Trittbrettmörder - Arne Dessaul - E-Book

Trittbrettmörder E-Book

Arne Dessaul

4,9

Beschreibung

25 Jahre nach ihrem Abitur am Wolfenbütteler Gymnasium im Schloss sterben die Absolventen des Jahrgangs 1989 nacheinander weg. Erst erwischt es den Landwirt Hanno Ackermann, der mit seinem Trecker über eine Landmine aus DDR-Zeiten fährt. Während es sich hierbei durchaus um einen Unfall handeln könnte, ist der nächste Fall sonnenklar: Die schöne Ellen Berning-Schäfer wird in ihrer Boutique niedergestochen. Kaum haben Kriminalhauptkommissar Helmut Jordan und sein Team den Zusammenhang zwischen den beiden Toten herausgefunden, stirbt auch schon der nächste 89-er.

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Arne Dessaul

Trittbrettmörder

Helmut Jordans erster Fall

Impressum

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www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © fotobeam.de / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5152-2

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Bevor er tatsächlich den zweiten Namen auf seiner Liste durchstrich, las er ein weiteres Mal den ausführlichen Artikel in der Lokalzeitung. Nein, es konnte keinen Zweifel geben. Obwohl das Opfer nicht namentlich genannt wurde, stand für ihn die Identität fest. Die im Artikel genannten Umstände waren eindeutig.

Es war nicht zu fassen. Innerhalb von zwölf Tagen waren zwei Menschen gestorben, die auf seiner Liste standen. Die Liste war zwar zum Teil noch vorläufig und für diese beiden Kandidaten hatte er noch keine konkreten Pläne. Es wäre sogar möglich gewesen, dass sie ungeschoren davongekommen wären.

Aber was für ein unglaublicher Zufall. Oder gab es irgendwo da draußen noch jemanden, der eine Mission zu erfüllen und eine Namensliste abzuarbeiten hatte? Ein Rivale sozusagen? Er schüttelte den Kopf und las wie schon so oft seine Liste.

Er blieb bei den beiden durchgestrichenen Namen hängen. Das hätte ihm auch schon vorher auffallen können. Der Nachname von Opfer Nummer eins fing mit A an, der von Opfer Nummer zwei mit B. Natürlich auch ein möglicher Zufall bei zwei Namen. Dennoch …

Diesmal musste er nicht auf seine Liste sehen. Dieser Name war auch nicht vorläufig, er stand fest. Und er begann mit einem C. Das würde die Polizei zunächst vor ein schönes Rätsel stellen – und anschließend, wenn die Kripobeamten A und B und C zusammengezählt hatten, auf die falsche Spur locken. Die Rückkehr des »Herrn ABC«.

Vor allem hätte er für den kaum vorstellbaren Fall, dass die Polizei sich näher mit ihm beschäftigen würde, für den Tod von B ein perfektes Alibi. Genial. Und für C hatte er auch schon einen hübschen Plan ausgearbeitet, und die meisten Vorbereitungen waren getroffen. Nur drei, vier Tage noch, dann würde er zum Trittbrettfahrer des Zufalls werden.

Kapitel 1

Hannos letzter Morgen begann unspektakulär. Er begann jedoch eine halbe Stunde früher als gewöhnlich, als gegen 5 Uhr draußen auf dem Hof ein Riesenlärm losbrach. Einer der Blecheimer schepperte über das Kopfsteinpflaster, und dann fiel noch irgendetwas um, das etwas weniger Krach machte. Vielleicht eine Mistgabel? Oder ein Besen? Lauter als dieses leise Fallen und sogar lauter als der Blecheimer war das Kreischen der beiden Katzen. Vermutlich waren es zwei. Welche Katzen es waren, konnte Hanno aus dem Bett heraus natürlich nicht sagen. Er konnte sie anhand ihrer Stimmen nicht voneinander unterscheiden. Er konnte sie kaum anhand ihres Aussehens oder ihrer Größe unterscheiden. Nur die Grundtöne fielen ihm auf: schwarz, grau, braun.

Seine Familie besaß etwa ein Dutzend Katzen. Aber auch aus der Nachbarschaft kamen häufig welche herüber auf den Hof, um sich mit den Ackermann-Katzen um Mäuse und um Reviere zu streiten. An diesem Dezembermorgen stritten sie ausgesprochen heftig. Hanno war wach, und das galt garantiert auch für den Rest der Familie: für seine Eltern, für Melanie und für ihre Kinder Ann-Kathrin, Tobias und Ben. Alle schliefen zum Hof hinaus und alle schliefen jahrein, jahraus bei offenem Fenster. Trotz Kälte, Sturm oder Katzenjammer. Echte Bauersleute halt. Man lebte in einem Dreigenerationenhaus und man war abgehärtet.

Um 5.30 Uhr saß Hanno unrasiert, aber angezogen, am Küchentisch und schwieg sich wie üblich erfolgreich durch das kurze Frühstück mit Melanie. Nur ab und zu musste er zustimmend brummen, wenn seine Frau ihn nach Kaffee und Broten für den langen Vormittag auf dem Feld fragte. Es waren ohnehin jeden Morgen die gleichen Fragen. Und auch die gleichen Antworten.

Gerade als Hanno fertig war, schlurfte Heinrich Ackermann in die Küche und nickte seinem Sohn und seiner Schwiegertochter zu. Auch der Senior war am frühen Morgen kein Mann großer Worte. Er setzte sich zu seinem Sohn und fragte: »Südacker?«

Ein weiteres zustimmendes Brummen war die einzige Antwort seines Sohnes.

Der sogenannte Südacker, auf dem Hanno hauptsächlich Zuckerrüben anbaute, war das jüngste Stück Land der Familie Ackermann und es war das erste, das Hanno erworben hatte, nachdem sein Vater ihm den Hof überschrieben hatte. Brachland, das man Anfang der 90er-Jahre günstig kaufen konnte. Günstig vor allem, weil es, nun ja, gewissermaßen historisch vorbelastet war. Bis 1989 teils Niemandsland, teils Grenzstreifen, teils sogar Todesstreifen. Dahinter kam damals nur noch »drüben«, die Ostzone oder Dunkeldeutschland, offiziell die Deutsche Demokratische Republik gleich DDR.

Heute lag dahinter Sachsen-Anhalt. Der erste Ort bei den Anhaltern hieß ausgerechnet »Hessen«. Hanno war nicht oft dort gewesen. So richtig erinnern konnte er sich nur an eine Gelegenheit. Weihnachten 1989 war das ganze Dorf in einer langen Prozession nach Hessen marschiert, bewaffnet mit Blumen, Kuchen, Bananen und guten Wünschen für die neu entdeckten Nachbarn. Im Saal der größten Kneipe in Hessen wurde zur Grenzöffnungsfeier geladen. Die Leute drängten sich hinein. Es gab DDR-Bier, in enorm großen Gläsern und pausenlos. Aus den Lautsprechern erklang Verdi, der Gefangenenchor aus Nabucco. »Flieg, Gedanke. Freiheit, Heimat, Sehnsucht, Gebete.«

Die beiden Bürgermeister tanzten miteinander Walzer. Für Hannos Dorf tanzte damals noch Hans-Werner Behrens. Ein netter Kerl. Jetzt war sein unmittelbarer Nachbar Bürgermeister: Jochen Wettenstedt, ein Bauer, genau wie Behrens. Und wie Hanno.

Weihnachten 1989 war alles noch ein Versprechen. Auf friedliches Nebeneinander. Sogar friedliches Miteinander? Füreinander? Hallo, jetzt aber mal nicht übertreiben! Vor allem ein Versprechen auf Freiheit! Nee, ist klar, Herr Gauck! Die Wiedervereinigung war noch weit weg und erschien auch noch nicht zwingend. Und doch hatte Heinrich Ackermann auf dem Rückweg, als sich die Prozession durch die wolkenverhangene, mäßig kalte Dezembernacht mehr wankend als marschierend die knapp vier Kilometer zurückschleppte, prophezeit: »Junge, denk an meine Worte! Jetzt herrscht hier Euphorie. Aber in ein paar Monaten liegen die von drüben uns auf der Tasche.«

Wahre Worte, vor allem wenn man bedachte, dass all das Geld, das in die fünf neuen Bundesländer fließen sollte, nicht mehr Halt auf dieser Seite des, mittlerweile ehemaligen, Zonenrandgebietes machte. All die Unternehmen, die sich nur dank der Zonenrandhilfe in dieser trostlosen Ecke von Niedersachsen niedergelassen hatten, verschwanden – und mit ihnen die Arbeitsplätze. Natürlich verschwanden viele von ihnen ausgerechnet in die ehemalige DDR. Immer den Fördertöpfen nach.

Es hatte ein paar Jahre gedauert, bis das ehemalige Grenzland überhaupt zum Verkauf angeboten wurde. Zunächst mussten die Besitzverhältnisse aus der Zeit vor 1945 geklärt werden. Es gab aber niemanden, der einen Anspruch geltend machen konnte. Hanno ging davon aus, dass alle von den Russen abgeknallt worden waren. Dann tauchte das nächste Problem auf: Ein paar Spinner wollten das gesamte Grenzgebiet so lassen, wie es zwischen 1961 und 1989 ausgesehen hatte. Eine Art riesiges Freilichtmuseum. Oder Mahnmal. Oder beides.

Schließlich setzten sich jedoch die etwas vernünftigeren Stimmen durch und erhalten blieben letztlich nur ein paar Relikte der Teilung: ein Stück Zaun und der Wachturm. Beides wurde noch immer gepflegt und regelmäßig von Auswärtigen besucht. Es gab auch ein paar Schautafeln, die über die Grenzanlagen informierten. Und über ein Treffen der Ministerpräsidenten von Niedersachsen (damals Christian Wulff) und Sachsen-Anhalt an diesem Ort.

Hanno hatte schließlich einen großen Posten des Brachlands erworben (einen anderen großen Teil hatte Wettenstedt gekauft). Knapp 100 Morgen. Fast so viel, wie die Familie Ackermann vorher an Land besaß, im Norden des Dorfes. Da die 135 Morgen dort nicht zusammenhingen, wurde dieser Teil der Ländereien im Plural bezeichnet: die Nordäcker. Zuckerrüben und alle Arten von Getreide inklusive Futtermais, den Hanno in der Biogasanlage im Nachbardorf ablieferte. Kein Vieh. Keiner der Bauern im Dorf setzte noch auf Vieh, schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Nur Ackerbau, aber ganzjährig.

Und Windkraft. Kurz nach der Jahrtausendwende hatte Hanno zugegriffen, als Bund und Land nur so mit Subventionen um sich geworfen hatten. Als Einziger im Dorf. Die anderen Bauern wollten lieber noch abwarten, ob die Subventionen nicht noch mal erhöht werden würden oder ob es höhere Abnahmegarantien geben würde. Darüber hinaus wollten sie erst sehen, was Wettenstedt machte, der größte Bauer und längst Bürgermeister. Auch Wettenstedt wollte warten. Natürlich hätte er es lieber gesehen, wenn auch die anderen Bauern gewartet hätten. Aber nicht Hanno! Er wollte diese Chance nutzen und tat sich mit ein paar Bauern des Nachbardorfes zusammen. Gemeinsam ließen sie einen kleinen Windpark errichten. Hanno erzeugte seitdem sehr gut bezahlten Strom.

All das hatte Wettenstedt überhaupt nicht gefallen. Es hieß, dass er sogar versucht hatte, Hannos Alleingang zu verhindern. Mithilfe des Gemeinderates. Aber der konnte ihm hier gar nicht helfen, denn die Felder lagen zum größten Teil auf dem Gebiet der Nachbargemeinde, die zugleich zu einem anderen Landkreis gehörte. Da konnte Wettenstedt noch nicht einmal auf die Unterstützung seines Freundes, des Landrats, zählen.

Mittlerweile hatten auch einige der anderen Bauern des Dorfes nachgezogen (einschließlich Wettenstedt, na klar), sodass nun einige Dutzend Windräder rings um das Dorf in den Himmel ragten.

Seit vier Jahren standen sie auch auf dem Südacker. Der Südacker war ohnehin kein Paradestück in Sachen Ertrag. Es war fast unmöglich gewesen, den 40 Jahre lang vernachlässigten Boden wieder einigermaßen fruchtbar zu machen. Dieses Land zu kaufen, das war letztlich mehr ein Prestigeprojekt gewesen. Ein wenig den anderen Bauern im Dorf zeigen, dass man es sich leisten konnte, dass man mit Ackermann Junior rechnen musste. Mehr rechnen musste als mit dem Senior, der sich jahrzehntelang lieber hinten angestellt hatte, wenn es irgendetwas zu verteilen gab. Und der jetzt auch Bauchschmerzen bekam, wenn sein Sohn forscher an die Dinge heranging.

Hanno hatte jedoch das Gefühl, sich durchaus Respekt im Dorf verschafft zu haben. Vielleicht auch Neid hier und da, das blieb ja nie aus. Hinzu kam, dass Hanno der einzige Landwirt mit Universitätsdiplom im Dorf war, der »Herr Diplomagrarwirt«, wie gern gespöttelt wurde.

Aber die Ausgangslage war nun mal so: Sein Vater war Ende der 90er-Jahre der mit Abstand Älteste, der, sagen wir mal, wichtigen Bauern im Dorf. Darum war Heinrich Ackermann auch der erste Landwirt, der den Hof an die nächste Generation weitergegeben hatte. Das hieß im Umkehrschluss: Hanno hatte es nun ausschließlich mit Bauern zu tun, die mindestens 15 Jahre älter waren als er. Die hätten ihm natürlich gern was erzählt. Wie Landwirtschaft denn so funktioniert. Im Allgemeinen. Und speziell hier im Dorf. Nur wollte Hanno nicht gern etwas von ihnen hören. Er war vor 44 Jahren auf einem Bauernhof zur Welt gekommen und hatte die meiste Zeit auch dort verbracht.

Hanno hatte seinen Vater und eine ganze Weile auch seinen Großvater beobachten können, wie sie Landwirtschaft betrieben, und er hatte sich vieles bei ihnen abgeguckt. Er wusste, was sie gut gemacht hatten, und er wusste, auch dank des Studiums, was sie noch besser hätten machen können. Hanno wollte es besser machen.

Vielleicht demnächst mit einer eigenen Biogasanlage? Erste Angebote hatte er bereits eingeholt. Das Problem war: Diesmal konnte Wettenstedt das Vorhaben theoretisch mithilfe der Gemeindesatzung verhindern, denn diesmal betraf es Wettenstedts Gemeinde. Aber ohne triftigen Grund war das natürlich nicht möglich. Man hätte schon irgendeinen Bebauungsplan im entsprechenden Gebiet aufstellen müssen, quasi als Blockade, aber was sollte da schon an neuen Baugebieten geplant werden? Und Wettenstedt saß auch nicht allein im Gemeinderat. Von den SPD-Vertretern im Rat wusste Hanno, dass sie sein Vorhaben unterstützen würden. Und sei es auch nur, um dem CDU-Mann Wettenstedt eins auszuwischen. Das jedenfalls schien Kurtchen Eberts Beweggrund zu sein. Ebert, ein hohes Tier im VW-Betriebsrat, war der ewige Rivale von Wettenstedt, wenn es um das Amt des Bürgermeisters ging.

Doch im Grunde, trotz Windkraft und Biogas, war Hanno Ackermann (nicht nur dem Namen nach) ein Bauer nach altem Schrot und Korn. Ab seinem achten Lebensjahr hatte er selbst mit angepackt auf dem Hof. Heuballen, Treckerreifen, Balken, Ersatzteile von Pflügen – Hanno konnte, spätestens im Alter von zwölf Jahren, praktisch alles bewegen. Das lag zum einen an seinem Geschick, vor allem aber an den enormen Kräften, die ihm in die Wiege gelegt worden waren. Seine Muskeln hatten sich durch harte körperliche Arbeit auf natürliche Art und Weise stetig weiterentwickelt. Mit zwölf hatte Hanno den Körper eines erwachsenen Wasserballers und Hände wie ein Schmied gehabt.

Stets war seine Arbeit zielgerichtet und effizient. Er hängte allein den Güllewagen ab, und er zog den Pflug quer über den Hof. Wenn man ihn gelassen hätte, hätte Hanno auch Furchen ins Feld gezogen, ohne Traktor oder Pferd. Bald sollten seine Kräfte sprichwörtlich werden. Niemand, der ihn als Zwölfjährigen Holz hacken (oder besser zertrümmern) gesehen hatte, wäre auf die Idee gekommen, sich mit ihm anzulegen. Dieser Ruf eilte ihm stets voraus, sodass Hanno beispielsweise in keine einzige Schulhofkeilerei verwickelt worden war. Er konnte sich nur an eine einzige physische Auseinandersetzung mit einem Mitschüler erinnern. Das war in der elften Klasse gewesen und die Auseinandersetzung hatte eigentlich nur darin bestanden, dass er so einen Schnösel aus der 13. Klasse an eine besonders empfindliche Stelle packte und ihn sehr unmissverständlich aufforderte, eine Beleidigung der Bauernzunft zurückzunehmen. Das tat der Schnösel, und nach 30 Sekunden war die Sache vorbei und für Hanno auch vergessen.

Seine Muskelkraft hatte er seitdem ausschließlich gegen Dinge eingesetzt. Es kam auch später niemand auf die Idee, ihn zu provozieren, weder beim Zivildienst noch beim Studium. Hanno wäre allerdings auch ohne seinen muskulösen Körper nicht der Typ gewesen, der zur Zielscheibe von Spott oder Drangsalierung wird. Er hielt sich in der Regel im Hintergrund und setzte gern ein mürrisches Gesicht auf. Er kleidete sich zweckmäßig mit Parka, Anorak oder Jeansjacke. Er trug die Haare nicht zu kurz und nicht zu lang. Er war weder hässlich noch hübsch. Er war weder der Klassenclown noch der Streber. Hanno ließ andere in Ruhe, und er wollte in Ruhe gelassen werden.

Der Einzige, der ihn bisweilen herausforderte, war Gregor Pahlke. »Der starke Gregor«, wie er sich gern nennen ließ. Pahlke war ein 60-jähriger Maurer aus dem Dorf. Er war nicht besonders groß, vielleicht 1,70 Meter, aber er bestand ausschließlich aus Testosteron und Muskeln. Während Hanno um seine Kraft überhaupt kein Gewese machte, prahlte Pahlke damit. Er machte sich einen Spaß daraus, die Heranwachsenden des Dorfes zum publikumswirksamen Armdrücken im »Dorfkrug« herauszufordern. Pahlke gewann immer. Immer locker und leicht. Er hatte Hanno niemals direkt zum Duell eingeladen. Aber häufig genug hatte er gegenüber Dritten angedeutet, dass er es »dem Hanno gern mal zeigen würde«. Immer auf genau die Art, dass es rasch an Hannos Ohren dringen musste.

Ein paar Mal hatte Hanno darüber nachgedacht, das Angebot anzunehmen. Er konnte sich aber letztlich doch nicht dazu durchringen. Es war weniger die Angst vor der Niederlage, als die Angst vor einem möglichen Sieg und den Folgen. Er hätte dann einen unberechenbaren Feind im Dorf. Höchstwahrscheinlich würden auch weitere Herausforderungen folgen. Nicht nur von Pahlke wegen einer Revanche, sondern von allen anderen im Dorf, die sich stark fühlten.

Ganz davon abgesehen, dass Hanno auch ohne regelmäßiges Armdrücken genug zu tun hatte. Seine Eltern konnten sich immer seltener nützlich machen auf dem Hof und die Kinder bereiteten Melanie und ihm einige Sorgen. Ann-Kathrin, mit 16 die Älteste, hatte weder Interesse am Bauernhof noch am Dorfleben. Sie verbrachte möglichst viel Zeit mit ihren Mitschülern in der Stadt; sie besuchte dasselbe Gymnasium, auf das auch Hanno gegangen war. Es war schon traurig, zu sehen, wie früh Ann-Kathrin sich von ihrem Zuhause abnabelte. Immerhin waren ihre Leistungen in der Schule okay und sie würde in anderthalb Jahren ihr Abi sicherlich ohne Probleme schaffen. Danach wäre sie für immer weg von hier.

Gute Schulleistungen – das konnte man dem Mittleren leider nicht nachsagen. Der 14-jährige Tobias besuchte die Realschule und schaffte das Pensum nur dank intensiver Nachhilfe in Deutsch, Mathe und Englisch. Wenigstens interessierte Tobias sich für Landwirtschaft; Hanno hoffte, dass er eines Tages den Hof übernehmen würde. Hof, na ja, wenn alles so lief, wie Hanno es plante, wäre es zu dieser Zeit eher ein Ökologiepark mit Windkraft und Biogasanlage.

Blieb noch der neunjährige Ben, das Nesthäkchen, das von der ganzen Familie nach Strich und Faden verwöhnt wurde. Selbst von Hanno, das musste er zugeben. Auch wenn das kein Vergleich war zu seinen Eltern und seiner Frau.

Über Melanie konnte sich Hanno ansonsten aber überhaupt nicht beklagen. Er liebte sie noch genauso wie vor 20 Jahren, als die beiden ein Paar wurden. Wenn es irgendwie ginge, würde Hanno auch Melanies größten Wunsch erfüllen: eine der Scheunen umbauen und Ferienwohnungen daraus machen.

Längst saß Hanno auf dem Traktor und tuckerte vom Hof. Es war 6.30 Uhr. Um diese Zeit musste er kaum mit Verkehr rechnen. Dennoch sah er sich nach allen Seiten um, als er auf die Straße abbog und ihr mit 40 km/h folgte. Hannos Ziel lag nur rund anderthalb Kilometer entfernt. Am Südende aus dem Dorf heraus, über einen kleinen Hügel, am Sportplatz vorbei und die Straße runter zur kleinen Siedlung, die bis 1989 das Ende der Welt war, zumindest der freien Welt.

Hanno fuhr an den Ruinen von Molkerei und Ziegelei vorbei, am Imbiss und an der Kfz-Werkstatt von Kalle Neubauer. Vorbei an den Spargelfeldern, die Wettenstedt vor zehn Jahren angelegt und sich so eine zusätzliche Erwerbsquelle geschaffen hatte. Gleichzeitig eine schöne Nebenbeschäftigung für seine Frau Magda. Sie saß von Mai bis Juli in einem provisorischen Ladenlokal auf dem Hof und verkaufte Spargel. Stechen musste sie nicht. Diesen Job erledigten polnische Saisonarbeiter. Sie wohnten im Gesindehaus.

Kurz hinter dem früheren Schlagbaum bog Hanno von der Bundesstraße nach links auf einen schmalen Weg ab. Dort lagen seine Felder, weithin sichtbar dank der Windkrafträder, die sich im Dezemberwind gleichmäßig drehten.

Die Gedanken an Ann-Kathrin hatten Hanno an seine eigene Schulzeit erinnert. Bereits vier Tage zuvor hatte es einen Gruß aus der Vergangenheit gegeben. Hanno hatte eine E-Mail bekommen. »Schon mal vormerken« hatte im Betreff gestanden. Absender waren Jakob, Dirk und Susanne, die drei vom Vorbereitungsteam aller bisherigen Jahrgangstreffen. Alle fünf Jahre hatten sie ein Treffen organisiert, das in ihrer alten Schule stattfand und immer von mindestens zwei Dritteln des Jahrgangs besucht wurde. Viele von ihnen hatten sogar den Sticker »Abi ’89« am Auto kleben. Hanno nicht. Er war aber auf drei der vier bisherigen Treffen gewesen (das 15-Jährige hatte er verpasst, er lag mit gebrochenem Bein im Krankenhaus), obwohl er kaum Kontakt zu ehemaligen Mitschülern und schon zu Schulzeiten nur wenige Freundschaften geschlossen hatte.

Dirk war die große Ausnahme. Wie Hanno hatte er schon damals gern an alten Mopeds oder Autos herumgeschraubt. Nun hatte er diese Tätigkeit zu seinem Beruf gemacht. Dirk betrieb eine Ein-Mann-Werkstatt in der Stadt. Zusätzlich hatte Hanno ihm eine Scheune zur Verfügung gestellt. Dort stellte Dirk ausgemusterte Autos ab, an denen er hin und wieder werkelte, um sie wieder fahrtüchtig zu machen und zu verkaufen. Als Gegenleistung reparierte er gelegentlich Hannos Autos und Trecker. Auf diese Weise musste Hanno seine Fahrzeuge nicht zu Neubauer bringen, dessen Werkstatt die einzige im Dorf war. Dieses Monopol nutzte Neubauer leider aus und verlangte horrende Preise. Dabei war er noch nicht mal besonders gut. Neubauer warb zwar damit, dass er auch Landmaschinen reparierte. Aber im Grunde hatte er nur wenig Ahnung von Treckern. Dirk hingegen hatte ein Händchen für Traktoren, vor allem für Traktoren der Marke Fendt, die Hanno ausschließlich besaß; Traktoren von Fendt, Hänger von Welger. Wenigstens diese Tradition von Großvater und Vater hatte er übernommen.

Ab und zu setzten sich Hanno und Dirk mit ein paar Flaschen Bier unter eines der Windkrafträder auf den Nordäckern, um zu quatschen. Deshalb wusste Hanno auch lange vor der Mail vom Jahrgangstreffen.

Natürlich würden dort wieder einige Anekdoten erzählt werden. »Weißt du noch?« Zweimal stand Hanno dabei im Mittelpunkt. Vor allem die Geschichte mit Sportlehrer Lukas Schneider sorgte immer für großes Gelächter.

Es passierte in der zehnten Klasse und sie waren in der Turnhalle, um Handball zu spielen. Zu Anfang der Stunde hatten sie sich mit mehreren Bällen warm gemacht. Ein paar Zuspiele, ein paar Würfe. Nach einigen Minuten sollte es dann richtig losgehen.

Schneider war vor dem Studium acht Jahre lang bei der Bundeswehr gewesen und strahlte eine stramme Kasernenhofautorität aus. Wenn er ein Kommando rief, parierte man irgendwie automatisch. Jetzt rief er: »Wirf mal den Ball her, Hanno!«

Hanno dribbelte gerade in der Halle herum und war in Gedanken kurz davor, zu werfen. Wie Erhard Wunderlich, seinerzeit der beste deutsche Handballer. Statt aber in Gedanken aufs Tor zu werfen, pfefferte Hanno den Ball Richtung Schneider.

Der Lehrer hatte wohl mit vielem gerechnet, aber nicht mit einem 100 km/h schnellen Handball, der in Kopfhöhe auf ihn zugeschossen kommt. Die knappe Sekunde, die ihm zu irgendeiner Reaktion geblieben wäre (Kopf runter, Hände hoch, zur Seite hechten), vertat er durch bloßes, ungläubiges Staunen. Und dann lag er auch schon auf dem Hallenboden, satte 95 Kilogramm Sportlehrer, verteilt auf 180 Zentimeter. Einfach niedergestreckt, auf dem Rücken, die Arme 90 Grad vom Körper gestreckt, die Beine ein paar Grad weniger.

Der Ball war von seinem Kopf in hohem Bogen abgeprallt und irgendwie in den Händen von Felix Conradi gelandet. Felix starrte ihn an wie eine Mordwaffe, an der nun seine Fingerabdrücke klebten. Er ließ den Ball sofort wieder fallen.

Das Titschen war das einzige Geräusch in der Turnhalle, denn alles Dribbeln, Passen und Sprinten hatte ein jähes Ende gefunden, als der Sportlehrer gefallen war.

Mario Lopez war der Erste, der sich wieder einigermaßen gefangen hatte. Er ging zum Sportlehrer und fragte: »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Herr Schneider?«

Das war natürlich ein Witz gewesen. Nichts mit Schneider schien auch nur ansatzweise in Ordnung zu sein. Alle dachten, er sei tot – gestorben in Ausübung seiner Pflicht.

Jetzt war Mario direkt bei Schneider und wollte sich gerade bücken, womöglich, um ihm den Puls zu fühlen und danach sanft die Augen zu schließen.

Doch in diesem Moment schüttelte sich Schneider, bewegte seine Arme, drückte die Knie hoch und stand auf. Noch im Aufstehen brüllte er: »Alle raus! Außer Ackermann!«

Fünf Sekunden später war Hanno allein mit Schneider und eine weitere Sekunde später stand Schneider direkt vor ihm. Der Lehrer war etwas rot im Gesicht, genauer gesagt an der rechten Wange, und diese Wange war auch ein wenig geschwollen. Nicht viel eigentlich in Anbetracht des strammen Wurfes. Ein beinharter Kerl, der Schneider. Trotz seiner Größe von, wie gesagt, immerhin 1,80 Meter musste er zu Hanno aufsehen, denn der maß 1,95 Meter.

Was jetzt passierte, gehörte nicht zum Anekdotenschatz des Jahrgangs, das blieb »unter Schneider und Hanno«. Das machte Schneider ein paar Minuten später unmissverständlich deutlich und Hanno hatte sich all die Jahre daran gehalten.

Keine Sekunde, nachdem Schneider wenige Zentimeter vor ihm stand, spürte Hanno einen unerwarteten Schmerz an seinen Hoden. Schneiders Hand hatte sich darum geschlossen, ziemlich fest. Aber es konnte noch fester sein, wie Hanno bald feststellen musste. Die Turnhose bot jedenfalls nicht viel Schutz gegen die kräftige Hand des Ex-Soldaten. Ein paar Jahre später sollte ein Film im Kino laufen, in dem Gene Hackman zur selben Waffe greift, als er einen Verdächtigen verhört. Hanno konnte gut nachvollziehen, dass dieser Mann recht schnell auspackte.

»Was habe ich dir gerade zugerufen, Hanno?« Schneider erhöhte den Druck.

»Wirf mal den Ball her, Hanno.« Hanno schwitzte bereits.

»Gib mal den Ball her! Das habe ich gesagt. Nicht ›Wirf mal‹.«

Hanno wusste zwar, dass der Lehrer wirklich »Wirf« gerufen hatte. Aber es schien wenig angebracht, darauf zu beharren. Trotz der Schmerzen hätte Hanno übrigens ohne Probleme eine seiner Fäuste auf Schneiders Nase niedersausen lassen können, um die Sache schnell und zu seinen Gunsten zu beenden. Aber das kam Hanno gar nicht in den Sinn. Es wäre wenig förderlich für seine weitere Schullaufbahn gewesen, einen Lehrer erst mit einem Handball niederzustrecken, um ihm anschließend auch noch die Nase zu brechen. Schließlich wollte Hanno gern sein Abi machen und hinterher studieren. So ertrug er weitgehend klaglos sein Schicksal. »Hab mich wohl verhört. Tut mir leid«, stammelte Hanno also pflichtschuldig.

»Habe mich wohl verhört. Tut mir leid.« Schneider genoss die Situation spürbar. »Aber selbst, wenn ich ›Wirf‹ gesagt hätte, hättest du mir den Ball nicht mit 100 Sachen an den Kopf zu schleudern brauchen. Stimmt’s?«

»Stimmt. Ich war nur gerade in Gedanken Erhard Wunderlich und wollte aufs DDR-Tor werfen. Da hörte ich Sie ›Wirf‹ rufen.«

»›Gib‹, nicht ›Wirf‹«, unterbrach ihn Schneider und drückte fester zu.

Hanno hatte Tränen in den Augen, und einen Augenblick lang betrachtete er Schneiders Nase und stellte sich vor, wie seine rechte Faust vielleicht doch … Aber er konnte sich beherrschen und ließ den Lehrer gewähren.

»Mal angenommen«, sagte Schneider, »ich wäre so blöd, oder sagen wir mal, ich wäre gerade etwas gedankenverloren, und ich würde dich eines Tages noch mal bitten, mir einen Handball zu geben, was würdest du dann tun?« Hanno setzte zu einer Antwort an, aber der Lehrer unterbrach ihn: »Und komm mir nicht mit: Dann würde ich Ihnen nicht wieder den Ball mit 100 Sachen an den Schädel knallen. Dass du das nicht wieder machst, davon sollten wir beiden Hübschen jetzt mal ausgehen. Also, was würdest du tun?«

»Ich würde Ihnen den Ball ganz sachte zuwerfen.«

Schneider drückte etwas fester. »Immer noch falsch!«

»Vielleicht gar nicht werfen?«

»Vielleicht gar nicht werfen!« Zum ersten Mal ließ der Druck etwas nach.

»Vielleicht besser rollen?«

»Vielleicht besser rollen! Oder?«

»Oder?« Hanno fiel nichts mehr ein, immerhin blieb der Druck auf seinen Eiern konstant. Konstant schmerzhaft zwar, aber nicht lebensbedrohlich.

»Oder? Wenn ich dich ums Geben bitte, warum gibst du dann nicht?«

»Ich laufe also zu Ihnen und lege den Ball sanft in Ihre Hände? So?«

»Ja, so in etwa, das klingt vernünftig. Rollen wäre aber auch in Ordnung, da hast du recht.« Einen Moment lang sah es so aus, als würde Schneider nun Hannos Hoden loslassen und sich von ihm abdrehen. Doch im letzten Moment packte er noch mal zu und flüsterte: »Diese kleine Episode hier bleibt unter uns, klar?!«

Hanno stand der Mund vor Schreck weit offen, er konnte nur nicken.

»Wenn die anderen Jungs dich fragen, was hier zwischen uns gelaufen ist, dann sagst du ihnen, du hättest zur Strafe 50 Liegestütze machen und mir versprechen müssen, beim nächsten Mal den Ball zu rollen. Rollen ist gut, ist sogar besser als bringen. Hinterher rennst du mich beim Versuch des Bringens über den Haufen, weil du mich für einen Abwehrspieler am Kreis hältst. Einen aus der DDR. Verstanden?« Schneider grinste jetzt und lockerte den Griff eine Spur.

»Verstanden.«

»Na, dann ist ja gut.« Schneider ließ endlich los.

Hanno atmete aus. Tief.

»Fieser Griff, oder?« Schneider wirkte von jetzt auf gleich wie ein anderer Mensch. Kein gnadenloser Rächer mehr, sondern ein fairer Sportsmann, der mit seinem Kontrahenten noch ein wenig über den gerade beendeten Kampf plaudern wollte. Beinhart und flexibel. »Ich wette, du hast kurz daran gedacht, mir eins auf die Nase zu geben.«

Hanno wurde rot.

»Gut, dass du es nicht gemacht hast. Denn das hätte nicht nur ich dir übel genommen, sondern die ganze Schule.« Schneider zeigte mit dem Finger auf seine gerötete und leicht (aber wirklich nur ganz leicht) geschwollene Wange. »Das hier hingegen habe ich schon jetzt vergessen. So, und jetzt hol die anderen, damit wir endlich Handball spielen können.«

Tatsächlich trug der Sportlehrer ihm diesen Zwischenfall in keiner Weise nach. Er behandelte Hanno nicht schlechter als vorher, vielleicht sogar respektvoller, und er sprach nie wieder davon. Im Zeugnis bekam Hanno wie üblich in Sport eine Eins. Und seine Mitschüler glaubten ihm die Sache mit den 50 Liegestützen aufs Wort, das passte schließlich zum Exsoldaten.

Die andere Anekdote war weniger spektakulär. Bemerkenswert war jedoch der daran beteiligte Lehrer. Wolfgang Rothe war Lehrer für Mathe und Physik, stand kurz vor der Pensionierung und war der beliebteste Lehrer der Schule. Die Schüler nannten ihn »Papa Rothe«. Rothe hatte selbst vier Kinder und jede Menge Enkelkinder. Darüber hinaus war jeder Schüler sein Kind, um das er sich liebevoll kümmerte, ihm auch zum zehnten Mal die binomischen Formeln oder irgendein physikalisches Gesetz erklärte. Und wenn der Schüler es immer noch nicht verstand, bekam er dennoch eine Vier, wenn er die denn brauchte, um nicht sitzen zu bleiben.

Rothe ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Mit renitenten Schülern hatte er es ohnehin nur selten zu tun. Denn wer sich Rothe gegenüber nicht gut benahm und etwa seine Gutmütigkeit ausnutzen wollte, der wurde von seinen Mitschülern ausgebremst und nötigenfalls sanktioniert. »Die Würde des Papa Rothe ist unantastbar«, Artikel 1 der Schulordnung.

Nur einmal ließ sich Rothe aus der Ruhe bringen, schrie und rief zu Gewalt auf. 1984 war ein junger Lehrer namens Stefan Michalsky an die Schule gekommen, um Französisch und Englisch zu unterrichten. Er brachte neben seinem guten Aussehen, seiner stets guten Laune und seinem Charme auch die Traditionen seiner rheinischen Heimat mit. Namentlich den Karneval, der bis dato in der niedersächsischen Provinz weitgehend ignoriert worden war. Keine Rede vom Elften im Elften, Altweiber, Rosenmontag und so weiter. Auch keine Lust darauf.

Diese Lust verspürte aber Michalsky, der, anders als in Köln, auf einmal an jedem Karnevalstag zur Arbeit gehen musste. Da sollte doch wenigstens am Rosenmontag ein wenig jeckes Treiben auf dem Schulhof und in den Klassenräumen möglich sein. Mit seinem missionarischen Eifer (gepaart mit den oben aufgeführten Eigenschaften) hatte er bereits einen beträchtlichen Teil der jüngeren Schüler (»Hauptsache, kein Unterricht!«), einige ältere Schüler und den für männliche Reize empfänglichsten Teil der Lehrerschaft auf seiner Seite.

Dazu zählte auch die Direktorin; mit Ende 50 war sie sehr zugänglich für solche Reize. Sie war zugleich die Herrin über 100 Lehrer, 1.000 Schüler – und über die Lautsprecheranlage, die einzig von ihrem Büro aus bedient werden durfte und zu Durchsagen von höchst unterschiedlicher Wichtigkeit benutzt wurde. An guten Tagen dachte die Direx daran, dass sie auch einzelne Lautsprecher in bestimmten Klassenzimmern ansteuern konnte. Meist hatte sie aber weniger gute Tage, und so war oft die ganze Schule informiert, wenn ein bestimmter Schüler oder Lehrer in ihr Büro einbestellt wurde. Zu Recht wurde die ganze Schule immer dann informiert, wenn es um Themen wie hitzefrei, Feueralarmprobe oder die Premiere des neuen Stückes der Theater AG in der Aula ging.

Man konnte davon ausgehen, dass das auch für Rothe in Ordnung war. Nicht in Ordnung fand er es hingegen, satte zweieinhalb Wochen vor Rosenmontag etwas über den Rosenmontag zu hören. Michalsky hatte sich an diesem Mittwochmorgen Zugang zum Büro der Direx und der Lautsprecheranlage verschafft. Zeitgleich wollte Rothe mit den verschlafenen, gleichwohl (denn es war ja »Papa Rothe«) Interesse heuchelnden Schülern des Grundkurses Mathe der Jahrgangsstufe 13 bestimmte Aspekte der Wahrscheinlichkeitsrechnung erörtern. Wobei Rothe wusste, dass sich maximal zwei der 18 Anwesenden dafür interessierten, weil sie Mathe als mündliches Prüfungsfach (kurz P4) gewählt hatten, während der Rest des Haufens nur lästige Pflichten im naturwissenschaftlich-mathematischen Bereich erfüllte.

Während Rothe also gerade von seinem Lehrerstuhl aufstand, um eine stochastische Formel an die Tafel zu malen, knisterte und knackte es im Lautsprecher. Er war links über der Tür des Kursraumes angebracht, ein grobes Ding, grau, mit billigem, braunem Holz verkleidet. Rothe drehte sich um und seufzte. »Hoffentlich was Wichtiges.« Er brummte mehr zu sich selbst als zu den 18 Schülern.

Es knisterte noch ein wenig, dann erklang die Stimme der Direx. »Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Kolleginnen und Kollegen …«

Rothe starrte den Lautsprecher an. Die 18 Schüler drehten sich – sofern nötig – um und starrten ebenfalls.

»Aus gegebenem Anlass übergebe ich das Wort dem geschätzten Kollegen Michalsky.« Das war schon alles von ihr. Nur die Einleitung.

»Blöde Kuh«, sagte jemand, und alle waren sich sicher, dass es Rothe war. Betretenes Schweigen. Trotzdem spürbare Zustimmung.

»Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Kolleginnen und Kollegen.« Aus Lehrer Michalskys Mund klangen diese Worte wie eine Liebeserklärung. Dieser rheinische Singsang. Ach. Die Mädchen im Kurs, die empfänglich dafür waren, stießen schon erste leise Seufzer aus. Rothe atmete ein paar Mal tief durch. Er lief bereits rot an.

»In etwa zwei Wochen ist Rosenmontag …«

»Ruhe«, brüllte Rothe. »Ruhe, verdammt, ich will hier unterrichten!«

Nun starrten alle gebannt auf den Mathelehrer. Er zeigte auf Jens Tönnies, das war einer der beiden, die Mathe als P4 gewählt hatten. »Jens, mach bitte diesen Kasten aus!« Rothe gehörte zu den wenigen Lehrern an der Schule, die darauf verzichteten, die Schüler ab Jahrgangsstufe zehn zu siezen.

Jens erschrak. Er schien zu wissen, dass man diesen Kasten nicht ausmachen konnte. Trotzdem stand er auf, ging zur Tür, schob einen Tisch unter den Lautsprecher, kletterte hinauf, untersuchte den Kasten von allen Seiten und schüttelte den Kopf. »Kann man nicht ausmachen, Herr Rothe, kein Knopf dran oder so.« Jens kletterte wieder runter vom Tisch, schob ihn zurück an seinen Platz und setzte sich.

Einen Augenblick lang waren Rothe und die Schüler still, sodass wieder ein Fetzen von Michalskys Rede zu hören war.

»… wie es in meiner Heimat Köln schon so lange Tradition ist …«

»Dieser Scheißkasten.« Rothe schlug mit dem Lineal aufs Pult. Das blieb zum Glück ganz; in vergleichbaren Situationen waren schon schlimme Unfälle passiert. Einen Moment lang schien es sogar, als wolle Rothe mit dem Lineal auf den Lautsprecher werfen.

»… am Samstag die Züge durch die Viertel, von Schulen, Vereinen …«

Dann warf Rothe tatsächlich. Er warf aber nicht das Lineal, sondern die etwas ungefährlichere Kreide, mit der er eigentlich die Formel an die Tafel hatte schreiben wollen. Er verfehlte den Lautsprecher um mehrere Meter.

»… am Sonntag dann in vielen der umliegenden Städte …«

»Wer macht mir diesen verdammten Scheißkasten aus?« Während er fluchte, wanderten Rothes Augen durch den Raum. Sie blieben schließlich an Hanno hängen. »Hanno, ich glaube, du weißt, wie es geht.«

Hanno wusste aber nur einen Weg. Er war sich nicht ganz sicher, ob das der Weg war, den Rothe meinte. Er stand auf und ging zum Lautsprecher. Im Gegensatz zu Jens brauchte er keinen Tisch, um an den Lautsprecher zu kommen, den er mit einem Ruck von der Wand riss, samt Kabeln.

»11.11 Uhr …«

Nach diesem letzten Satzfetzen folgte ein kurzes Pfeifen. Hanno stand mit dem Lautsprecher in der Hand da und sah fragend zu Rothe hinüber.

»Leg das Ding irgendwo hin«, meinte der Lehrer, und nach einer kurzen Pause sagte er in die atemlose Stille: »Wenn der Kasten so einfach von der Wand fällt.«

Hanno setzte sich an seinen Platz. Scheinbar unbeteiligt, während alle Blicke auf ihm ruhten.

»Danke, Hanno«, murmelte Papa Rothe und wollte sich zur Tafel drehen. Offenbar fiel ihm ein, dass er gerade seine Kreide weggeworfen hatte. »Kann mir jemand mal die Kreide bringen?«

Barbara Wiechert stand auf und suchte die Kreide, die nun aus mehreren Stücken bestand. Schulterzuckend brachte sie die Überreste nach vorn. Rothe wählte das längste Stück aus und malte seine Formel an die Tafel.

Das war das Gute am Pflügen. Man konnte seinen Gedanken nachhängen und trotzdem seine Arbeit verrichten. Die Hälfte des Zuckerrübenackers hatte Hanno schon gepflügt. Gerade fuhr er auf den ehemaligen DDR-Wachturm zu, den die Scheinwerfer des Treckers anleuchteten. Gespenstisch.

Oh, jetzt war er etwas zu weit gefahren. Da vorn war schon der Rand des Feldes. Gleich dahinter lag der tiefe Graben. An dieser Stelle konnte Hanno seine übliche Kurve nicht fahren, der Pflug würde im Graben landen. Er musste ein Stück zurücksetzen.

Während er noch ein paar Meter nach vorn rollen wollte, um dann den Rückwärtsgang einzulegen, wurde vor Hannos innerem Auge die gesamte Grenzanlage wieder sichtbar. Der Turm, die Schranken und natürlich der endlose Zaun. Eine Zeitlang hatten die Ostzonalen sogar Selbstschussanlagen installiert. Schweine. Und, aber das sollte Hannos letzter Gedanke sein, den er auch nicht mehr bis zu Ende denken konnte, und, hatte es hier nicht auch …

Kapitel 2

»Mine?« Kriminalhauptkommissar Helmut Jordan schaute seinen Kollegen David Armbruster ungläubig an. »Willst du mir sagen, der Bauer ist beim Pflügen über eine Mine gefahren, die dann explodiert ist und Trecker und Fahrer in Brand gesetzt hat?« Der Leiter der Kripo-Dienststelle Wolfenbüttel betrachtete das ein paar Meter entfernt stehende Wrack des Fendts Vario 820 und den Pflug, der noch immer am Trecker hing und weitgehend unbeschädigt geblieben war.

Auf dem Sitz des Treckers, hinter verschmortem Plexiglas, hatte vorhin noch die verkohlte Leiche von Hanno Ackermann gesessen. Jetzt lag sie in einem Metallsarg, bereit zum Transport in die Gerichtsmedizin. Es stank nach Benzin und verbranntem Gummi. Und nach verbranntem Fleisch. Aber darüber wollte Helmut lieber nicht nachdenken.

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