Baumkiller - Werner Färber - E-Book

Baumkiller E-Book

Werner Färber

4,5

Beschreibung

Nach Monaten der Funkstille meldet sich Yannick, Leas Ex, plötzlich wieder bei ihr. Einer seiner Partner wurde auf dem Altonaer Hauptfriedhof erhängt in einem Baum gefunden. Zunächst deutet alles auf Selbstmord hin. Doch bald beginnt Lea zu bezweifeln, dass der Tod des Landschaftsgärtners selbst gewählt war. Als Yannick sie dann auch noch in ein falsches Alibi verwickelt, beginnt sie sich zu fragen: »Hat Yannik etwas mit Hannos Tod zu tun?«

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Werner Färber

Baumkiller

Der erste Fall der Umweltaktivistin Lea Mertens

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2015

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ohneski / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4774-7

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. Kapitel

Lea liegt wach. Sie hat das Gefühl, sich schon seit Ewigkeiten herumzuwälzen. Vielleicht findet sie aber auch erst seit wenigen Minuten nicht mehr in den Schlaf zurück. Das Unterbewusstsein spielt ihr in dieser Hinsicht gerne Streiche. Heute scheint es wieder einmal auf Krawall gebürstet zu sein. Bevorzugt nutzt es hierfür die Morgenstunden. Gewitterblitzen gleich zucken Bruchstücke von Gedanken durchs Gehirn. Die meisten sind dermaßen absurd, dass sie im Wachzustand nicht den Hauch einer Chance hätten, bis ins Bewusstsein vorzudringen. Im Halbschlafdämmerzustand erreichen sie jedoch den Wirkungsgrad einer Hardrock-Beschallung. Das ist jetzt nicht unbedingt dramatisch. Aber durchaus lästig. Sehr lästig. Belästigend. Allerdings immer noch besser als das, was sie noch vor ein paar Jahren empfand. Damals durchlebte sie Phasen, in denen sie über Wochen Nacht für Nacht von solcher Gedankenkakofonie gequält wurde. Lea empfindet die Fortschritte, die sie in dieser Hinsicht gemacht hat, als äußerst befreiend. Und sie glaubt, dieses an Nerven und Gesundheit nagende Phänomen immer besser in den Griff zu bekommen. Nur noch selten schafft es ihr Unterbewusstsein, die meist surrealen und traumhaften Gedanken in ihr Bewusstsein zu schießen, um sie dann im Dämmerzustand zwischen Wachsein und Schlaf sinnlos zu quälen. Sie ist froh, dass dieses Kopftheater, das über Jahre ihres Lebens bereits gegen zwei, drei Uhr morgens eingesetzt hat, zu einer Zeit also, zu der Lea noch nicht sehr lange geschlafen hat, nur noch höchst selten stattfindet. Sie ist froh, dass sie den nächtlichen Gedanken-Tsunami mittlerweile weitgehend im Griff hat. Zumindest in entspannten Lebensphasen gelingt es ihr, die Befeuerung der Synapsen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Wenn sie allerdings – wie in diesem Augenblick – im Morgengrauen doch wieder einmal wach herumliegt, geht ihr das Zeitgefühl gründlich verloren. Wie spät mag es sein? Draußen ist es hell, seitdem sie die Augen erstmals aufgeschlagen hat. Sie fühlt sich wie fünf Uhr. Das kann aber kaum sein. Immerhin ist der Berufsverkehr bereits sehr lebhaft. Das spricht eher für sieben. Vielleicht sogar acht. Um dem wenig hilfreichen Abwägen ein Ende zu bereiten, ob sie sich noch einmal umdrehen und einen erneuten Schlafversuch starten oder doch besser gleich unter die Dusche gehen soll, fischt sie mit geschlossenen Augen nach ihrem Telefon.

Im Radius ihrer Armlänge tastet sie den Fußboden neben der Matratze ab. Seit dem Umzug, der sie vor zwei Monaten in diese Eineinhalbzimmerwohnung nahe der U-Bahn-Haltestelle Mundsburg verschlagen hat, verfügt sie weder über einen Nachttisch, auf dem sie Bücher, Gläser, Wecker und sonstige lebenswichtige Utensilien abstellen könnte, noch über ein richtiges Bett. Die meisten ihrer Möbel hat sie in der letzten Wohnung zurückgelassen. Vor allen Dingen aus Platzgründen. Gerade das Bettgestell hätte den Rahmen ihres winzigen Schlafzimmers bei Weitem gesprengt. Um dieses Bett unterzubringen, hätte sie die Tür entweder aushängen müssen oder sie hätte sich nur einen schmalen Spaltbreit öffnen lassen. Auf den Luxus ihrer zwei Meter mal zwei Meter großen Kingsize-Matratze, auf der sie seit ihrem Umzug nach Hamburg schläft, hat sie jedoch nicht verzichten wollen. Obwohl sie mit einer Körpergröße von knapp unter 1,70 nicht gerade zu den Riesinnen gehört, vertritt sie den Standpunkt, dass ein Mensch Anspruch auf viel Platz im Bett hat. Also musste das Riesending zum Leidwesen ihrer Umzugshilfen mit. Wenn Lea gelegentlich jemanden für einen Fun-Night-Stand mit nach Hause bringt, weil sie Lust auf Körperkontakt und Kuscheln hat, ohne gleich was Festes anzustreben, finden auch die Kerle die komfortabel große Spielwiese immer recht klasse. Die meisten jedenfalls. Wie auch der Typ, den sie vergangene Nacht in die Wohnung gelassen hatte. Allerdings glaubte der bemerken zu müssen, dass er es nuttig fände, wenn eine Single-Frau so ein Bett hätte. War dieser Schwachkopf tatsächlich davon ausgegangen, sie könnte diesen Spruch lustig finden und darüber lachen? Zu ihrer Verwunderung wirkte er auch noch überrascht, als sie ihm nach dieser Bemerkung die Wohnungstür öffnete und mit eindeutiger Geste nach draußen zeigte. Sekunden danach fand er sich, nur in Boxer-Shorts gekleidet, im Treppenhaus wieder. Als er wütend gegen die geschlossene Tür trommelte und sich beschwerte, dass sie ihn nicht einfach halb nackt aussperren könnte, lagen seine Klamotten bereits auf der Straße. Lea war, um die Tür nicht noch einmal aufmachen zu müssen, mit dem Bündel auf ihre kleine Loggia getreten und hatte alles in hohem Bogen über die Dachschräge nach unten geworfen. Sie war nicht ganz sicher, ob sein Hemd eventuell an der Dachtraufe hängen geblieben war. Hätte er die Trommelei gegen die Tür gelassen und wäre er auf dem Weg nach unten einfach still gewesen und diskret davongeschlichen, hätte er sich wenigstens die Begegnung mit der Lehmannschen aus dem ersten Obergeschoss erspart. Selbst die steht für gewöhnlich zu so fortgeschrittener Stunde nicht mehr hinterm Türspion, um die Nachbarn zu belauern. Der Typ lockte sie mit seinem Lamento jedoch bis vor die Wohnungstür und provozierte mit seiner skandalös knappen Bekleidung ihre Drohung, dass sie umgehend die Polizei rufen würde. Was sie zum Glück dann doch unterließ. Stattdessen stieg sie – im Bademantel selbst nicht ganz gesellschaftsfähig gekleidet – ohne Sauerstoffgerät hinauf in Leas Stockwerk, um dort ihrerseits gegen die Wohnungstür zu poltern und kurzatmig mitzuteilen, dass sie gleich morgen in der Früh die Hausverwaltung über diese schrecklichen Zustände in Kenntnis setzen würde. Lea sparte es sich, dies zu kommentieren. Sie empfand sogar einen Hauch von schlechtem Gewissen, waren sie und der Typ, nachdem sie ihn nach einer Kieztour auf einen Espresso eingeladen hatte, doch auch vorhin bei ihrer Ankunft im Treppenhaus nicht wirklich leise gewesen. Am frühen Abend war sie mit Freunden losgezogen, die machten jedoch trotz ausgelassener Stimmung recht früh schlapp, und Lea blieb noch mit dem Zufallsbekannten sitzen. Er konnte zuhören, machte durchaus geistreiche Bemerkungen und nahm auch einen kleinen Umweg in Kauf, um sie bis vor die Haustür zu begleiten. Aus einer Laune heraus lud ihn Lea auf einen Kaffee ein. Noch während die Maschine zwei Espressi in die kleinen Tassen presste, waren sie dazu übergegangen, was sie stillschweigend aber einvernehmlich vorgehabt hatten: Sie fingen an, sich gegenseitig zu entkleiden. Schon zu Beginn des Abends hatte sich Lea die Frage gestellt, ob nicht der Zeitpunkt gekommen wäre, zu dem sie sich nach der Trennung von Yannick wieder mal auf jemanden einlassen könnte.

Ihr Begleiter hätte glücklicher Nutznießer ihrer spontanen Lust auf einen Fun-Night-Stand werden können, wäre er sich nicht selbst auf niedrigstem Niveau in die Quere gekommen. Auch nach einem guten Vierteljahr Sexentzug konnte sie ihn nach so einer Schwachmaten-Bemerkung nur noch heftig von sich stoßen. Mit drei Schritten – ihre Wohnung ist von übersichtlicher Größe – stand sie an der Tür. Sie hielt sie ihm auf und zeigte wortlos aber mit eindeutiger Geste nach draußen. Er war dermaßen perplex, dass er in diesem Moment nicht einmal auf dem Schirm hatte, dass er nur noch seine Boxer-Shorts anhatte. Widerspruchslos gehorchend trat er ins Treppenhaus. Zack, war die Tür auch schon wieder hinter ihm zu. Lea hob seine Klamotten vom Boden auf und schleuderte sie von ihrer Loggia hinaus in die Nachtluft.

Natürlich fühlte sie sich in diesem Moment emotional zunächst einmal vollkommen überdreht. Erst die trubelige Kneipentour, dann das gegenseitige Entkleiden und schließlich die Wut über ihn. Und je mehr sie darüber nachdachte, auch über sich selbst. Hatte er sie beim Zuhören nicht ständig mit halb offenem Mund angeglotzt? War sein Wortwitz nicht doch viel mehr selbstgefällige Geschwätzigkeit gewesen? Wie hatte sie so eine hirnlose Dumpfbacke nur zu sich einladen können? Welches halbwegs normale, mit menschlichen Gefühlen ausgestattete Wesen hätte sich in diesem Moment ruhig und ausgeglichen fühlen können? Sie ging in die Küche und trank die beiden bereitstehenden Espressi alleine. Als Schlummertrunk. Um runterzukommen. Ein anständig zubereiteter Kaffee vor dem Zubettgehen wirkt normalerweise tatsächlich Wunder. Als sie zum ersten Mal davon hörte, Kaffee könnte beim Einschlafen helfen, hatte sie gelacht. Es war Yannick gewesen, der ihr diesen Tipp gegeben hatte. Eines Nachts, sie hatte sich seit Stunden schlaflos im Bett gewälzt, war er wach geworden und fragte, was los wäre. Kaum hatte sie ihm ihr Einschlafproblem mitgeteilt, stand er auf, um ihr einen Espresso zuzubereiten. Sie fragte missgelaunt, wie das denn zusammenpassen sollte. Espresso zum Einschlafen? Wo man Kaffee doch viel mehr anregende Eigenschaften nachsagt, die exakt das Gegenteil bewirken! Schwachsinn. Ohne darauf einzugehen, verließ er wortlos das Zimmer. Geplagt vom schlechten Gewissen wickelte sich Lea in ihre Bettdecke und folgte ihm barfuß in die Küche, um sich zu entschuldigen. Immerhin hatte sie ihre miese Laune an ihm ausgelassen.

Er stand mit dem Rücken zu ihr am Herd. Vor ihm fauchte auf der kleinsten Flamme des Gasherds bereits eine seiner italienischen Espressokannen. Ohne sich zu ihr umzudrehen, erzählte Yannick, dass er den Tipp mit dem Kaffee zum Einschlafen von seiner Mutter hätte. Sie ist Krankenschwester und arbeitet vor allem nachts. Wenn wieder mal jemand nach ihr klingelt und über Schlafstörungen klagt, bringt sie zur Überraschung der Patienten einen Kaffee ans Bett. Vor allem den älteren Leuten. Yannick nahm zwei Espresso-Sets aus dem Schrank, drapierte zwei Amarettinikekse auf die Unterteller und füllte die kleinen Tassen. Schließlich umfasste er Leas Hüfte, setzte sie mit spielerischer Leichtigkeit auf einen der vier Barhocker und forderte sie auf, das Einschlafrezept einfach mal ganz vorurteilsfrei zu testen. Da Lea seine Mutter mochte und die resolute Frau schon über fast drei Jahrzehnte Berufserfahrung verfügte, ließ sich Lea, ohne zu widersprechen, darauf ein. Bei einer Nachtschwester, die ihren Job dermaßen lange ausübte, ging sie einfach mal davon aus, dass etwas dran sein könnte. Für den Rest der Nacht schlief sie in der Tat wie auf Rosen gebettet. Dass dabei auch noch die auf den Espresso folgenden Zärtlichkeiten eine Rolle gespielt haben könnten, wollte Lea am nächsten Morgen allerdings nicht ausschließen. Jedenfalls trinkt sie seit jener Erfahrung vor dem Zubettgehen häufig einen kräftigen Espresso und kann dessen Schlaf bringende Wirkung in aller Regel bestätigen.

Wo ist ihr Telefon? Noch immer tastet sie mit der flachen Hand über den Fußboden. Sie schlägt die Augen auf. Nichts. Steckt es noch in ihrer Hosentasche? Nein, schließlich war sie vor dem Einschlafen noch mal auf facebook gewesen. Unterm Kopfkissen? Nein. Weshalb muss sie ständig ihr Telefon verlegen? Schon in den ersten Wochen ihres Zusammenseins hat ihr Yannick beim Besuch eines Flohmarkts ein gehäkeltes Täschchen gekauft, damit sie sich ihr Handy um den Hals hängen konnte. Eine Zeitlang hat sie es sogar benutzt. Ihr neues Smartphone ist jedoch deutlich zu groß für das Täschchen. YANNICK! Schon wieder er! Wenn es jemanden gibt, über den sie zurzeit nicht nachdenken möchte, ist es Yannick.

Andererseits findet sie sich im Labyrinth ihres Unterbewusstseins schon fast wieder zurecht. Ist es nicht naheliegend, dass sich die verborgenen Gedanken Bahn brechen, und sie sich an ihrem letzten Freund abarbeitet? Immerhin steht auch das wuchtige Bettgestell, das zur Kingsize-Matratze gehört, auf der sie gerade liegt und das sie gemeinsam mit ihm gezimmert hat, in dem sie zahlreiche harmonische, wilde, romantische oder auch unspektakuläre Nächte zusammen verbracht haben, noch immer in Yannicks Schuppen.

Wenn sie die Nase in die Matratze presst und tief einatmet, kann sie noch immer einen Resthauch von Kiefernduft darin riechen. Zwar bei Weitem nicht mehr so stark wie zu Anfang, als die frisch gehobelten Bretter, die sie zum Bau des Bettgestells verwendet hatten, dieses Aroma noch sehr intensiv verströmt haben, aber immerhin. Eigentlich hatten sie damals viel zu junges Holz verwendet. Yannick und seine beiden Partner hatten es erst wenige Wochen zuvor bei einer Auftragsfällung geschlagen. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass sich bald erste Risse in den Brettern bildeten und an einigen Stellen sogar noch Harz austrat. Neben so mancher anderen Annehmlichkeit während ihrer Zeit mit Yannick vermisst Lea vor allem auch diesen Geruch von Kiefern noch immer. Wie oft hatte sie in diesem Bett die Augen geschlossen und sich aufgrund des Dufts vorgestellt, in freier Natur unter Kiefern zu schlafen? Es war einfach wunderbar gewesen. Selbst tagsüber, manchmal bis in den Abend hinein hatte sie den Geruch wie ein Parfüm auf ihrer Haut riechen können. Wahrscheinlich würde sie nie wieder in so einem herrlich duftenden Bett schlafen.

Nachdem sie einmal so einen wunderbaren Schlafkomfort erlebt hat, kann sie sich nicht vorstellen, für ihr jetziges Zimmerchen irgendein Wegwerf-Möbel aus billiger Pressholzscheiße zu kaufen. Nein, das ist vollkommen abwegig. Selbst wenn es finanziell die einzig erschwingliche Option ist und es im Stadtteil Altona neuerdings sogar eine Innenstadt-Filiale des skandinavischen Elch-Ladens gibt, kommt ihr so etwas nicht ins Haus. Um dort einzukaufen, müsste sich Lea nicht einmal ein Auto leihen, sondern nur jemanden fragen, der ihr hilft, den auf Kleinstmaß verpackten Bettrahmen zur S-Bahn-Station Altona zu tragen. Dann einmal umsteigen in die U3 bis Mundsburg und noch 200 Meter bis zu ihrer Wohnung. Gut. Da kommen dann noch vier Stockwerke hinzu. Und falls sie sich zusätzlich für einen neuen Bettrost entschließen würde, bräuchte sie sogar zwei hilfsbereite Personen. Das wäre eindeutig die simpelste Lösung. Wenn Lea dafür gewisse Grundprinzipien aufgeben muss, kommen solche simplen Lösungen für sie schlichtweg nicht infrage. Dieses Prinzip möchte sie auch niemals aufgeben. Obwohl sie seit geraumer Zeit intensiv daran arbeitet, sich das Bewusstsein zu verschaffen, dass nicht nur ein Weg zum Ziel führt und dass man nicht immer nur den direkten Weg nehmen oder gar mit dem Kopf durch Wand gehen muss. Aber ein paar grundlegenden Positionen, von denen sie selbst glaubt, dass sie einfach zu ihr gehören, möchte sie durchaus treu bleiben. Den Standpunkt, was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, hat Lea noch nie nachvollziehen können. Solange sie denken kann. Das Angebot kann also noch so bequem und billig sein – im Knast oder in Billiglohn-Ländern gezimmerte Fertigmöbel wird es in Leas Wohnung nicht geben. Punkt.

Yannick dagegen scheint es keine Probleme bereitet zu haben, seine Ideale über Bord zu werfen. Lea stöhnt. Er schon wieder. Warum kann ihre innere Quasselstrippe nicht ein für alle Mal akzeptieren, dass sie daran nicht denken möchte? Was steckt dahinter? Versucht ihr Unterbewusstes etwa, anzudeuten, dass Lea in ihrem tiefsten Inneren, also ohne es zu wissen, noch immer eine erneute Kontaktaufnahme mit ihrem Ex anstrebt? Will es durch Penetranz und Hartnäckigkeit Leas Sinneswandel erzwingen? Spekuliert es darauf, dass sie sich der Schmetterlinge im Bauch erinnern wird, die sie bereits während ihrer ersten Begegnung gefühlt hat und ihm dann doch noch mal eine Chance gibt? Wider alle Vernunft?

Hals über Kopf hatte sie sich verliebt. So schnell, wie es ihr in ihrem ganzen Leben noch nicht widerfahren war. Als dann auch noch ein vollkommen unverkrampftes und spielerisches Verständnis im Bett hinzukam, war sie tatsächlich über Monate hinweg felsenfest davon überzeugt, dass ihre Gefühle zu diesem Mann niemals nachlassen würden. Was hätte ihr als überzeugter Umweltaktivistin Besseres passieren können, als auf einer Demo einen Gleichgesinnten zu treffen? Neben zahlreichen anderen Veranstaltern hatte auch Leas Bürgerinitiative zu einer Demo für den Rückkauf der Strom- und Gasversorgung durch den Stadtstaat Hamburg aufgerufen. Jedoch waren die Leute, mit denen sich Lea zur Auftaktkundgebung an der Moorweide hatte treffen wollen, aus unerfindlichen Gründen nicht an der verabredeten Stelle aufgetaucht. Nach ihrem Motto, die Schuld nicht immer anderen in die Schuhe zu schieben, betrachtete es Lea als naheliegend, dass sie die Beschreibung des Treffs wohl einfach falsch verstanden hatte. Zunächst aber war sie beim Versuch, ihre Leute zu finden, aufs Dach der Tanke gegenüber dem Dammtorbahnhof geklettert, um sich einen Überblick zu verschaffen. Sie konnte jedoch weit und breit kein bekanntes Gesicht entdecken. Sie war eben im Begriff, wieder vom Dach zu klettern, als einer aus ihrer Gruppe anrief und nachfragte, wo sie steckte. Wie sich herausstellte, befanden sich die anderen an der Spitze des Zuges bereits ein paar Hundert Meter weiter und waren schon bald am Gänsemarkt. Die Zahl der Demonstranten war erfreulich groß, und beim herrschenden Gedränge hatte Lea nicht die geringste Chance, bis zu ihnen vorzudringen. Trotz des offensichtlichen Erfolges dieser Demo fühlte sie für einen Moment erst einmal Frust. Sie hatte keine Lust, als Einzelperson in der Masse unterzugehen, und erwog tatsächlich, den Nachmittag doch anders zu nutzen und einfach nach Hause zu gehen. Aber das ging auch nicht. Wie sollte sie das Verlassen einer Demo mit ihrem Gewissen vereinbaren? Sie ließ den Gedanken schnell wieder fallen und nutzte den Aussichtspunkt, um die Menschenmasse doch noch einmal nach bekannten Gesichtern abzusuchen. Von den gängigen Spruchbändern ›Vattenfall enteignen‹ über ›eon – nein danke!‹ bis zu mehr oder weniger intelligenten, manchmal jedoch auch peinlichen Wortspielen, war alles vertreten. Schließlich blieb ihr Blick an einem – wie sie fand – originellen T-Shirt-Aufdruck hängen: Mok bannig de Energiewend klaar! Dieser Spruch gefiel ihr. Der Klang des Hamburger Missingsch ist einer der Gründe, die Lea dazu bewogen haben, diese Stadt in der Auswahlliste zur Wahlheimat auf Rang eins zu setzen. Diesen Zungenschlag hat sie von Anfang an gemocht. Manchmal hat sie das Gefühl, dass sie die dem Plattdeutschen entlehnten Ausdrücke und Floskeln fast süchtig aufsaugt wie ein trockener Schwamm, um sie in ihren eigenen Sprachschatz zu integrieren. Sie liebt den Klang und freut sich jedes Mal, wenn sie auf Marktverkäufer oder Barkassen-Kapitäne trifft, die das noch sprechen.

So sehr ihr der aufs T-Shirt gedruckte Spruch gefiel, so gewöhnungsbedürftig fand sie die Farbe. Neonpink! Ihre abgrundtiefe Antipathie gegenüber Pink gehört zu jenen Altlasten, an denen Lea, was ihre Toleranzschwelle anging, noch arbeiten möchte. Deshalb versuchte sie auch in diesem Moment, sich einzureden, dass Pink eine Farbe war wie jede andere auch. Sie sagte sich, dass Pink, wenn man sich Mühe gab, es objektiv zu betrachten, weder positiv noch negativ belastet war. Wer’s also tragen kann …

Sie betrachtete den Träger genauer und stellte fest, dass er gut aussah. Er machte sogar richtig was her und passte exakt in Leas Beuteschema. Noch während sie sich fragte, ob er nicht nur mit dem Spruch auf seiner breiten Brust ein Statement abgeben, sondern als Mann, der Pink trägt, eventuell noch eine weitere Aussage treffen wollte, blickte er hinauf zum Flachdach der Tanke. Er stutzte, als würde er sie kennen, hob die Hand und winkte ihr zu. Um sich zu vergewissern, dass er nicht jemandem hinter ihr zuwinkte, drehte sie sich um. Nein, er meinte zweifellos sie. Offenbar stellte das pinkfarbene T-Shirt doch keine Botschaft sexueller Orientierung dar, sondern war lediglich eine exotische Geschmacksverirrung. Wer mit offenen Augen durchs Leben ging, war ständig mit so was konfrontiert. Nachdem sie ohne nachzudenken zurückgewinkt hatte, imitierte er ihr Verhalten, drehte sich um, als könnte sie jemanden hinter ihm gemeint haben. Lea schüttelte lachend den Kopf. Der Typ schien Humor zu haben. Er wandte sich an die Leute, mit denen er offenbar hier war, verabschiedete sich von jedem einzelnen mit High Five, um sich dann von ihnen zu lösen und mit strahlendem Lächeln auf Lea zuzuschreiten. Ganz großes Kino. Sie hatte das Gefühl, das ganze Geschehen von außen zu beobachten.

Nachdem er über dieselbe Mülltonne, die sie vor wenigen Minuten benutzt hatte, um aufs Dach zu kommen, nach oben geklettert war, wischte er sich die Hände an seinen Jeans sauber und hielt ihr überraschend förmlich seine Rechte entgegen. »Yannick.«

»Lea.« Sie mochte seine Augen. Vom ersten Moment an. Sie strahlten eine selbstverständliche Fröhlichkeit aus. So was gefiel ihr.

»Bist du alleine hier?«

Seine Frage absichtlich missverstehend, zeigte sie mit einer schwungvollen Bewegung über die Masse der Demonstranten. »Das kann man jetzt nicht wirklich behaupten?« Er lachte. »Hab meine Leute verpasst. Sind irgendwie schon vorne am Gänsemarkt.«

»Begleitung gefällig?«, fragte er und senkte den Blick nun doch für einen Moment verlegen Richtung Flachdach.

Die Antwort hinauszögernd, betrachtete sie noch einmal sein T-Shirt, schüttelte kaum sichtbar den Kopf.

»Was?«

Lea legte die Stirn in Falten. »Wieso Pink?«

Er grinste. »Mit der Frage musste ich rechnen, klar.« Lachend breitete er die Arme aus, drehte sich um die eigene Achse. »Ist doch ein echter Hinkucker! Schließlich sollen die Leute ja lesen, was hier draufsteht.« Er fuhr mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die plattdeutsche Botschaft. Als sie darauf nichts mehr sagte, reichte er ihr die Hand. »Gehen wir?«

Sie fasste zu, ließ sich von ihm an den Rand des Flachdachs führen und schaute fasziniert zu, mit welch eleganter Sicherheit er hinabkletterte. Von unten signalisierte er ihr mit erhobenen Händen seine Bereitschaft, sie aufzufangen. Kurz entschlossen setzte sie sich auf die Kante, stieß sich ab und landete sicher in seinen Armen.

So hatte es damals angefangen. Es folgte ein wunderbarer Restsommer und ebenso schöner Herbst, an dessen Ende sie mit fliegenden Fahnen seine Einladung annahm, bei ihm einzuziehen. Mit einem Mal bekam sie aufgrund der plötzlichen Alltagsnähe viel mehr von ihm mit als während der Zeit, in der sie noch in getrennten Wohnungen lebten. Zuvor verborgen gebliebene Eigenheiten, bei denen es sich im Grunde nur um Kleinigkeiten handelte, wirkten auf ihre Beziehung alsbald wie ein Gift, das bei geringer Dosierung keinerlei Schaden anzurichten vermag. Häuft es sich jedoch an und lagert sich ein, ist es ab einer vorher nicht absehbaren Menge nicht mehr zu verarbeiten. Wenn man so will, ist Leas Einzug in Yannicks Altonaer Fabriketage der Anfang eines sich unbemerkt anschleichenden Endes gewesen.

Leas Smartphone vibriert. Irgendwo. Dass sie den Klingelton vor dem Zubettgehen auf stumm geschaltet hat, erleichtert auch jetzt das Auffinden nicht. Endlich kann sie das Geräusch auf der Seite der Matratze lokalisieren, auf der sie ihr Telefon bis zu diesem Moment ganz sicher nicht vermutet hatte. Wer ruft so früh an? Sie schaut aufs Display. Yannick? Nun scheint Leas Unterbewusstsein auch noch telepathische Fähigkeit entwickelt zu haben. Sie nimmt das Gespräch entgegen. »Ja?«

Ehe er antwortet, atmet er zunächst ein paar Mal tief durch. Als müsste er Mut fassen, mit ihr zu reden. »Hanno ist tot.«

Sie richtet sich auf, lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. »WAS? Wann? Wie jetzt? Was ist passiert?«

Er wirkt verstört. »Die Polizei war gerade bei mir. Weil Hanno bei mir gemeldet ist. Du weißt ja, dass er und Vanessa sich getrennt haben und er auch ausgezogen ist. Und diese kleine Wohnung, die er sich genommen hat, war so teuer, dass er sie nicht halten konnte.«

Obwohl Leas Auszug bei Yannick ganz und gar nichts mit der Trennung des anderen Pärchens zu tun hat, bezieht sich das unterschwellig Vorwurfsvolle auch eindeutig auf Lea. »Und wieso war die Polizei nicht erst bei Vanessa? Die sind schließlich noch verheiratet, oder? Was wollten die von dir?«

»Keine Ahnung. Vermutlich stinknormale Routine. Sie werden die Meldeadresse in Hannos Perso gefunden haben und sind deshalb zu allererst hier aufgeprallt.«

»Und was ist passiert? Unfall?«

Als kämpfe er gegen die Tränen an, atmet er erneut deutlich wahrnehmbar durch. Schließlich flüstert er so leise, dass Lea Mühe hat, ihn zu verstehen, ins Telefon: »Selbstmord. Er hat sich umgebracht. – Heute Nacht. Auf dem Hauptfriedhof.«

»Nachts? In Ohlsdorf? Wie kam er denn da rein?«, fragt Lea, die es immer wieder ärgert, dass man den parkähnlichen Friedhof bei Nacht nicht einmal mit dem Fahrrad durchqueren darf. Schon oft ist sie deshalb kilometerlange Umwege gefahren.

»Nein, nicht in Ohlsdorf. Hier in Altona. Hauptfriedhof Altona. Der ist allerdings nachts genauso geschlossen. Wenn man es drauf anlegt und sich ein wenig auskennt, kommt man dort aber problemlos rein.«

Lange Zeit wissen beide nicht, was sie sagen sollen, und hören einander beim Schweigen zu. Mit angezogenen Knien lehnt Lea mit dem Rücken an der kühlen Wand. Sie zieht die Bettdecke heran, legt sie um ihre Schultern, um sich einzuwickeln. Sie fröstelt, obwohl es sommerlich warm ist. Das Telefon verbreitet nichts als Stille. Unsicher, ob Yannick noch dran ist, blickt Lea aufs Display. Der kleine grüne Telefonhörer lässt darauf schließen, dass die Leitung noch steht. Als ihre Beziehung noch intakt und am Leben war, hatte sie Schweigen niemals als Problem empfunden. Im Gegenteil. Gerade mit Yannick zusammen hatte sie ausgezeichnet stumm sein können. Sogar stundenlang. Ab und an mal ein kurzer Blickkontakt, ein aufmunterndes Lächeln, gegenseitiges Zublinzeln. Zu ihren besten Zeiten bedurfte es keiner vielen Worte. Sie begnügten sich damit, einander nah zu sein. Lea machte ihr Ding, Yannick das seine. Kein Problem.

Auch in diesem Moment wäre Schweigen kein Problem, stünde nicht Hannos plötzlicher Tod im Raum. Lea schüttelte den Kopf. Yannicks Kollege und langjähriger Freund soll sich umgebracht haben? Wie kann das sein? Endlich findet sie ihre Sprache wieder. »Wie hat er sich …?« Sie lässt die Frage unvollendet ausklingen.

Als müsste er sich erst sammeln, lässt er sich mit der Antwort erneut Zeit. »Keine Ahnung. Das hab ich die Bullen auch gefragt. Aber die sagen einem ja nichts. Von wegen laufender Ermittlungen und so«, redet Yannick schließlich los. »Nur, dass er scheinbar Selbstmord …« Mitten im Satz verliert er die Fassung. Durchs Telefon ist nur noch sein hemmungsloses Schluchzen und Weinen zu hören.

»Schschsch«, macht Lea sanft, um ihn aus der Ferne zu beruhigen und zu trösten. Mittlerweile rollen auch ihr die Tränen über die Wangen. Allerdings weniger aus Trauer um Hanno. Nein, so tragisch sein Tod sein mag, sie ist nie so richtig mit ihm warm geworden. Lea heult vor allem, weil sie Yannicks haltloses Weinen kaum ertragen kann. »Schschsch.«

»Wieso hat er das gemacht?«, stößt er schluchzend hervor. Mit jeder Frage, mit jedem Satz wird Yannick lauter. »Wir hätten doch eine Lösung gefunden? Wir haben es doch immer geschafft. Wieso gibt er jetzt einfach auf? Das passt doch gar nicht zu ihm!«

Da er den letzten Satz beinahe schreit, hält Lea das Telefon auf Armlänge vom Ohr weg. So laut, wie er seinem Frust versucht, Luft zu verschaffen, versteht sie aber dennoch alles. Sie nickt. Sich umzubringen, passt wirklich nicht zu Harro. Auch wenn er mit Sicherheit der melancholischste der drei befreundeten Landschaftsgärtner gewesen ist und seine trübsinnigen Phasen bisweilen nicht hat verbergen können. Die meiste Zeit dazwischen hat er jedoch immer auf der heiteren Seite des Lebens verbracht. Wahrscheinlich lässt sich die permanent prekäre Finanzlage des Landschaftspflege-Betriebs von Yannick, Hanno und Boris, dem Dritten im Bunde, sogar durch Hannos Unbeschwertheit begründen. Er ist immer derjenige gewesen, der die bedrohlich anschwellende Schuldenlast verharmlost und auf die leichte Schulter genommen hat. Wie oft hat er die anderen im Lauf ihrer ständig wiederkehrenden Krisengespräche beschwichtigt? Er hat dann immer einen auf Udo Lindenberg gemacht, und mit rauer Stimme genuschelt: »He, Leute, nu mal keine Panik auf der Andrea Doria.« Und dann hat er fast jedes Mal behauptet, etwas an der Angel zu haben, und sie sollten sich keine Sorgen machen.

Yannick hat Lea in keiner Phase ihres Zusammenseins verschwiegen, dass die Geschäfte des Gärtnertrios nicht gerade üppig liefen. Allerdings ist ihr nie so richtig bewusst gewesen, wie dramatisch sich die finanzielle Situation in Wirklichkeit darstellte. Das bekam Lea erst ganz allmählich mit, nachdem sie bei ihm eingezogen war. Plötzlich erlebte sie die Diskussionen der drei Partner live, und ihr wurde mehr und mehr bewusst, in welch schwieriger Lage sie sich befanden. Zuvor hatte sie nie wahrgenommen, dass sich der gemeinschaftlich geführte Gartenbaubetrieb permanent am Rand der Pleite bewegte. Und was Hanno mit seinen Behauptungen, er hätte da was an der Angel, wirklich meinte, begriff Lea erst, als sie eines Nachts unabsichtlich mit anhörte, dass ein Immobilienbesitzer den dreien eine fünfstellige Summe geboten hatte, wenn sie ihm in einer Nacht- und Nebelaktion eines seiner Grundstücke von einer Gruppe von Bäumen befreiten. Obwohl die Bäume bei Sturm eine Gefährdung der Allgemeinheit darstellten, hatte der Typ behauptet, hätten ihm die Idioten von der Behörde keine Genehmigung für die Fällung erteilt.

Lea hatte die Diskussion um diese illegale Fällung rein zufällig mitbekommen. Sie hatte sich längst zum Lesen aufs Bett gelegt, als sich Yannick, Hanno und Boris am Küchentresen heiß redeten und beim Austausch der Argumente immer lauter wurden. Die Gipskartonwände der umgebauten Fabriketage waren so dünn, dass es sich für Lea anhörte, als drohte die hitzige Debatte zu eskalieren. Sie hatte gar keine Chance gehabt, das Gespräch nicht zu verfolgen. Für eine überzeugte Umweltaktivistin, die sie nun einmal ist, schien es ihr vollkommen inakzeptabel, dass zertifizierte Landschaftsgärtner illegale Baumfällungen vornehmen könnten. Also warf sie sich irgendwann ihren Bademantel über, um sich an dieser skurrilen Diskussion zu beteiligen. Allein, dass Yannick und seine Kompagnons über so eine illegale Fällung redeten, war für sie vollkommen absurd. Dass sie zumindest erwogen, diese unter Umständen tatsächlich durchzuführen, um ihren Betrieb zu sanieren, konnte sie nicht unkommentiert lassen.

In ihr hitziges Wortgefecht verwickelt, schienen die drei Lea zunächst nicht einmal zu bemerken. Erst als sie sich einmischte, um sie zur Rede zu stellen, nahmen sie ihre Anwesenheit zur Kenntnis und reagierten mit betretenem Schweigen. Mit genervten Mienen starrten sie auf den Tisch. Schließlich blickte Hanno herausfordernd auf Yannick. Auch Boris schien eine Reaktion von Leas Freund zu erwarten.

»Was?«, schnauzte Yannick.

»Erklär’s ihr«, antwortete Hanno.

Yannick verdrehte die Augen, schlug, während er aufstand, wütend mit der Faust auf den Tisch und verließ wortlos den Raum.

Lea stützte sich mit den Händen auf die Platte. »Was gibt’s denn da noch zu erklären?«, schnauzte sie die beiden verbliebenen Partner an. »Wenn ihr geschützte Bäume fällt, um so einem Geldsack illegale Drecksgeschäfte zu ermöglichen, um dann auch noch am Finanzamt vorbei Schwarzkohle von ihm zu kassieren, gibt’s ja wohl nichts mehr zu erklären!« Wobei Lea die bei Schwarzarbeit gesparten Steuern am allerwenigsten störten. »Geht’s noch bei euch? Vorn herum spielt ihr die Idealisten, stellt euch in eurem Scheißflyer, den ich euch auch noch designed habe, als überzeugte Naturschützer dar, um dann hintenrum illegal halbe Wälder zu roden?« Lea blickte zwischen den beiden hin und her. Sie starrten weiter auf die Tischplatte. Wie zwei Schuljungen, die vom Hausmeister bei einer Missetat erwischt worden waren. Lea raufte sich aufgebracht die Haare. »Und das erste Mal scheint das ja wohl auch nicht zu sein. Wie oft habt ihr so was eigentlich schon gemacht?«

Boris zog die Mundwinkel breit. Hanno schloss genervt die Augen.

Für Lea war ihr Mienenspiel ebenso eindeutig wie ein wortreiches Geständnis. »Ich hab also recht?«

Boris hob den Kopf, zuckte mit den Schultern. »Bist du jetzt zu den Bullen übergelaufen? Ist das ’n Verhör?« Er hatte sich tatsächlich so weit im Griff, um Lea in normaler Lautstärke anzusprechen. Boris war der besonnenste und ruhigste von den dreien. »Du hast absolut keinen Schimmer, was hier abgeht, Lea. Wir drehen seit Jahren am Rad. Das Wasser steht uns bis hier.« Er legte die flache Hand gegen seinen Nasenrücken. Für Boris’ in der Regel sehr knappe Art war dies eine Rede gewesen. Er erhob sich vom Tisch, setzte das abgetragene St.Pauli-Basecap, das er sommers wie winters trug, ehe er auch nur einen Fuß vor die Haustür setzte, auf sein kurz geschorenes Haupt, ging gemäßigten Schrittes zur metallenen Feuerschutztür, ein Überbleibsel aus der früheren Nutzung des Gebäudes. Indem er die schwere Tür nicht wuchtig ins Schloss knallte, sondern nahezu geräuschlos hinter sich zumachte, legte er einen durchaus starken Abgang hin.

Hanno, der am Tisch sitzen geblieben war, leerte das letzte Drittel seines Bier in einem Zug.

»Und?«, insistierte Lea. »Kannst du mir erklären, wie ihr auf so einen Schwachsinn kommt?«

Er erhob sich so ruckartig vom Stuhl, dass dieser nach hinten kippte, und hielt ihr den Zeigefinger vors Gesicht. »Schwachsinn? Für dich ist es also Schwachsinn, wenn wir unseren Betrieb retten wollen? Ich hab’ keinen Bock, mich vor dir zu rechtfertigen, bloß weil Yannick dich vögelt. Halte dich also verdammt noch mal raus!« Er wandte sich ebenfalls zum Gehen und krönte seine theatralische Nummer, indem er die Tür mit sattem Knall hinter sich zuschlug.

Lea ließ sich auf einen der freien Stühle sinken, versuchte, zu begreifen, was das alles zu bedeuten hatte. Natürlich war ihr die prekäre Lage der drei Gartenbauer nicht verborgen geblieben. Schon seit ewigen Zeiten mussten sie jeden Cent, den sie zur Anschaffung von Material oder Werkzeug ausgeben wollten, zweimal umdrehen. Deshalb war Yannick nach Leas Einzug auch froh gewesen, dass sie Miete bezahlte und sich seine Alltagskosten auf diese Weise deutlich reduzierten. Er hatte durchaus auch schon vorher von ihren Finanzproblemen berichtet. Eher beiläufig, am Rande. Dass die drei dermaßen dicht am Rand der Insolvenz balancierten, hatte sich für Lea daraus nicht erschlossen.

Auch war sie bis zu diesem Abend der festen Überzeugung gewesen, dass Yannick und seine beiden Partner lupenreine und durchaus idealistische Naturfreunde waren, die alles daransetzten, in einer Großstadt wie Hamburg so viel Grün wie möglich zu erhalten. Und das sollte jetzt alles nicht mehr stimmen? Lea fragte sich sofort, wie groß der Schwarzanteil ihrer Einnahmen sein mochte. Handelte es sich beim soeben besprochenen Projekt um eine Ausnahme? Oder verkauften sich die drei regelmäßig an Immobilienhaie und prostituierten sich mit zwielichtigen Geschäftsleuten, denen der Erhalt der Natur am Arsch vorbeiging? Während Lea versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, blickte sie immer wieder zur Tür ihres gemeinsamen Schlafzimmers. Sie hatte sich noch einmal an den Tisch gesetzt, weil sie geglaubt hatte, Yannick würde wieder rauskommen, nachdem er gehört hatte, dass die anderen weg waren. Sie hatte gehofft, nein, sie hatte erwartet, dass er wenigstens versuchen würde, ihr zu erläutern, was sich gerade abspielte und ihr ein paar Hintergründe erzählen. Er ließ sich jedoch nicht mehr blicken. Nachdem sie sich aufgerafft hatte, die leeren Flaschen und Gläser vom Tisch zu räumen, und die Lichter gelöscht, fand sie ihn schlafend im Bett. Die personifizierte Unschuld. Sie schlich zu ihrer Seite des Betts, nahm ihr Kopfkissen und ihre Decke und legte sich aufs Sofa. Am nächsten Morgen hatten sie die erste wirklich heftige Auseinandersetzung ihrer Beziehung.

Ungefähr ein Jahr und zahlreiche unvermeidbare Einblicke in zumindest halblegale Machenschaften und fast ebenso viele daraus resultierende Streitsituationen später, hatte Lea schließlich die Konsequenzen gezogen und sich nach einer neuen Bleibe umgesehen. Sie war es einfach leid, vom uneinsichtigen Yannick als selbst ernannte Schutzheilige der Bäume beschimpft zu werden, um ihn selbst dann in simpler Revanche wiederkehrend als Baumkiller zu bezeichnen. Sie wollte sich den fortschreitenden Verlust seiner Ideale und den schleichenden Prozess der Abstumpfung nicht mehr länger mit ansehen. Nie mehr wollte sie sich die fadenscheinigen Rechtfertigungen anhören und sich der Moralapostelei bezichtigen lassen. Viel zu oft waren Yannick und sie inzwischen aneinandergeraten. Sie hatten sich festgeredet. Schon allein, um sich ihre Vision zu erhalten, man könne auch in dieser Welt ein aufrechtes Leben führen, ohne ständig alle Ideale über Bord werfen zu müssen, sah sie sich gezwungen, die Konsequenzen zu ziehen. Sie wollte es nicht länger ertragen, dass Yannick, beeinflusst von seinen beiden Partnern, diese Vision mit Füßen trat. Die drei verrieten mit ihren illegalen Arbeiten sämtliche Ideale, mit denen sie einst selbst einmal angetreten waren. Selbst wenn Yannick mit seiner Behauptung recht haben sollte, dass man einen Gartenbaubetrieb heutzutage nicht am Laufen halten könne, ohne sich die Finger schmutzig zu machen, wollte Lea nicht verstehen, weshalb er sich das nicht eingestand. Wenn es ihm tatsächlich so ein wichtiges Anliegen war, weshalb machte er dann nicht einfach etwas vollkommen anderes?

Noch immer sitzen Lea und Yannick, jeweils mit Telefon am Ohr, in zwei Wohnungen und wissen nicht, was sie sagen sollen.

»Weißt du schon, was du jetzt machst?«, fragt Lea schließlich.

Yannick versteht nicht, worauf sie hinaus will. »Wie?«

»Was hast du vor? Gehst du zur Arbeit heute?«

»Weiß nicht. Hab noch nicht mit Boris gesprochen.«

»Weiß er schon Bescheid?«

Yannick lässt sich Zeit mit der Antwort. Als müsste er erst überlegen, auf welchem Weg Boris informiert worden sein könnte. »Keine Ahnung. Vermutlich noch nicht.«

»Und dann? Macht ihr zu zweit einfach weiter?«

»Was machen wir zu zweit weiter?«

»Na ja, euren Betrieb eben. Oder ist das gar nicht zu schaffen und müsst ihr euch einen neuen Kompagnon suchen?«

»Woher soll ich das denn jetzt alles schon wissen?«, fragt Yannick in scharfem Ton zurück.

»He, ich will dich nicht ärgern. Ich mein doch nur. So viel Zeit werdet ihr vermutlich nicht haben, um euch für irgendwas zu entscheiden.«

»Sorry«, antwortet Yannick versöhnlich. »Tut mir leid. Bin total von der Rolle. – Und ich weiß es einfach noch nicht. Heute werden wir sowieso kaum was machen können. Wir haben ja nicht mal unseren Pritschenwagen. Hanno hatte ihn gestern Abend mitgenommen, um für irgendwelche Freunde was zu transportieren.«

Lea weiß, was das bedeutete. »Mit all eurem Werkzeug?«, fragt sie trotzdem.

Ohne ihn sehen zu können, hat Lea vor Augen, wie er bei den folgenden Worten bestätigend nicken würde. »Der Großteil unserer Ausrüstung steht gut bewacht bei der Polizei auf dem Hof. Die wollen das Fahrzeug auf Spuren untersuchen.«

»Was gibt es denn am Fahrzeug zu untersuchen, wenn sich einer umgebracht hat? Oder ist er mit Hundert gegen ’ne Wand gefahren?«

»Mit dem Wagen ist alles in Ordnung. Ich hab den Bullen dieselbe Frage gestellt. Sie meinten, bei einem Todesfall gehöre so eine Überprüfung zur Routine. Sie schauen sich das vom Opfer benutzte Fahrzeug scheinbar immer genauer an. Auch bei – Suizid.« Er räuspert sich, ohne das Telefon zur Seite zu halten. Lea hat das Gefühl, ihr Trommelfell würde platzen. Als Yannick gleich darauf auch noch unfein die Nase hochzieht, hält sie ihr Smartphone angewidert von sich. Die Situation zu kommentieren, spart sie sich trotzdem. Schließlich hat seine Heulerei jede Menge Emotionen und wohl auch Körperflüssigkeiten in Gang gesetzt. »Wieso bringt sich der Arsch gerade jetzt um?«, fragt er kaum hörbar. »Wo wir tatsächlich mal einen fetten Fisch an der Angel haben?«

Lea atmet tief durch. »Nicht schon wieder was Krummes, oder?« Sie sorgt sich noch immer um ihn.

»Ach was, ganz im Gegenteil«, entgegnet er trotzig.

»Es geht also gerade aufwärts bei euch?«

»Dass wir uns für die Pflege der kranken Allee-Kastanien beworben haben, hast du doch noch mitbekommen, oder?«, fragt er wieder halbwegs gefasst.

»Die Sache mit der Miniermotte?«

»Hey, du scheinst ja tatsächlich zugehört zu haben. Vor ein paar Tagen haben wir den Zuschlag bekommen. Ab sofort haben wir uns um eine stattliche Zahl kranker Bäume zu kümmern. Das ist zwar nicht die Welt und zunächst auf drei Jahre begrenzt, aber das gibt uns endlich mal eine gewisse Basis, von der aus sich weiter planen lässt.«

Lea freut sich für Yannick. Wenn jemand ein Erfolgserlebnis verdient, ist es er. Dass er nicht rackern würde wie ein Bekloppter, kann man wahrlich nicht behaupten. Eine seiner durchaus vorhandenen positiven Seiten. Wenn diese illegalen Dinger nicht gewesen wären – die waren Lea mächtig gegen den Strich gegangen. »Gratuliere. Klingt gut«, sagt sie aufmunternd. »Weißt du schon, wann ihr eure normale Arbeit wieder aufnehmen könnt? Haben sie gesagt, wann sie mit diesen«, obwohl er es nicht sehen kann, zeichnet sie mit der freien Hand Anführungszeichen in die Luft, »Routineuntersuchungen fertig sind und ihr euren Transporter wiederbekommt?«

»Im Lauf der nächsten Woche. Die zwei Bullen haben sich absolut vage gehalten. Wollten nichts Verbindliches versprechen. Aber wir haben ja noch den Kombi. Ein paar kleinere Aufträge können wir trotzdem erledigen. Mal sehen, wie Boris gleich drauf ist, wenn er’s erfährt.«

Dass Yannick noch nicht mit seinem Partner geredet hat, findet Lea seltsam. Aber wer behält in so einer Schocksituation schon klaren Kopf und macht immer alles richtig? »Du hast ihn nicht gleich angerufen?«

»Doch, natürlich. Noch vor dir. Bei ihm hab’ ich es zuallererst versucht. Aber es war nur Sanne dran. Boris war schon los. Und Sanne gegenüber hab ich es mir verkniffen, was zu sagen. Vorhin hätte ich ihr hysterisches Getue nicht ertragen. Kennst sie ja. Das soll ihr mal besser Boris beipulen. Wo der nur bleibt? Er müsste längst hier sein. Sanne hat gesagt, er wäre ganz normal aus dem Haus. Wie immer eben.«

»Wie wär’s mit Stau? Hamburg ist zurzeit ’ne einzige Baustelle.«

»Mhm. Möglich.«

»Und was ist mit Vanessa?«, fragt Lea. Hannos Noch-Ehefrau ist zwar diejenige gewesen, die die Trennung vorangetrieben hat, aber trotzdem dürfte ihr der Umstand, dass sie nun Witwe ist, nicht gleichgültig sein.

»Keine Ahnung, was soll mit ihr sein?«

»Ihr hast du auch noch nichts gesagt?«

»Ne, du. Lass mal stecken. Mich mit Vanessa auseinanderzusetzen, hab ich nun wirklich keinen Bock. Dafür haben die Bullen doch ihre Leute, oder?«

Auch in dieser Frage gibt es wieder mal zwei Seiten. Einerseits hatten die drei Kollegen auch über die Arbeit hinaus viel Zeit miteinander verbracht, und so kannte jeder auch die Frauen oder Freundinnen der anderen recht gut. Andererseits hat auch Lea Hannos Frau immer als recht kühl und distanziert empfunden. Dass Vanessa, die schon vor ein paar Jahren von ihren Eltern eine Wohnung in Altona geschenkt bekommen hatte, stets ein besseres Leben einforderte, hat beim recht labil wirkenden Hanno vielleicht sogar den Ehrgeiz befeuert, ihr mit halb oder vollkommen illegalen Aktionen materielle Dinge bieten zu können. Und schließlich ist sie, jedenfalls was Lea zuletzt noch mitbekommen hat, bis zum Ende Hannos Traumfrau gewesen. Da könnte man sie der Vergangenheit wegen auch schon mal selbst informieren.

»Lea, sag mal«, ergreift Yannick nach einer Schweigephase als Erster wieder das Wort, »du hast nicht zufällig Zeit heute?«

Sie zögert. Obwohl sie weiß, dass sie keine wichtigen Dinge auf dem Zettel hat. Ihre Termine sind im Augenblick recht überschaubar. Das wöchentliche Treffen ihrer Umweltaktionsgruppe fällt zum Beispiel schon mal aus heute. Ihren beruflichen Verpflichtungen kann sie ebenso gut im Lauf der nächsten Tage nachkommen. Was das anbelangt, hat sie als freie Webdesignerin ihre Spielräume. »Zeit wofür?«

Er atmet tief durch. »Ich könnte Beistand gebrauchen.«

»Wäre es nicht sinnvoller, du würdest dich mit Arbeit ablenken? Wenn du blaumachst, denkst du doch an nichts anderes mehr.«

»Weiß nicht. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass heute gar nichts geht. Falls Boris darauf besteht, bin ich natürlich dabei. Allerdings kann ich mir im Moment nicht vorstellen, dass etwas Gutes dabei rauskommt, wenn ich ’ne Säge in die Hand nehme.« Im Hintergrund schnarrt die Haustürklingel, die Yannick trotz ihres fiesen und viel zu lauten Tones noch immer nicht ausgetauscht hat, obwohl er beinahe bei jedem Klingeln vollmundig ankündigt, dass er das Scheißding jetzt aber wirklich bald rausschmeißen würde. »Das muss Boris sein. Moment mal eben, ich mach ihm nur schnell die Tür auf.«

»Yannick!«, ruft Lea, ehe er das Telefon zur Seite legen kann. Sie möchte nicht am Telefon warten, bis er sich mit Boris geeinigt hat, ob sie am heutigen Tag arbeiten wollen oder nicht. »Ruf einfach wieder an, wenn ihr euch geeinigt habt? Dann kann ich mal eben duschen.«

»Okay, mach ich. Und – danke erst mal.«

Ehe Lea mit einem hanseatisch gedehnten »Da nich’ füa!«, antworten kann, wird sie vom erneuten Schnarren der Klingel unterbrochen. »Oh Mann, verdammte Hacke, bin ja schon …« Yannick hat das Gespräch auf dem Weg zur Tür beendet.

Lea lehnt den Kopf an die Wand, lässt die Hand, in der sie das Telefon hält, auf die Bettdecke sinken. Hanno. Tot. Wie kann das sein? Im Moment erscheint es ihr noch immer unbegreiflich. Selbst wenn sie nie richtig mit ihm warm geworden ist – er war ihr einfach immer zu schwammig gewesen –, berührt sie die Nachricht seines Todes. Und dann auch noch Selbstmord? Das passte nun wirklich nicht zu Hanno. Sie schüttelt den Kopf. »Tss.« Wieso sollte Hanno sich umbringen? Er war viel zu opportunistisch gewesen, um sich das Leben zu nehmen, lavierte sich aus jeder Situation immer irgendwie heraus. Weshalb sollte sich so einer umbringen?

Yannicks erneuter Anruf reißt sie aus ihren Gedanken. Er teilt ihr mit, dass Boris ihn überredet hätte, den heutigen Tag doch lieber ganz normal zu arbeiten. »Vermutlich habt ihr beide recht. Wird wahrscheinlich das Beste sein, wenn wir uns auf diese Weise ablenken. Sonst fällt mir hier tatsächlich noch die Decke auf den Kopf.«

»Pass aber auf«, sagt Lea. »Säg dir nicht ins Bein.«

»Wird schon schiefgehen. Und – ähem – Lea?«

»Was?«

»Wie sieht es denn heute Abend aus? Hättest du vielleicht Zeit? Ich hab das Gefühl, dass ich allein …«

»Ist okay, ich komm vorbei. Wie lange macht ihr heute?«

»Spätestens um sechs will ich zu Hause sein. Wär das möglich?« Er hört sich so unglaublich hilflos an. Wie ein kleiner Junge, der nicht weiß, was er machen soll, nachdem ihm die großen Jungs sein Spielzeug weggenommen haben.

»Ich seh zu, dass ich um halb sieben bei dir bin. Sollen wir zusammen was kochen?« Yannick ist der einzige Mensch, mit dem Lea in der Küche klarkommt. Während ihres Zusammenlebens hat sich herausgestellt, dass sie einen ausgesprochen kompatiblen Kochrhythmus haben. Alle anderen, mit denen sich Lea wider besseren Wissens auf gemeinsame Essenszubereitungen eingelassen hat, haben entweder im Weg rumgestanden oder stundenlang über richtige oder falsche Zubereitungsformen diskutiert oder sie haben eine vollkommen andere Auffassung von Gewürzen gehabt. Und so richtig auf die Palme bringt es Lea, wenn sie mit jemandem in der Küche werkelt, und der oder die andere das Geschirr und das Besteck in der Spülmaschine verstaut, obwohl Lea es noch in Gebrauch hat. Mit Yannick war das alles kein Problem. Mit ihm war jedes gemeinsame Kochen ein harmonisches Ereignis gewesen.

»Sollen wir nicht lieber essen gehen? Ich weiß echt nicht, wann ich heute einkaufen soll.«