Bauernjäger - Arne Dessaul - E-Book

Bauernjäger E-Book

Arne Dessaul

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Wenige Stunden vor Anpfiff des WM-Finales zwischen Deutschland und Argentinien bekommt Helmut Jordan Besuch von seinem Jugendfreund Fritz. Die beiden haben sich seit 40 Jahren nicht mehr gesehen – seit dem ungeklärten Mord an Heinz Schrader und dem spurlosen Verschwinden von Helmuts Freundin Elke. Plötzlich findet sich Helmut mitten im verregneten Sommer des Jahres 1974 wieder. Schließlich ist er es gewesen, der Schraders Leiche am Tiefenbach entdeckt hat. Kann er die Rätsel endlich lösen?

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Seitenzahl: 449

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Arne Dessaul

Bauernjäger

Helmut Jordans zweiter Fall

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Trittbrettmörder (2016)

Im Buch verwendeter Liedtext:

Terry Jacks: Seasons in the Sun

Vom Album Seasons in the Sun

1974, Bell Records

Songwriters: BREL, JACQUES ROMAN / BREL, JACQUES ROMAN

Published by Lyrics © Warner / Chappell Music, Inc., CARLIN AMERICA INC, S D R M

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © mareczko / photocase.de

ISBN 978-3-8392-5456-1

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

6. Juli 1974, gegen 23 Uhr, Winnigstedt Hauptstraße / Teichstraße

Mit jedem Schritt wird der Druck größer. Es ist kaum auszuhalten. Wäre er mal im Dorfkrug zur Toilette gegangen, bevor er aufgebrochen ist. Aber da hat er vorhin diese unerfreuliche Begegnung gehabt.

Nun ja, so schlimm ist es gar nicht gewesen, ehrlich gesagt. Abgesehen von der Spucke in seinem Gesicht. Die hat er in Kauf genommen für den Gesichtsausdruck seines Gegenübers: Fassungslosigkeit und Entsetzen. Dabei hat er sein kleines Geheimnis allenfalls angedeutet. Den Teufel wird er tun, jemandem die ganze Geschichte zu erzählen. Dieses Geheimnis wird er mit ins Grab nehmen.

Gerade mal den halben Heimweg hat er hinter sich gebracht, er wird es nicht schaffen bis zum Hof. Er krümmt sich beim Gehen und fummelt an seinem Glied herum. Es hilft garantiert kein bisschen, denkt er, und fummelt trotzdem weiter.

Er muss unbedingt pinkeln, jetzt, das steht fest. Hier ist es allerdings denkbar ungünstig. Überall stehen Häuser mit hell erleuchteten Fenstern. Alle sitzen vor dem Fernseher und sehen sich irgendwelche Wiederholungen an; um diese Zeit läuft ja nichts anderes. Bei ihm wird ausschließlich die Tagesschau geguckt. Das muss reichen. Die Kinder brauchen überhaupt kein Fernsehen. Allenfalls morgen Nachmittag könnte es eine Ausnahme geben, wenn das Weltmeisterschaftsfinale übertragen wird. Da können die Kinder mitgucken, wenn sie sich still verhalten. Sonst können sie auf ihren Zimmern bleiben und sich auf die nächste Schulwoche vorbereiten.

Und überall brennen Straßenlaternen. Alle paar Meter. Früher war das anders. Da hat es drei, vier Laternen im Dorf gegeben und jeder hat nach Hause gefunden, ohne sich zu verlaufen. Eine Verschwendung ist das!

Vielleicht geht es da hinten beim Tiefenbach, da sind keine Häuser in Sichtweite, da leuchtet auch nur eine Laterne. Gleich ist er da. Scheiße, tut das weh! Verdammte Blase! Verdammtes Bier! Dazu der Scheißschnaps, der verlangsamt zusätzlich den Schritt.

Und natürlich diese verdammte Schlesische Lotterie. Über 20 Mark hat er verloren. 20 Mark! So gut wie nie wurden die Karten aufgedeckt, die er gekauft hat. Pech. Die andern haben alle abgesahnt. Gustav, Heinrich, Anton, Karlheinz, Wilhelm.

Was kann man auch von einem Spiel erwarten, das so heißt: Schlesische Lotterie? Von dort kommt nur Mist. All die Flüchtlinge nach dem Krieg! Katholiken! Das ist alles Pack! Fremde. Sprechen sogar anders. Und ordentlich arbeiten kann niemand von denen. Das sind praktisch Polacken. Kinder auf die Welt bringen, das können sie, diese Asozialen. Nur was für welche! Was ihr Papst wohl sagen würde, wenn er sehen könnte, wie die kleine Marchowitz herumläuft? Den Rock bis knapp über die Muschi. Bluse offen bis zum Bauchnabel. Ohne BH. Die Möpse wippen bei jedem Schritt.

Der Gedanke an die mächtigen Möpse lenkt seine Blase für einen Augenblick ab und stimuliert vorübergehend etwas anderes. Aber hinterher ist der Druck nur umso stärker.

Er geht am kleinen Lebensmittelladen der Schusters vorbei, passiert das Haus der Pahlkes und erreicht endlich den Tiefenbach. Er biegt links auf den Bahndamm ab, wo seit vielen Jahren keine Eisenbahn mehr verkehrt. Verdammt! Fast wäre er über die nutzlosen Schienen gestolpert. Jetzt schnell ins Gebüsch. Mann, ist das matschig, das suppt ja sofort in die Schuhe. Bäh. Den ganzen Sommer Regen.

Regen, Regen, Regen.

Wenn er Pech hat, stehen weiter hinten Pfützen. Das kann er allerdings nur erahnen, denn das Licht der Laterne reicht nur schwach bis hierher an den Bahndamm – alles dahinter liegt im Dunkeln. Besser vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen.

Platsch, Platsch, Platsch.

Der Mond versteckt sich hinter den Wolken. Jeden Moment kommt der nächste Regen. Wenn es so weiter regnet, wird die Ernte darunter leiden. Und wer zahlt ihm den Ausfall? Weder die in Bonn, noch die in Brüssel.

Er rutscht aus. Scheiße, voll in den Matsch. Er landet auf dem Hintern. Jetzt noch nach hinten umfallen, das wäre die Krönung!

Er bleibt sitzen. Immerhin das ist geschafft.

Dafür läuft es jetzt. Er kann nicht mehr dagegen ankämpfen. Lässt es raus. Pisst sich die Hose voll. Verdammter Mist!

Tut dennoch irgendwie gut. Endlich ist der Druck weg. Nass ist sowieso alles. Kann die Alte waschen.

Aufstehen und ab nach Hause.

Er schafft es auf die Knie und hört mit einem Mal Schritte hinter sich. Muss das sein? Nee, ich drehe mich jetzt nicht um, ich bleibe so knien. Ist mir scheißegal, wer das ist.

He, was soll das …

Kapitel 1

8. Juli 2014, etwa 22.30 Uhr

»Ja, los!«

»Nein!«

»Doch!«

»Ja!«

»Ja!«

»Ja!«

»WM-Rekordtorschütze!«

Während sich sechs der sieben vor der Leinwand versammelten Fußballfans einfach über Kloses Tor gegen Brasilien freuten, musste Kriminalhauptkommissar David Armbruster den Sachverhalt umgehend fußballgeschichtlich einordnen. Ein paar Sekunden früher als ZDF-Reporter Béla Réthy, der zunächst über die schnelle 2:0-Führung jubelte, ehe er sich über Miro Kloses Rekord ausließ. Immerhin war dieses im Nachschuss erzielte Tor sein 16. Treffer in einem WM-Spiel. Damit hatte Klose einen Treffer mehr erzielt als Ronaldo, der ausgerechnet 2006, bei der WM in Deutschland, Gerd Müller als Rekordhalter abgelöst hatte.

Für David war dieser Rekord Anlass genug, »ein donnerndes Hipp-Hipp-Hurra auf den Sportkameraden Klose« anzustimmen – nachdem alle Umarmungen und alles Anstoßen mit Bier, Wein, Wasser und Schnaps beendet waren.

Doch diese Huldigung blieb dem Miro leider verwehrt, denn in dem Moment, als David die anderen auf seinen Spruch eingestimmt hatte, jagte Toni Kroos den Ball in die Maschen. Und das gleich zweimal innerhalb von 90 Sekunden. Bevor jemand fragen konnte, ob es das jemals gegeben hatte, 4:0 in einem WM-Halbfinale nach 25 Minuten, schob Sami Khedira den Ball ins Tor.

»5:0 gegen Brasilien. In Brasilien. Im WM-Halbfinale. Unglaublich.« Kriminaloberkommissar Jonas Sager fasste die Stimmungslage betont sachlich zusammen, trank in zwei großen Schlucken seine Bierflasche leer und wandte sich an seinen Kollegen. »David, hat es so was schon mal gegeben?«

David war ein wandelndes Sportlexikon. Man konnte ihn um 3 Uhr nachts anrufen und fragen, wer Tabellenführer in der türkischen Süper-Ligue war, wer in den Play-offs der NHL vorn lag oder wer 1973 im Viertelfinale von Wimbledon gestanden hatte – David wusste es. Natürlich konnte er auch Jonas’ Frage beantworten: »1954 hat Deutschland im WM-Halbfinale Österreich mit 6:1 besiegt und 2000 hat Holland im EM-Halbfinale mit 6:1 gegen Jugoslawien gewonnen.«

»Österreich und Jugoslawien? Willst du die in einen Topf mit Brasilien werfen?« Kriminalhauptkommissar Helmut Jordan, Leiter der Wolfenbütteler Ermittlungsgruppe und somit der Vorgesetzte von Jonas und David, blickte seine beiden Kollegen empört an.

»Um Himmelswillen – nein! Österreich, ich bitte dich!« David grinste breit und zwinkerte seinem Chef sogar zu. David war offensichtlich glücklich. Das lag einerseits am überaus erfreulichen Verlauf dieser Fußballweltmeisterschaft – und es lag daran, dass David endlich die richtige Frau gefunden zu haben schien. Seit der Trennung von seiner Freundin Vanessa in der Silvesternacht 2013/2014 war er monatelang Single und damit unausgeglichen und automatisch unausstehlich gewesen. Bis er vor sechs Wochen Rabea Kramer kennengelernt hatte.

Rabea saß in ihrem Korbsessel, der direkt neben Davids stand, hielt dessen Hand, lächelte glückselig – und schien bei all dem gar nicht Davids Typ zu sein. Solange Helmut ihn kannte, war sein Kollege mit sportlichen, schlanken und vor allem blonden Frauen zusammen gewesen. Rabea hingegen brachte augenscheinlich vier, fünf Kilo zu viel auf die Waage, aß in atemberaubender Geschwindigkeit Chips, rauchte und war brünett.

Helmut mochte Rabea. Er hielt außerdem ihren Körper (der ihn im Übrigen sehr an den seiner verstorbenen Ehefrau Marianne erinnerte) für nahezu perfekt – zumindest das, was er und der Rest der Welt davon zu sehen bekamen. Rabea kleidete sich für gewöhnlich so, dass vor allem ihr oberes Drittel zur Geltung kam. Heute trug sie eine sehr weite und sehr lange weiße Bluse zur Jeans, hatte aber einige Knöpfe geöffnet, sodass ihr weißer Spitzen-BH zu erkennen war. Um ihre unteren Regionen zusätzlich zu verhüllen, knotete sie sich meist einen Pullover um die Hüften, der fast bis zu den Kniekehlen reichte.

Rabea hatte ein hübsches, oval geschnittenes Gesicht und wunderschöne braune Augen. Ihr braunes Haar trug sie, wie heute, meist zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie war 28 Jahre alt und arbeitete als Lehrstuhlsekretärin an der Ostfalia, der Wolfenbütteler Fachhochschule.

David war vier Jahre älter als seine Freundin. Er hatte schwarze Haare, die er seit Mai (und seinem 32. Geburtstag) wesentlich kürzer trug als in den Jahren zuvor. Die Art, sich zu kleiden, hatte er allerdings beibehalten: Er trug tagein, tagaus verwaschene Jeans, Turnschuhe, ein T-Shirt und eine Funktionsjacke. Dieses nachlässige Outfit, durchaus bewusst angelehnt an den legendären Tatort-Kommissar Schimanski, passte mehr schlecht als recht zu seinem großen Ehrgeiz und seiner Position als stellvertretender Leiter der Wolfenbütteler Ermittlungsgruppe.

Helmut nahm es, wie es war. Er wusste letztendlich, was er an seinem Kollegen hatte. David konnte mit seiner lockeren Art und seinem Charme vor allem weibliche Zeugen und Verdächtige locker zum Reden bringen. Bislang hatte es in diesem Sommer jedoch so gut wie keine Zeugen und Verdächtige zum Befragen gegeben, Wolfenbüttels Unterwelt verhielt sich außerordentlich still.

Jonas Sager war der Gastgeber dieses Abends, bereits zum dritten Mal während des Turniers. Der 36-Jährige war zugleich das dritte Mitglied der Ermittlungsgruppe. Dass er als Kriminaloberkommissar einen Dienstgrad unter dem vier Jahre jüngeren David war, lag daran, dass er weniger Ehrgeiz besaß als sein Kollege. Er absolvierte selten Lehrgänge oder Fortbildungen und nahm stattdessen für seine Triathlon-Wettkämpfe ab und zu längere Auszeiten, was einer schnellen Karriere bei der Kripo wenig zuträglich war. Immerhin förderte der Sport Jonas’ Gesundheit. Außer für Triathlon interessierte er sich für Parkour. Er gehörte zu einer Gruppe von jungen Frauen und Männern, die in den Innenstädten der Umgebung stundenlang Hindernisse wie Zäune, Bänke oder Mauern überwanden: kletternd, springend, abrollend. Jonas sah auch aus wie ein Ausdauersportler. Er war 1,75 Meter groß und extrem schlank. Anders als David war Jonas eher unattraktiv. Sein dunkelblondes Haar war strähnig und schütter. Sein Gesicht war blass, er hatte kleine Augen von einem unscheinbaren, verwaschenen Graublau, Sommersprossen und eine mehrfach gebrochene Nase – Zeugnis einer wilden Jugend, die weit entfernt von einer Zukunft als Kripobeamter verlaufen war.

Im Gegensatz zu Davids waren Jonas’ Beziehungen wesentlich beständiger. Mit Franziska Brunstein war er seit knapp neun Jahren zusammen und es lag schon lange das Thema Hochzeit in der Luft. Einmal hatte Franziska Helmut gefragt, ob er sich vorstellen könnte, im Falle eines Falles Trauzeuge zu sein. Das könnte er und er würde sich riesig für die beiden freuen, wenn sie heirateten. Franziska war ein herzensguter Mensch. Mit ihrer stets guten Laune und ihrer Offenheit hellte sie jede Gesellschaft auf. Sie lachte viel, interessierte sich ernsthaft für die gerade aktuellen Lebensumstände aller anderen Anwesenden, freute sich über gute Nachrichten und zeigte Mitgefühl bei weniger guten Neuigkeiten. Ein Mensch, den man einfach mögen musste.

Warum Franziska ihn mochte, blieb Helmut ein Rätsel. Er war weder geistreich oder witzig, noch charmant oder charismatisch. Mit seinem schmalen Gesicht, der spitzen Nase, den blassen grünen Augen und dem stetig zurückgehenden graublonden Haar war er keineswegs der Typ Mann, den man allein aufgrund seines Äußeren mögen musste. Wenn er sich beschreiben müsste, würde er Begriffe wie »blass« oder »spröde« wählen.

Franziska war, rein äußerlich, ebenfalls ein blasser Typ. Sie hatte dunkelblondes, strähniges Haar, ihr Gesicht wurde nach unten hin immer breiter und ganz und gar von ihrem Mund dominiert, dem sie praktisch nie Lippenstift gönnte. Sie war zwar groß und schlank, ihr Körper hatte aber etwas Androgynes an sich. Weibliche Rundungen entdeckte man erst auf den zweiten Blick, was auch an ihrer Kleidung lag, die sie zum Teil in der Herrenabteilung kaufte. Franziska war 34 Jahre alt und Dozentin für Erziehungswissenschaft an der TU Braunschweig. Sie stecke mitten in ihrer Habilitation und hoffte anschließend auf eine Professur, möglichst in Braunschweig.

Franziska saß zusammen mit Lisa Bertram auf einer kleinen Gartenbank. Die 31-jährige Kriminaloberkommissarin war das jüngste Mitglied der Ermittlungsgruppe. So und so die Jüngste. Sie war ein Dreivierteljahr jünger als David und erst seit drei Jahren im Team; David begann vor sieben und Jonas vor sechs Jahren. Ähnlich wie Jonas lebte Lisa sehr gesundheitsbewusst. Sie aß selten Fleisch und durchweg Bio-Produkte. Auch sie trieb regelmäßig Sport; sie joggte und ging ins Fitnessstudio.

Lisa trug ihr glattes braunes Haar seit geraumer Zeit halblang. Sie hatte einen leichten Schmollmund, ihre Nase war gerade und ihre Augen hatten einen satten Grünton. Ausschließlich um die Augen herum trug sie bisweilen Make-up auf, an ihre Lippen ließ sie allenfalls Lipgloss. Lisa besaß eine weniger kurvenreiche Figur als Rabea, dafür waren ihre Beine auffallend lang – einer der Gründe, warum ihr viele Männer lange hinterher sahen. Selbst wenn die Beine meist in Jeans steckten. In Röcken oder Kleidern sah man Lisa selten.

Lisas Freund Björn Kirchstein hatte sich gleichfalls auf die kleine Bank gequetscht. Er wohnte im rund 40 Kilometer entfernten Wolfsburg, arbeitete dort als Polizist und war der Drogenfahndung zugeteilt.

Lisa genoss diese Art von Partnerschaft, die eher einer Fernbeziehung gleichkam und ihr viele Freiheiten ließ. So hatte sie es Helmut geschildert. Sie blieb auch nach Feierabend gern mit ihren Kollegen zusammen und besuchte zudem am Wochenende häufig ihre Eltern oder Freunde in ihrer Heimatstadt Uelzen. Sie konnte gut für sich sein und die Abende in ihrer gemütlichen Wohnung in der Frankfurter Straße verbringen.

Apropos »gern mit ihren Kollegen zusammen«: Mit David war Lisa ein paar Wochen lang sogar sehr gern zusammen gewesen. Die beiden hatten, kurz nachdem Lisa ins Team gekommen war, eine Affäre gehabt. Sie hatten versucht, die Sache geheim zu halten. Im Büro hatte man dennoch ständig gespürt, wie es zwischen den beiden knisterte. Zu Beginn musste man sich Sorgen machen, dass sie jeden Moment übereinander herfielen und sich gegenseitig die Kleider vom Leib rissen. Gegen Ende der Beziehung musste man befürchten, dass sie jeden Moment übereinander herfielen und sich gegenseitig die Augen auskratzten. Dann war auf einmal Schluss gewesen und Lisa und David hatten es geschafft, gute Kollegen zu bleiben.

Jetzt hing Lisas Beziehung zu Björn am seidenen Faden. Vor sechs Monaten, bei der Ermittlung zu einer Mordserie, die sich neben Wolfenbüttel auf das Ruhrgebiet erstreckt hatte, hatte Lisa den Bochumer Kripobeamten Henning Schmitt kennengelernt. Seitdem trafen sich die beiden alle paar Wochen.

Im Gegensatz zu Jonas, David und Björn wusste Helmut von Lisas Seitensprung. Auch er hatte Henning kennengelernt. Henning stellte rein vom Äußeren her genau das Gegenteil von Björn dar. Während der Wolfsburger Drogenfahnder eine Größe von weit über 1,90 Meter, eine massige Figur und ein sehr gemütliches Wesen hatte, war Henning schlank und knappe 1,80 Meter groß. In ihm vereinigten sich die besten Eigenschaften ihrer beiden Kollegen: sportlich und zäh wie Jonas, dazu charmant und gutaussehend wie David. Darin lag wohl einer der Gründe, dass Lisa drauf und dran war, ihr Herz zu verlieren.

Helmut konnte über Lisas Verhalten bloß den Kopf schütteln. Zwei Männer gleichzeitig! Er hingegen war nach dem Tod seiner Frau Marianne vor neun Jahren Single geblieben – mit allen Konsequenzen. Dass er wie ein Mönch lebte, stieß allenthalben auf Unverständnis. Seine Söhne Nils und Matthias, die in Mexiko beziehungsweise Neuseeland lebten, waren der Meinung, dass ihre verstorbene Mutter es gutheißen würde, wenn er sich wie ein normaler Mann benahm. Doch diese, in schöner Regelmäßigkeit über Skype vermittelten Botschaften wurden von ihm geflissentlich überhört.

Dasselbe galt für identische Ratschläge aus seiner weiblichen Bekanntschaft, die streng genommen exklusiv aus seiner Kollegin Lisa bestand. Mit ihr verband ihn eine Beziehung, die zwischen Freundschaft und Verwandtschaft angesiedelt war. Helmut hätte rein vom Alter her Lisas Vater sein können und häufig suchte Lisa in der Tat seinen »väterlichen« Rat. Als liebende und fürsorgliche »Tochter« war ihr aber auch an seinem Wohlergehen gelegen.

Na gut, mittlerweile gehörte auch die Gastwirtsfrau Jutta Langner zu seinem weiblichen Umfeld. Er ließ sich an den Wochenenden gern von ihr bekochen, während Juttas Mann Werner ihm Bier zapfte. In letzter Zeit hatte Jutta ihn manches Mal in Gespräche verwickelt, in denen es um seine vermeintliche Einsamkeit ging. Er hegte den Verdacht, dass Jutta eine alleinstehende Freundin hatte, mit der sie ihn gern verkuppeln wollte. Doch das war aussichtslos, er hatte in seinem Leben zweimal sein Herz verloren. Das reichte ihm. Bis ans Ende seiner Tage. Amen.

So viele Tage würden es womöglich nicht mehr werden, denn seit Freitag war er 60. Vor exakt 60 Jahren, an jenem berühmten 4. Juli 1954, war er praktisch zeitgleich mit Helmut Rahns entscheidendem Tor im WM-Endspiel gegen Ungarn auf die Welt gekommen. Dem Boss hatte er seinen Namen zu verdanken. Wer konnte es seinen Eltern verdenken?

An seinem 60. Geburtstag hatte wieder ein wichtiges Fußballspiel stattgefunden, das Viertelfinale gegen Frankreich, das er gut in seine Geburtstagsfeier integrieren konnte. Er hatte den runden Geburtstag, für seine Verhältnisse, groß gefeiert. Zur Gartenparty waren seine drei Kollegen plus Anhang gekommen, darüber hinaus sein Vorgesetzter und Freund, Polizeipräsident Karl Breimer, sowie ein paar Freunde aus dem Dorf, unter anderem seine Skatbrüder Thomas und Atze.

Die Feier hatte – wegen des frühen Anpfiffs in Rio – bereits um 17 Uhr begonnen. Deshalb hatte Jutta eine Weile mitfeiern können, bevor sie um 20 Uhr in den Dorfkrug musste, um zu kochen. Werner hatte leider schon ab 16 Uhr hinter dem Tresen stehen müssen. Extra für die WM hatte der Wirt einen riesigen Fernseher ausgeliehen, auf dem er die Deutschlandspiele zeigte und stets 30 bis 40 Fußballfans anlockte. Während der Spiele interessierte sich niemand für etwas anderes als Pils und Schnaps. Erst nach dem Schlusspfiff (und dem jeweiligen deutschen Sieg) kam der große Hunger. Dann wirbelte Jutta in der Küche.

Vor 20 Uhr war an diesem warmen Freitagabend auch in Helmuts Garten feste Nahrung tabu. Alle fieberten ab 18 Uhr mit der deutschen Mannschaft, die das frühe 1:0 durch Hummels (nach einem Foul, wie Jonas mehrfach bemerkte) geschickt über die Zeit brachte. »Zum vierten Mal hintereinander im WM-Halbfinale – das hat bisher keine Nation geschafft«, lautete Davids Kommentar zu diesem wenig spektakulären Match.

Direkt nach dem Schlusspfiff stellte sich Helmut zusammen mit Atze Hoier an den Grill und versorgte seine Gäste mit Bratwurst, Lammsteaks und Bauchfleisch. Jutta hatte ein paar Salate beigesteuert, auf die sich die Damen eifrig stürzten.

Helmut kannte Atze seit Kindheitstagen. Die beiden waren zusammen zur Schule gegangen und hatten Anfang der 70er-Jahre gemeinsam bei Malermeister Henri Arnold gelernt. Im Gegensatz zu Helmut war Atze dem Malergewerbe treu geblieben, und er würde es mit Sicherheit auch die nächsten sechs Jahre noch bleiben, bis zur Rente. Atze war glücklich verheiratet und erst vor wenigen Wochen zum zweiten Mal Großvater geworden.

Helmuts anderer Skatfreund, Thomas Reckmann, war bereits während des Deutschlandspiels betrunken. Zum Glück gehörte Thomas zu den Leuten, deren beste Seiten im Suff zutage traten. Entweder war er noch liebenswürdiger als sonst – oder er schlief ein. An diesem Freitag schlief er gegen 23 Uhr auf dem Sofa ein und verpasste den Beginn der zweiten Halbzeit des Spiels Brasilien gegen Kolumbien. Für dieses Spiel interessierten sich außer ihm nur Karl Breimer und David. Alle anderen hatten den milden Abend im Garten genossen. Jonas bildete mit seinen Geschichten vom Triathlon den Mittelpunkt einer Gruppe, die aus Franziska, Rabea, Björn, Karls Frau Eleonore und Atzes Frau Daniela bestand.

Helmut blieb am Grill stehen, obwohl es nach 22.30 Uhr praktisch nichts mehr zu tun gab. Alle waren längst satt und die letzten drei Bratwürste, die dort lagen, brutzelten nutzlos vor sich hin. Mechanisch wendete er sie trotzdem alle paar Minuten. Lisa leistete ihm Gesellschaft, nachdem Atze ins Wohnzimmer gegangen war, um sich anzusehen, auf wen die deutsche Mannschaft im Halbfinale treffen wird. Sie schien zu spüren, dass er angesichts des neuen, prägnanten Lebensjahres in einer melancholischen Stimmung war, und ließ ihn weitgehend in Frieden. Beide tranken schweigend Bier, betrachteten den klaren Himmel oder die Gruppe um Jonas.

Nur einmal sprach Lisa ihn an, natürlich auf ihr Lieblingsthema. »Willst du wirklich deinen ganzen, in Anführungszeichen, Lebensabend allein verbringen?«

Er flüchtete sich in Ironie. »Willst du mir einen Antrag machen? Mittlerweile könnte ich dein Opa sein!«

»Blödmann!« Damit beendete Lisa das Thema; wahrscheinlich verdrehte sie theatralisch die Augen, während sie sich von ihm abwandte.

Schließlich brachen die Breimers auf und Thomas wurde wach, als sich rund um den Fernseher Unruhe ausbreitete. Neymar war schwer gefoult worden und wurde nun mit schmerzverzerrtem Gesicht vom Platz getragen. Thomas nutzte diese wache Phase und ging nach Hause. Dafür kehrte praktisch im selben Moment Jutta zurück und fragte, ob sie helfen könne.

Helmut nahm ihre Hilfe gern an und begann zusammen mit ihr und Lisa mit den groben Aufräumarbeiten. Während er sich weiterhin aufs Schweigen verlegte, quatschten Lisa und Jutta so unbefangen und vertraut miteinander, als würden sie sich seit Adam und Eva kennen.

Frauen, dachte er und trug Teller und Gläser in die Küche. Lisa drehte sich zu ihm um und warf ihm einen verschwörerischen Blick zu. Er zuckte mit den Schultern. Lisa schüttelte den Kopf.

Wenig später fuhren die Ermittler samt Lebenspartner in einem Großraumtaxi zurück nach Wolfenbüttel und um 1 Uhr verabschiedeten sich die restlichen Winnigstedter. Mit seinen Söhnen hatte er im Laufe des Tages geskypt, um sich gratulieren zu lassen. Es war alles aufgeräumt. Also setzte er sich gemütlich aufs Sofa, trank ein letztes Bier, sah sich im Fernsehen ein weiteres Mal das Tor von Hummels an und ging anschließend schlafen.

*

Vernehmungsprotokolle in Sachen Heinz Schrader, Winnigstedt. Befragender Beamter in allen Fällen: Kriminalhauptkommissar Richard Albrecht, Protokollantin für alle Vorgänge: Fräulein Waltraud Reiter; Ort: Gemeindebüro Winnigstedt.

8. Juli 1974, 9.30 Uhr, Zeuge: Otto Geis, 54 Jahre, Gastwirt aus Winnigstedt.

KHK Albrecht: Guten Tag, Herr Geis. Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit uns zu sprechen.

Zeuge Geis: Das tu ich gern.

KHK Albrecht: Wie Sie wissen, versuchen wir, den Mord an Heinz Schrader aufzuklären. Können Sie sich daran erinnern, wann er am Samstagabend den Dorfkrug verlassen hat?

Zeuge Geis: Das war so um elf.

KHK Albrecht: Hat er Ihnen gesagt, ob er nach Hause gehen will?

Zeuge Geis: Hat er. »Mach’s gut, Otto, ich geh dann mal heim«, hat er gesagt, wie er seinen Deckel bezahlte. Ich hab mich gewundert, weil er so früh dran war. Sonst geht Heinz selten als Erster.

KHK Albrecht: Also hat Herr Schrader seinen Deckel bezahlt?

Zeuge Geis: Ja, sicher. Was denn sonst?

KHK Albrecht: Nun, manche Wirte lassen anschreiben.

Zeuge Geis: So weit kommt’s noch! Und dann lauf ich hinter der Kohle her oder was?

KHK Albrecht: Hatte Herr Schrader also seine Brieftasche dabei?

Zeuge Geis: Ja, klar.

KHK Albrecht: Haben Sie zufällig gesehen, wie viel Geld er darin hatte?

Zeuge Geis: Nein.

KHK Albrecht: Sie sagten, dass Herr Schrader selten als Erster geht. Diesmal tat er es aber?

Zeuge Geis: Ja. Und er ist allein gegangen. Sonst geht er oft mit Gustav nach Hause.

KHK Albrecht: Hm. Da er nach unserem Erkenntnisstand auf dem Weg vom Dorfkrug nach Hause ums Leben gekommen ist, interessiert uns, was sich vorher dort abgespielt hat.

Zeuge Geis: Das kann ich Ihnen sagen: Die Leute haben Bier getrunken, Karten gespielt und gequatscht.

KHK Albrecht: Wer war denn an diesem Abend alles da? Am besten sagen Sie jeweils dazu, wie alt die Person ist, welchen Beruf sie ausübt, wann sie die Kneipe verlassen hat und ob allein oder in Begleitung. Wenn ich da gewesen wäre, könnten Sie sagen: Richard Albrecht, um die 50, Bulle, ist um halb elf gegangen, ohne Begleitung.

Zeuge Geis: Bulle?

KHK Albrecht: Oder Polizist oder Kommissar oder Kripobeamter. Egal.

Zeuge Geis: Meinetwegen. Also, da ist zunächst mal Gustav Wettenstedt. Gustav ist Anfang 50. Wie eigentlich die meisten Leute, die den Abend bei mir waren. Mich eingeschlossen. Die jungen Leute, die sonst schon mal kommen, die Fußballer vom TSV, die sind am Wochenende alle im Harz gewesen. »Trainingslager« nannten die das. War wohl mehr so ein Besäufnis zum Saisonabschluss. Ich gönn es denen aber, die sind ja fast aufgestiegen. Ähm, soll ich trotzdem immer das Alter sagen, auch wenn die alle gleich alt sind?

KHK Albrecht: Nein. Machen Sie bitte weiter. Sie haben gerade mit Herrn Wettenstedt losgelegt.

Zeuge Geis: Genau. Gustav, der ist Bauer. Der größte Bauer im Dorf. Häufig ist einer aus der Familie zugleich Bürgermeister, zuletzt war das der Vater vom Gustav, der Theo. Gustav selbst hat aber mit Politik nichts am Hut. Er hat den Abend mit Heinz und ein paar anderen am Stammtisch gegessen und Karten gespielt, Schlesische Lotterie. Er ist kurz nach Mitternacht gegangen, mit Heinrich Ackermann. Der Heinrich, der ist jünger als die anderen, so Anfang 40. Der heißt Ackermann und der ist auch einer.

KHK Albrecht: Hm?

Zeuge Geis: Das war ein Witz. Der Heinrich ist Bauer. Er hat auch am Stammtisch gesessen und Karten gespielt. Er ist dann zusammen mit Gustav aufgebrochen. Zwei Drittel der Strecke nach Hause können sie gemeinsam gehen, dann trennen sich die Wege.

KHK Albrecht: Von der Kneipe aus betrachtet vor oder nach dem Tiefenbach, also dem Tatort?

Zeuge Geis: Nach dem Tiefenbach.

KHK Albrecht: Danke. Fahren Sie bitte fort.

Zeuge Geis: Das mach ich. Anton Hoier hat ebenfalls mitgespielt. Der Anton ist unser Bürgermeister. Er war der Letzte, der den Abend gegangen ist. Das ist so um dreiviertel eins gewesen.

KHK Albrecht: Waren Sie beide zu diesem Zeitpunkt folglich unter sich?

Zeuge Geis: So war das gewesen. Der Anton hat mir beim Aufräumen zugeguckt und ein letztes Bier getrunken. Wir haben uns wegen dem Endspiel unterhalten.

KHK Albrecht: Ist Herr Hoier allein gegangen?

Zeuge Geis: Ja.

KHK Albrecht: Er betreibt diese Gärtnerei an der Ausfallstraße nach Roklum?

Zeuge Geis: Richtig. Ziemlich großer Laden, läuft gut. Ähm, ich mach dann mal weiter mit den Leuten. Zwei haben noch mit am Stammtisch gegessen und Karten gespielt. Karlheinz Rethmann, der arbeitet bei VW am Band. Und Wilhelm Reckmann, der arbeitet bei MAREM in der Härterei. Die beiden sind ein paar Minuten nach Gustav und Heinrich aufgebrochen. Die wohnen hier in Klein-Winnigstedt, die müssen einen ganz anderen Weg gehen als Gustav, Heinz, Heinrich und Anton.

KHK Albrecht: Den Stammtisch hätten wir dann. Sechs Männer haben dort Schlesische Lotterie gespielt?

Zeuge Geis: Das waren sechs gewesen, richtig. Wenn man den Heinz mitzählen tut.

KHK Albrecht: Waren das Ihre einzigen Gäste an diesem Abend?

Zeuge Geis: Nein. Am Nebentisch haben Ludwig Jordan, Hans-Werner Neubauer und Horst Wesselt Skat gekloppt.

KHK Albrecht: Ludwig Jordan? Ist der zufällig mit Helmut Jordan verwandt, dem jungen Mann, der den Toten gefunden hat?

Zeuge Geis: Helmut ist der Sohn vom Ludwig. Ludwig arbeitet bei der Ziegelei in Mattierzoll. Hans-Werner ist bei Schering im Lager, der wohnt in Mattierzoll. Genau wie der Horst. Der Horst arbeitet mit Karlheinz Rethmann bei VW. Hans-Werner und Horst sind jünger als die anderen, die sind knapp unter 40, glaube ich. Die haben bis halb eins mit Ludwig Skat gespielt. Dann sind die nach Hause gefahren.

KHK Albrecht: Gefahren? Mit dem Auto?

Zeuge Geis: Ja, klar. Bis Mattierzoll, das sind ja über drei Kilometer. Der Horst, der trinkt auch nur vier, fünf, höchstens mal sechs Bier. Er hat wie üblich den Josef Thomalla und den Gerhard Kruggel mitgenommen. Die saßen den Abend die ganze Zeit bei mir an der Theke. Da sitzen die eigentlich immer. Die sind beide an die 70 und Rentner.

KHK Albrecht: Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, führt der Weg nach Mattierzoll an der Brücke über den Tiefenbach vorbei?

Zeuge Geis: Das passt.

KHK Albrecht: Wissen Sie, wo die Männer aussteigen mussten, die aus Winnigstedt sind?

Zeuge Geis: Natürlich. Der Ludwig wohnt in der Teichstraße, Josef am Ganterplatz und Gerhard in der Feldstraße.

KHK Albrecht: Und ist das diesseits …

Zeuge Geis: Das ist alles hinter dem Tiefenbach, vom Dorfkrug aus.

KHK Albrecht: Ich komme auf elf Männer, die vorgestern bei Ihnen waren.

Zeuge Geis: Das kommt hin. Ich hatte aber auch ein paar Damen da. Der Frauengesangsverein. Die haben im Nebenzimmer geprobt.

KHK Albrecht: Am Samstagabend?

Zeuge Geis: Das war eine Ausnahme gewesen. Die treffen sich eigentlich am Mittwoch. Am Mittwoch der Frauengesangsverein und am Donnerstag der Männergesangsverein. Die Damen haben für ihren Auftritt am Sonntag in der Kirche geprobt.

KHK Albrecht: Wie viele Damen gehören dem Frauengesangsverein an?

Zeuge Geis: So um die 20.

KHK Albrecht: Und bis wann haben sie an diesem Abend geübt?

Zeuge Geis: Die haben um sieben angefangen, und das ging dann bis kurz nach neun. Die meisten von den Damen sind dann gleich nach Hause. Aber ein paar sind geblieben.

KHK Albrecht: Und wer?

Zeuge Geis: Das war einmal die Renate, also Renate Junker, das ist unsere Gemeindesekretärin. Renate ist die Chorleiterin. Dann die Christine Rethmann, die Gaby Reckmann und die Heide Wettenstedt.

KHK Albrecht: Und wie lange waren diese Damen da?

Zeuge Geis: Unterschiedlich. Die Christine, die Gaby und die Heide, die sind mit ihren Männern gegangen. Wie immer eigentlich. Die Renate ist um kurz nach zehn nach Hause gegangen, glaube ich.

KHK Albrecht: Ohne Begleitung? Als Frau?

Zeuge Geis: Das ist ja eigentlich ungefährlich, wenn man nachts durch unser Dorf geht. Die Renate ist das sowieso gewohnt, die ist Witwe.

KHK Albrecht: Ich habe sie kennengelernt, als wir ins Gemeindebüro gezogen sind. Eine ausgesprochen attraktive Frau.

Zeuge Geis: Das können Sie laut sagen!

KHK Albrecht: Ein andermal. Wie lange führen Sie den Dorfkrug eigentlich schon?

Zeuge Geis: Seit knapp 25 Jahren.

KHK Albrecht: Das heißt, dass Sie die meisten Ihrer Gäste ganz gut kennen?

Zeuge Geis: Das will ich meinen.

KHK Albrecht: Dann wissen Sie also, ob es da Konflikte gab?

Zeuge Geis: Das weiß ich in der Tat: Es gab null Konflikte. Was für Konflikte meinen Sie überhaupt?

KHK Albrecht: Beispielsweise Streitereien unter den Bauern?

Zeuge Geis: Das gibt es bei uns nicht.

KHK Albrecht: Hm. Und sonst? Jemand hat einem anderen Geld geliehen und wartet vergeblich auf die Rückzahlung? Jemand hat einem anderen die Frau ausgespannt? Etwas in der Art.

Zeuge Geis: Nein. Bei uns ist alles friedlich. Wieso fragen Sie das?

KHK Albrecht: Irgendjemand muss einen Grund gehabt haben, Schrader einen Stein über den Kopf zu ziehen.

Zeuge Geis: Das war doch ein Raubüberfall gewesen! Dem Heinz wurde seine Brieftasche geraubt! Und Sie haben vorhin extra danach gefragt.

KHK Albrecht: Der Funk funktioniert also bestens im Dorf. Die Sache mit der Brieftasche hat sich jedenfalls rasch herumgesprochen. Kann sein, dass es ein Raubmord war. Wir müssen aber zunächst alle anderen Alternativen überprüfen. Doch offenbar haben sich in Winnigstedt alle lieb.

Zeuge Geis: Das ist übertrieben. Aber nur, weil ich wen weniger lieb habe, schlag ich den nicht gleich tot.

KHK Albrecht: Einverstanden! Und am Samstagabend ist wirklich nichts Ungewöhnliches im Dorfkrug passiert? Streitereien oder so?

Zeuge Geis: Das war wie immer.

KHK Albrecht: Können Sie mir überhaupt irgendetwas erzählen, was aus Ihrer Sicht ein Motiv sein könnte?

Zeuge Geis: Vielleicht. Es ist aber keine von den Sachen, die Sie vorhin gesagt haben. Streit unter den Bauern oder wegen Geld oder wegen Frauengeschichten.

KHK Albrecht: Sondern?

Zeuge Geis: Das bleibt aber unter uns. Wegen meinem Ruf. Zum Glück geht’s um keinen von meinen Stammgästen.

KHK Albrecht: Sondern?

Zeuge Geis: Das war im letzten Krieg gewesen. Der Heinz und sein Vater, der heißt auch Heinz, die waren ja beide in der Hitler-Partei gewesen. Als einzige aus dem Dorf. Das waren jetzt aber keine richtigen Nazis gewesen. Die haben nur gedacht, ihnen bringt die Sache mit der Partei irgendwelche Vorteile.

KHK Albrecht: Opportunisten?

Zeuge Geis: Hä?

KHK Albrecht: Egal. Welche Vorteile waren das konkret?

Zeuge Geis: Das meiste habe ich vergessen, bis auf die eine Sache: Die Bauern konnten ja Kriegsgefangene als Erntehelfer anfordern, und da war das mit der Partei ein Vorteil. Schraders haben zwei Russen bekommen, 1942 war das.

KHK Albrecht: Was ist aus denen geworden? Sind die bis Kriegsende im Dorf geblieben?

Zeuge Geis: Nein, die sind 1944 bei einem Unfall gestorben.

KHK Albrecht: Unfall?

Zeuge Geis: Ein Unfall, ja. Das Scheunendach ist eingestürzt. Und die Russen waren gerade in der Scheune. Boris und Pawel hießen die. Nette Kerle waren das gewesen, die beiden. Schraders haben die gut behandelt. Die wollten gar nicht wieder weg von hier.

KHK Albrecht: Und diese Sache soll was mit Schraders Tod zu tun haben?

Zeuge Geis: Nein.

KHK Albrecht: Und warum erzählen Sie mir das?

Zeuge Geis: Das ist nur wegen Ihrer Frage mit der Partei! Ich wollte auf was anderes raus.

KHK Albrecht: Worauf denn?

Zeuge Geis: Das hat was mit diesem Widerstand zu tun. Es gab da im Dorf einen Mann, der war da dabei. Alle hatten das gewusst und wie gefährlich das gewesen war. Für alle. Aber man ließ den Kerl machen. Doch dann kommt im Februar ’45 die Gestapo und will ihn holen. Theo hat ihn aber rechtzeitig versteckt.

KHK Albrecht: Gustavs Vater?

Zeuge Geis: Ja. Theo, der war im Krieg Bürgermeister. Und vor dem Krieg und nach dem Krieg. Der Theo wollte verhindern, dass die Gestapo einen aus seinem Dorf zu fassen kriegt. Der hat lieber die Gefahr auf sich genommen und den Kerl drei Monate versteckt. Bis der Scheißkrieg zu Ende war.

KHK Albrecht: Wusste Wettenstedt von der geplanten Verhaftung?

Zeuge Geis: Puh. Das müssen Sie ihn schon selbst fragen.

KHK Albrecht: Und wo ist jetzt der Zusammenhang?

Zeuge Geis: Das liegt doch auf der Hand. Hier haben wir den vom Widerstand, dort den aus der Hitler-Partei – und dann kommt die Gestapo ins Dorf.

KHK Albrecht: Sie wollen damit sagen, dass Schrader diesen Widerstandskämpfer denunziert, also an die Gestapo verraten hat?

Zeuge Geis: Das wäre immerhin möglich.

KHK Albrecht: Wie heißt denn dieser Widerstandskämpfer?

Zeuge Geis: Karl Liedke. Er wohnt in Groß-Winnigstedt.

KHK Albrecht: Warum soll er nach 30 Jahren plötzlich auf die Idee kommen, sich für diesen Verrat zu rächen?

Zeuge Geis: Woher soll ich das wissen?

Kapitel 2

8. Juli 2014, etwa 23.30 Uhr

Vier Tage nach Helmuts Geburtstag hatten sich die Ermittler erneut zum gemeinsamen Fußballgucken verabredet und eine erste Halbzeit erlebt, die sie nie wieder vergessen würden. 5:0! Sie hatten sich bei Jonas und Franziska getroffen, die in einem kleinen Reihenhaus am Tannenweg wohnten. Auf den drei Etagen war genug Platz für Küche, Wohnzimmer, Badezimmer, Schlafzimmer, Arbeitszimmer und ein Kinderzimmer. Für den Fall, dass die beiden sich tatsächlich zu Hochzeit und Familiengründung entschieden.

Beamer und Leinwand standen in dem kleinen Garten hinterm Haus, genau wie der Grill. Sie hatten wegen der späten Anstoßzeit, 22 Uhr, bereits vor dem Spiel gegrillt. Gerade begann die zweite Halbzeit. Helmut nahm unterbewusst ein paar wahnsinnige Paraden von Manuel Neuer wahr, ließ aber ansonsten seinen Gedanken freien Lauf. Schnell landeten diese bei Kalle Neubauer und dessen wahnsinniger Idee, sich in seinem Haus aufzuhängen und einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, in dem er die Alleinschuld am Unfalltod von Hanno Ackermann auf sich nahm.

Dabei hatte Helmut ihn am Rosenmontag soweit gehabt, dass Kalle seine Komplizen Gregor Pahlke und Jochen Wettenstedt ans Messer liefern wollte. Aber nein, in seinem Abschiedsbrief beschrieb Kalle haarklein, wie er vor 15 Jahren auf einem Militaria-Markt in Oschersleben illegal eine Landmine gekauft und diese im Dezember 2013 auf Hannos Feld deponiert hatte. Mit Bedacht ganz am Rand, um Hanno zu erschrecken. Dass Hanno dann durch einen blöden Zufall mit dem Trecker (statt mit dem Pflug) die Mine ausgelöst hatte, war eine Tragödie, die Kalle letztlich in den Selbstmord getrieben hatte.

Gregor und Jochen waren nun fein raus, dachte Helmut grimmig. Dabei wusste er von Kalle, dass Gregor, Kalle und Jochen das Attentat auf Hanno gemeinsam geplant und durchgeführt hatten. Dummerweise fehlten ohne Kalles Aussage die Beweise.

Gregor war nach einer schweren Kopfverletzung, dem anschließenden künstlichen Koma und einem langen Krankenhausaufenthalt inklusive Reha ein anderer Mensch geworden. Er war weniger aggressiv als früher, als er sich den Ruf, der Dorfschläger zu sein, durch jahrzehntelanges gewalttätiges Verhalten absolut verdient hatte. Jetzt lebte er weitgehend zurückgezogen und verbrachte vermutlich die meiste Zeit mit seiner riesigen Militaria-Sammlung, die Helmut ausschließlich vom Hörensagen kannte.

Jochen hingegen benahm sich wie eh und je, großspurig und selbstgefällig; Chef der örtlichen CDU, Bürgermeister, größter Bauer des Dorfes und Windparkbesitzer. Mit Jochen hatte Helmut seit den turbulenten Wintertagen kaum ein Wort gewechselt. Guten Tag und Auf Wiedersehen. Manchmal fragte er sich, ob Jochen etwas mit Kalles Freitod zu tun haben könnte, inklusive Abschiedsbrief? Doch solch einen vagen Verdacht würde der mit allen Wassern gewaschene Bauer und Kommunalpolitiker kurzerhand beiseite schieben.

Helmut hatte es ersatzweise bei Gregor versucht und an einem Freitagabend auf gut Glück bei ihm angeklingelt. Gisela Pahlke hatte ihm aufgemacht. Ausgerechnet. Sie war der einzige Mensch im Dorf, der ihm die Sache mit Gregors Kopfverletzung übel genommen hatte, an der er in der Tat indirekt beteiligt gewesen war. Logisch, dass Gisela ihm jetzt die Tür vor der Nase zuknallen wollte. Unvermittelt stand Gregor neben ihr und fixierte Helmut mit seinen schwarzen Augen.

»Ich tät dich reinbitten, aber dann krieg ich Ärger mit Gisela.«

Giselas böser Blick unterstrich diese Bemerkung.

»Lieb von dir, Gregor. Wir können uns ja draußen unterhalten.«

»Okay. Aber das sag ich dir vorher: Ich red mit dir nicht über Kalle oder Jochen. Selbst, wenn du mich vorladen tust.«

Damit hatte sich die Angelegenheit eigentlich erledigt. Er wollte allerdings den Eindruck vermeiden, dass er nur mit Gregor sprechen wollte, um weiter an dem Fall zu arbeiten. Also erklärte er sich einverstanden, dieses Thema auszuklammern. Sie liefen eine halbe Stunde lang durchs Dorf und tauschten Belanglosigkeiten aus. An Tiefe gewann ihre Konversation allenfalls, als sie über Gregors Gesundheitszustand sprachen, der sich merklich gebessert hatte. Einzig die wöchentlich jeweils für einige Stunden auftretenden Kopfschmerzen hielten sich hartnäckig. Wenn er Pech hatte, wurde Gregor sie nie wieder los.

Im Zusammenhang mit Hannos Tod gab es nur eine erfreuliche Entwicklung. Nach langem Hin und Her (wegen Kalles Schuldeingeständnis, das aus dem ursprünglichen Unfall eine fahrlässige Tötung machte) hatte Rolf Kramers Versicherungsgesellschaft endlich die Lebensversicherung an Hannos Ehefrau Melanie ausbezahlt. Kramer war der örtliche Repräsentant der Versicherung und hatte sich wirklich ordentlich ins Zeug gelegt für die Ackermanns.

»Hallo! Erde an Major Jordan!« Lisa fuhr mit ihrer Hand direkt vor seinem Gesicht rauf und runter.

Er blickte seine Kollegin irritiert an.

Lisas folgende Frage irritierte ihn noch mehr. »Wo bist du denn? Bei der schönen Köchin oder was?«

»Lisa, was willst du?«

»Ich wollte herausfinden, ob du mitbekommen hast, dass gerade das 6:0 gefallen ist. Es jubelt ja niemand mehr über deutsche Tore, da kann einem das durchaus entgehen.«

»Was?«

»6:0 für Deutschland. Schürrle.«

»Klasse!«

»Ja, das merkt man, dass du das klasse findest. Sag mal ehrlich jetzt, wohin du dich mit deinen Gedanken gerade verkrochen hast! Ich schätze, es geht mal wieder um deinen Spezi.«

Seine Kollegen hatten sich längst daran gewöhnt, dass er ständig an Jochen dachte. Zum Glück gab es, außer der WM und ein paar Routinedingen, zurzeit in der Ermittlungsgruppe nur wenig zu tun, denn mit Kalles Geständnis per Abschiedsbrief waren die sieben Todesfälle des Winters endgültig aufgeklärt. Zwei der Verantwortlichen waren tot, zwei waren im Gefängnis. Blieben …

Nein, Jochen und Gregor vergessen wir jetzt! Besser an Jonas denken! Jonas hat kürzlich vorgeschlagen, die Zeit, die ihnen dank der offenkundigen Antriebslosigkeit der Wolfenbütteler Gewaltverbrecher momentan blieb, nicht damit zu vergeuden, jede neue Dienstanweisung dreimal zu lesen oder Akten von der linken auf die rechte Schreibtischhälfte umzuschichten. Stattdessen sollten sie ungelöste Altfälle wieder aufrollen, um sie mithilfe neuer Techniken und Verfahren und etwas Glück nachträglich zu lösen. In der Asservatenkammer dürften sich, hatte Jonas gehofft, haufenweise Haare, Hautschuppen, Kleidungsstücke und Gegenstände befinden, die man auf DNA-Spuren untersuchen konnte.

Die Quelle von Jonas’ Inspiration war wie üblich ein kürzlich gelesener Krimi, in dem eine Spezialeinheit gebildet wurde, die sich auf solche Fälle stürzte. Krimis waren nun einmal Jonas’ große Leidenschaft. Es war ihm bei vielen ihrer Fälle gelungen, Parallelen zur Kriminalliteratur zu ziehen; oft lenkten diese Parallelen die Ermittler in die richtige Richtung.

Das Archiv in Wolfenbüttel reichte zurück bis in die Weimarer Republik. Jonas verzichtete jedoch auf die 20er-, 30er-, 40er- und 50er-Jahre. Er wollte von vornherein eine reelle Chance haben, mit lebenden Zeugen oder früheren, mit dem Fall betrauten Kollegen zu sprechen und im Idealfall endlich den Mörder überführen.

Neulich hatte Jonas die erste erfolgversprechende Akte aus dem Archiv nach oben gebracht, einen ungeklärten Todesfall aus dem Jahr 1967. Ausgerechnet mitten im Sommer der Liebe und ein paar Wochen nach der sensationellen deutschen Meisterschaft von Eintracht Braunschweig wurde auf dem Sportplatz des Wolfenbütteler Vorortes Ahlum die Leiche einer 17-Jährigen gefunden. Doris Erlemann war erwürgt worden, zuvor hatte ihr Mörder sie vergewaltigt. Schnell hatte es einen Verdächtigen gegeben, den 20-jährigen Schlosser Bernd Rademacher. Bernd war laut einiger Zeugen monatelang hinter Doris her gewesen und stets abgeblitzt. Dann hatte er sich scheinbar mit Gewalt genommen, was ihm freiwillig nicht gegeben wurde. Und hinterher hatte er Doris umgebracht.

Während die Motivlage gegen Bernd Rademacher sprach, konnte er andererseits ein Alibi für die Tatzeit vorweisen. Es beruhte auf der Aussage seines jüngeren, geistig zurückgebliebenen Bruders Jürgen. Der behauptete steif und fest, den gesamten fraglichen Abend mit seinem großen Bruder verbracht zu haben. Er konnte minutiös berichten, was die beiden getrieben haben. Jürgens Schilderung deckte sich haargenau mit Bernds Ausführungen.

Sagten beide die Wahrheit oder hatten sie ihr Lügengebilde perfekt abgestimmt? Jürgens geistige Behinderung schien solch eine Absprache auszuschließen. Deshalb gingen die damals ermittelnden Kriminalisten davon aus, dass die Brüder die Wahrheit sagten, und ließen Bernd laufen. Die Beamten fanden keinen anderen Verdächtigen und legten den Fall zu den Akten. Sehr zum Unwillen von Doris’ Eltern und vieler weiterer Ahlumer.

Jonas wollte den Fall nach 47 Jahren endlich lösen. An der Aussage von Jürgen Rademacher konnte er nicht mehr rütteln und ihn erneut befragen, Jürgen war 1969 gestorben. Es gab aber Spuren vom Tatort, die sich vielleicht mit heutiger Technik auswerten ließen, unter anderem ein paar Haare, Kopfhaare sowie Schamhaare. Jonas ließ diese Haare nun in der Rechtsmedizin in Hannover untersuchen. Eine Freundin seiner Schwester arbeitete dort und half Jonas halboffiziell. Sie wollte in ihrer Mittagspause oder nach Feierabend zunächst herausfinden, ob alle Haare zur selben Person gehören, mutmaßlich dem Opfer. Falls ja, hätte sich die Sache erledigt. Falls die Haare von zwei verschiedenen Personen stammten, schien es denkbar, dass sie sich auf Täter und Opfer verteilten. Dann würde Jonas sich auf die Suche nach Bernd Rademacher machen. Schwieriger dürfte die Suche nach dem Mörder werden, falls die Haare mehr als zwei Personen gehörten. Doch noch musste Jonas sich gedulden, die Haare waren erst unterwegs nach Hannover.

Helmut war ebenfalls längst wieder unterwegs, weit weg von diesem WM-Halbfinale. Unvorstellbar, dass man hier mit sieben Leuten zusammensaß, ohne mit der deutschen Mannschaft fiebern zu müssen. Was gab es beim Stand von 6:0 großartig zu fiebern? Pardon, 7:0. Gerade traf Schürrle erneut. Björn jubelte, aber offenbar nur aus Spaß. Außer Helmut dachten mittlerweile alle an das Finale am Sonntag.

»Die Käseroller können kommen«, rief Rabea.

»Nix da Käseroller. Die haben ihre guten Spiele hinter sich. Ich wette auf die Gauchos«, antwortete David.

»Die wer?«, fragte Franziska.

»Uups!« Das kam von Jonas, der als Einziger in diesem Moment auf den Bildschirm sah und den Ehrentreffer der Brasilianer bemerkte.

»Na, die Argentinier«, sagte Björn.

»Wer hat es gemacht?«, fragte David Jonas.

»Oscar.«

»Wo gucken wir denn das Endspiel?«, wollte Lisa wissen.

»Ich habe jede Menge Grillsachen und Bier von Freitag über«, sagte Helmut. »Ihr könnt gern wieder zu mir kommen, wenn euch die Fahrt nicht zu weit ist.«

»Solange Taxis fahren, ist mir keine Fahrt zu weit.« David sah Rabea an. »Oder willst du gern fahren, Schatz?«

Da die Frage bar jeder Ironie war, antwortete Rabea ernsthaft: »Nö, ich will feiern, egal, ob wir gewinnen.«

»Lisa? Jonas? Franziska? Björn? Was ist mit euch?«, fragte Helmut in die Runde.

»Gern. Kommt die hübsche Köchin wieder?« Lisa lächelte ihn an.

Lisa hatte durchaus recht. Jutta war in der Tat eine hübsche Frau. Sie war 14 Jahre jünger als er und rein äußerlich ein Typ wie Rabea. Sehr weiblich, sehr sinnlich. Ihr Haar war schwarz, durchzogen von wenigen grauen Strähnen, die Jutta erst gar nicht zu kaschieren versuchte. Ihr ovales Gesicht zeigte meist ein freundliches Lächeln, das ehrlicher zu sein schien als das übliche Lächeln von Gastwirten. Wenn sie kochte, band sie ihr Haar zusammen oder versteckte es unter einem Kopftuch. Als sie am Freitag zu Helmuts Gartenparty gekommen war, hatte sie es offen getragen. Es reichte ihr bis zu den Schultern, die an diesem Abend in einem sommerlichen Kleid gesteckt hatten. Das Kleid war tief ausgeschnitten, und ähnlich wie Rabea hatte Jutta ihren Spitzen-BH gezeigt, allerdings einen dunkelblauen.

Jutta kochte, wie gesagt, hervorragend, jedoch nur am Wochenende kümmerte sie sich im Dorfkrug um die Zubereitung der Speisen; in der Woche kam unter Werners kompetenter Führung ausnahmslos die Fritteuse zum Einsatz, während Jutta, wie viele andere Winnigstedter, ihrer Arbeit im rund 30 Kilometer entfernten Wolfsburger VW-Werk nachging.

Helmut verzog keine Miene wegen Lisas Bemerkung, er wartete auf die Reaktion der anderen. Alle waren einverstanden, sich das WM-Finale bei ihm anzusehen. Er überlegte, zusätzlich ein paar Freunde aus dem Dorf einzuladen, Atze und Thomas. Ja, okay, er könnte außerdem Langners fragen. Ob Werner überhaupt kommen könnte? Er würde das Spiel in seiner Kneipe zeigen und dort sein müssen, oder?

Das alles wollte er sich in Ruhe überlegen. Jetzt musste er zunächst ein Taxi rufen, das ihn die 20 Kilometer zurück nach Winnigstedt fuhr. Morgen würde er mit dem Linienbus zur Arbeit fahren. Sein Auto stand an der Dienststelle am Grünen Platz. Auf der 45-minütigen Busfahrt könnte er darüber hinaus ein wenig Schlaf nachholen.

*

Vernehmungsprotokoll

8. Juli 1974, 11.30 Uhr, Zeuge Anton Hoier, 55 Jahre, Gärtnereibesitzer aus Winnigstedt, Bürgermeister des Dorfes

KHK Albrecht: Herr Hoier, ich grüße Sie. Schön, dass Sie sich heute Vormittag kurz freinehmen konnten. Für Sie als Bürgermeister ist das ja sozusagen ein Heimspiel. Vielen Dank, dass Sie uns das Gemeindebüro zur Verfügung stellen. Es ist ungemein praktisch für die Zeugenbefragung.

Zeuge Hoier: Das mache ich gern, Herr Kommissar. Mir ist sehr daran gelegen, dass Sie dieses feige Verbrechen möglichst bald aufklären können. Was kann ich für Sie tun?

KHK Albrecht: Ich möchte ein paar Dinge mit Ihnen erörtern, Herr Bürgermeister. Zum einen geht es um die Nacht vom 6. auf den 7. Juli. Sie gehören zu den Männern, mit denen Heinz Schrader im Dorfkrug Karten gespielt hat. Ist Ihnen an diesem Abend irgendetwas an ihm aufgefallen?

Zeuge Hoier: Er hatte Pech mit den Karten und hat deswegen gegen elf aufgehört zu spielen.

KHK Albrecht: Und sonst?

Zeuge Hoier: Das ist alles, woran ich mich erinnere.

KHK Albrecht: Gab es Streit an Ihrem Tisch oder in der Gaststätte?

Zeuge Hoier: Nein, da war alles friedlich.

KHK Albrecht: Denken Sie bitte gründlich nach, es ist wichtig.

Zeuge Hoier: Tut mir leid, Herr Kommissar, es bleibt dabei. Ich habe den ganzen Abend mit Heinz am Tisch gesessen. Abgesehen von seiner schlechten Laune wegen seiner Verluste, war alles wie immer.

KHK Albrecht: Hm. Lassen wir das. Sie waren laut dem Wirt Otto Geis der letzte Gast an diesem Abend.

Zeuge Hoier: Ja, das stimmt.

KHK Albrecht: Wissen Sie, wie spät es da war?

Zeuge Hoier: Gegen eins, würde ich sagen. Ich habe mit Otto ein letztes Glas getrunken. Das ist so eine Art Ritual. So lange er zapft, verzichtet Otto aufs Bier, erst beim Spülen und Aufräumen, da trinkt er gern was und ich leiste ihm dabei Gesellschaft.

KHK Albrecht: Und dann sind Sie nach Hause gegangen?

Zeuge Hoier: Ja, es war spät genug.

KHK Albrecht: Führt Ihr Heimweg am Tiefenbach vorbei?

Zeuge Hoier: Ja, ich muss vom Dorfkrug aus praktisch durch das ganze Dorf gehen, um nach Hause zu kommen.

KHK Albrecht: Ist Ihnen am Tiefenbach etwas aufgefallen?

Zeuge Hoier: Nein. Ich muss aber zugeben, dass ich kaum drauf geachtet habe, was links und rechts des Weges passiert. Nur, als das Auto kam, da habe ich nach rechts gesehen. Da war ich schon hinter dem Tiefenbach.

KHK Albrecht: Ein Auto? Haben Sie erkannt, wer es war?

Zeuge Hoier: Das war Jochen Wettenstedt. Jochen ist der Sohn von Gustav und meine rechte Hand.

KHK Albrecht: Ihre rechte Hand?

Zeuge Hoier: Ja, ich bin in der CDU und Jochen in der Jungen Union. Er engagiert sich in der Lokalpolitik und hilft mir hier und da bei der Arbeit.

KHK Albrecht: Hat er angehalten, um Sie nach Hause zu bringen?

Zeuge Hoier: Nein. Wahrscheinlich hat er mich komplett übersehen.

KHK Albrecht: Ist es denn normal, dass da jemand so spät nachts durchs Dorf fährt?

Zeuge Hoier: Ach, ich denke, das passiert häufiger. Die jungen Leute sind ja ständig unterwegs, fahren hierhin und dorthin und am Ende wieder nach Hause.

KHK Albrecht: Sie meinen, er war auf dem Heimweg?

Zeuge Hoier: Nein, er fuhr in die entgegengesetzte Richtung, weg vom Hof seiner Eltern. Meinen Sie etwa, dass das mit dem Mord zu tun hat?

KHK Albrecht: Nein. Die Tat war um diese Zeit offensichtlich längst vollbracht. Und, wie Sie es darstellen, fuhr Herr Wettenstedt Richtung Tiefenbach. Ich werde ihn bei Gelegenheit fragen. Etwas anderes, Herr Hoier. Wir wissen bislang zu wenig über Heinz Schrader. Wir wissen nur, dass er 52 Jahre alt war, in vierter Generation einen mittelgroßen Bauernhof führte und dort zusammen mit seinen Eltern, seiner Frau und seinen drei Kindern wohnte. Das Leben auf dem Hof scheint weitgehend konfliktfrei gewesen zu sein. Behauptet seine Familie. Das könnte daran liegen, dass Schrader das Kommando hatte und alle widerspruchslos auf ihn hörten. Das haben meine Leute zwischen den Zeilen herausgehört, als sie dort gewesen sind. Wie sehen Sie das?

Zeuge Hoier: Ich sage mal so: Heinz, der hatte seine Leute gern im Griff, das schließt seine Familie mit ein. Er hätte auch gern für alle den Wahlzettel ausgefüllt, damit die das Richtige ankreuzen. Glücklicherweise wählt Heinz heutzutage die CDU und ist dort Mitglied.

KHK Albrecht: Heutzutage? Spielen Sie auf seine Mitgliedschaft in der NSDAP an?

Zeuge Hoier: Oh, das wissen Sie schon?

KHK Albrecht: Ja. Ich habe außerdem von dieser Geschichte mit der Gestapo gehört, die im Februar ’45 einen gewissen Karl Liedke verhaften wollte.

Zeuge Hoier: Da sind Sie wirklich gut informiert, Herr Kommissar.

KHK Albrecht: Was genau hat dieser Liedke denn gemacht?

Zeuge Hoier: Flugblätter geschrieben? Sich mit anderen Widerständlern getroffen? So etwas in der Art. Sabotageakte gab es bei uns in der Gegend meines Wissens nach keine.

KHK Albrecht: Und wie kamen die Geheimen dahinter? Könnte es sein, dass der junge Schrader der Gestapo was gesteckt hat?

Zeuge Hoier: Da bin ich überfragt. Es gab da wohl so ein Gerücht. Heinz hat das stets bestritten und Liedke hat ihn deswegen niemals angeklagt. Fragen Sie ihn das am besten persönlich.

KHK Albrecht: Das werde ich tun. Ich habe das Gefühl, dass Herr Liedke im Dorf recht unbeliebt ist?

Zeuge Hoier: Der Eindruck täuscht. Der hat seinen Freundeskreis. Meine Sekretärin gehört dazu, ein paar Arbeitskollegen, hauptsächlich so Leute, die der SPD oder der Gewerkschaft nahestehen.

KHK Albrecht: Und Sie?

Zeuge Hoier: Ich habe nichts gegen ihn. Kann aber gut sein, dass er was gegen mich hat.

KHK Albrecht: Warum?

Zeuge Hoier: Weil ihm die CDU zu nahe an dem ist, was damals war? Zu konservativ. Zu weit rechts. Für Liedke ist beinahe alles zu weit rechts. Vor Willy Brandt und Herbert Wehner war ihm sogar die SPD zu weit rechts gewesen.

KHK Albrecht: Dann hat er an Kanzler Schmidt wohl nur wenig Freude?

Zeuge Hoier: Da könnten Sie recht haben.

KHK Albrecht: Lassen Sie uns auf Schrader zurückkommen. Und auf seinen Charakter. Er war also ein kleiner Haustyrann. Ist das alles?

Zeuge Hoier: Man soll ja nur Gutes über die Toten reden.

KHK Albrecht: Es könnte uns helfen, diesen Fall aufzuklären. Falls es kein Raubmord war! Gibt es da was?

Zeuge Hoier: Nun gut, Heinz konnte schlecht seine Finger bei sich behalten, wenn Frauen in der Nähe waren.

KHK Albrecht: Früher oder auch noch in letzter Zeit?

Zeuge Hoier: Früher war es heftiger, aber so ganz es hat nie aufgehört.

KHK Albrecht: Was heißt das konkret? Hat Schrader die Frauen unsittlich berührt?

Zeuge Hoier: So kann man es nennen.

KHK Albrecht: Und was haben diese Frauen gemacht?

Zeuge Hoier: Manche haben es über sich ergehen lassen. Andere haben ihm die Meinung gesagt. Frau Junker hat ihm mal eine geknallt, glaube ich.

KHK Albrecht: Ach, die gehörte dazu?

Zeuge Hoier: Ja. Viele gehörten dazu. Eigentlich alle, die unverheiratet waren. Bei den Ehefrauen hat er sich zum Glück zurückgehalten.

KHK Albrecht: Und was hat seine eigene Ehefrau dazu gesagt?

Zeuge Hoier: Die hatte wenig zu sagen, wie Sie bereits wissen. Ich schätze, das schließt diesen Punkt ein. Wenn Sie es genauer wissen möchten, müssten Sie sie fragen.

KHK Albrecht: Wir haben mit der Familie gesprochen, wie gesagt. Da wurde dieser Punkt verschwiegen.

Zeuge Hoier: Das kann ich mir gut vorstellen.

KHK Albrecht: Glauben Sie denn, dass eine von diesen Frauen, die von Schrader belästigt wurden, ihn so sehr hasste, dass sie …

Zeuge Hoier: Ihn erschlägt? Nein, das kann ich ausschließen. Nun gut, diese ganz jungen Dinger, mit denen habe ich selten was zu schaffen. Da müsste ich mal meinen Sohn Atze fragen.

KHK Albrecht: Atze?

Zeuge Hoier: Er heißt eigentlich Albert. Hier nennt ihn aber jeder Atze.

KHK Albrecht: Und er kennt ein paar von diesen jungen Dingern, wie Sie sie nennen?

Zeuge Hoier: Atze kennt sie alle, glaube ich. Er feiert regelmäßig diese Feten in unserem Keller und da lädt er praktisch alle jungen Leute aus dem Dorf ein.

KHK Albrecht: Hat er auch letzten Samstag gefeiert?

Zeuge Hoier: Nein, da war er ausnahmsweise mal eingeladen. Er war zusammen mit seiner Freundin auf einer Fete – in Semmenstedt, glaube ich.

KHK Albrecht: Gut. Ich sollte mal mit Ihrem Sohn sprechen. Es könnte ja sein, dass nicht eines dieser jungen Dinger zum Stein gegriffen hat, sondern deren Freund.

Zeuge Hoier: Puh. Sprechen Sie mal mit Atze. Ich werde ihn vorwarnen.

KHK Albrecht: Sehr freundlich, Herr Hoier. Fällt Ihnen noch was zu Schrader ein, das für die Aufklärung wichtig sein könnte?

Zeuge Hoier: Nein. Ich fürchte, dass ich mehr als genug Schlechtes über ihn gesagt habe.

KHK Albrecht: Hauptsache, es bringt uns weiter.

Zeuge Hoier: Hoffentlich tut es das.

KHK Albrecht: Auf Wiedersehen, Herr Bürgermeister!

Zeuge Hoier: Auf Wiedersehen, Herr Kommissar!

Kapitel 3

13. Juli 2014, vormittags