sondern Suppenschüsseln mit vermutlich nicht gar so ausgefeilten Gerichten. Es war die Küche der Garnison, vollgestellt mit Öfen, Schränken, riesigen Töpfen, in denen noch Überreste von vor vier Jahrhunderten zubereiteten Mahlzeiten erkennbar waren. Ich beschloss, dem nicht genauer nachzugehen. Es gibt einfach Dinge, die muss man nicht zwingend gesehen haben.

»Hier liegt noch einer«, sagte Samuel gerade. »Bestimmt der Koch. Er hält eine Kelle in den Fingern.«

Golepp kam zu ihm herüber, sah auf den Toten und bestätigte die Vermutung.

»Und da liegt gleich der Nächste.«

Er zeigte auf ein weiteres Skelett, um dessen luftige Taille noch ein Gürtel mit goldener Schnalle hing. Sein Schädel wies einen großen, kreisrunden Krater auf, der verdächtig genau zur Suppenkelle des Kochs passte.

»Ach, das gibt es ja nicht, ist das möglich? Rufus?«, sagte der alte Mann und betrachtete die Schnalle näher. »Er muss es sein, Rufus Daftenholm! Hier ist er also gestorben? Wahnsinn, damit haben wir quasi im Vorbeigehen eines der größten Rätsel des Krieges gelöst!«

»Wer war er?«, wollte Samuel wissen, schränkte aber in Anbetracht der knappen Zeit die Redefreiheit des Alchemisten ein. »Die Kurzform, bitte, wir dürften nicht zu lang …«

»Ja ja, ich weiß. Kurzform. Rufus Daftenholm. Einer der drei großen Anführer der Südland-Union. Im Kampf verschollen, während seine beiden Freunde es bis zur Baronica schafften. Es ranken sich viele heroische Geschichten um seinen Verbleib. Vielleicht ist es besser, wenn keiner erfährt, dass er, der große Held, hier von einem Koch mit seiner Kelle niedergestreckt wurde.«

Sie ließen die Blicke auf der Suche nach einem Aufgang zum Obergeschoss durch den Raum gleiten. Ganz hinten an der Wand wurde dieser durch eine Mauer geteilt, in der sich eine Tür und ein Fenster befanden. Dahinter konnte man einen Tisch erkennen und mehrere Schränke, vermutlich private Räumlichkeiten des Chefkochs. Von einer Treppe gab es aber auch dort keine Spur.