Baronica - Jon Barnis - E-Book

Baronica E-Book

Jon Barnis

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Beschreibung

Die exotische Reisegesellschaft – allen voran Samuel, Lady Yock und der Alchimist Golepp – hat die Tore des alten Baronica erreicht. Zur großen Verwunderung liegt die alte Hauptstadt nicht in Trümmern, sondern beherbergt nun neue Bewohner und präsentiert sich als gepflegte grün-weiß-gelbe Stadt mit sehr viel Stahl und etwas Blau. Doch nicht alles ist, wie es scheint. Alte Figuren spielen falsch und neue tauchen auf. Es entbrennt der finale Kampf um die Baronica.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

09/2023

 

Baronica – Die Stadt der Verlorenen Seelen

 

© by Jon Barnis

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Jon Barnis,

Bildmaterial vonJosefine "Writing Josy" Schwobacher

Lektorat: Rudolf Strohmeyer

Korrektorat: Barbara Dier

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto: privat

Illustration „Kampfstab“: Josefine "Writing Josy" Schwobacher

 

Coverbild ›Die Kristallchroniken‹

© 2022 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Coverbild ›Die Chroniken von Mytlaghyr‹

© 2021 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

 

 

 

ISBN 978-3-96741-237-6

 

 

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

Printed in Germany

 

 

Jon Barnis

 

Baronica

-

Die Stadt der Verlorenen Seelen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fantasy

 

Was bisher geschah

Vorwort von Jon Barnis

Memoria Juis

81 - Erwachen

82 - Gwenja in geheimer Mission

83 - Baronicas Farben

84 - Gwenja ex Machina

85 - Erwacht

86 - Gwenja und das Gloch

87 - Ein Spaziergang durch ErgaTon

88 - Gwenja und das Gloch (jetzt wirklich)

89 - Ein Keller aus Zandorinum

90 - Gwenja hat Zeit zum Reden

91 - Vier von Sieben

92 - Gwenja und der verrückte Plan

93 - Es lichtet sich

94 - Gwenja im Untergrund

95 - Schlachtpläne

96 - Gwenja und der Seelenkessel

97 - Des Barons sonderbarer Palast

98 - Gwenja auf dem Friedhof

99 - Stürmt die Baronica

100 - Gwenja und der irre Alchemist

101 - Abschied

102 - Gwenja und 8-15

103 - Auf zum Portal!

104 - Gwenja und der falsche Yock

105 - Die böse Elf

106 - Gwenja wird ferngesteuert

107 - Eine Drohne namens Finja

108 - Gwenja in der Oberstadt

109 - Wie man aus einem Inferno entkommt

110 - Gwenja und die geheimnisvolle Zahl

111 - Spiel mit der Angst

112 - Gwenja und der Besuch aus der Vergangenheit

113 - Feuer und Wasser

114 - Gwenja und die Frage, wer übrig bleibt

115 - So gründet man eine Religion

116 - Patrius und das Kalte Blut

117 - Gwenja und der Grumbat im Glashaus

118 - Klaffenkamp, die Mürrische

119 - Gwenja betritt die Fabrik

120 - Turmfällen für Anfänger

121 - Gwenja zurück im Schatten

122 - Die Barriere bröckelt

123 - Gwenja und der Alchemist

124 - Patrius gegen den Kessler

125 - Gespräche mit einem Nicht-Gott

126 - Gwenja und Hakkenbeissers Abgang

127 - Von fallenden Türmen und Bäumen

128 - Gwenja – wo das Herz schlägt

129 - Die Zeit läuft ab

130 - Gwenja im Kontrollraum

131 - Das Lied von Eis und Strom

132 - Gwenja nimmt Flugstunden

133 - Wieder vereint und getrennt

134 - Gwenja – Blut und Öl

136 - Gwenja greift ein

137 - Der Yock aus Stahl

138 - Gwenja – Briefe am Grab

139 - Golepps lange Nacht

140 - Gwenja – Die Wege trennen sich

141 - Und zurück

142 - Willkommen im Silberschuh

Epilog

DER AUTOR

Danksagung

Hybrid Verlag …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fürmeine Kinder, weil sie die Zukunft sind, die meiner Gegenwart einen Sinn geben.

 

 

 

 

 

 

 

Was bisher geschah

 

Nachdem sich die Gruppe hinter der Letzten Wacht wieder zusammengefunden hatte, musste sie sich einiger Mechanic-Wächter erwehren. Roboter, um genau zu sein, die meisten davon größer als Menschen und ungleich stärker. Lieferbar in verschiedenen Ausführungen, von einfachen Wächtern, die nach Baureihe und Alter aufsteigend nummeriert sind, bis zur Leibgarde der Trand, den sogenannten Speerspitzen. Die neuen Machthaber dieser Region, welche von der Stadt Lambeerdon aus agierten, haben offenbar eine Methode gefunden, Verlorene Seelen in diese Maschinen zu verpflanzen. Kalte, mechanische Wesen, mit einem menschlichen Kern, der sich seiner Existenz dummerweise nicht bewusst ist.

Auf der Suche nach Deckung und besserer Bewaffnung drang die Gruppe etwas weiter ins Umland vor und gelangte schnell an eine alte Garnison aus Zeiten der Baronica. In der fand sie Zeugnisse des Kampfes zwischen der aufständischen Südland-Union und den Anhängern des Barons. Hier konnte sie sich notdürftig ausrüsten, schließlich stand man nun stark gepanzerten Gegnern gegenüber, die über einfache Schwerter und antiquierte Schusswaffen nur müde lächeln würden. Auch das StoAx hatte ab hier seine Schuldigkeit getan, da es Mechanics nicht als Lebewesen erkannte und somit keinen Schutz vor ihnen bot.

Leider blieb das Eindringen der Gruppe auch bei der Trand nicht unbemerkt. Schon bald wurde die Garnison von Wachen umstellt, sodass nur noch die Flucht durch den geheimen Tunnel der früheren Kommandantin möglich war.

Dieser endete im kleinen, heute ebenfalls von Mechanics bewirtschafteten Ort 144, der früher als Fitgrim bekannt war. Wie es der Zufall wollte, kamen sie direkt im Keller des etwas angestaubten Mechanics 70-13 heraus, der schon auf sie gewartet hatte. Er offenbarte ihnen, dass auch die zweite Partei innerhalb der Kornkoppen bereits von ihrer Ankunft erfuhr. Diese hatte sich in der alten Stadt Baronica verschanzt und verteidigte sie seit vielen Jahren wacker gegen die Angriffe der Trand. 70-13, oder Dreizehn, wie er im Weiteren genannt werden mochte, war eine Art Informant für diese Partei. Er wies den Reisenden einen Weg durch den angrenzenden Wald und übergab sie in die Hände eines Berglings namens Grafda.

Genau jener Grafda, der damals noch für die Schwarzblutbäume als Sprachrohr gedient hatte, von denen Samuel das StoAxüberreicht bekam. Dreizehn führte sie direkt nach Lambeerdon hinein, von wo aus ein weiterer Informant sie an die Grenze zur Baronica schmuggeln sollte. Doch leider wurde dieser Plan schon innerhalb Lambeerdons vereitelt, denn auch davon hatte die Trand offenbar Wind bekommen, weshalb sie nun plötzlich Julius Hakkenbeisser höchstpersönlich gegenüberstanden. Jener Alchemist, der Evlin lange Zeit in seinem Moosturm gefangen hielt, sie ihrer Essenz beraubte und sich offenbar zum Anführer der Trand aufgeschwungen hatte. Bevor seine Wachen aber zuschlagen konnten, sprang ihnen der verschollen geglaubte Schmale Baron zur Seite. Mit seiner Hilfe, und etwas Sprengstoff, flüchtete Samuels Gruppe Hals über Kopf aus der Stadt. Der Baron führte sie zu seiner einstigen Festung, dem Grendic auf dem Klauenberg, östlich der Stadt, im Versprechen, dort vor den Robotern sicher zu sein. Doch direkt vor den Toren der Festung wurde Evlin von einer gegnerischen Kugel schwer verletzt. Bevor ihre Freunde sie in Sicherheit bringen konnten, stach plötzlich ein großes, geflügeltes Wesen durch die Wolken herab, ergriff die junge Frau und flog mit ihr davon. Samuel, die Lady, Golepp, Patrius, Dreizehn, Grafda, der Baron und Gemschen konnten sich gerade noch in die Festung retten, welche nun von einer mächtigen Armee Mechanics belagert wurde.

Ab diesem Zeitpunkt verlief die Geschichte in zwei verschiedenen Erzählsträngen. Wir erlebten, wie Evlin an einem fremden, seltsamen Ort aufwachte und der Rest der Gruppe vom Baron tief in die Eingeweide eines Höhlensystems geführt wurde, das sich Glasgrotten nannte. Dort begegnete er nicht nur einem kristallfressenden Wesen, sondern fand auch einen seltsamen Spiegel, der ihm einen Blick in eine fremde Welt gewährte. Die Menschenwelt – die Erde.

Derweil wurde Evlin vom geflügelten Wesen und der Heilerin Beyla gesund gepflegt und wollte nun so schnell wie möglich zurück nach Lambeerdon, um ihren Peiniger Hakkenbeisser zur Strecke zu bringen. Dabei kam ihr unverhofft der Schmale Baron zur Hilfe, mal wieder. Gemeinsam fielen sie in eine geheime Einrichtung namens Ingesia ein und stahlen dort ein Gerät, das Mechanics für kurze Zeit unschädlich macht.

Währenddessen hatten es Samuel und seine Begleiter aus den Glasgrotten heraus und an die Oberfläche geschafft. Nun befanden sie sich im Händlerring, ganz dicht an den Mauern der alten Baronica. Auch wenn das Viertel erst noch gut intakt schien, veränderte es sich zusehends in eine Ruinenstadt, an deren Ende ein alter Mann auf die Gefährten wartete. Dieser behauptete tatsächlich, er sei der Bruder der Lady. Und nicht nur das, er weihte sie ein, dass sie Celia hieße und eine der letzten Überlebenden des Bokkbergen-Massakers sei.

Davon ahnten Evlin und der Baron natürlich nichts. Sie waren damit beschäftigt, das Dorf Fitgrim von Mechanics zu säubern, wobei der alte Schlächter seine neue Begleiterin nicht ganz zufällig zu einer Art Blutrausch verhalf. Kurz darauf mussten sie Hals über Kopf flüchten, denn Verstärkung aus Lambeerdon war bereits auf dem Weg. In letzter Minute versteckten sich der Baron, Evlin, Gemschen und ihr neuer Begleiter Klopp in einem Jagdhaus, welches nur wenig später von Mechanics umzingelt wurde. Jener Klopp war übrigens nicht nur einer der geheimnisumwitterten Grumbats, sondern harrte seit dem Ende der Baronic auch in einem nahe gelegenen Turm aus. Allein Gevatter Zufall ist es zu verdanken, dass sein alter Freund, der Baron, ihn dort antraf und kurzerhand zum Mitkommen überredete.

Zur gleichen Zeit öffnete die Lady das Tor zur Stadt Baronica. Bevor sie aber auch nur einen neugierigen Fuß in die alte Herrscherstadt wagen konnten, wurden sie von einem kleinen Wesen auf der Stelle in tiefen Schlaf versetzt. Nicht irgendein Wesen, nein, es war eine Beobachterin wie Patrius. Eine ausgestoßene Sanktobin namens Gwenja.

 

Vorwort von Jon Barnis

 

Der normale Beobachter ist gewissenhaft und regeltreu. Einige von ihnen treiben das sogar dermaßen auf die Spitze, dass sie vor jeder größeren Entscheidung die Kontakteinheit fragen, um ganz sicherzugehen, gegen keine der mannigfaltigen Verordnungen zu verstoßen.

Patrius von Gaden ist kein normaler Beobachter. Manche bezeichnen ihn sogar als Eiter erregenden Stachel im Fleisch der ehrenwerten Schreiberzunft. Natürlich wusste er das und natürlich genoss er diesen Titel mit einem erhabenen Lächeln.

Allein schon, dass er es wagte, Protagonisten der Geschichte selbst Teile seines Manuskripts schreiben zu lassen, hätte ihm problemlos den Posten als erster Beobachter der neunten Welt kosten müssen. Tat es aber nicht, denn Patrius hat Freunde im Rat, gute Freunde, die seine unkonventionelle Art zu schreiben schätzen und so über vieles hinwegsehen. Der Oberste Lektor Juis gehört ganz sicher nicht dazu. Er vertritt die alte Ordnung und wehrt sich energisch gegen jene Regellockerungen, die der Neue Rat in letzter Zeit beschlossen hat. Seiner Überzeugung nach muss jedes schriftstellerische Werk, egal ob ausufernder Roman oder Kurzgeschichte, mit der gleichen Sorgfalt und Härte betrachtet werden. Immer auf den Millimeter genau die Regeln befolgend, ob man den Autor nun mochte oder ihn als Eiter erregenden Stachel ansah.

Juis ist der Inbegriff dessen, was über viele Jahrtausende die ehrenwerte Zunft der Beobachter ausmachte. Ein Relikt aus alten, ruhmreichen Tagen, welches nach und nach immer mehr von der Zeit überholt werden wird.

Dass ihm – unfreiwillig – der Prolog in diesem dritten und letzten Band der Baronica-Trilogie gebührt, ist dem besonderen Ablauf einer Buchveröffentlichung im Reich der Sanktoben geschuldet.

Im Normalfall läuft das folgendermaßen ab. Ein Beobachter wird in eine der neun zugänglichen Welten gesandt, um dort Informationen zu sammeln. Er tut dies, meist sehr gründlich, macht sich auf seiner Reise so viele Notizen wie möglich und kehrt dann wieder nach Sanktus zurück. Dort verbringt er nun die nächsten Wochen damit, sein Werk zu Papier zu bringen. Diese erste Version nennt man Rohfassung, in der man später ein paar handschriftliche Notizen des jeweiligen Lektors findet. Oder auch ausufernde Tiraden, so wie es bei Patrius gern mal der Fall ist.

Diese lektorierte, kommentierte Fassung kommt dann in die Rats-Druckerei und wird genau zehnmal vervielfältigt. Für jedes der acht Mitglieder des Rats ein Exemplar, dazu noch eins für den Autor, da der Lektor die Rohfassung behält, und eins für das große Archiv. Diese kommentierte Fassung nennt man Rats-Manuskript, denn nun ist es an diesem zu entscheiden, ob das Buch mit den angemerkten Änderungen gedruckt wird oder nicht.

Von hundert eingereichten Werken schaffen es gerade einmal acht, diese Hürde zu überwinden. Danach liegt es am Autor, die finale Fassung zu erstellen, welche dann wieder an den Rat zur Endkontrolle zurückgeht und nach deren Freigabe an die örtlichen Bibliotheken ausgeliefert wird. Von dort kann sie sich dann jeder nach Belieben ausleihen, so oft und so lange, wie es ihm gefällt.

Patrius’ Geschichte der Baronica allerdings schaffte es noch nicht einmal bis zum Rat. Sie wurde nie von den acht Mitgliedern begutachtet und kein einziges Exemplar sah jemals das Innere einer Bibliothek, geschweige denn eines Lesezimmers. Von dieser Geschichte existiert nur eine Fassung, und zwar genau jene, die der Autor dem Obersten Lektor Juis übergab. Dieser hinterließ darin seine üblichen Bemerkungen, aber nicht nur das. Es fand sich darin auch der eine oder andere Zettel, der ganz sicher nicht für die Öffentlichkeit gedacht war. Persönliche Bemerkungen, Gedanken des Lektors, die er wie üblich niederschrieb, um sie für sich selbst festzuhalten und mit deren Hilfe ein Großes, Ganzes zu formen.

Diese Zettel nennt man Memorias, alle zusammengefasst ergeben eine kurzgefasste Beurteilung des Werks, die der Lektor dem Rat übergibt. Sie sollten natürlich nicht in dem Buch verbleiben, wenn es zur Rats-Druckerei kommt. Da sie aber dennoch zuhauf in meinem hier vorliegenden Exemplar zu finden sind, gehe ich davon aus, dass Juis nie vorhatte, dieses Buch jemals der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Ein Grund dafür ist mit Sicherheit das nun folgende Memoria, welches auch gleichzeitig als Prolog dienen soll.

 

Jon Barnis

07.04.22

Memoria Juis

 

Gwenja

 

Dort bist du also gestrandet, meine Gwenja. In dieser unwirtlichen Gegend! Was trieb dich gerade dort hin, an den gefährlichsten Ort überhaupt? Hätte ich damals gewusst, welche der neun Welten du für dein Exil wählst – es wäre an mir gewesen, dich aufzuhalten. Und nun finde ich dich wieder, so unverhofft, ausgerechnet in einem Buch dieses Patrius. Welch Ironie, schließlich ist er dir sehr ähnlich. Aufrührerisch. Immer gegen jegliche Regel verstoßend. Nur dass er diesen letzten, alles entscheidenden Schritt noch nicht getan hat. Er hat die ehrenwerte Sache noch nicht verraten, für die wir stehen.

Es bricht mir das Herz, Gwenja, dich dort in den Vergessenen Landen zu wissen, so unendlich weit entfernt, unerreichbar.

 

 

 

81 - Erwachen

 

29ter Tag des Blütentau, 415 n.B.

 

Ich bin mir nicht sicher, ob sich meine verwirrten Gedanken nur unruhig im Schlaf wälzten oder es Teil jenes Prozesses war, den man gemeinhin als Aufwachen bezeichnet. Unaufhörlich zogen Bilder an mir vorüber, Bruchstücke von Erinnerungen, kaum greifbar, doch irgendwie gehörten sie alle zusammen.

Da war diese grünhaarige Frau aus meinem Volk. Gwenja, die Geächtete. Wenn ich der schwarze Fleck auf der weißen Weste meiner Zunft bin, war sie der kochend heiße Eimer Teer, der immer drohte das makellose Gewand in alles verschlingende Schwärze zu tauchen.

Dann wichen die Bilder langsam und machten Ein-Wort-Fragen Platz. Wie? Warum? Wie konnte es sein, dass sie hier war? Ausgerechnet hier? Warum hatte sie gerade diese Welt und diesen Ort für ihr Exil gewählt? Das konnte unmöglich sein! Wieder nur ein Trick? Eine Illusion? Entliehen aus meinen Erinnerungen, so wie der Slanderman, vor den Toren der Letzten Wacht?

Und was wäre, wenn sie wirklich echt ist, eine Sanktobin aus Fleisch und Blut? Unmöglich! Obwohl, so unmöglich war das gar nicht. Gwenja von Gaden ist eine Ausgestoßene. Sie unterwirft sich seit langer Zeit nicht mehr den Regeln des Rats und entzieht sich mindestens genauso lange schon seiner Kontrolle. Niemand wusste bisher, in welche Welt sie floh, man ist sich aber sicher, dass sie Hilfe dabeihatte. Also kann sie genauso gut hier gestrandet sein. Das eröffnete allerdings ganz neue Perspektiven. Ich war nicht der erste Beobachter in den Vergessenen Landen!

Als sie ausgestoßen wurde, studierte ich noch. Aber ihre Laufbahn als Beobachterin war ohnehin nur kurz, schon der zweite Auftrag brachte ihr sehr viel Ärger ein. Es hieß, sie wäre unfähig, sich zu fügen, Regeln zu befolgen. Doch sie wollte auch nicht das Leben einer Verwalterin führen oder gar Lektorin werden. Absolut nachvollziehbar, wenn man mich fragt.

 

***

 

Anmerkung des Obersten Lektors Juis

 

Ich weiß gar nicht, warum Sie immer auf diesem ehrenwerten Beruf herumhacken! Zu meiner Zeit haben sich die Studenten darum gerissen, in das Rats-Lektorat aufgenommen zu werden! Ich verbitte mir derart abfällige Bemerkungen! Keins Ihrer Bücher, werter Patrius, wäre auch nur annähernd in lesbarem Zustand herausgekommen, wenn ich es nicht vorher glattgebügelt hätte!

 

***

 

Langsam verschwammen meine Gedanken wieder, wurden undeutlich, kaum noch greifbar, bis sie erloschen. An ihre Stelle drängte sich ein leises, hämmerndes Geräusch. Nicht dominant, eher als würde jemand in der Ferne behutsam auf Metall schlagen. Nun kam es näher, wurde deutlicher und verstummte von einem Augenblick auf den anderen vollkommen, um zwei mechanischen Stimmen Platz zu machen.

»FAST WIEDER WIE NEU, SIEHST DU?«, sagte die eine, welche ich nicht erkannte.

»17-15 HÄTTE ES NICHT BESSER HINBEKOMMEN, WUNDERBAR!«

Das war Dreizehn. Diese Stimme würde ich aus Hunderten Mechanics heraushören.

»ACH JA, DER ALTE LOHRENS. EIN GUTER KOCH, ALS ER NOCH LEBTE, ABER WARUM MAN GERADE IHN IN DIE WERKSTATT GESTECKT HAT, WAR MIR NIE KLAR.«

Nun hörte ich, wie Schrauben festgezurrt wurden. Offenbar unterzog sich Dreizehn gerade einer Generalüberholung.

»WEIL DU PLÖTZLICH VERSCHWUNDEN WARST, GANZ EINFACH.«

»ACH RICHTIG, DA WAR JA WAS. WIE UNHÖFLICH VON MIR, MICH EINFACH ERLEUCHTEN ZU LASSEN.«

Er lachte blechern, aber es klang dennoch herzlich und freundlich. Währenddessen hatte ich bereits drei Versuche unternommen, die Augen aufzuschlagen. In beiden Welten gleichzeitig. Denn auch mein richtiger Körper, welcher sich immer noch im Occlusium befand, war durch Gwenjas überraschenden Auftritt eingeschlafen.

Natürlich griff die Kontrolleinheit nicht ein. Warum auch? Schließlich ging es mir gut. Alle Vitalwerte waren stabil, kein Anzeichen einer Gefahr, also auch kein Grund, mich aus der neunten Welt zurückzuholen. Ich schlief lediglich. Und das offenbar fast einen ganzen Tag lang. Denn als ich es endlich schaffte, die müden Lider zu heben, war es früher Vormittag.

Die Stimmen der beiden Mechanics schienen nun gar nicht mehr so deutlich zu sein wie zuvor. Sie gingen in einem Meer anderer Geräusche unter, verschmolzen zu einer Art dörflicher Klangidylle, in der aber einiges nicht ganz passte. Zum einen hörte man fast ausschließlich metallische Stimmen, bei herkömmlichen Dörfern eher ungewöhnlich. Darüber hinaus roch es nicht nach frisch gebackenem Brot, sondern nach einer Automobil-Werkstatt aus der ersten Welt.

Optisch dagegen tappte ich sprichwörtlich im Dunkeln. Erst langsam gewöhnten sich meine Augen an die spärlichen Lichtverhältnisse und offenbarten immer mehr Details. Ein größerer Raum. Über mir eine hohe, gewölbte Decke, hübsch verziert mit kindlichen Motiven. Ein Schmetterling hier, dort ein Samtwollschaf oder etwas, das diesen Tieren zumindest ähnlich sah. Weiter drüben kryptische Worte in der alten Sprache. Eindeutig, wir mussten uns noch im Inneren der Wilden Ebene befinden, denn so etwas würde man in den Vergessenen Landen ringsherum nicht mehr finden.

Unter der Decke besaß die sandig wirkende Mauer zwei halbrunde, große Löcher, durch die Licht, Geräusche und Gerüche nach innen drangen. Nicht viel, denn das meiste davon schluckte ein dicker Vorhang, ebenfalls mit kindlichen Motiven verziert.

Ich blickte nach links und sah, dass ich nicht allein in dem Raum war. Neben mir stand ein weiteres Bett, nicht weniger gemütlich als meins und ebenfalls belegt. Samuel. Er schlief, absolut geräuschlos. Wenn sich sein Brustkorb nicht hin und wieder gehoben hätte, wäre die Befürchtung in mir aufgekeimt, er sei tot. Gleich daneben ruhte die Lady und zu meiner Linken Golepp.

Auch er schlief, aber nicht geräuschlos. Jetzt wurde mir klar, dass das vermeintliche Schrauben gar nicht von draußen kam. Es war der Alchemist, der friedlich vor sich hin schnarchte. Ich schien der Erste aus unserer Gruppe zu sein, der sich aus dem Schlaf winden konnte. Sollte ich sie aufwecken? Oder warten, bis sie von selbst aus dem Land der Träume zurückkehrten?

Noch grübelnd, warum man uns schlafen gelegt und hierhergebracht hatte, drehte ich mich wieder zu Samuel um und erschrak. Zwischen seinem und meinem Bett glotzten mich plötzlich zwei große Augen an. Sie waren eingebettet in einen Kopf, überzogen mit blassblauer Haut, welche im abgedunkelten Raum fast grau erschien.

Mir wäre sicher das Herz stehen geblieben, würde mein Volk über ein solches Organ verfügen. Stattdessen wich ich wild strampelnd zurück, erreichte die Bettkante auf der anderen Seite und fiel rücklings herunter. Im letzten Augenblick bekam ich noch das über die Liegefläche gespannte Laken zu fassen und baumelte nun drei Handbreit über dem Fußboden. Grafda sah mich böse zwischen den Beinen des Betts hindurch an und legte den Finger auf seinen Mund, um mich nachdrücklich zu ermahnen, doch gefälligst leise zu sein. Moment mal, wie konnte er mich bitte schön sehen? Soweit ich weiß, war das aus der Gruppe nur Samuel und Dreizehn möglich. Wieso nun auch der Bergling?

Ich löste meinen Griff, der die Reste des Betts umklammert hielt, und ließ mich auf den Holzfußboden fallen. Er wirkte sauber, wie alles in dem Raum, etwas altbacken vielleicht, aber nicht abgeranzt. Übrigens eines meiner Lieblingswörter aus der ersten Welt, abgeranzt. Ähnlich gut wie verlebt oder verwohnt.

Grafda winkte mir, ich solle ihm folgen, aber gefälligst auf leisen Sohlen und zügig. Offenbar hatte er noch nicht vor, die anderen aufzuwecken. Ich sah ihn einen Moment lang misstrauisch an, dann übermannte mich die Neugier auf das, was sich außerhalb der Mauern dieses Zimmers befand und ich tat wie mir geheißen.

Er führte mich zu einer Tür, ganz am Ende des Raums, der einst so etwas wie ein Schulzimmer gewesen sein musste. Überall hingen Bilder von Tieren an den Wänden, manche fast originalgetreu gemalt, andere eher kindlich vereinfacht. Direkt über der Tür war das Zeichen der Baronic angebracht, der berühmte Yock-Kopf, fein säuberlich geschnitzt aus dunklem Holz und als einziges Element in diesem Raum nicht vom Staub der Jahrhunderte befreit. Wer immer hier putzte, war wohl kein großer Freund des alten Reichs.

Vorsichtig öffnete Grafda die schwere, weiß gestrichene Holztür und zog sie einen Spalt breit nach innen auf. Licht drang herein, nicht so viel, dass es ausgereicht hätte, den Raum zu erhellen, aber genug, um zu erkennen, dass alle anderen noch friedlich schlummerten. Dann wies er mich an, schnell durch den Spalt hinauszuschlüpfen, was ich sogleich tat, denn nun war die Neugier kaum noch zu ertragen.

Bin ich wirklich in der alten Stadt? Ist es uns tatsächlich gelungen, diese letzte Hürde zu überwinden, wortwörtlich im Schlaf? Was erwartet mich dort draußen? Und wohin hatte sich mein gesundes Misstrauen eigentlich verkrochen, welches mir gewöhnlich immer brav beiseitestand, um mich vor den größten Dummheiten zu bewahren? Vermutlich schlief es noch genauso fest wie meine Kameraden dort hinter mir. Wie sonst sollte diese Arglosigkeit erklärt werden? Andererseits, warum hätte ich denn misstrauisch sein sollen? Grafda hatte sich auf unserer Reise als vertrauenswürdig erwiesen, auch wenn es schwer war, mehr als zwei zusammenhängende Sätze aus ihm herauszubekommen. Er schien loyal und ließ keinen Zweifel daran, uns helfen zu wollen.

»Wo ist Gwenja?«, flüsterte ich ihm zu.

»Hat Stadt verlassen. Geheime Mission«, erklärte er auf seine übliche, ausufernde Art.

Ich sah ihn enttäuscht an, schließlich schwirrten mir Hunderte Fragen an sie im Kopf herum. Fragen, deren Antworten unser soziales Gefüge auf Sanktus ordentlich durcheinanderwirbeln könnten. Aber Grafdas Blick verriet ganz klar, dass er mir dazu nicht mehr sagen konnte, durfte und wollte.

So trat ich ins Licht hinaus und vor mir tat sich ein sonnengefluteter Innenhof auf. Dort unten herrschte fast schon gespenstische Stille, zumindest für eine Schule, was nur bedeuten konnte, dass dieses Gebäude schon lange nicht mehr den ursprünglichen Zweck erfüllte.

Dafür kamen von links umso mehr Geräusche. Ein schmaler Gang führte dort auf die Vorderseite des Gebäudes. Da das Zimmer im ersten Stockwerk lag, sah ich erst nichts als blauen Himmel über einer halbrunden, gemauerten Balkonbrüstung, welche etwa meine Körperhöhe aufwies. Nach ein paar Schritten auf sie zu konnte ich die Wipfel von mächtigen, uralten Bäumen erkennen.

Jetzt hatten wir die Balkonbrüstung erreicht und ohne nachzudenken, erklomm ich sie mit ein paar geschickten Handgriffen. Grafda tat es mir gleich, da auch er, seiner Körpergröße geschuldet, nur schwerlich darüber hinwegsehen konnte. Dies bestätigte meine Theorie, dass dieses Gebäude einst für Kinder errichtet worden war. Kinder, deren Eltern es nicht schätzten, ihre Sprösslinge an ein mangelhaftes Schul-Sicherheitskonzept zu verlieren.

Vermutlich ließen es sich die damaligen Schüler dieser Einrichtung dennoch nicht nehmen, genau wie wir in diesem Moment, die Brüstung zu erklimmen und mit baumelnden Beinen die atemberaubende Aussicht zu genießen.

Die alte Baronica war alles andere als verlassen, so viel stand fest. Aber auch sie schien kein Ort der Menschen mehr zu sein.

82 - Gwenja in geheimer Mission

 

Hmm, sollte ich das Kapitel wirklich so nennen? Ist doch schon etwas länger her, dass ich geschrieben habe. Muss sagen, es hat mir nicht wirklich gefehlt.

Aber wie unhöflich von mir, ich sollte mich vorstellen, nicht? Gestatten, Gwenja. Einfach nur Gwenja, den lästigen Titel sparen wir uns, denn der spielt in den Vergessenen Landen ohnehin keine Rolle. Doch falls Sie mir unbedingt einen verpassen wollen – Gwenja, die Geächtete. Mittlerweile habe ich mich damit angefreundet und bin sogar ein wenig stolz darauf. Welcher Sanktobe kann schon von sich behaupten, offiziell als geächtet zu gelten?

So, mehr muss man auch nicht über mich wissen. Noch nicht. Ganz sicher werde ich mir im Laufe meiner Kapitel noch öfter die Gelegenheit ergreifen, ein paar Fakten über mich einzustreuen. Bedenkt man, dass ich Patrius bei unserer ersten Begegnung gleich einschläferte, ist es ohnehin erstaunlich, dass er mich so bereitwillig in seinem Buch schreiben lässt. Also sollte ich mir Mühe geben. So wie damals, auf Sanktus im Studium. Was für eine schreckliche Zeit.

Nein, das stimmt nicht. Damals gab ich mir auch keine Mühe. Und ganz so schrecklich war sie auch nicht, aber das lag hauptsächlich an einem Mann, dessen Namen ich hier lieber nicht erwähnen sollte. Andererseits, er wird dieses Buch sicher auf seinen Tisch bekommen. Und es daher auch nicht lassen können, eine seiner berüchtigten Anmerkungen darin zu hinterlassen. Vielleicht sogar zu diesem Satz. Oder dem hier. Oder dem nächsten? Ach komm schon, Juis, wehr dich nicht, ich weiß, dass du es willst! Gib dem Drang einfach nach und lass mir ein paar Zeilen da. Sicher werde ich sie nie zu lesen bekommen, aber wenigstens um der schönen, alten Zeiten willen?

 

***

 

 

Memoria Juis

 

Gwenja. Wenn du wüsstest, wie sehr du mir fehlst.

 

***

 

Ohnehin glaube ich ja, dass dieses Werk niemals erscheinen wird. Mit meinem Auftauchen darin hat es sich selbst in die Hölle der vergessenen Bücher katapultiert. Eine schöne Metapher eigentlich. Die Hölle der vergessenen Bücher.

Nein, der Oberste Lektor wird es nicht riskieren, aller Welt zu verraten, wo ich mich aufhalte. Und Patrius weiß das, ganz sicher. Andererseits wäre es sinnlos gewesen, mich aus der Geschichte herauszuhalten. Schließlich bin ich ein Teil von ihr und bei aller nicht vorhandenen Bescheidenheit habe ich ihren Ausgang maßgeblich mitbestimmt. Ganz sicher wird Juis vor Wut kochen, wenn er gleich liest, wozu eine Beobachterin alles fähig ist. Wenn man sie nur lässt.

Es tut mir leid, mein Liebster, dir das antun zu müssen. Also ein bisschen zumindest.

Die Mission war von vornherein klar. Suche nach Hinweisen auf Evlin, verfolge ihren Weg und steh ihr mit allen Kräften zur Seite. Jetzt, da das Tor geöffnet war, standen uns ganz neue Möglichkeiten offen.

Evlins Spur zu folgen, war nicht sonderlich schwer. Der alte Schlächter hatte sein Bestes gegeben, um sie so deutlich wie möglich auf der Landkarte nachzuzeichnen.

Aber halt, vielleicht sollte ich noch kurz erklären, wie wir im Inneren von ErgaTon davon erfahren konnten. Eigentlich genügt dafür ein Wort. Madrissa. Das Einflussgebiet der Glasgrottenhüterin reichte bis knapp hinter die Mauern, sehr knapp, aber es genügte ihr, um hin und wieder unangemeldet in der alten Torwächterstube aufzutauchen. Von ihr wussten wir, dass eine Gruppe Reisender unterwegs war. Dass sie am Fuße des Klauenbergs getrennt wurden, ebenfalls, und natürlich auch, dass die junge Evelyn vom Geflügelten gerettet wurde. Die weitere Geschichte ist bekannt, sie wurde von Beyla gepflegt, entschloss sich, dem Schlächter zu folgen – warum? – und wollte nach Lambeerdon, um Rache zu üben.

So begann ich kurz hinter dem Sumpf mit meiner Spurensuche. Wie gesagt, man muss kein geübter Fährtenleser sein, um ihren Pfad weiterzuzeichnen. Vorbei an einem halb zerstörten Sanatorium, dessen Rauchschwaden noch immer weit sichtbar über dem Land hingen. Von dort aus führte nur ein Weg Richtung Lambeerdon, zumindest ein direkter. Unschwer zu erraten, dass sie diesen nehmen würden, warum sollte der Baron auch seinen Plan verheimlichen und Spuren verwischen? Schließlich wollte er ja mit fliegenden Fahnen in Hakkenbeissers Hauptstadt einfallen. Zu zweit. Gegen Hunderte unbekehrte Mechanics. Was für ein toller Plan.

Mein Weg führte mich unweigerlich über Fitgrim. Es war klar, dass sich die stählernen Dorfbewohner nicht selbst massakriert hatten, also mussten die Fremden auch hier hindurchgekommen sein. Und hatten ein regelrechtes Schlachtfeld hinterlassen! Mittlerweile wimmelte es dort von Sicherheitskräften. Lambeerdon hatte eine kleine Armee ausgesandt, um den Vorfall zu untersuchen. Nur ein einziger Überlebender, der zudem auch noch erleuchtet war. Eine Schande, dass die letzte Evakuierungsroute nicht mehr existierte, er wäre uns sicher nützlich gewesen.

Mechanics sind miese Spurenleser. Sie mögen gut kämpfen können, aber einfaches Erkennen von Fußspuren, selbst den deutlichsten, gehört nicht zu ihrer Programmierung. So schickten sie auch nicht die ganze Einheit direkt zum Jagdhaus, sondern teilten sie auf. Vier Grüppchen Mechanics. Eine dumme Idee, doch nur dadurch – aber nein, dazu später, ich will ja nicht zu viel verraten. Dem Leser nicht zu früh die Lösung spendieren. Das Erste, das man als angehende Beobachterin lernt.

Für mich war schnell klar, wohin sich die Schlächter Fitgrims flüchteten. Kein Zweifel. Hätten die Spähtruppen auch nur ein-, zweimal aufmerksam zu Boden geschaut, wären ihnen die frischen Hufabdrücke Gemschens aufgefallen. Aber was will man erwarten. So kamen sie wohl nur durch Zufall auf die Idee, im Jagdhaus des irren Richters vorbeizuschauen. Ich erreichte es ungefähr zur selben Zeit und bekam mit, dass sie aufgeregt diskutierten, wie sie es stürmen könnten. Dabei kam man auf so glorreiche Ideen wie »MAN KÖNNTE EINFACH DURCH DIE MAUER BRECHEN« oder »WIR SCHICKEN 48-23 VOR ZUM FEUER LEGEN. DANN KOMMEN SIE GANZ BESTIMMT VON SELBST HERAUS.«

Offenbar gab es aber die Order, die Übeltäter in einem Stück nach Lambeerdon zu bringen, und möglichst auch noch lebendig. Unverkohlt, mit allen Gliedmaßen. Was sie natürlich vor eine besondere Herausforderung stellte. Mehr noch, irgendwer in Fitgrim, vermutlich der Oberste, ganz sicher sogar der, hatte ins Hauptquartier gefunkt, dass die Angreifer ein Gerät besäßen, welches jeden Mechanic ohne direkten Kontakt kampfunfähig machte. Er berichtete auch von einer wild gewordenen Furie, die ihren Kampfstab gern in Roboterherzen bohrte. Also wäre es unsinnig gewesen, einfach so hineinzustürmen, lebensmüde gar, auch wenn man das kaum Leben nennen konnte, was die Unbekehrten dort draußen führten. Was für arme Seelen, missbraucht für einen perfiden Plan, längst tot, ohne es zu wissen.

Aber gut, nun war ich ja da und konnte dem ein Ende machen. Allerdings war auch für mich der Frontalangriff keine Option. Ich bin keine Kriegerin und meine Kräfte in dieser Welt sind beängstigend eingeschränkt. Aber ich habe ein paar nette Spielsachen im Gepäck und weiß, wie man sie zur richtigen Zeit benutzt. Nur, die Zeit war noch nicht gekommen. Wenn ich schon einen Auftritt in dieser Geschichte haben darf, dann doch mindestens als Gwenja ex Machina.

83 - Baronicas Farben

 

mit Kommentaren von Gwenja

 

Ich bin mir sicher, dass es auch heute noch viele Bücher über die alte Stadt gibt. Einige hatte ich selbst in Hakkenbeissers Turm gesehen. Andere machten sich in Golepps Giftmischerstübchen breit.

 

 

Anmerkung von Gwenja

 

Nicht zu vergessen, im Inneren der ehrenwerten Bibliothek von Miosma gibt es eine ganze Abteilung, die ausschließlich Werke über die Baronica beherbergt. Oder wie wir es nennen, ErgaTon. Ob es Patrius recht ist, dass ich in seinem Manuskript herumkommentiere? Aber wenn das Juis darf … Antonie Xorpa war ein ausgezeichneter Geschichtenerzähler und so gut wie jedes seiner Worte hat sich in mein Gedächtnis eingemeißelt.

 

 

Doch weiß ich mittlerweile, dass keine Beschreibung darin dem Original gerecht wird.

Als ich das Geländer des Balkons erklommen hatte, offenbarte sich mir eine milde, komplett unaufdringliche Melange aus Grün, Weiß und Gelb, vermischt mit etwas Blau und ganz viel Stahl. Das Grün rührte natürlich von der üppigen Vegetation her, die sich in Form einzelner Bäume und Büsche, aber auch kleiner Parks und großer Blumenrabatten vor mir ausbreitete. Alles fein säuberlich gepflegt, geschnitten und umrahmt, als würden tagein, tagaus Hundertschaften von Gärtnern durch die weitläufigen Anlagen wuseln. Dieses Grün bildete einen schönen Kontrast zum fast schneeweißen Pflaster. Jede Straße, jede Gasse und jede noch so unbedeutende Beet-Einfassung bestand aus diesem Material.

 

 

Trikburger Marmor, um genau zu sein. Furchtbar teuer heutzutage, da die Vorräte des Marmorstädtchens Trikburg mittlerweile so gut wie erschöpft sind. Damals muss es eine unglaubliche Anstrengung gewesen sein, die Unmengen an Gestein bis hierher zu bringen. Schließlich liegt der Abbauort ganz weit im Osten der Lande, dort, wo man noch immer den Begriff Orleandas benutzt, weil dies die Schönheit dieses Gebiets am besten beschreibt.

 

 

Der geschliffene und polierte Sandstein, aus dem so gut wie jedes Haus errichtet war, hatte eine lange Reise hinter sich. Er war typisch für die Bauweise der Kaleefen und entstammt sicher ihrer großen Wüste, ganz im Norden. Unverkennbar, dass hier einst ein Sohn der Smalef auf dem Thron saß. Niemand sonst wäre auf die Idee gekommen, mit diesem störrischen Material zu bauen. Dafür hatte er damit Gebäude errichten lassen, die nicht dem entsprachen, was man von einem solch egomanen Herrscher hätte erwarten können. Nicht riesig und prachtvoll, sondern eher gedrungen und verwinkelt. Maximal drei Stockwerke hoch, sodass keines über das Zentrum der Macht im hinteren Drittel der Stadt hinausragte. Genau genommen also doch typisch Egomane.

Nun fehlt noch das Blau. Eigentlich nur eine Illusion, eine tückische Spiegelung des Himmels in den vielen kleinen Seen, Bächen und Brunnen. Die ganze Stadt war mit Wasserspielen gespickt. Raffinierte Konstruktionen zur Bewässerung und Belustigung, zum Baden, zum Abkühlen oder einfach nur, um den hübschen Häusern noch mehr Glanz zu verleihen, indem man neben die Eingangstore einen kleinen Brunnen stellte. Hier gab es mehr Wasser als in der ganzen Wüste Smalef. Auch ein Ausdruck der Macht, denn wer dort über das kostbare Nass verfügt, ist automatisch im Recht. Es ist im Land aus Sand mehr als Silber wert, da wundert es nicht, dass sich der Baron hier an allen Ecken und Kanten damit umgab. Eine größere Machtdemonstration konnte es nicht geben.

Diese unglaublich elegante Farbkomposition überwältigte mich, als ich auf der Balkonbrüstung neben Grafda saß. Direkt vor der ehemaligen Schule verlief eine kleine, schneeweiße Straße, flankiert von zwei nicht minder weißen Bürgersteigen. Auf der anderen Straßenseite schloss sich ein großer Platz an, der hoffentlich kein Schulhof war.

Das nächste Haus links, welches sich ans Schulgebäude anschmiegte, war drei Stockwerke hoch, wobei das dritte nachträglich aufgesetzt wirkte. Es war, wie viele der Häuser, über eine steinerne Außentreppe begehbar und besaß ein Flachdach, von dem sich gelb blühende Blumen herunterrankten.

So ging es die Straße weiter hinunter, immer in ähnlicher Bauweise, aber immer auch ganz anders. Kein Haus glich dem nächsten. Einmal waren es drei Stockwerke, dann nur eins, mal sehr breit und nach oben hin spitz zulaufend, mal so schmal, dass kaum mehr als zwei kleine Räume darin Platz fanden. Einige Häuser beherbergten im Erdgeschoss Läden, von denen aber nur die wenigsten noch genutzt wurden. Andere waren von der Straße aus gar nicht erreichbar, sondern nur durch einen kleinen Gang am Haus entlang, der durch einen Hinterhof-Garten führte und irgendwo versteckt an einer Haustür endete. Es schien, als gäbe es damals eine Regel, die besagte, dass jedes Haus in der Stadt nur ein einziges Mal existieren durfte.

Außerdem fiel auf, dass im gesamten Stadtgebiet die Farbe Rot fehlte. Offenbar hegten die neuen Machthaber eine fast krankhafte Abneigung dagegen. Was allerdings die Einwohner nicht mit einschloss, denn gerade liefen drei Mechanics unten auf der Straße vorbei, die in genau dieser Farbe lackiert waren. Von oben bis unten.

»Nennen sich die Erleuchteten«, erklärte Grafda neben mir.

»Sie sind sich ihrer menschlichen Seele bewusst, so wie Dreizehn?«, wollte ich wissen.

»Genau.«

»Also absolut ungefährlich?«

»Für uns. Ja.«

»Gibt es viele von ihnen?«

»Etwa zweihundert.«

Das war nicht die Stimme des Berglings und auch keine andere, die ich kannte. Ruckartig drehte ich mich um und sah einem kleinen, gedrungenen Mann mittleren Alters in die Augen. Er wirkte freundlich, zurückhaltend und beäugte mich mit ehrlichem Interesse. Und ja, natürlich sah er mich auch. Offenbar galten die Regeln der Beobachter innerhalb dieser Mauern nicht mehr. Unschwer zu erraten, wer dafür verantwortlich sein musste.

»Wie unhöflich von mir«, fügte er etwas unsicher hinzu. »Veron. Veron Xorpa.«

Xorpa? Wie Antonie Xorpa, der berühmte Abenteurer? Das konnte keinZufall sein. Er streckte mir seine Hand entgegen, in der Hoffnung, ich würde sie ergreifen und schütteln. Ein schreckliches Ritual, welches ich schon in der ersten Welt als höchst seltsam empfand. In den Landen hatte man es sich ebenfalls angewöhnt und auch hier ergibt es für mich keinen Sinn, sich die äußeren Extremitäten zu schütteln. Aber gut, der Höflichkeit geschuldet ließ ich mich dazu hinab und bereute es gleich wieder.

Verons Handdruck war schwammig, irgendwie lasch und sehr darauf bedacht, dabei möglichst wenig Körperkontakt zu erzeugen. Offenbar empfand er ähnlich wie ich, war aber dennoch um Manieren bemüht.

»Ich glaube, Sie haben viele Fragen, richtig? Natürlich haben Sie die. Aber leider muss das noch warten, was ich sehr bedauere. Zuerst will ich Ihre Freunde aufwecken. Tut mir übrigens sehr leid, Sie auf diese Weise – begrüßt zu haben. Es war leider unumgänglich, verstehen Sie? Nein, können Sie auch nicht, dafür muss ich Ihnen erst noch einiges erklären. Aber nicht hier. Ganz bestimmt nicht hier.«

Mit jedem Wort wurde er unsicherer. Kein geübter Redner, eher jemand, der wenig Umgang mit Menschen pflegte. Sollte er wirklich mit dem berühmten, redegewandten Antonie Xorpa verwandt sein? Dem größten Entdecker und Abenteurer der Lande?

Während ich ihm noch zweifelnd nachblickte, wie er im Schulzimmer verschwand, sah sich Grafda genötigt, ihn zu entschuldigen.

»Ist Menschen nicht gewohnt, der Veron.«

»Aber ich bin kein Mensch«, versuchte ich zu argumentieren.

»Aber menschlicher als die da.«

Gerade waren aus einem kleinen Geschäft schräg gegenüber zwei Mechanics herausgetreten. Einen davon erkannte ich sofort wieder, schließlich hatte uns Dreizehn lange Zeit begleitet. Der andere aber war mir nicht bekannt, offenbar eine Art Schmied, der sich darum kümmerte, die mechanischen Hüllen der Einwohner instand zu halten. Ein, vielleicht zwei Baureihen neuer als unser Mechanic, etwas höher und blau-grün lackiert. Er wirkte äußerlich verwohnt, abgewetzt, als hätte er schon viel durchgemacht, und zog das linke Bein beim Gehen etwas nach. Im Kopf allerdings schien alles noch zu funktionieren.

»WENN DAS BEIN WIEDER PROBLEME MACHT, WEISST DU JA, WO ICH ZU FINDEN BIN, HAAG«, verkündete er Dreizehn und klopfte ihm vertraut auf die Schulter.

»NATÜRLICH, DANKE NOCH EINMAL. ABER WAS IST DAMIT?«, wollte Dreizehn wissen und zeigte auf das Bein seines Gegenübers.

»ACH, DU KENNST DOCH DAS SPRICHWORT. DER FRISEUR HAT DEN SCHLECHTESTEN HAARSCHNITT«, lachte er, doch es war nicht zu überhören, dass ihm gar nicht danach zumute war. »IST LEIDER IRREPARABEL, DAS ÜBERSTEIGT SELBST MEINE FÄHIGKEITEN. MIR FEHLT GANZ EINFACH EIN ERSATZTEIL, WELCHES ES INNERHALB DIESER MAUERN NIRGENDWO GIBT.«

»JETZT, WO DAS TOR OFFEN IST …«, begann Dreizehn, doch der Schmied ließ ihn nicht ausreden.

»GIBT ES AUCH KEINE MÖGLICHKEIT, AN FRISCHE ERSATZTEILE ZU GELANGEN. WIR KOMMEN ZWAR DURCH DIE BARRIERE HINAUS, ABER NICHT WIEDER HINEIN. ALLE GEHEIMEN, UNTERIRDISCHEN WEGE SIND MITTLERWEILE VERSCHLOSSEN, ALSO SIND WIR KOMPLETT VOM NACHSCHUB ABGESCHNITTEN.«

»DAS HABE ICH BEREITS GEHÖRT, KEINE GUTE NACHRICHT. ALSO WIRD ES AUCH KEINE NEUEN ERLEUCHTETEN MEHR GEBEN?«

»DIE TRAND KENNT UNSERE PLÄNE. MOMENTAN KÖNNEN WIR NUR EINS MACHEN. HIER AUSHARREN UND HOFFEN, DASS UNSERE NEUEN GÄSTE EIN PAAR IDEEN MITGEBRACHT HABEN, UM UNSERE LAGE ZU VERBESSERN.«

Dabei schaute er zu mir nach oben und Dreizehn folgte seinem Blick. Als er mich auf der Brüstung sitzen sah, begann er freundlich zu winken, und der Schmied nickte mir zu. Sehr unangenehm, plötzlich von aller Welt gesehen zu werden. Wie halten die Menschen das aus?

Fast zeitgleich hörte ich hinter mir laute Stimmen. Nein, eigentlich nur eine laute Stimme und zwei andere, die versuchten, sie zu beschwichtigen. Eindeutig die Lady, ich hatte nichts anderes erwartet.

 

84 - Gwenja ex Machina

 

Jetzt mal ehrlich, ist es nicht seltsam? Immer wenn die Geschichte ausweglos erscheint, kommt aus dem Nichts die Rettung in letzter Sekunde daher. Auf Sanktus nennt man das den Safrimus-Trick, benannt nach dem extrem mäßig begabten und absolut überschätzten Safrimus. Ein Schwachkopf, ohne Gefühl für Spannung und Logik und trotzdem äußerst beliebt. Sagt viel über mein Volk aus, oder?

 

***

 

Memoria Juis

 

Auch wenn ich mit dir so gut wie nie einer Meinung war, Gwenja, muss ich dir in diesem Punkt uneingeschränkt beipflichten. Safrimus ist ein Schwachkopf. Seit Jahren weigere ich mich, seine stümperhaften Machwerke zu korrigieren, aber er findet immer andere Lektoren, die ihm wohlgesonnen sind. Gegen sein Geschreibe sind Patrius’ mäßige, poetische Höhenflüge reinste Hochgenüsse. Dennoch stehen seine Bücher in so gut wie jeder Bibliothek und immer an den besten Stellen. Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen. Niemand würde freiwillig so einen in Worte gemeißelten Unsinn lesen. Wenn ich irgendwann auf des Rätsels Lösung stoße, wird die Karriere des Safrimus Geschichte sein.

 

***

 

In der ersten Welt allerdings gibt es dafür einen Begriff, den ich viel passender finde. Deus ex Machina. Wieder etwas, das ich von Patrius gelernt habe.

Selbst in diesem Buch finden sich einige scheinbar ausweglose Situationen, die dadurch aufgelöst werden. Im Weißen Tal zum Beispiel, als die Katze aus dem Nichts auftaucht, um Samuel zu retten. Wo kam sie bitte schön so plötzlich her? Gut, sie begleitete die Gruppe schon von Anfang an als heimlicher Schatten, damit könnte man es erklären. Aber warum wartet sie dann bis zum dramatischen Höhepunkt, bevor sie eingreift? Kann mir nicht vorstellen, dass sie auch Bücher liest.

Oder später, als im Gestrüpp der dickliche Mann in Erscheinung tritt und den Reisenden zeigt, wie man das Silberglas-Tor – na, obwohl. Nein, eigentlich ist das kein typischer Ex-Machina-Moment, schließlich war dies von langer Hand geplant. Aber hier ist noch einer. Der Gefiederte taucht plötzlich auf, um Evlins Leben zu retten. Absolut klassisch. Wie kann das sein? Kreiste er schon vorher irgendwo am Himmel, in der Hoffnung, einer der Flüchtenden würde plötzlich so schwer verletzt, dass seine Hilfe nötig wäre? Was für ein Zufall aber auch!

Und warum war der Baron genau dann in Lambeerdon zur Stelle, als die Situation dort brenzlig wurde? Auch ein Zufall? Oder hat er vorher noch irgendwo gemütlich mit der Katze einen Kaffee getrunken und gewartet, bis sich genug Mechanics vor der Tür versammelten? Alles sehr mysteriöse Zufälle. Eine Geschichte wird nicht glaubwürdiger, wenn man sich dieses Stilmittels zu oft bedient.

Gut, ich bin nun Teil dieser Geschichte und kann bezeugen, dass sie sich genau so und nicht anders zutrug. Dass es alles wirklich nur Zufälle waren. Zumindest ab dem Zeitpunkt, an dem ich auftauchte. Da stört es ja auch sicher nicht, noch einen weiteren Safrimus-Trick einzubauen. Selbst erzeugt durch geschicktes Warten bis zum letzten Moment. Macht mich schon ein wenig stolz, den jetzt zu Papier bringen zu dürfen.

Die Mechanics waren ganz sicher, dass sich die Gesuchten im Haus des Richters befanden. Dafür hatte dieser höchstpersönlich gesorgt, als er im richtigen Moment ein lautes »Hilfe« herauspresste. Knebeln will gelernt sein und offenbar war Evlin nicht geübt in dieser Technik. Es passiert ja auch nicht alle Tage, dass man Menschen auf diese Art ruhigstellen muss.

Ich beobachtete den Suchtrupp erst eine Weile, um das Entwerfen seiner Pläne mitzubekommen. Doch das gestaltete sich erheblich schwieriger als gedacht. Wohl auch, weil sich die Mechanics untereinander nicht einig wurden. Die älteren Modelle vertraten die Auffassung, man solle es mit möglichst wenig Gewalt versuchen. Eines der oberen Fenster könnte zerstört werden, um eine Narkosegranate hineinzuwerfen. Um ehrlich zu sein, das Wort Narkosegranate existiert nicht in ihrem Wortschatz. Meine Erfindung, eigentlich sprachen sie von einem D45FO. Mechanics eben, kreative Wortschöpfungen gehören nicht zu ihren Stärken.

Die anderen, neueren Modelle, ab Baureihe 20 hielten davon gar nichts. Also so richtig überhaupt nichts. Sie wollten zur Vordertür hinein, ganz einfach, ohne Ankündigung. Sicher, ein, zwei Mitmechanics würde es kosten, bis die Hausbesetzer überwunden wären, aber ihrer Meinung nach konnte man diese Verluste vernachlässigen. Es war eine schnelle Lösung, weniger elegant als der andere Plan, aber dieser hatte ohnehin einen unübersehbaren Schönheitsfehler. Keiner hier hatte ein D45FO dabei. Es hätte erst aus Lambeerdon geordert werden müssen, was natürlich seine Zeit dauern würde.

Oh, erwähnte ich übrigens, wie weit ich mich an die Gruppe herangeschlichen hatte? Nein? Also es waren etwa drei Schritt. Gut, möglicherweise auch nur zwei, so genau konnte ich das nicht messen. Nun wird sich der aufmerksame Leser fragen: Gwenja, willst du uns einen Braunkloom aufbinden? Jeder weiß doch, dass Beobachter von Mechanics gesehen werden können! Und recht hast du, aufmerksamer Leser. Genau so ist es. Es sei denn, man tarnt sich ebenfalls als Mechanic.

Ich sag ja, ein paar nette Spielsachen im Gepäck. Als ich damals durch den Spiegel flüchtete, fielen mir doch tatsächlich noch einige nützliche Gerätschaften in die Hände. Eine Tarneinheit zum Beispiel. Gut, genau genommen zwei, dummerweise verlor ich eine davon vor der Letzten Wacht. Eine kleine Schwäche von mir. Technische Geräte mögen meine Gegenwart offenbar nicht. Egal, eines genügt, um meine Erscheinungsform nach Belieben anzupassen. Ein Vorteil, wenn man an keine Regeln mehr gebunden ist.

 

***

 

Memoria Juis

 

Ich weiß, dass du Helfer hattest. Niemand betritt den Spiegel, ohne dass sich jemand um die Technik dahinter kümmert. Doch wer wäre so verrückt, dort draußen, auf der Station, einer Geächteten zur Flucht zu verhelfen? Du bist schlau und wusstest schon immer, wie man Gefolgsleute rekrutiert. Man schlüpft nicht einfach durch den Spiegel, da gehört einiges mehr dazu, als nur gute Freunde im Kontrollzentrum zu haben. Langsam wird das Buch interessant, zumindest das, was zwischen den Zeilen zum Vorschein kommt.

 

***

 

Ich hatte bemerkt, dass immer noch ein paar Nachzügler zu der Gruppe stießen. Mittlerweile wimmelte es im Wald von Mechanics, daher tröpfelte hin und wieder einer durch das Geäst und schloss sich den Übrigen am Jagdhaus an. Da würde es sicher nicht auffallen, wenn ich das ebenfalls tat. Und zwar als 19er, logisch. Die Baureihe war schon immer meine liebste. Ein wirkliches Glanzstück der Robotik, fein ausgearbeitet, gut proportioniert und gar nicht mehr so furchtbar klobig wie die Vorgänger. Wenn ich mich schon in einen von denen verwandeln wollte, dann wenigstens als Prachtexemplar.

So stapfte ich, wie selbstverständlich, ein paar Augenblicke später ebenfalls aus dem Dickicht heraus, gerade noch rechtzeitig, um den aufkeimenden Konflikt ordentlich mit anzufeuern.

»Wenn es keine direkte Order gibt, haben immer Zwanziger die Entscheidungsgewalt!«, beharrte einer der neueren Mechanics. 24er-Modell, keine netten Gesellen, viel zu sehr von sich und ihrer Überlegenheit eingenommen.

»UNSINN, WER SAGT DENN DAS?«, entgegnete entschieden ein 17er. »DIESE REGELUNG IST MIR NEU UND ICH GLAUBE NICHT, DASS SIE ÜBERHAUPT EXISTIERT. DER DIENSTÄLTESTE HAT DAS SAGEN, NUR DER UND KEIN ANDERER. WIE ES DER ZUFALL WILL, BIN ICH DAS. ALSO GEHEN WIR NACH MEINEM PLAN VOR. 8-21 LÄUFT ZURÜCK IN DIE STADT, HOLT DAS D45FO UND WIR HALTEN HIER …«

»Was für ein bescheuerter Plan!«, fiel ihm der 24er ins Wort. »Bis dahin sind die über alle Berge! Und du hast hier überhaupt nichts zu befehlen! Wir stürmen, so schnell wie möglich, klar?«

Hier ging es gar nicht mehr um die Frage, welcher Plan besser sei und welcher schlechter. Nein, hier ging es um Zehner gegen Zwanziger. Eine wunderbare Gelegenheit für mich, meinem neuen Bruder beizuspringen.

»IHR ZWANZIGER KÖNNT ES DOCH NUR NICHT AKZEPTIEREN, VON UNS BEFEHLE ZU BEKOMMEN!«

Plötzlich lagen alle Blicke auf mir, da man mich bisher nicht wahrgenommen hatte. Doch offenbar traf ich zielsicher einen Nerv.

»GENAU!«, bestätigte ein anderer 18er neben mir meine These. »GENAU SO IST ES! IHR ZWANZIGER VERDRÄNGT UNS IMMER MEHR VON DEN OBEREN POSTEN, WEIL IHR ES NICHT ERTRAGT, DASS WIR BESSER SIND!«

Ganz so hatte ich es nicht gemeint, aber das spielte keine Rolle, denn das Ergebnis war ja das gleiche.

»Besser? Besser! Wir sind größer, stärker, schneller und nicht zu vergessen, neuer! Ich allein verfüge über dreimal so viel Rechenleistung wie ihr alle zusammen!«

Der 24er geriet nun schon geringfügig außer Kontrolle. Noch nicht genug, aber er war auf einem guten Weg. Nur noch ein paar Holzscheite mehr auf die glimmende Glut und es würde ein hübsches Feuer daraus werden.

»AUCH DER BESTE PROZESSOR SCHÜTZT VOR DUMMHEIT NICHT«, entgegnete ich also pflichtbewusst. »WIR WISSEN DOCH ALLE, DASS IHR SCHON SEIT LÄNGEREM VERSUCHT, UNS ZEHNER BIS AUF DEN LETZTEN ZU VERSCHROTTEN. ABER DAS LASSEN WIR NICHT ZU! WIR WAREN ZUERST HIER!«

»Was erlaubst du dir!« Jetzt war er wirklich wütend. »Wie kannst du …«

»WIR KÖNNEN SAGEN, WAS WIR WOLLEN!«, grätschte der Bruder neben mir ein, »WIR LASSEN UNS NICHT MEHR DEN MUND VERBIETEN! ES MUSS ENDLICH MAL AUSGESPROCHEN WERDEN! ER HAT ABSOLUT RECHT, IHR HABT UNS AUF DEM GEWISSEN, IHR WOLLT UNS VERSCHROTTEN, ABER DAS WERDEN WIR VERHINDERN!«

»Jetzt ist aber mal gut«, mischte sich lästigerweise ein etwas ramponiert wirkender 23er aus der hinteren Reihe ein, der die Angelegenheit bisher nur still beobachtet hatte. »Wir haben hier eine Mission …«

Doch weiter kam er nicht, denn plötzlich löste sich ein Schuss aus der Energiewaffe meines linken Bruders und riss ihn von den Beinen. Schade eigentlich, dass es den zuerst traf. Er schien, für einen Mechanic, erstaunlich vernünftig zu sein. Aber gut, der erste Stein war geworfen, nun gab es kein Zurück mehr. Sofort zog der Rädelsführer der Zwanziger seine Waffe und feuerte auf den 18er neben mir. Dieser war natürlich schlechter gepanzert, daher richtete das Geschoss erheblich mehr Schaden an. Endgültigen Schaden. Nicht schön, aber wirksam.

Dann brach die Hölle los. Komplett unkontrolliert schossen und droschen die Zehner und Zwanziger aufeinander ein. Ein Fest für jeden, der diesen Gestalten genauso wenig abgewinnen konnte wie ich. Nun war es an der Zeit, mich zurückzuziehen, denn die Angelegenheit hatte sich zum Selbstläufer entwickelt. Gerade noch rechtzeitig flüchtete ich mich hinter die nächste Hauswand, unbeachtet von den Kontrahenten und sah mir das Geschehen aus sicherer Entfernung an.

Es war an der Zeit, die Verkleidung wieder abzulegen. Gerade als Zehner wurde es nun sehr gefährlich, da die Mechanics neuerer Bauart langsam die Oberhand gewannen. Bessere Waffen, dickere Panzerung und zugegebenermaßen auch etwas mehr Grips im Hauptspeicherkern. Doch die alte Garde schlug sich tapfer, sehr tapfer sogar, fast schon heroisch – und trotzdem vergebens.

Nach kurzer Zeit schrumpfte so die Stärke des Suchtrupps auf ein klägliches Häufchen zusammen. Um genau zu sein, standen noch drei Zwanziger und ein letzter Zehner. Mein Bruder zur Rechten, ein zäher Kerl, wenn auch schon reichlich demoliert. Irgendwie war ich stolz auf ihn und hoffte insgeheim, er würde das kleine Massaker überleben.

»Mutig«, brummte plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir.

Erschrocken drehte ich mich um und sah einen riesigen Kerl, drahtig, fellbedeckt und mit großen Glubschaugen. Ein Grumbat? Hier in den Kornkoppen? Er blickte auf mich herab und spähte dann vorsichtig um die Ecke, um zu sehen, wie sich der Kampf entwickelte. Hinter ihm, natürlich seelenruhig kauend, stand ein wunderschöner, goldgelber Fliederling. Gemos, einstiges Schlachtross des Schlächters, sicher mehr wert als eine halbe Silbermine. Es wirkte seltsam deplatziert und eigentlich sollte ich mir doch über so etwas gerade gar keine Gedanken machen, angesichts der Bedrohung auf der Vorderseite des Jagdhauses.

Die hatte sich schon wieder etwas verringert. Nun stand es 1:2 für die 20er. Allerdings lag mein Bruder schon fast bewegungsunfähig am Boden, also eher so 0,5 zu 2. Er hatte sein linkes Bein eingebüßt. Das andere war zwar noch am Unterkörper befestigt, aber einen Marathon würde er damit zumindest nicht mehr laufen können. Dafür funktionierte sein Kopf noch ausgezeichnet. Wie vom wilden Ftekkel gebissen, feuerte er zielgenau auf die zwei Kontrahenten, die sich hinter einem dicken, alten Baum, etwas abseits des Hauses in Deckung gebracht hatten.

Irgendwie tat dieser mir leid. Also der Baum. Bestimmt genoss er in den letzte 500 Jahren seines Lebens eine geradezu beneidenswerte Ruhe. Einzig unterbrochen durch die gelegentlichen Jagdausflüge des Richters, oder ein paar versprengte Unions-Kämpfer, die sich in Durrhams Wald verirrten. Sicher hatte man ihn noch nie ansatzweise so drangsaliert wie heute, wo er als Schutzschild herhalten musste.

Hinter ihm lugte immer wieder einer der beiden Zwanziger hervor, um einen Schuss abzugeben. Nur kurz, denn mein Bruder wehrte sich herzerweichend mit Sperrfeuer und hatte derweil seine Überreste hinter eine kleine Wand aus gefallenen Kameraden geschleppt. Das könnte also noch länger dauern. Ich drehte mich spontan wieder zu dem haarigen Wesen hinter mir um und musste feststellen, dass es verschwunden war. Lediglich das Pferd stand noch da, glotzte seelenruhig kauend vor sich hin und machte keine Anstalten, mich über das Verschwinden seines Herrchens aufzuklären.

Ich beschloss abzuwarten, bis sich die letzten Mechanics gegenseitig die Lichter ausgeblasen hatten. Leider nur ein kurzes Vergnügen, denn schon wenige Momente später sah ich meinen Bruder mit einer Schusswunde im Kopf zu Boden gehen. Der von mir so hübsch angezettelte Aufstand war niedergeschlagen und ich auch, hatte ich doch insgeheim gehofft, die Zehner würden gewinnen.

Langsam kamen die beiden verbliebenen Mitglieder des Suchtrupps hinter dem Baum hervor und sondierten die Lage. Der 24er Kommandant war an der Schulter verletzt, wodurch blaue Flüssigkeit seinen kompletten Arm bedeckte und zu Boden tropfte. Sein 22er Kollege – ach, eigentlich lohnt es sich nicht, den beiden noch unnötig Platz hier einzuräumen. Ihre Zeit war abgelaufen, auch wenn sie es noch nicht wussten. Solche vagen Andeutungen über zukünftige Entwicklungen sollte man als Schriftsteller übrigens unterlassen, denn sie nehmen einiges an Spannung heraus. Aber ich bin kein Schriftsteller. Das hier ist das erste Mal seit – ungezählt bleibenden Jahren, dass ich wieder meine Gedanken zu Papier bringe. Es ist mir nicht abgegangen.

Um es kurz zu machen, den beiden war ein schnelles Ende beschert. Gerade als sie die Deckung verließen, sah ich, wie drei Energiestöße aus dem Jagdhaus abgefeuert wurden. Der erste verfehlte sein Ziel knapp, aber schon der nächste traf genau die Stelle des 24ers, die ohnehin schon lustig vor sich hin nässte. Sofort geriet die Flüssigkeit in Brand und noch bevor er sich wieder in Deckung bringen konnte, traf ihn schon ein dritter Schuss, mitten in den Schädel. Offenbar hatte der listige Grumbat schnell ein paar herrenlose Waffen eingesammelt und sie zu seinen Leuten reingeschmuggelt.

Der Mechanic zuckte noch ein paarmal, dann gaben seine Schaltkreise dem Feuer nach. Kein schöner Anblick. Die neueren Baureihen waren mittlerweile so dem Menschen nachempfunden, dass ihnen eigentlich nur noch richtige Haut, Haare und eine vernünftige Stimme fehlten, um sie wie ihre Erschaffer aussehen zu lassen. Gut, nicht ganz so. Keiner der Ingenieure in Lambeerdon verfügte über solche Muskelberge. Es war wohl eher die idealisierte Vorstellung, wie ein gesunder, kräftiger Mensch hätte aussehen sollen.

Während der eine noch mit den Flammen und dem Tode rang, ereilte den anderen ein mindestens ebenso hässliches Schicksal. Er war zu dem Schluss gekommen, dass die Mission nicht mehr zu retten war, und trat den Rückzug an. Doch er kam nicht weit.

Nur drei Armlängen vom Baum entfernt ergriff ihn plötzlich eine haarige Hand, zog das Häufchen Stahl-Elend zurück und schleuderte es mit voller Wucht gegen die Zwirbelkrutte. Wie gesagt, es war ein ganz mieser Tag für den Baum. Erst beschossen, dann fast angezündet und nun wurde an seiner altehrwürdigen Rinde auch noch eines dieser seltsamen Metallwesen zerquetscht. Da kann man schon mal frustriert die Äste schütteln.

Der glupschäugige Fellmensch hielt sich nicht lange mit dem 23er auf, dazu war die Zeit zu knapp. Ganz sicher hatte man schon mitbekommen, dass hier gekämpft wurde, und war auf dem Weg. Er drückte den Roboter einfach so fest an den Baum, dass alle lebensnotwendigen Bauteile zerquetscht wurden, ließ ihn dann los und begab sich zum Haus.

»War das der Letzte?«, hörte ich gleich eine Frauenstimme rufen, worauf der Grumbat nur gelassen nickte und Evlin in Empfang nahm.

»Wie konnte das geschehen?«, wollte sie wissen. »Warum bringen die sich jetzt plötzlich gegenseitig um?«

»Hilfe«, erklärte er knapp und zeigte auf mich.

Dann verschwand er ohne ein weiteres Wort im Haus und ließ uns für ein paar Augenblicke allein. Es war also höchste Zeit, mich vorzustellen.

»Gestatten, Gwenja von Gaden.«

Mit einer kleinen Verbeugung, so wie es sich gehört, ließ ich sie wissen, dass ich keine böswilligen Absichten hegte.

»Von Gaden? Wie Patrius? Noch ein Beobachter?«

War Patrius wirklich so dumm gewesen, seinen vollen Namen zu erwähnen? Also nicht, dass dies generell ein Problem ist. Zumindest nicht, wenn man ausgestoßen war. Ansonsten sollte er ja eigentlich gar nicht mit irgendeinem Protagonisten – ach, wem erzähle ich das. Warum rezitiere ich Regeln, die mir ohnehin schon immer egal waren?

»Ja, genau eine solche. Angenehm …«

»Gut, gut, später mehr. Wir müssen fort von hier, dringend.«

Ja, sie hatte es eilig. Absolut verständlich, aber musste sie mich deshalb unterbrechen? Gewiss, viele Jahre allein in einem Turm, das lässt einen schon mal die guten Manieren vergessen. Obwohl ich später von Patrius die Geschichte einer gewissen Rapunzel hörte, und die war ein grundanständiges, höfliches Mädchen! Trotz miesen Umgangs, verkommener Pseudoverwandter und mangelnder, sozialer Kontakte! Egal.

»Wer ist denn das schon wieder?«

Gleich hinter Evlin tauchte plötzlich ein hinkender, schlaksiger Mann auf, fast haarlos, aber dafür gut gekleidet. Wären da nicht die Löcher in seinem Sakko und der Dreck auf der Hose, man hätte denken können, er stünde nebenberuflich auf Modeschauen für betagte Kleidung herum.

»Sie hat uns wohl gerettet«, erklärte Evlin kurz und verstaute geschickt die Habseligkeiten auf dem herangeeilten Pferd.

»Passiert schon mal, war sicher nicht Absicht«, grummelte der Baron missgelaunt.

»War es schon! Ich bin hier, um euch zu helfen!«

»Du? Warum?«

Die junge Frau stellte sich mit angewinkelten Händen in den Hüften vor ihn hin und mahnte energisch zur Eile.

»Wir müssen dringend verschwinden! Am besten unsichtbar werden! Keine Zeit für Fragen, wir müssen abhauen!«

Nun kam auch der Grumbat wieder zu uns. Er trug einen geknebelten und an seinen Stuhl gefesselten Mann hinaus, platzierte ihn vor dem Haus und tätschelte ihm fürsorglich den Kopf. Weder Evlin noch der Baron nahmen Notiz von ihm, aber er schien zumindest unverletzt zu sein. Äußerlich zumindest. Innerlich stellte diese Behandlung eine Demütigung dar, die einer großen Fleischwunde gleichkam.

»Lassen wir den hier?«, wollte der Baron wissen.

»Willst du ihn etwa mitnehmen? Wir brauchen keine Geisel, sondern ein gutes Versteck!«

Mit dem letzten Wort war sie auch damit fertig, das Pferd zu präparieren, und gab dem Fellmenschen ein Zeichen. Dieser schnappte sich sogleich den Baron, hievte ihn ohne Schwierigkeiten in den Sattel und spähte dann wie ein wildes Tier, welches nach Beute schnuppert, in den Wald. »Schritte.«

Erst jetzt fiel mir auf, dass der alte Schlächter verletzt war. Nicht schwer genug, wenn es nach mir ging, aber zumindest so stark, dass er nicht vernünftig laufen konnte.

»Wohin? Jemand eine Idee?«, wollte er wissen.

»Erst mal in den Wald, so tief wie möglich!«

Evlin schnappte sich das Pferd und führte es ins Dickicht. Nicht mehr als 50 Schritt entfernt waren metallische Stimmen zu hören. Ob es so klug war, den Richter vor die Tür zu stellen? Auch wenn ich die Intension dahinter wohl erkenne. Der Grumbat wollte sichergehen, dass der Hausherr auch gefunden wurde und nicht geknebelt im eigenen Heim zugrunde ging. Bedenkt man, für welche Gräueltaten der Richter einst verantwortlich war, wäre das noch eine viel zu milde Strafe gewesen. Aber diese Wesen achten jedes Leben gleich viel, oder wenig, egal was es auf dem Kerbholz hat.

»Ihr solltet ihm wenigstens noch die Augen verbinden«, riet ich, denn er würde ganz sicher verraten, in welche Richtung wir verschwanden, sobald er seine Knebel los war.

»Augen verbinden?«, lachte der Baron. »Unsinn, das geht viel eleganter! Klopp, schick den Verräter ins Land der Albträume.«

Der Waldmensch nickte wissend, beugte sich zum geknebelten Richter hinunter, holte tief Luft und hauchte ihn voller Inbrunst an. Noch ehe ich bis drei zählen konnte, klappte sein Kopf zur Seite und er verfiel in tiefen Schlaf. Dornröschens böse Hexe hätte ihn um diese Fähigkeit sicher beneidet.

Nur Augenblicke später schlugen wir uns bereits durch das immer dichter