Ihr letztes Spiel - Arne Dessaul - E-Book
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Ihr letztes Spiel E-Book

Arne Dessaul

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Beschreibung

Die schwere Eisenkette schmiegt sich, nicht allzu eng, um ihr rechtes Handgelenk. "'Du bist genauso unvernünftig wie damals. Du hast nichts dazugelernt. Nichts. Wider besseren Wissens begibst du dich in große Gefahr. Und deine Freundin gleich mit.'  'Ich habe dazugelernt', widerspreche ich."  Mikes Lebensgefährtin Alice ist weg. Spurlos verschwunden. Und das genau zur Heim-EM 2024. Mike erinnert dieser persönliche Fall sehr an 2006, als zur Heim-WM seine erste große Liebe Valerie entführt wurde. Damals war Mike als junger Student für ernsthafte Ermittlungen noch viel zu unerfahren.  Kann er Alice finden und dafür sorgen, dass es mit ihr ein besseres Ende nimmt als das letzte Mal? Mike lässt sich auf das tödliche Spiel mit dem Entführer ein – und begibt sich dabei in größte Gefahr …  Mike Müllers vierter Fall führt uns zu seinen Anfängen als Detektiv, zum deutschen Fußballfieber während der Heim-WM und zu zwei spannenden Entführungen, bei denen nichts ist, wie es scheint …

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Arne Dessaul

Ihr letztes Spiel

Mike Müllers vierter Fall

Ein Bochum-Krimi

 

Über das Buch

Die schwere Eisenkette schmiegt sich, nicht allzu eng, um ihr rechtes Handgelenk.

‚Du bist genauso unvernünftig wie damals. Du hast nichts dazugelernt. Nichts. Wider besseren Wissens begibst du dich in große Gefahr. Und deine Freundin gleich mit.‘

‚Ich habe dazugelernt‘, widerspreche ich.

Mikes Lebensgefährtin Alice ist weg. Spurlos verschwunden. Und das genau zur Heim-EM 2024. Mike erinnert dieser persönliche Fall sehr an 2006, als zur Heim-WM seine erste große Liebe Valerie entführt wurde. Damals war Mike als junger Student für ernsthafte Ermittlungen noch viel zu unerfahren.

Kann er Alice finden und dafür sorgen, dass es mit ihr ein besseres Ende nimmt als das letzte Mal? Mike lässt sich auf das tödliche Spiel mit dem Entführer ein – und begibt sich dabei in größte Gefahr …

Der neue spannende Fall für Mike Müller!

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2024 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

 

1. Auflage 2024

 

Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Korrektorat: Angelika Wiedmaier

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Umschlaggestaltung: Alin Mattfeldt

Umschlagmotiv: © Camilo Chong/ Shutterstock

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: CPI Books GmbH

Made in Germany

ISBN: 978-3-98679-036-3

 

 

Inhalt

Über das Buch

Impressum

Vorbemerkung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Epilog

Glossar

Der Autor Arne Dessaul

Mehr von Arne Dessaul

Vorbemerkung

Ja, 2006 fand in Deutschland eine Fußball-WM statt und 2024 eine EM, die hier als Kulisse dienen. Ja, die eine oder andere Kneipe in Bochum taucht hier unter ihrem Klarnamen auf, genauso die Ruhr-Universität. Aber damit hat es sich, der Rest ist frei erfunden, Personen und Handlungen.

Selbstverständlich gibt es auch in diesem Buch eine Playlist, auf der gleich drei Songs erscheinen, in denen eine „Valerie“ oder „Valérie“ besungen wird. Im Glossar stehen alle relevanten Infos zu den Songs – plus ein paar zum Teil sehr persönliche Anmerkungen zu den Liedern.

Wie üblich tummeln sich die Beatles eifrig auf der Playlist, dazu großartige Songs der Marke Kuschelrock. Ich hoffe, dass ich meinen Lesern und Leserinnen jede Menge Ohrwürmer beschere – und erst recht eine spannende und eine, ja, glaubt es oder glaubt es nicht, bisweilen romantische Geschichte.

Valérie, Valérie, schön wie nie …

Prolog

The End

Noch behandeln sie mich gut. Weil sie denken, dass irgendjemand ihre Forderungen erfüllen wird. Was passiert, wenn sie herausfinden, dass niemand es tut?

Was geschieht dann?

Welche Forderungen?

An wen gerichtet?

Ich möchte nicht, dass das hier das Ende ist. Mein Ende. Ich will leben, schöne Dinge tun, träumen, lieben, lachen, weinen, meine Freunde treffen. Ihn! Ich will lernen, reisen, genießen, wandern, schwimmen, spielen. Und arbeiten. Sogar das. Die Sonne aufgehen sehen. Und untergehen. Durch den Regen spazieren. Im Schnee toben. Mich nackt im Garten sonnen. Und ja, eine Familie gründen. Mit ihm? Ich kann mir niemand anders vorstellen.

Aber ich sehe nicht einmal die Sonne auf- und untergehen. Kein Tageslicht. Keine Bewegungsfreiheit. Eingesperrt. Wie lange schon? Ich weiß es nicht. Stunden? Tage? Kein Zeitgefühl. Immerhin steht etwas zum Essen und zum Trinken bereit. Sie lassen mich nicht verhungern oder verdursten.

Sie behandeln mich gut, weil sie denken, dass irgendjemand ihre Forderungen erfüllen wird. Und wenn nicht?

Irgendwer wird es tun, oder?

Was spricht dagegen?

Was spricht dafür?

Welche Forderungen?

 

Kapitel 1

2024

An Englishman in New York

Alice, meine Sekretärin und Lebensgefährtin, liebt Rotwein. Aber sie trinkt ihn nicht morgens, mittags oder nachmittags, sondern erst am Abend, gern bei einem französischen Film auf Netflix oder, alte Schule, auf DVD. Dann soll es bitte schön französischer Rotwein sein, denn Alice mag alles, was aus Frankreich kommt. Sie besteht auch darauf, dass man ihren Namen französisch ausspricht. Wehe, jemand spricht ihn englisch aus oder deutsch oder – Höchststrafe! – italienisch.

Alice verehrt sogar französische Fußballer, selbst dann, wenn sie gegen Deutschland Tore schießen. 2016 war es Monsieur Griezmann, der uns im EM-Halbfinale zwei Tore einschenkte. 2021 drosch Hummels das Leder ins eigene Tor. Allerdings im ersten, letztlich nicht entscheidenden Gruppenspiel. 2024 könnte es der pfeilschnelle Edeldribbler Mbappé werden, der uns irgendwann aus dem Turnier kickt. Obwohl, Griezmann spielt auch noch. Ach, ich bin bestimmt viel zu pessimistisch.

Morgen Abend geht sie los, die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland, unsere Jungs bestreiten als Gastgeber das Eröffnungsspiel gegen Schottland. Da sollte ein Sieg drin sein, oder? Dann schauen wir weiter.

Ich schweife ab, kaum dass diese Geschichte begonnen hat. Alices Vorliebe für französischen Rotwein und die Fußball-EM haben mit der Besorgung, derentwegen ich an diesem Juninachmittag im Bochumer Ehrenfeld unterwegs bin, nur am Rande zu tun. Es geht um das Getränk, das Alice morgens, mittags und nachmittags bevorzugt: Tee. Im Ehrenfeld versteckt sich zwischen Cafés und Boutiquen ein Teeladen namens Tee-Marie. Wahrscheinlich heißt die Inhaberin Marie, eine sympathische Mittvierzigerin, die ihren Kunden Dosen mit duftenden Tees unter die Nase hält und jede und jeden fachkundig berät.

Alice vertraut ihr. Normalerweise besorgt sie dort ihren Tee selbst, doch heute hat sie jede Menge Schreibkram zu erledigen, da der Meisterdetektiv Mike Müller, also meine Wenigkeit, zuletzt drei Fälle gelöst hat: zwei Versicherungsangelegenheiten und eine Beschattungsgeschichte. Beim letztgenannten Fall konnte ich visuell und akustisch belegen, dass die Gattin untreu war. Ein schmutziges Geschäft. Und dieser Auftrag schloss sich seinerzeit nahtlos an die Observation des untreuen Steffen an, des Gatten der damaligen Rektorin der Bochumer Ruhr-Uni. Da die Sache unterm Strich sehr unglücklich verlief und endete, nahm Constanze Matthäus ihren Hut, verließ Universität und Stadt und fing irgendwo neu an. Ich weiß nicht, wo, und es interessiert mich nicht mehr als eine kleine, halbe Bohne. So dicke waren wir nicht, auch wenn ich es ihr hoch anrechne, dass sie mich fürstlicher als vereinbart entlohnte. Ihre finale Überweisung ist längst nicht aufgebraucht und bildet mit den aktuellen Einnahmen die gesunde Basis für ein in finanzieller Hinsicht sorgenfreies Leben.

Alice tippt also Berichte und Rechnungen und ich entlaste sie in Sachen Tee. Damit nichts schiefgeht, steckt ein Spickzettel mit drei Teesorten in meiner Hosentasche.

Ich überquere gerade das Herz des Viertels, den Hans-Ehrenberg-Platz, als die U-Bahnstation „Schauspielhaus“ einen Mann um die vierzig ausspuckt, der mir bekannt vorkommt. Dunkle Haare, mediterraner Teint, rosafarbenes Poloshirt, hellblaue Bermudas, Birkenstocks. Nun gut, früher mögen die Haare etwas länger gewesen sein und die Kleidung anders auffällig, ich bin mir aber meiner Sache sicher.

„Simon?“, rufe ich.

Der Mann hält mitten im Schritt inne, mustert mich, lächelt. „Mike?“

Ich bejahe.

„Mensch, Mike!“ Simon freut sich sichtlich.

Schon umarmt er mich wie einen guten alten Freund, der ich auch bin, oder besser: der ich war, bis vor achtzehn Jahren. Dann zerstritten wir uns, vereinfacht ausgedrückt, und verloren uns aus den Augen. Zuvor hatten wir uns zwei Jahre lang eine Wohnung in der Ferdinandstraße geteilt. Es war eine schöne Zeit.

Simon knetet unverdrossen meine Schultern, begutachtet mich dabei. „Gut schaust du aus“, findet er. „Die Glatze steht dir. Echt!“

Simon schaut ebenfalls gut aus. Auch ohne Glatze – besten Dank auch! Während ich in den vergangenen achtzehn Jahren um etwa achtzehn Jahre gealtert bin, wirkt er kaum einen Tag älter als 2006. Ich wette, statt seiner verwittert ein Porträt von ihm, das gut verborgen vor fremden Augen auf dem Speicher seines Eigenheims lagert.

Ja, ich weiß, das Bild mit Dorian Grays Bildnis verwende ich häufiger.

„Wie geht’s dir?“, frage ich.

„Gut, gut geht’s mir. Und dir?“

So hüpft der Dialog zwei, drei Minuten lang munter hin und her, bis wir uns entschließen, das zufällige Wiedersehen im nächstgelegenen Café zu begießen – sehr nahe gelegen, keine fünfzehn Meter entfernt von unserem Standort.

Der Außenbereich des I am Love ist ein buntes Sammelsurium aus Tischen, Tischchen, Stühlen, Stühlchen, Hockern, Bänkchen und so weiter. Wir finden einen echten Tisch mit echten Stühlen und ich drücke auf die Klingel, um dem Personal anzuzeigen, dass wir Wünsche haben. So läuft das hier.

Es dauert nur eine Minute, dann kommt ein junges Mädel in Jeans und schwarzem T-Shirt angerannt. „Was kann ich euch Gutes tun?“

Hier duzen sie gnadenlos, egal ob die Gäste sechzehn sind oder sechzig oder irgendwo in der Mitte, wie Simon und ich. Wir bestellen Cappuccino.

„Was für ein schöner Zufall“, nimmt Simon den Gesprächsfaden wieder auf. „Ich wollte gerade zu Tee-Marie.“

„Das gibt es nicht“, sage ich lachend und erkläre Simon, dass ich das gleiche Ziel habe.

„Bist du Teetrinker, Mike?“

„Nein, der Tee ist für meine Freundin.“

„Freundin?“

„Hm?“

„Freundin klingt so unverbindlich“, erklärt Simon.

„Ach so. Weiter bin ich noch nicht gekommen. Du?“

„Ehemann und Vater.“

„Kenne ich sie? Oder ihn?“ Früher nahm Simon es nicht so genau.

Er bekommt einen Lachanfall. „Gute Frage, Alter. Sehr gut. Es ist eine Frau und du kennst sie nicht. Sie heißt Valentina. Wir sind seit zehn Jahren zusammen, seit acht Jahren verheiratet, seit sechs Jahren Eltern, seit vier Jahren Eltern von zwei Kindern, beides Mädchen, Anna und Sophie.“

Ich warte vergeblich auf Familienfotos. Stattdessen bringt die Kellnerin unseren Kaffee. Ich stecke mir eine Zigarette an.

„Der ewige Raucher“, kommentiert Simon.

„Du nicht?“

„Zwölf Jahre rauchfrei. Ich habe es mir in Köln abgewöhnt.“

„Köln?“, frage ich.

„Ach, das weißt du gar nicht. Ich habe damals mein Studium in Köln abgeschlossen und blieb anschließend dort.“

Im Folgenden erzählt Simon mir, wie er seine Valentina kennenlernte. Es ist keine spannende Geschichte. Simon arbeitet jetzt als Dozent für evangelische Theologie an der Ruhr-Uni, eine halbe Stelle, der Rest geht für die Betreuung der Kinder drauf. Valentina bekleidet eine leitende Funktion bei der AOK in Dortmund, verdient besser als Simon, arbeitet deswegen ganztags. Seit sechs Monaten wohnen sie in Bochum, in Weitmar, nicht weit von mir entfernt.

„Und deine Freundin?“, wechselt Simon das Thema.

„Sie heißt Alice.“

„Wie habt ihr euch kennengelernt?“

„Über eine Annonce.“

„Ein Dating-Portal?“ Simon wirkt belustigt.

„Nein, eine Stellenanzeige. Ich habe eine Sekretärin gesucht.“

„Eine Sekretärin?“

„Ich bin Privatdetektiv und hasse den Papierkram.“

„Privatdetektiv? Nach der Sache damals überrascht mich das nicht.“

„Lass uns bitte nicht darüber reden“, unterbreche ich meinen früheren Mitbewohner. Ich möchte nicht an den Sommer 2006 erinnert werden. Das hat nichts mit dem Streit mit Simon zu tun, denn der folgte erst später.

„Okay. Ich will keine alten Wunden aufreißen, Mike. Das kann ich nachvollziehen. Auch wenn ich mich an die Fußball-WM gern erinnere.“

„An die WM ja.“ Simon und ich haben uns die Deutschlandspiele gemeinsam angeschaut, haben gefeiert und gelitten. Es war grandios. Die Spiele gegen Schweden, Argentinien, gegen …

Egal.

„Und jetzt die Heim-EM …“ Simon beendet den Satz nicht. Ich schätze, er wartet auf meinen Einsatz.

„Du meinst, wir sollten unser Wiedersehen so richtig feiern und uns morgen Abend das Eröffnungsspiel zusammen ansehen?“

„Zum Beispiel. Wie sieht es mit deiner Freundin aus?“

„Alice? Die interessiert sich nur mäßig für Fußball.“ Abgesehen von französischen Fußballern, aber diese Information behalte ich für mich. „Begeistert sich denn Valentina dafür?“

„Abgesehen von einem kleinen Intermezzo 2014 schaut sie sich kein Fußballspiel an. Damals ließ sie sich von der allgemeinen Euphorie anstecken.“ Simon lächelt. „Also abgemacht?“

„Abgemacht. Kommst du zu mir? Ich wohne dort hinten.“ Ich zeige grob in die entsprechende Richtung. „In dem Eckhaus Hattinger Straße und Yorckstraße, Hausnummer einundsechzig.“

„Klasse, Mike. Ich freue mich. Soll ich Bier mitbringen?“

„Bier lagere ich im Kühlschrank. Immer.“

„Sehr gut.“

Wir trinken unsere Cappuccini aus und gehen gemeinsam zu Tee-Marie. Anschließend tauschen wir Mobilnummern aus und verabschieden uns. Recht beschwingt spaziere ich nach Hause und pfeife einer feschen Lady mit Sonnenbrille hinterher, obwohl die Dame in einem dunkelblauen Audi hockt und mit mindestens sechzig Sachen an mir vorüberdüst.

Kapitel 2

Die Gangster

Baby, You’re a Rich Man

„Wir werden reich. Steinreich.“ Er hebt die Bierflasche und stößt mit seinem Bruder an.

Plong!

Sie sitzen vor dem Haus, das sie vor ein paar Wochen aufgespürt haben. Purer Zufall. Obwohl praktisch mitten in der Stadt gelegen, verbirgt es sich in einem kleinen Waldstück, rund zweihundert Meter von einer dicht befahrenen Straße entfernt, einer innerstädtischen Bundesstraße, auf der eine Straßenbahn verkehrt. Pro Stunde achtmal in die eine Richtung, achtmal in die andere. Er hat es gezählt, es interessierte ihn. Alles interessiert ihn. Zahlen, Fakten, Zusammenhänge. Alles. Nur so konnten sie diesen Plan ausarbeiten.

Der einzige Zufahrtsweg von der Straße zum Haus wird seit Monaten nicht mehr benutzt. Die Reifenspuren ihres Autos sind die einzigen erkennbaren Spuren. Ab und an fahren sie in das nahe gelegene Einkaufszentrum, um sich mit Verpflegung einzudecken. Dort gibt es zwei Supermärkte und einen Getränkemarkt. Mehr brauchen sie nicht. Der Getränkemarkt ist gut sortiert, beim Bier und bei den harten Sachen.

Der Wanderweg, der durch das Wäldchen führt, ist knapp einhundert Meter entfernt und wird selten benutzt, da das Waldstück zu klein ist für einen richtigen Spaziergang. Es eignet sich allenfalls für Hundebesitzer, die mit ihren Tieren eine Mini-Runde Gassi gehen. Bislang hat sich niemand näher für ihr Haus interessiert. Allenfalls flüchtige Blicke. Wahrscheinlich steht das Haus schon lange hier und meist leer. Trotzdem parkt bestimmt bisweilen ein Auto davor, so wie jetzt ihres. Es ist ein richtiges Hexenhäuschen, das sich größtenteils hinter einem hohen Zaun versteckt. Das ideale Quartier, besser hätten sie es nicht treffen können.

Warum das Haus momentan unbewohnt ist, erschließt sich ihnen nicht. Es ist komplett eingerichtet, verfügt über alle Räume, die man in einem Wohnhaus erwartet, darunter drei Schlafzimmer. Eines für ihn, eines für seinen Bruder und eines für den Gast, den sie demnächst einladen werden. Nun ja, einladen in Anführungsstrichen. Der Gast wird nicht freiwillig bei ihnen wohnen. Gleichwohl wird er ein gemütliches Plätzchen vorfinden, mit eigenem WC. Ein weiterer Riesenvorteil. Die Alternative wäre ein Eimer gewesen. Nur, wer leert den Eimer aus und säubert ihn? Darauf hätten weder er noch sein Bruder Lust. Der Gast würde es nicht erledigen können, da er sich nicht frei bewegen soll. Die schwere Eisenkette, die dafür sorgen wird, dass er außer einem Bett, einem Sessel, einem Tisch mit Stuhl davor und dem WC nichts benutzen kann, liegt bereit. Außerdem haben die Brüder das sogenannte Gästezimmer ein wenig präpariert. Schallschutz, einmal rundherum inklusive der Fenster. Für den Fall, dass der Gast ihre Gastfreundschaft nicht zu schätzen weiß und sich lauthals über sein Schicksal beklagt. Niemand wird ihn hören, wenn er durch die Gegend brüllt.

Als Alternative könnten sie ihn dauerhaft knebeln oder ihm die Zunge herausschneiden. Doch bei der Zunge verhält es sich ähnlich wie mit dem Eimer. Keiner der beiden hätte Lust darauf, es zu tun. Sie halten sich aber beide Alternativen offen. Man weiß nie, wie sich das mit den Gästen entwickelt. Hinzukommt, dass sie zum ersten Mal auf diese spezielle Weise in die Rolle von Gastgebern schlüpfen werden. Es mangelt ihnen an einschlägiger Erfahrung.

Halb neun, die Abendsonne blinzelt durch die Baumwipfel und erreicht gerade so die Gesichter der beiden. Das Bier ist herb, es handelt sich um die lokale Marke. Von zu Hause sind sie süßere Biere gewohnt. Egal, sie zeigen sich flexibel. Nach der dritten Flasche schmeckt man sowieso keinen Unterschied mehr. Noch können sie es sich erlauben, die Abende mit Bier und Wodka zu genießen. Sobald der Gast da ist, werden sie etwas weniger trinken. Na ja, je nachdem.

„Du meinst, es kann nichts schiefgehen?“

Sein Bruder ist so ein typischer Schwarzmaler, betrachtet lieber die Unwägbarkeiten als die Chancen. Zugegeben, es schadet nicht, dass einer vorsichtig ist. Zumindest grundsätzlich, nicht zwangsläufig in diesem Fall.

„Nein, nichts kann schiefgehen, Bruderherz. Wir schnappen den Gast und bewirten ihn hier so lange, bis wir das bekommen, was wir fordern.“

„Und wie schnappen wir ihn?“

„Daran arbeite ich gerade.“ Was nur zum Teil der Wahrheit entspricht; für seinen kleinen Bruder reicht diese Antwort allemal aus.

„Und danach?“

„Was meinst du?“

„Was danach mit dem Gast geschieht. Wir werden hier nicht tagelang oder wochenlang mit Masken herumlaufen. Der Gast wird uns später beschreiben. Die Polizei wird also wissen, wie wir aussehen.“

Typisch für den Bedenkenträger. „Wir sind nach dem Coup derart schnell von der Bildfläche verschwunden, mit neuen Ausweisen und Aussehen, dass uns keine Polizei der Welt erkennen und schnappen wird. Wir beginnen ein vollkommen neues Leben in der Karibik. Ein Traum!“

„Ich weiß nicht.“

Wenn es nicht sein Bruder wäre, würde er ihm spätestens in diesem Augenblick die Faust in die Fresse rammen. Aber es ist sein Bruder, sein kleiner Bruder, und dem rammst du halt nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Faust in die Fresse. Dem lässt du selbst die tausendste dämliche Nachfrage durchgehen und den beruhigst du am besten mit einem halb garen Versprechen.

„Wenn gar nichts mehr hilft, mein Lieber, gibt es noch die allerletzte Option.“

„Du meinst, wir killen unseren Gast?“

Er nickt, hebt erneut die Flasche. Sein Bruder tut es ihm gleich.

Plong.

 

Kapitel 3

2024

Jungle Drum

Alice wundert sich über meine später Rückkehr. Statt der erwarteten zwanzig Minuten sind es neunzig geworden. Ich erzähle ihr von Simon. Da sie bei Weitem nicht alles über mein lustiges Studentenleben weiß, hole ich ein wenig aus – und halte Alice recht lange von der Arbeit ab. Da hätte sie fast selbst zu Tee-Marie gehen können.

„Was ist damals zwischen euch vorgefallen?“ Alice sitzt hinter ihrem Schreibtisch, auf dem, abgesehen von einem Laptop, spartanische Leere herrscht. Nicht einmal ein gerahmtes Foto ihres anbetungswürdigen Chefs harrt dort ihres lüsternen Blicks. Alice benötigt nicht mehr Ausrüstung. Alles in ihrem Büro ist digital. Außer den Pflanzen, die sich mit jedem Aktenschrank, den Alice entsorgt hat, weiter ausbreiten konnten. Ich nenne es die grüne Hölle und verzweifle jedes Mal, wenn Alice ein paar Tage nicht da ist und ich mich um den Urwald kümmern muss. Zurzeit plant Alice keine Reisen, ihre Mutter hat sie erst letzte Woche besucht. Die nächste reguläre Reise wird sie mit mir antreten, Ende Juli nach … richtig, nach Frankreich, ins Elsass.

Ihre Nachfrage kommt wenig überraschend. Ich habe es regelrecht herausgefordert. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr zumindest in groben Zügen vom Zerwürfnis zwischen Simon und mir zu berichten, von meiner depressiven Phase, die nach den Ereignissen des Sommers 2006 (mit denen ich Alice weitgehend verschone) einsetzte und die mich eine Zeit lang sehr unausstehlich werden ließ. Oft regte ich mich an Simon ab, dessen unsteten Lebenswandel ich beißend kommentierte. Bis es Simon zu bunt wurde und er mir all meine Fehler vorhielt, auch die, die er schon vor der depressiven Phase an mir festgestellt haben wollte. Wir knallten uns jede Menge Wahrheiten an den Kopf und hätten uns fast geprügelt.

Wir suchten Rat bei unseren Freunden. Sie empfahlen, dass wir die WG auflösen sollten. Das taten wir, in der Hoffnung, dass wir uns eines Tages wieder zusammenraufen würden. Stattdessen verloren wir alle uns aus den Augen, die Clique fiel auseinander.

„Klingt ein bisschen nach Zickenkrieg“, fasst Alice zusammen. Sie zwinkert mir mit ihren braunen Augen zu.

„Na hör mal“, protestiere ich, doch ich weiß, dass meine Freundin so falsch nicht liegt.

„Und jetzt macht ihr dort weiter, wo ihr 2006 aufgehört habt? Mit Fußball?“

„Ist einen Versuch wert, oder? Ich glaube, du wirst Simon mögen.“

„Aber nicht, wenn ich seinetwegen Fußball gucken muss.“

Schlagfertig wie eh und je, meine Sekretärin.

„Nein, musst du nicht. Ich werde Simon fragen, ob er schon eine Stunde vor Anpfiff kommen mag. Dann könnt ihr euch beschnuppern. Wenn du magst.“

„Und danach beschlagnahmt ihr das Wohnzimmer?“

Im Grunde genommen hätte Alice „mein Wohnzimmer“ sagen können, denn alle Möbel darin gehören ihr, selbst der Fernseher. Ich druckse herum. „Äh …“

„Alles gut. Wenn das Wetter so schön ist wie heute, setze ich mich auf den Balkon, schlürfe Wein und lese.“

„Und in der Pause besuche ich dich.“

„Du willst wohl eher eine qualmen.“

„Mit dir.“

Wir kebbeln uns noch eine Weile und versöhnen uns mit einem Kuss. Dann gehe ich hinüber in mein Büro.

Wie bei meinem Einzug vor zehn Jahren baumelt freudlos eine nackte Glühbirne von der Decke herab, immerhin eine andere als damals, energiearm. Ein Schreibtisch und zwei Stühle, das ist mein Büro. Nein, nicht ganz, denn seit ein paar Monaten thront rechts in der Ecke ein Aktenschrank, der vorher Alices Büro zierte, bevor er der neuen Palme weichen musste. Da allein ich dafür verantwortlich bin, dass es analoge Akten in der Detektei gibt, weil ich ein altmodischer Kerl bin, hatte ich keine Wahl, als den Schrank zu adoptieren. Wenigstens führt Alice die Akten, wenn auch widerwillig.

Ja, ich weiß, meine Sekretärin tanzt mir auf der Nase herum. Was soll ich machen? Ich liebe sie. Außerdem sind alle Argumente auf ihrer Seite. Alle.

Auf die nackte Birne verzichte ich, die Nachmittagssonne spendet mehr als genug Licht, es dringt durch zwei große Fenster in mein Büro. Sobald ich die Fenster öffne, gesellt sich der Lärm der Hattinger Straße hinzu, seit ein paar Monaten ungehemmter denn je, nachdem die Endlos-Baustelle zwischen Friederikastraße und Schauspielhaus verschwunden ist. Nun düsen sie wieder alle mit fünfzig und mehr Sachen an unserem Haus vorbei, stadteinwärts Richtung Theater und stadtauswärts Richtung Wiesental und Weitmarer Holz.

Drei Fälle sind frisch abgeschlossen, ich habe es bereits erwähnt, ein Fall bleibt mir. Meine Jugendliebe Ines Pfeifer, gefeierte Theater- und Filmschauspielerin und mittlerweile feste Intendantin des Bochumer Schauspielhauses, hat mich wieder engagiert. Vor ein paar Jahren habe ich ihren untreuen Gatten beschattet, nun dreht es sich um eine interne Angelegenheit am Theater. Dort wühlt ein Maulwurf, der die lokale Presse, namentlich die Bochumer Kulturreporterin Wanda Arnold, mit pikanten Details aus dem Schauspielhaus versorgt. Affären aller Art, Geld, Sex, Machtkämpfe. Wanda breitet diese Details genüsslich in der Ruhrzeitung aus. Garantiert will sie damit dem Kulturtempel nicht schaden, sondern in erster Linie ihre Leser informieren und unterhalten. Ines ist gleichwohl genervt. Ich soll bitte dem Maulwurf das Handwerk legen.

Selbstverständlich habe ich zuerst mit Wanda gesprochen, doch Wanda gibt ihren Informanten nicht preis. Und sie will nicht aufhören, über die Affären zu berichten. Das spricht für Wandas Berufsauffassung, hilft mir jedoch nicht weiter. Ich muss also einen anderen Weg finden, die undichte Stelle zu stopfen. Neuerdings spiele ich mit dem Gedanken, mich von Ines als neuen Mitarbeiter ins Theater einschleusen zu lassen, als Regieassistent oder Bühnentechniker, um dort undercover zu ermitteln.

Ich setze mich direkt an den Rechner, surfe auf den Seiten des Theaters, um ein Gefühl für das Geschehen dort und die Berufsfelder jenseits der reinen Schauspielkunst zu bekommen. Das funktioniert kein bisschen, zumal wenig von Berufsfeldern die Rede ist, sondern sich das meiste um die Schauspieler dreht und die Stücke von heute, morgen und übermorgen. Nach fünf Minuten gebe ich entnervt auf, ich schaue mir lieber den Spielplan der EM an. Ich studiere eingehend die Gruppenphase, fahnde nach potenziellen Gegnern fürs Achtelfinale, fürs Viertelfinale und so weiter. Rasch verschwimmen die Buchstaben vor meinen Augen, alles viel zu kompliziert. Simon müsste nur einmal den Spielplan sehen, dann wüsste er, wann wir gegen Italien, Spanien, Frankreich oder England spielen. Ein Blick genügt. Anschließend könntest du ihn aus dem Schlaf reißen und ihn fragen. 2006 hat er uns mit dieser Fähigkeit schwer beeindruckt.

2006?

Ja, 2006. Dorthin schweifen meine Gedanken jetzt ab. Seit der Begegnung mit Simon war mir klar, dass genau das passieren würde. So was von klar. Vergebliche Liebesmüh, sich dagegen zu wehren. Ich hätte allen Grund, mich zu wehren. Ich habe all das viele Jahre lang erfolgreich verdrängt und Alice vorhin, wie gesagt, längst nicht alles erzählt. Heutzutage, da alles und jedes ein blinkendes Label verpasst bekommt und gern dramatisiert wird, würde man wohl von traumatischen Ereignissen sprechen und mich zur Therapie schicken. Vor achtzehn Jahren fühlte es sich vor allem beschissen an und niemand hätte freiwillig mit mir getauscht. Dabei begann alles so unbeschwert und harmonisch. Wann genau? Ich schätze, es fing an jenem Abend im April 2006 an, als ich mit der Clique vor dem Café Konkret saß, mitten im pulsierenden Bochumer Bermudadreieck.

 

Kapitel 4

2006

Those were the Days

Wir fünf erfüllten einige der gängigen Vorurteile über Studenten und spiegelten zugleich die damals wie heute gern besungene Vielfalt an der Ruhr-Universität Bochum wider: Tochter aus gutem Hause, Typ mit Migrationshintergrund, queere Person, alleinerziehende Mutter, Arbeiterkind. Heutzutage wären wir prädestiniert für eine Imagekampagne der Ruhr-Uni, damals waren wir einfach nur Freunde. Aber der Reihe nach.

Wiebke war die typische Wiwi-Studentin, blond, eine Löwenmähne wie Meg Ryan in Harry und Sally, Sommersprossen, grüne Augen, meist ein freundliches Lächeln auf den Lippen, top gestylt in neuester Markenkleidung und mit einem Köfferchen in der Hand auf dem Weg zur Vorlesung in Wiwi alias Wirtschaftswissenschaften. Sie stammte in der Tat aus gutem Hause, der Vater Top-Manager bei Opel, einem der größten Arbeitgeber Bochums, die Mutter Küchenchefin in einem Hotel. Für Stiepel reichte es locker, den teuersten Bochumer Stadtteil, wobei Wiebke seit knapp zwei Jahren ein Appartement im Ehrenfeld bewohnte, unmittelbar am Schauspielhaus, ebenfalls keine schlechte Gegend.

Einen Koffer schwang auch Murat, der Jura studierte und im Koffer diese roten Wälzer spazieren trug, ohne die sich kein Jurastudent aus dem Haus traute. Murat verkörperte die gut integrierte dritte Generation von Zuwanderern und sah aus wie ein Bilderbuch-Türke: pechschwarzes Haar, dunkle Augen, Dreitagebart, fachgerecht getrimmt, Chinos in gedeckten Farben, Pulli, Sneakers, ein wenig kurz gewachsen, dafür mit einer im Fitnessstudio geschickt herausmodellierten Figur. Wenn er einen auf intellektuell machen wollte, setzte er sich eine gigantische Hornbrille auf die Nase, ungefähr das Modell von Gregory Peck in Wer die Nachtigall stört.

Simon studierte evangelische Theologie. Berufsziel unbekannt. Pfarrer? Lehrer? Karriere in der Wissenschaft? Womöglich würde er verschiedene Wege testen, er war insgesamt sehr experimentierfreudig. Simon kleidete sich zwar meist wie ein Mann, vorzugsweise schwarz mit extravaganten Stiefeletten oder Lackschuhen, schminkte sich aber häufig. Mit seinen dunkelbraunen Haaren und dem mediterranen Teint sah er so oder so gut aus. Er brachte uns Begriffe bei wie „trans“ oder „queer“. Einiges davon konnte ich aus nächster Nähe bewundern, denn Simon und ich bildeten seit gut einem Jahr eine Zweier-WG. Ich sah Frauen und Männer kommen und gehen – und Menschen, die ich nicht auf Anhieb einordnen konnte. Alle waren nett zu mir.

Das traf auch auf Jessica zu, Jessi. Sie war unsere Mama, na ja, fast. Jedenfalls ein ganzes Stück älter als der Rest von uns. Mitte dreißig. Sie hatte früher als Krankenschwester gearbeitet, in der Abendschule ihr Abi nachgeholt und ein Psychologiestudium begonnen. Sie war alleinerziehend, zwei Söhne im Grundschulalter. Jessi hätte Simons große Schwester sein können, gleiche Haar- und Augenfarbe, ähnlicher Teint und gern schwarze Klamotten.

Ich war ein waschechtes Arbeiterkind, aufgewachsen im weniger schönen Bochumer Stadtteil Hofstede. In der Oberstufe handelte ich mit Dope und mir deshalb bisweilen Scherereien ein. Mit Lehrern oder der Polente. Mit Mitschülern weniger, da mir ein gewisser Ruf vorauseilte. Schon als Dreikäsehoch hatte ich mit Boxen angefangen, später Karate, heutzutage zusätzlich Krav Maga, so ein israelischer Mix aus verschiedenen Kampftechniken. Darauf hatte mich Simon gebracht, der ein Meister dieser Kampfkunst war. Ach ja, ich studierte Geschichte und Sport, Berufsziel Lehrer.

Fünf vollkommen verschiedene Typen, Lebensentwürfe und Studienfächer. Früher wären wir uns auf dem Campus nicht begegnet, denn es hatte keinen Optionalbereich an der Ruhr-Uni gegeben. Jetzt gab es ihn verpflichtend für alle Bachelorstudenten. Dieser Optionalbereich bot Kurse an, um über den sprichwörtlichen Tellerrand des eigenen Faches hinauszublicken, von Fremdsprachen bis zu Moderationstechniken. Wir hatten uns vor anderthalb Jahren im Spanischkurs kennengelernt und hingen seitdem ständig zusammen, in der Mensa, in den Cafeterien oder halt, wie an diesem Abend, im Bochumer Kneipenviertel, dem Bermudadreieck.

Es war der erste milde Abend dieses Frühlings, kurz vor Vorlesungsbeginn, darum saßen wir draußen am Café Konkret, dessen Außenbereich rund um den Zugang zur U-Bahn-Haltestelle „Graf-Engelbert-Brunnen“ gruppiert war. Etwa zwanzig Holztische ohne Schnickschnack.

Wir erhielten gerade unsere erste Bestellung. Jessi lud uns ein, sie hatte erfolgreich eine wichtige Klausur absolviert. Alle tranken Rotwein, außer Wiebke, die Rosé bestellt hatte.

„Trinkst du nicht sonst eher Rotwein?“, fragte Simon.

„Doch, aber hier gibt’s nur italienischen Rotwein“, stöhnte Wiebke.

Simon stutzte. „Was hast du gegen italienischen Rotwein?“

„Normalerweise nichts“, begann Wiebke. „Nur zurzeit kann ich das Wort Italien nicht mehr hören.“

Natürlich wollten wir den Grund dafür erfahren.

Wiebke berichtete. „Meine Mutter nervt mich in einer Tour damit. Ständig erzählt sie von italienischen Delegationen im Hotel, von Italienern, die in ihre Küche stürmen, um was zu checken und sie auszufragen. Ich traue mich kaum noch, bei ihr anzurufen.“

„In welchem Hotel arbeitet deine Mutter noch mal?“, erkundigte ich mich.

Wiebke lächelte mich an. „Landhaus Milser in Duisburg.“

„Landhaus Milser?“, hakte Murat irritiert nach. „Das hört sich komisch an.“

„Der Betreiber heißt Rolf Milser. Olympiasieger im Gewichtheben“, antwortete Wiebke.

„Gewichtheben?“ Nicht ganz mein Sport. „Wann war das denn?“

„1984“, sagte Wiebke.

„Okay“, dröhnte Murat. „Big Brother was hoffentlich watching Him beim Gewinnen, the Big German Gewichtheber.“

„Mein Geburtsjahr“, steuerte ich bei.

„Dito“, ergänzte Simon.

„Ich erinnere mich auch nicht dran“, witzelte Wiebke, die etwas jünger war als ich.

Wie auf Kommando richteten sich alle Augen auf Jessi.

Sie lachte. „Leute, geht’s noch? Ich war zwölf damals. Glaubt aber bitte nicht, dass ich mich für das Thema Gewichtheben interessiert habe. Kein Stück. Außerdem habe ich nicht das Gefühl, dass wir schon den Clou von Wiebkes Geschichte gehört haben. Also, Schätzken, warum spionieren ständig diese Italiener am Arbeitsplatz deiner Mama herum?“

„Wegen der Fußballweltmeisterschaft“, legte Wiebke-Schätzken los. Sie sah mich dabei an, dabei war ich nicht der größte aller Fußballfans. „Die italienische Mannschaft wohnt während des Turniers im Landhaus Milser. Maximal für fünf Wochen, je nachdem, wie weit das Team kommt.“

„Was?“, kreischte Simon; er war der größte Fußballfan in unserer Clique. „Wie geil ist das denn! Wie kommt es?“

„In diesem Hotel logieren ständig Promis.“ Wiebke holte Luft. „Aber so viel Rummel gab es noch nie. Da kommen ja nicht bloß elf Spieler zum Schlafen, sondern der gesamte Kader, plus Trainer, Betreuer, Mediziner. Weit über fünfzig Leute.“

„Auch andere Köche?“, wollte Jessi wissen.

„Leider ja.“ Wiebke sah abwechselnd zu Jessi und zu mir. „Davor hat Mama am meisten Schiss. Streit und Kompetenzgerangel in der Küche. Sie hat bei den Speisen das allerletzte Wort. Das haben ihr die Italiener und der Hotelchef zugesichert. Aber wer weiß, wie es am Ende ausgeht?“

„Wann könnten wir gegen Italien spielen, Simon?“, wechselte Murat das Thema.

„Wir?“, warf ich ein. „Die Türkei ist nicht qualifiziert.“

„Ej, beleidige meine Mutter nicht, Rassistenarsch!“ Murat ahmte türkischen Straßenjargon nach – oder das, was er für diese Sprache hielt. „Ich mach dich alle, Mehlgesicht.“

„Murat!“, riefen Jessi, Simon und Wiebke im Chor, bevor Simon allein weitersprach. „Wenn Italien und Deutschland Gruppensieger werden, im Halbfinale. Das Gleiche gilt, wenn beide Gruppenzweiter werden. Wenn einer Erster und der andere Zweiter in der Gruppe werden, sehen wir uns erst im Finale. Oder halt gar nicht.“

„Hast du den Spielplan auswendig gelernt?“, staunte Jessi.

Simon schüttelte den Kopf. „Das muss ich nicht. Ich gucke es mir einmal an, dann prägt sich das von allein ein. Vor allem so neuralgische Gegner wie Italien habe ich automatisch im Auge. Da wir gegen die jedes K.-o.-Spiel verlieren, wäre mir am liebsten, wir gingen denen ganz aus dem Weg.“

„Bete doch dafür“, forderte Murat auf.

„Protestanten beten nicht“, gab ich zu bedenken.

„Hä? Seit wann das denn?“

Wiebke hatte nicht mitbekommen, dass wir nur herumblödelten. Damit beendeten wir zugleich das Thema Fußball-WM und widmeten uns dem bevorstehenden Vorlesungsstart.

Drei Gläser Wein später torkelte ich ins Café, schlängelte mich an den Gästen an der Theke vorbei und erreichte unbeschadet die Toiletten. Erst auf dem Rückweg nahm ich die Zapferin wahr, die gerade Weingläser abtrocknete. Ich hatte sie hier noch nie gesehen und sie wäre mir garantiert aufgefallen. Im ersten Moment dachte ich, Catherine Zeta-Jones als Zwanzigjährige stünde dort. Lange, leicht gewellte, dunkelbraune Haare, darunter dunkle Augen, sinnliche Lippen; bestimmt einen Meter siebzig groß. Die Figur ließ sich aufgrund der weiten weißen Bluse kaum erahnen. Sie würdigte mich keines Blickes.

„Was los, Alter? Hattest du eine Erscheinung auf dem Klo?“, begrüßte mich Murat.

Außer ihm saß nur noch Simon am Tisch. Die Damen waren nach Hause gegangen. Jessi musste ihre Eltern ablösen, die auf die Jungs aufpassten. Sie hatte zudem einen harten Tag vor sich. Kinder zur Schule bringen, ab zur Uni, Kinder abholen und Mutter sein. An manchen Tagen arbeitete sie außerdem ein paar Stunden im Krankenhaus Bergmannsheil. Ihr Bafög reichte hinten und vorn nicht. Der Vater zahlte nur unregelmäßig Unterhalt. Ohne den Teilzeitjob kam Jessi nicht über die Runden. Aus unserer Clique hatte sie definitiv das schwerste Los gezogen, keine Frage. Aber auch wir Jungs mussten nebenher arbeiten. Simon war Hilfskraft an einem Lehrstuhl, Murat arbeitete in einem Callcenter, ich jobbte in der Zeche, Bochums legendärer Disco. Ich saß am Eingang, verkaufte Verzehrkarten, sprang ab und zu als Rausschmeißer ein. Allein Wiebke kam ohne Job zurecht. Sie erhielt kein Bafög, da ihre Eltern zu viel verdienten, und lebte weitgehend auf deren Kosten. Ich glaube, die Bude im Ehrenfeld war eine Eigentumswohnung, die ihre Eltern spendiert hatten.

„Ich tippe auf die neue Bedienung“, spekulierte Simon.

„Die neue was?“ Ich spielte den Doofen.

„Ah, die mit der dunklen Mähne“, raunte Murat. „Heißes Gerät!“

„Bitte, Murat, sag nicht so was. Das wertet diesen Menschen ab und reduziert ihn auf sein Aussehen.“ Simon sprach wie ein Pfarrer.

„Alter, nerv nicht. Ich mach nur Komplimente. Die meisten Tussis fahren voll drauf ab.“

„Murat!“

„Was ist?“

„Was ist? Das mögen in deiner Community Komplimente sein.“

„Was willst du damit sagen? Dass mein Freundeskreis nur aus Asis besteht?“

Ich gähnte laut.

„Mike, was soll das?“, beklagte sich Murat. „Hier geht’s voll ab. Kanake gegen Schwuchtel, und du gähnst? Willst du uns beide beleidigen?“

„Wenn ihr jeden Abend dieselbe Show abzieht, bleibt mir nichts anderes übrig.“

„Wie bitte?“ Simon blickte mich entgeistert an. „Den Begriff Community benutze ich heute zum ersten Mal.“

Wir drei lachten laut los; ich war heilfroh, dass sich das Thema mit der hübschen Kellnerin erledigt hatte.

 

 

Kapitel 5

2006

Wonderful World