Be with Me - J. Lynn - E-Book

Be with Me E-Book

J. Lynn

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Beschreibung

Du bist bereit, alles zu riskieren. Aber bist du auch bereit, alles zu verlieren?  Teresa Hamilton wollte immer nur eines: Tänzerin werden. Doch als ihr großer Traum nach einer Verletzung plötzlich in weite Ferne rückt, ist es Zeit für Plan B: ein College-Abschluss. Kurz darauf trifft sie am Campus nicht nur ihren großen Bruder Cam, sondern auch dessen besten Freund Jase – der Teresa einst den unglaublichsten Kuss gegeben hat, den die Welt je gesehen hat. Danach hat er allerdings kein Wort mehr mit ihr gesprochen, und auch jetzt will er ganz offensichtlich nichts mit ihr zu tun haben. Nur warum brennt sich sein Blick dann noch immer so tief in ihr Herz?  Von J. Lynn bzw. Jennifer L. Armentrout liegen in der "Wait for You"-Saga vor: Wait for You (Band 1: Avery & Cam) Trust in Me (Band 2: Avery & Cam) Be with Me (Band 3: Teresa & Jase) Stay with Me (Band 4: Calla & Jax) Fall with Me (Band 5: Roxy & Reece) Forever with You (Band 6: Stephanie & Nick) Fire in You …

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96716-7

© 2013 by Jennifer L. Armentrout Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Be with Me«, William Morrow (ein Imprint von HarperCollinsPublishers), New York 2014 Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2014 Umschlaggestaltung: ZERO-Werbeagentur Umschlagabbildung: Finepic, München Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Kapitel  1    Anscheinend würde Eistee mein Tod sein.

Nicht, weil die Menge von Zucker darin einen Menschen schon nach einem Schluck ins diabetische Koma katapultieren konnte. Oder deswegen, weil mein Bruder fast einen dreifachen Auffahrunfall verursacht hatte, indem er mit seinem Pick-up einen scharfen U-Turn machte, nachdem er eine SMS bekommen hatte, in der nur ein Wort stand:

Eistee.

Nein. Die Bitte um Eistee sorgte dafür, dass ich Jase Winstead gegenübertreten musste – der Verkörperung jedes Kleinmädchentraums, den ich je gehabt hatte. Und das wäre das erste Mal, dass ich ihm abseits des Campus begegnete.

Und in der Gegenwart meines Bruders.

Oh du lieber Himmel, das würde peinlich.

Warum, oh warum nur, musste mein Bruder Jase eine SMS schicken, dass wir uns an seinem Ende der Stadt befanden, und ihn fragen, ob er etwas brauchte? Cam sollte mich eigentlich herumfahren, damit ich mir die Umgebung ansehen konnte. Obwohl die Umgebung, die mich jetzt erwartete, sicher um einiges besser war als das, was ich bisher von diesem Bezirk mitbekommen hatte.

Wenn ich noch einen einzigen Stripklub sah, würde ich jemandem wehtun.

Cam warf mir einen kurzen Blick zu, als wir die Straße entlangsausten. Wir hatten die Route 9 schon vor Ewigkeiten verlassen. Sein Blick senkte sich von meinem Gesicht zu dem Becher voll Eistee, den ich mit den Händen umklammerte. Dann zog er eine Augenbraue hoch. »Du weißt schon, Teresa, dass es ein Gimmick namens Becherhalter gibt.«

Ich schüttelte den Kopf. »Es ist okay. Ich halte ihn fest.«

»Okay.« Er zog das Wort in die Länge, konzentrierte sich aber wieder auf die Straße.

Ich stellte mich an wie ein Volltrottel und musste mich dringend abregen. Auf keinen Fall sollte Cam herausfinden, warum ich mich wie eine Streberin auf Crack benahm. »Also, ähm, ich dachte, Jase wohnt in der Nähe der Uni?«

Das klang beiläufig, oder? Oh Gott, ich war mir ziemlich sicher, dass meine Stimme sich irgendwann während dieser nicht ganz so unschuldigen Frage überschlagen hatte.

»Stimmt schon, aber er verbringt viel Zeit auf der Farm seiner Familie.« Cam bremste und bog scharf nach rechts ab. Fast wäre der Eistee aus dem Fenster geflogen, doch ich umklammerte den Becher mit aller Kraft. Er würde nirgendwo hingehen. »Du erinnerst dich an Jack, oder?«

Natürlich tat ich das. Jase hatte einen fünf Jahre alten Bruder namens Jack, und der kleine Junge bedeutete ihm die Welt. Ich speicherte fast schon fanatisch jedes Detail ab, das ich je über Jase erfahren hatte – so wie es Justin-Bieber-Fans wahrscheinlich mit ihrem Idol taten. So peinlich sich das auch anhörte, es stimmte. Jase war mir in den letzten Jahren – ohne dass er und der Rest der Welt es wussten – in vielerlei Hinsicht ans Herz gewachsen.

Als Freund.

Als der Retter meines Bruders.

Und als mein großer Schwarm.

Doch dann, vor einem Jahr, direkt am Anfang meines letzten Jahres auf der Highschool, als Jase Cam bei einem Besuch zu Hause begleitet hatte, war es sehr kompliziert geworden. Ein Teil von mir wollte nichts mehr, als diesen Abend einfach zu vergessen, doch der andere Teil von mir weigerte sich, die Erinnerungen daran, wie seine Lippen auf meinen gelegen hatten, gehen zu lassen; oder die Erinnerung an das Gefühl seiner Hände auf meinem Körper; oder an die Art, wie er meinen Namen gestöhnt hatte, als hätte ich ihm köstliche Schmerzen verursacht.

Oh Himmel …

Meine Wangen unter der Sonnenbrille fingen bei der lebhaften Erinnerung an zu brennen. Ich drehte den Kopf zum Fenster, halb in Versuchung, es herunterzukurbeln und meinen Kopf in den Fahrtwind zu halten. Ich musste mich wirklich dringend zusammenreißen. Wenn Cam jemals herausfand, dass Jase mich geküsst hatte, würde er ihn umbringen und seine Leiche auf einer abgelegenen Straße wie dieser verschwinden lassen.

Und das wäre eine verdammte Schande.

Mein Hirn war plötzlich vollkommen leer, und ich brauchte dringend eine Ablenkung. Die Feuchtigkeit am Becher und meine eigenen zitternden Hände machten es mir schwer, den Eistee festzuhalten. Ich hätte Cam nach Avery fragen können. Das hätte funktioniert, weil mein Bruder es liebte, über Avery zu reden. Ich hätte auch nach seinen Kursen fragen können oder wie das Training für das Testspiel bei United im Frühjahr lief. Doch stattdessen konnte ich nur daran denken, dass ich Jase gleich in einer Situation begegnen würde, in der er nicht vor mir weglaufen konnte.

Die dichten Bäume neben der Straße wurden weniger und gaben schließlich den Blick auf grüne Weiden frei. Cam bog auf eine schmale Straße ab, und der Truck holperte über die Schlaglöcher, bis mir leicht übel wurde.

Ich zog die Augenbrauen zusammen, als wir zwischen zwei braunen Pfosten hindurchfuhren. Ein Maschendrahtzaun lag auf dem Boden, und links von uns hing ein kleines hölzernes Schild mit der Aufschrift: WINSTEAD. PRIVATGRUND. Vor uns erstreckte sich ein weites Getreidefeld, doch die Stängel waren trocken und gelb, als ständen sie kurz davor, einfach zu verdorren und abzusterben. Ein Stück weiter weideten mehrere große Pferde hinter einem Holzzaun, bei dem an vielen Stellen der mittlere Balken fehlte. Links von uns wanderten fette, glücklich aussehende Kühe über eine grüne Wiese.

Als wir näher kamen, erblickte ich eine alte Scheune. Eine gruselige alte Scheune wie die in Texas Chainsaw Massacre, komplett mit diesem unheimlichen Wetterhahn-Kompass-Ding, das sich auf dem Dach drehte. Ein Stück neben der Scheune stand ein zweistöckiges Haus. Die weißen Wände wirkten eher grau, und selbst aus dem Auto heraus konnte ich sehen, dass mehr Farbe abgeblättert war, als noch an den Wänden hing. Mehrere Stellen auf dem Dach waren mit blauer Plane abgedeckt, und der Schornstein wirkte, als würde er jeden Moment in sich zusammensinken. Staubige rote Ziegel lagen aufgestapelt neben dem Haus, als habe jemand angefangen, den Schornstein zu reparieren, um dann gelangweilt aufzugeben. Außerdem erstreckte sich hinter dem Haus eine Art Autofriedhof – ein Meer aus verrosteten alten Trucks und Pkws.

Schockiert setzte ich mich höher auf. Das war Jase’ Farm? Aus irgendeinem Grund hatte ich mir etwas … Moderneres vorgestellt.

Cam stoppte den Truck ein paar Meter vor der Scheune und schaltete den Motor aus. Er sah kurz zu mir, dann folgte er meinem Blick zum Haus. Mit einem Seufzen schnallte er sich ab. »Seine Eltern hatten vor ein paar Jahren eine wirklich schwere Zeit. Sie kommen gerade erst wieder auf die Beine. Jase versucht, auf der Farm und beim Rest zu helfen, aber wie du sehen kannst …«

Diese Farm brauchte mehr Hilfe, als Jase geben konnte.

Ich blinzelte. »Es ist … charmant.«

Cam lachte. »Nett von dir.«

Ich umklammerte den Becher fester. »Ist es.«

»Hmmmm.« Cam drehte seine Baseballkappe, sodass sie seine Augen beschattete. Schwarze Locken standen unter dem hinteren Rand heraus.

Ich wollte etwas sagen, doch da lenkte mich eine Bewegung in meinem Augenwinkel ab.

Neben der Scheune schoss fröhlich kreischend ein kleiner Junge auf einem John-Deere-Spielzeugtraktor hervor. Mit absolut geraden Armen umklammerte er das Lenkrad. Lockige braune Haare glänzten in der grellen Augustsonne. Jase schob den Traktor von hinten an, und obwohl ich ihn kaum hören konnte, war ich mir sicher, dass er Motorgeräusche von sich gab. Zusammen holperten sie über den unebenen Boden. Jase lachte, als sein kleiner Bruder schrie: »Schneller! Schieb schneller!«

Jase tat seinem Bruder den Gefallen. Er schob den Traktor kreuz und quer über den Hof, um dann vor dem Truck anzuhalten, während Jack kreischend das Lenkrad umklammerte. Staubwolken stiegen in die Luft.

Und dann richtete Jase sich auf.

Oh wow.

Mir fiel die Kinnlade nach unten. Nichts in der ganzen weiten Welt hätte mich dazu bringen können, meinen Blick von der Herrlichkeit vor mir abzuwenden.

Jase trug kein Hemd, und seine Haut glänzte vor Schweiß. Ich war mir nicht sicher, welchem Volk seine Vorfahren angehört hatten. Sie mussten aus Mexiko oder dem Mittelmeerraum gekommen sein, denn er hatte eine natürliche Bräune, die auch im Winter nicht verblasste.

Während er um den Traktor herumging, bewegten sich seine Muskeln auf faszinierende Weise – sie kräuselten und spannten sich. Seine Brustmuskeln waren perfekt ausgebildet und seine Schultern breit. Er hatte die Art von Muskulatur, die man entwickelte, wenn man regelmäßig Heuballen hob. Der Junge war echt durchtrainiert. Seine Bauchmuskeln spannten sich bei jedem Schritt an und bildeten das perfekte Waschbrett. Das förmlich nach Berührung schrie. Seine Jeans hingen fast schon unanständig tief auf seiner Hüfte – tief genug, dass ich mich fragte, ob er überhaupt noch etwas unter dem verblassten Stoff trug.

Es war das allererste Mal, dass ich seine Tätowierung im Ganzen sah. Seitdem ich ihn kannte, hatte ich immer mal wieder kurze Blicke auf das Tattoo erhascht: unter seinem Kragen auf der linken Schulter oder unter einem Ärmel. Doch bis jetzt hatte ich nicht mal gewusst, was es wirklich darstellte.

Die Tätowierung war riesig – ein keltischer Knoten in Schwarz, der an seinem Nacken anfing, um sich dann in Kurven und Windungen über seine linke Schulter und den halben Arm hinunterzuziehen. Ganz unten lief es in zwei Schleifen aus, die mich an aufgerichtete Schlangen erinnerten, die sich ansahen.

Es passte perfekt zu ihm.

Röte breitete sich auf meinem Gesicht und über meinen Hals aus, als ich meinen Blick wieder nach oben lenkte. Mein Mund war trocken wie die Wüste.

Die sehnigen Muskeln seiner Arme spannten sich an, als Jase Jack vom Fahrersitz hob und hoch über seinen Kopf hielt. Er wirbelte den kleinen Jungen im Kreis herum und lachte tief, während Jack schrie und zappelte.

Eierstockexplosion.

Jase stellte Jack auf den Boden, als Cam die Fahrertür öffnete und ihm etwas zurief. Doch ich hatte keine Ahnung, was er sagte. Jase richtete sich wieder auf und stemmte die Hände in die Hüften. Er kniff die Augen zusammen und sah Richtung Truck.

Jase war absolut atemberaubend. Das konnte man im realen Leben nicht über viele Leute sagen. Vielleicht über Prominente und Rockstars. Doch selten war jemand so attraktiv wie er.

Seine Haare bildeten ein wirres Meer aus rostbraunen Locken, die ihm ins Gesicht fielen. Seine Wangenknochen waren breit und markant, seine vollen Lippen ausdrucksstark. Ein leichter Bartschatten glänzte auf der faszinierenden Kurve seines Kinns. Er hatte keine Grübchen wie Cam oder ich, doch wenn er lächelte, war es eines der breitesten, schönsten Lächeln, die ich je an einem Mann gesehen hatte.

Im Moment lächelte er nicht.

Oh nein, er starrte nur mit schiefgelegtem Kopf zum Truck.

Mein Mund war so trocken, dass ich einen Schluck von dem süßen Eistee nahm, während ich durch die Windschutzscheibe starrte, vollkommen fasziniert von dem Babypotenzial vor mir. Nicht, dass ich vorhatte, Babys zu bekommen, aber ich hätte nichts gegen ein paar Trainingsläufe einzuwenden gehabt.

Cam zog eine Grimasse. »Hey, das ist sein Eistee.«

»Tut mir leid.« Ich wurde rot und ließ den Becher sinken. Nicht, dass es eine Rolle spielte. War ja nicht so, als hätten Jase und ich nicht schon Spucke getauscht.

Auf der anderen Seite der Windschutzscheibe formte Jase mit den Lippen das Wort Scheiße und fuchtelte herum. Wollte er weglaufen? Wie konnte er es wagen! Ich hatte seinen Eistee!

Eilig öffnete ich meinen Gurt und stieß die Tür auf. Mein Fuß rutschte aus meinem Flip-Flop, und nachdem Cam sich ja unbedingt einen hinterwäldlerischen Pick-up-Truck hatte anschaffen müssen, der unglaublich hoch war, hing ich jetzt plötzlich einen guten halben Meter über dem Boden in der Luft.

Ich war einmal anmutig gewesen. Zur Hölle, ich war immer noch Tänzerin – eine trainierte, verdammt gute Tänzerin, mit der Art von Gleichgewicht, die eine Turnerin vor Neid erblassen ließ. Doch das war vor dem Riss des vorderen Kreuzbandes gewesen. Vor diesem schicksalshaften Sprung, der meine Hoffnungen, eine Berufstänzerin zu werden, auf Eis gelegt hatte. Alles – meine Träume, meine Ziele und meine Zukunft – standen im Moment still, als habe Gott auf der Fernbedienung meines Lebens die Pausetaste gedrückt.

Und in ungefähr einer Sekunde würde ich Dreck fressen.

Ich streckte die Hand aus, um nach der Tür zu greifen, doch meine Finger fanden nur Luft. Der Fuß, der als Erstes auf den Boden treffen würde, war mit meinem kaputten Bein verbunden, das mein Gewicht nicht halten konnte. Ich würde vor Jase auf den Boden knallen und mir dabei seinen Eistee über den Kopf schütten.

Ich begann zu fallen und hoffte nur, auf dem Gesicht zu landen, weil ich dann wenigstens Jase’ Miene nicht sehen musste.

Aus dem Nichts heraus schossen zwei Hände nach vorne und griffen nach meinen Schultern. In der einen Sekunde hing ich horizontal halb aus dem Truck, in der nächsten befand ich mich wieder in der Vertikalen. Meine Füße baumelten einen Moment lang in der Luft, dann stand ich wieder, den Becher mit Eistee an meine Brust gedrückt.

»Guter Gott, du brichst dir noch den Hals«, rumpelte eine tiefe Stimme, die dafür sorgte, dass sich mir alle Nackenhaare aufstellten. »Geht es dir gut?«

Mir ging es mehr als gut. Ich legte den Kopf in den Nacken. Ich stand direkt vor dem perfektesten Oberkörper, den ich je gesehen hatte. Fasziniert beobachtete ich, wie ein Tropfen Schweiß über die Mitte seiner Brust und dann über diese tollen Bauchmuskeln lief, um schließlich in den feinen Haaren zu verschwinden, die eine Linie über seinen Bauchnabel bildeten. Diese Haare zogen sich noch weiter nach unten, um schließlich unter dem Saum seiner Jeans zu verschwinden.

Cam eilte um die Motorhaube des Trucks herum. »Hast du dir das Bein verletzt, Teresa?«

Ich war Jase seit einem Jahr nicht mehr so nahe gewesen, und er roch wundervoll – nach Mann und einem Hauch von Rasierwasser. Ich hob den Blick, und da fiel mir auf, dass ich meine Sonnenbrille verloren hatte.

Dichte Wimpern umrahmten seine Augen, die ein aufsehenerregendes Grau zeigten. Als ich diese Augen zum ersten Mal gesehen hatte, hatte ich gefragt, ob sie echt seien. Jase hatte gelacht und mir angeboten, in seinen Augen herumzustochern, um es zu testen.

Im Moment lachte er nicht.

Wir sahen uns an, und die Eindringlichkeit seines Blickes raubte mir den Atem. Meine Haut schien zu verbrennen, als hätte ich den gesamten Tag in der Sonne verbracht.

Ich schluckte schwer und drängte mein Hirn, endlich die Arbeit aufzunehmen.

»Ich habe deinen Eistee.«

Jase’ Augenbrauen schienen sich mit dem Haaransatz vereinen zu wollen.

»Hast du dir den Kopf angeschlagen?«, fragte Cam, als er neben uns trat.

Hitze stieg mir in die Wangen. »Nein. Vielleicht. Ich weiß es nicht.« Ich streckte Jase den Eistee entgegen und zwang mich zu einem Lächeln, von dem ich nur hoffen konnte, dass es nicht unheimlich wirkte. »Hier.«

Jase ließ meine Schultern los und nahm den Eistee. Jetzt wünschte ich mir, ich hätte ihm den Becher nicht so ins Gesicht gestreckt, denn dann hätte er mich vielleicht immer noch festgehalten. »Danke. Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?«

»Ja«, murmelte ich und senkte den Blick. Meine Sonnenbrille lag neben dem Reifen. Seufzend hob ich sie auf und säuberte sie, bevor ich sie wieder aufsetzte. »Danke, dass du … ähm, mich gefangen hast.«

Er starrte mich noch einen Moment lang an, dann drehte er sich um, als Jack mit einem T-Shirt in der Hand auf ihn zurannte. »Ich hab’s!«, rief der kleine Junge und wedelte mit dem Hemd wie mit einer Flagge.

»Danke.« Jase nahm das T-Shirt und gab Jack stattdessen den Eistee. Er wuschelte dem Jungen durch die Haare, dann zog er sich – sehr zu meiner Enttäuschung – das Shirt über den Kopf und bedeckte somit diesen perfekten Oberkörper. »Ich wusste nicht, dass du Teresa dabeihast.«

Trotz der Hitze lief mir ein kalter Schauder über den Rücken.

»Ich war gerade dabei, ihr die Stadt zu zeigen, damit sie Shepherdstown ein wenig besser kennenlernt«, erklärte Cam, während er den kleinen Racker anlächelte, der sich langsam an mich heranschlich. »Sie war noch nie hier unten.«

Jase nickte, dann nahm er Jack den Eistee wieder ab. Der Junge hatte in der kurzen Zeit die Hälfte davon getrunken. Jase wandte sich von mir ab und Cam zu. Ich war abgemeldet. Einfach so. Meine Kehle brannte, doch ich ignorierte das Gefühl, während ich mir wünschte, ich hätte den Becher behalten.

»Du und Avery kommen heute Abend zu der Party, oder?«, fragte Jase und nippte an dem Eistee.

»Es ist das Luau-Fest. Das werden wir doch nicht verpassen.« Cam grinste, und das Grübchen in seiner linken Wange wurde sichtbar. »Braucht ihr Hilfe beim Aufbau?«

Jase schüttelte den Kopf. »Dafür sind die Erstsemester verantwortlich.« Er warf mir einen kurzen Blick zu, und für einen Moment glaubte ich, er würde mich fragen, ob ich auch käme. »Ich muss mich hier noch um ein paar Dinge kümmern, dann fahre ich wieder nach Hause.«

Bittere Enttäuschung stieg in mir auf und verband sich mit dem Brennen in meiner Kehle. Ich öffnete den Mund, klappte ihn dann aber sofort wieder zu. Was konnte ich vor meinem Bruder schon sagen?

Eine kleine Hand zog am Saum meines T-Shirts. Ich sah nach unten, in graue Augen, die gleichzeitig jung und seelenvoll wirkten.

»Hi«, sagte Jack.

Meine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Grinsen. »Hi zurück.«

»Du bist hübsch«, erklärte er mit einem Blinzeln.

»Danke.« Mir entfuhr ein kleines Lachen. Damit war es offiziell. Ich mochte dieses Kind. »Du bist auch recht gut aussehend.«

Jack strahlte. »Ich weiß.«

Wieder lachte ich. Dieser Junge war definitiv Jase’ kleiner Bruder.

»Okay, das reicht, Casanova.« Jase trank den letzten Schluck Eistee und warf den Becher in eine nahe stehende Mülltonne. »Hör auf, das Mädchen anzumachen.«

Jack ignorierte Jase. Stattdessen streckte er mir seine Hand entgegen. »Ich bin Jack.«

Ich umschloss die kleinen Finger mit meiner Hand. »Ich bin Teresa. Cam ist mein Bruder.«

Jack winkte mich mit einem molligen Finger zu sich herunter und flüsterte: »Cam weiß nicht, wie man ein Pferd sattelt.«

Ich warf einen Blick zu den Jungs. Sie unterhielten sich über die Party, doch gleichzeitig beobachtete Jase uns. Wir schauten uns an, dann brach er den Blickkontakt unangenehm schnell wieder ab, wie er es ständig tat, seitdem ich die Shepherd University besuchte.

Ich spürte einen frustrierten Stich in der Brust, als ich meine Aufmerksamkeit wieder Jack zuwandte. »Willst du ein Geheimnis hören?«

»Ja!« Er lächelte breit und strahlend.

»Ich weiß auch nicht, wie man ein Pferd sattelt. Und ich bin noch nie eines geritten.«

Seine Augen wurden so groß und rund wie der Mond. »Jase!«, schrie er und wirbelte zu seinem Bruder herum. »Sie hat noch nie ein Pferd geritten!«

Da ging es dahin, mein Geheimnis.

Jase warf mir einen kurzen Blick zu. Ich zuckte nur mit den Achseln. »Es ist wahr. Ich habe panische Angst vor Pferden.«

»Das solltest du nicht. Sie sind ziemlich coole Tiere. Es würde dir wahrscheinlich gefallen.«

»Du musst es ihr zeigen!« Jack rannte zu Jase und klammerte sich an seinem Hosenbein fest. »Du kannst es ihr beibringen, wie du es mir gebeibracht hast!«

Mein Herz raste, zum Teil wegen des Vorschlags, dass Jase mir irgendetwas beibringen könne, und zum anderen Teil wegen meiner Angst vor diesen riesigen Dinosauriern. Manche Leute hatten Angst vor Schlangen oder Spinnen. Oder vor Geistern und Zombies. Ich hatte Angst vor Pferden. Schien eigentlich ziemlich berechtigt, wenn man bedachte, dass ein Pferd einen mühelos tottrampeln konnte.

»Es heißt ›beigebracht‹, nicht ›gebeibracht‹, und ich bin mir sicher, dass Tess Besseres zu tun hat, als auf einem Pferd durch die Gegend zu reiten.«

Tess. Ich schnappte nach Luft. Das war sein Spitzname für mich – er war die einzige Person, die mich jemals so nannte. Es störte mich nicht. Nicht im Geringsten. Während Jack wissen wollte, wieso ich ihm gesagt hatte, dass ich Teresa hieß, und Jase erklärte, dass Tess nur ein Kosename war, versank ich in der Erinnerung daran, wie er mich das letzte Mal so genannt hatte.

»Du hast keine Ahnung, was du mit mir anstellst«, sagte er, während seine Lippen über meine Wange glitten und Schauder über meine Wirbelsäule jagten. »Du hast nicht den Schimmer einer Ahnung, Tess.«

»Macht es dir was aus, wenn ich mal auf die Toilette gehe, bevor wir wieder verschwinden? Ich muss nämlich zurück«, sagte Cam. »Ich habe Avery versprochen, dass wir vor der Party noch essen gehen.«

»Ich zeige es dir«, verkündete Jack und griff nach Cams Hand.

Jase zog eine dunkle Augenbraue hoch. »Ich bin mir sicher, dass er weiß, wo die Toilette ist.«

»Es ist okay.« Cam winkte ab. »Komm, kleiner Mann, führ mich hin.«

Damit verschwanden die beiden in Richtung des Farmhauses, und Jase und ich waren offiziell allein. Plötzlich startete ein Kolibri in meiner Brust und sauste darin herum, als wolle er sich seinen Weg freipicken, während eine warme Brise die Haare herumwirbelte, die aus meinem Pferdeschwanz entkommen waren.

Jase beobachtete Cam und Jack bei ihrem Weg über das fleckige Gras wie ein Mann, der den letzten Rettungsring der Titanic davonschwimmen sieht. Das war irgendwie beleidigend, weil es den Eindruck vermittelte, mit mir allein zu sein wäre ungefähr so schlimm, wie zu ertrinken.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schürzte die Lippen. Ich war irritiert, aber gleichzeitig tat es auch weh zu sehen, wie unwohl er sich offensichtlich in meiner Nähe fühlte. Das war nicht immer so gewesen. Wir hatten uns definitiv schon mal besser verstanden, zumindest bis zu der Nacht, in der er mich geküsst hatte.

»Wie geht es dem Bein?«

Die Tatsache, dass er tatsächlich mit mir gesprochen hatte, sorgte dafür, dass ich fast stotterte. »Na ja, nicht allzu schlecht. Tut kaum noch weh.«

»Cam hat mir davon erzählt, als es passiert ist. Tat mir leid, das zu hören. Ehrlich.« Er machte eine kurze Pause. »Wann kannst du wieder tanzen?«

Ich verlagerte mein Gewicht. »Ich weiß es nicht. Ich hoffe, bald, aber mein Arzt muss mir das Okay geben. Also drück mir die Daumen.«

Jase runzelte die Stirn. »Ich drücke dir auf jeden Fall die Daumen. Ist trotzdem ziemlich ätzend. Ich weiß doch, wie viel dir das Tanzen bedeutet.«

Ich konnte nur nicken, weil mich das ehrliche Mitgefühl in seiner Stimme härter traf, als es sollte.

Endlich landete der Blick seiner grauen Augen wieder auf mir, und ich schnappte nach Luft. Seine Augen … es gelang ihnen immer, dafür zu sorgen, dass ich zu Stein erstarrte oder vollkommen verrückte Dinge tun wollte. Im Moment zeigten seine Augen ein dunkles Grau wie die Wolken vor einem Sturm.

Jase war nicht glücklich.

Er fuhr sich mit einer Hand durch die feuchten Haare, dann atmete er tief durch. An seinem Kinn zuckte ein Muskel. Meine Irritation löste sich in völliges Gefühlschaos auf, und ich spürte, wie das Brennen in meiner Kehle auch in meine Augen stieg. Ich musste mich selbst immer wieder daran erinnern, dass er es nicht wusste – dass er es auf keinen Fall wissen konnte – und dass die Art, wie ich mich im Moment fühlte – der Schmerz und die Zurückweisung –, nicht seine Schuld waren. Ich war nur Cams kleine Schwester; der Grund dafür, warum Cam vor fast vier Jahren in solche Schwierigkeiten geraten war; und der Grund dafür, dass Jase angefangen hatte, fast jedes Wochenende die weite Strecke zu uns zu fahren. Es war nur ein gestohlener Kuss gewesen. Mehr nicht.

Ich wollte mich umdrehen, um in Cams Truck zu warten, bevor ich noch so etwas Peinliches tun würde, wie anfangen zu heulen. Meine Emotionen waren vollkommen durcheinander, seitdem ich mein Bein verletzt hatte, und Jase zu sehen machte es nicht besser.

»Tess. Warte.« Jase machte mit seinen langen Beinen einen großen Schritt auf mich zu. Er trat nah genug vor mich, dass seine abgetragenen Turnschuhe fast meine Zehen berührten; dann hob er die Hand, bis sie kurz vor meiner Wange schwebte. Er berührte mich nicht, doch ich spürte, wie die Wärme seines Körpers meine Haut verbrannte. »Wir müssen reden.«

Kapitel  2    Die Haarsträhne, nach der Jase gegriffen hatte, wehte unberührt über meine Wange, während diese Worte zwischen uns hingen. Ich spürte ein Flattern in der Magengegend, so wie gewöhnlich in den kurzen Sekunden, bevor ich auf die Bühne trat. Wann immer ich vor den Richtern Haltung annahm, um auf den Beginn der Musik zu warten, bildete sich ein eisiger Klumpen aus Angst in meiner Brust. Egal, wie oft ich vorgetanzt oder wie oft ich bei Aufführungen auf der Bühne gestanden hatte, es hatte immer diese eine Sekunde gegeben, in der ich mir nichts mehr gewünscht hatte, als von der Bühne zu fliehen.

Doch ich war kein einziges Mal weggelaufen, und dasselbe galt jetzt. Ich würde nicht vor diesem Gespräch mit Jase weglaufen. Vor langer Zeit war ich einmal ein Feigling gewesen. Zu verängstigt, um die Wahrheit darüber zu erzählen, was Jeremy – der Exfreund aus der Hölle – mir antat. Doch dieses Mädchen war ich nicht mehr. Ich war kein Feigling mehr.

Ich atmete einmal tief durch. »Du hast recht. Wir müssen uns unterhalten.«

Jase ließ seinen Arm sinken, dann schaute er sich kurz zum Haus um. Ohne ein Wort zu sagen, legte er eine Hand zwischen meine Schulterblätter. Ich war darauf nicht vorbereitet und zuckte zusammen. Dann wurde ich rot.

Er legte den Kopf ein wenig auf die Seite. »Gehen wir ein Stück zusammen?«

»Sicher.« Der Kolibri kehrte mit Macht zurück und pickte ein Loch in meine Brust.

Wir gingen nicht allzu weit, sondern blieben in Sichtweite des Hauses. Bei all diesem Land ging ich davon aus, dass es auch Orte geben musste, an denen wir ungestörter gewesen wären, doch Jase führte mich zu dem Weidezaun gegenüber des Feldes, auf dem die Pferde grasten.

»Willst du dich setzen?«, fragte er, und noch bevor ich antworten konnte, dass Stehen für mich in Ordnung sei, legten sich auch schon zwei große Hände um meine Taille. Ich schnaufte kurz, als er mich hochhob, als wöge ich nicht mehr als sein kleiner Bruder, und setzte mich dann auf den obersten Balken. »Das ist sicher besser für dein Knie.«

»Mein Knie …«

»Du solltest nicht so viel stehen.« Er verschränkte die Arme.

Ich umklammerte das raue Holz und gab nur nach, weil das Letzte, was ich wollte, ein Gespräch über mein Knie war. Jase sagte nichts, während er mich anstarrte. Und ich wollte eigentlich stumm dasitzen und darauf warten, dass er das Thema ansprach.

Mein Schweigen hielt ungefähr fünf Sekunden, bevor ich den ersten Gedanken aussprach, der mir in den Kopf kam. »Er ist dämlich.«

»Was?« Jase runzelte die Stirn.

»Der Name der Stadt.«

Er zog eine Augenbraue hoch, während er sich ein paar längere braune Haarsträhnen aus dem Gesicht schob. »Du findest den Namen der Stadt dämlich?«

»Ist Spring Mills überhaupt eine Stadt? Du lebst doch sozusagen in Spring Mills, oder?« Als Jase nur verwirrt starrte, zuckte ich mit den Achseln. »Ich meine, gehört das nicht eigentlich zu Hedgesville oder Falling Waters? Ein riesiger Wal-Mart macht noch keine Stadt.«

Jase starrte mich noch einen Moment an, dann lachte er tief – ein angenehmes, attraktives Geräusch. Ich konnte mir nicht helfen, aber ich liebte es einfach, wenn er so lachte. Egal, wie sehr ich mich auch über ihn ärgerte oder wie sehr ich mir gerade wünschte, ihn zwischen die Beine zu treten, wenn er lachte, war es, als ginge die Sonne auf.

Jase lehnte sich gegen den Zaun. Er war so groß, dass unsere Augen auf einer Höhe waren, als er sich vorlehnte und seinen Arm um meine Schulter legte. Er zog mich an sich – nah genug, dass unsere Münder nur Zentimeter voneinander entfernt waren, wenn ich den Kopf hob. Mein Herz vollführte mehrere Pliés in meiner Brust. Wenn schon Gespräche über Möchtegernstädte und Wal-Marts ihn in Knuddellaune brachten, würde ich gleich anfangen, über andere Orte wie Darksville und Shanghai und …

»Manchmal glaube ich, du bist nicht ganz richtig im Kopf.« Er drückte mich, während er gleichzeitig sein Kinn auf meinen Kopf sinken ließ. Mir stockte der Atem. »Doch ich mag das – ich mag dich. Tue ich wirklich. Bin mir allerdings nicht sicher, was das über mich aussagt.«

Pliés? In meinem Herzen befand sich jetzt ein Ninja im Kampfmodus. Vielleicht würde dieses Gespräch doch nicht dafür sorgen, dass ich mich in einer Ecke verstecken wollte. Ich entspannte mich. »Dass du phantastisch bist?«

Er lachte leise, während seine Hand über meine Wirbelsäule glitt, um dann zu verschwinden. Stattdessen hockte er sich neben mich auf den Zaun. »Genau, so etwas in der Art.« Es folgte ein kurzes Schweigen, dann richtete er seinen Blick wieder auf mich. Seine Augen waren tiefgrau wie Sturmwolken im Winter mit einem leichten Blaustich. »Ich mag dich«, wiederholte er sanft. »Und das macht es mir so viel schwerer, mir alles zusammenzureimen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, Tess.«

Der Ninja in meinem Herzen fiel tot um. Doch ich hatte eine gute Idee, wo Jase anfangen konnte. Wie wäre es mit einer Antwort auf die Frage, warum er seit diesem Abend vor einem Jahr keine einzige meiner Mails oder SMS beantwortet hatte? Oder warum er aufgehört hatte, Cam zu besuchen? Doch ich bekam keine Chance, diese Fragen zu stellen.

»Es tut mir leid«, sagte er. Ich blinzelte und atmete tief aus. »Was zwischen uns passiert ist, hätte nicht passieren dürfen, und es tut mir so verdammt leid.«

Ich öffnete den Mund, doch es gelang mir einfach nicht, ein Geräusch zu erzeugen. Es tat ihm leid? Ich fühlte mich, als hätte er mich in die Brust geboxt. Denn wenn es ihm leidtat, dann bedeutete das, dass er bereute, was er getan hatte. Ich bereute es nicht, nicht im Geringsten. Dieser Kuss … die Art, wie er mich geküsst hatte, hatte mir bewiesen, dass es wirklich so etwas gab wie unbezwingbare Anziehungskraft, dass das Sehnen nach mehr auf wunderbare Art schmerzhaft sein konnte und dass wirklich die Funken fliegen konnten, wenn Lippen sich berührten. Es bereuen? Ich hatte von diesem Kuss gelebt, hatte die Erinnerung daran vergöttert. Ich hatte diesen Kuss, den er bereute, mit jedem Kuss davor – was nicht besonders viele waren – und mit jedem Kuss danach – was noch weniger waren – verglichen.

»Ich hatte an diesem Abend getrunken«, fuhr er fort, während an seinem Kinn ein Muskel im Takt seines Herzens zuckte. »Ich war betrunken.«

Ich schloss den Mund, während ich diese Worte sacken ließ. »Du warst betrunken?«

Er wandte den Blick ab und fuhr sich ein weiteres Mal mit den Händen durch die Haare. »Ich wusste nicht, was ich tat.«

Ein schreckliches, unheilvolles Gefühl breitete sich in meinem Körper aus. Es war dasselbe Gefühl, das ich gehabt hatte, bevor ich aus meinem falschen Sprung gelandet war. Dieses entsetzliche Gefühl des Fallens, das mich vor dem Schmerz gewarnt hatte, der gleich folgen würde. »Du hattest an diesem Abend vielleicht zwei Bier getrunken.«

»Zwei?« Er weigerte sich, mich anzusehen. »Ach Quatsch, ich weiß, dass es mehr gewesen sein müssen.«

»Gewesen sein müssen?«, quiekte ich förmlich, als sich vollkommen andere Gefühle in mir breitmachten. »Ich erinnere mich deutlich an diesen Abend, Jase. Du hattest gerade mal zwei Bier getrunken. Du warst nicht betrunken.«

Jase sagte nichts, doch sein Kiefer bewegte sich, als würden seine Zähne jeden Moment anfangen zu knirschen, während ich ihn anstarrte. Sich zu entschuldigen war schlimm genug, aber zu behaupten, er sei betrunken gewesen? Das war die schlimmste Art der Zurückweisung.

»Du willst mir also sagen, dass du mich nicht geküsst hättest, wenn du nichts getrunken hättest?« Ich rutschte vom Zaun und stellte mich vor ihn, wobei ich den Drang unterdrücken musste, ihm meine Faust in den Bauch zu rammen. Er öffnete den Mund, doch ich sprach einfach weiter. »Fandest du es wirklich so widerlich?«

Sein Kopf schoss zu mir herum, und seine grauen Augen verdunkelten sich. »Das habe ich nicht gesagt. Es war nicht widerlich. Es war …«

»Auf keinen Fall war es widerlich!« Cam hatte mir schon oft in meinem Leben gesagt, dass mir einfach der nötige Verstand fehlte, um im richtigen Moment den Mund zu halten. Anscheinend entwickelte sich das zu einem dieser Momente. »Du hast mich geküsst. Du hast mich berührt. Du hast gesagt, ich hätte keine Ahnung, was ich mit dir …«

»Ich weiß, was ich gesagt habe.« Inzwischen leuchteten seine Augen vor Wut silbern. Er sah mich direkt an, als er mit einer Eleganz vom Zaun sprang, die fast schon an ein Raubtier erinnerte. »Ich weiß nur nicht, warum ich das alles gesagt habe. Es muss das Bier gewesen sein, denn es gibt keinen anderen Grund dafür, warum ich diese Dinge getan oder gesagt haben sollte!«

Ein heißes Kribbeln vertrieb den Schmerz in meinem Körper. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Nein – auf keinen Fall hatten zwei Bier dafür gesorgt, dass er all das getan hatte. »Du bist kein Leichtgewicht. Du hattest dich vollkommen unter Kontrolle. Und du musst etwas empfunden haben, als du mich geküsst hast, weil du auf keinen Fall so küssen kannst, ohne dabei etwas zu fühlen.« Kaum hatten die Worte meine Zunge verlassen, fing mein Herz an zu rasen. Diese Dinge zu denken war eine Sache, aber sie laut auszusprechen machte deutlich, wie naiv die Worte klangen.

»Du warst seit Ewigkeiten in mich verknallt. Natürlich hast du geglaubt, es würde etwas bedeuten. Himmelherrgott, Tess, was glaubst du, warum ich seitdem nicht mehr mit dir geredet habe? Ich wusste, dass du davon ausgehen würdest, es stecke mehr dahinter«, sagte er. Ich spürte, wie mein Gesicht anfing zu glühen. »Es war ein Fehler. Ich fühle mich nicht von dir angezogen, nicht auf diese Art.«

Ich zuckte zurück, als hätte er mich geschlagen. Und ich wusste verdammt noch mal genau, wie es sich anfühlte, geschlagen zu werden. Ein Teil von mir hätte jetzt wirklich lieber einen Schlag eingesteckt, als das hier mitmachen zu müssen. Ich hätte weglaufen sollen, als er mir eröffnet hatte, wir müssten reden. Oder zumindest hätte ich zum Pick-up zurückhumpeln sollen. Scheiß auf Tapferkeit und Konfliktfreude. Schmerz und Scham stiegen in mir auf. Anscheinend war ich sehr leicht zu durchschauen, also war ich froh über die Sonnenbrille, die meine Augen verbarg. Doch Jase musste trotzdem etwas aus meiner Miene gelesen haben, denn er schloss kurz die Augen.

»Mist«, fluchte er leise. Die Haut um seine Lippen wurde ein wenig bleicher. »So habe ich das nicht gemeint. Ich …«

»Ich glaube, du hast es genau so gemeint!«, blaffte ich und trat einen weiteren Schritt zurück. Jase hatte recht. Diese Nacht war ein Fehler gewesen – ein dämlicher Kuss, den ich mit Gefühlen aufgeladen und während seiner Abwesenheit in meinem Kopf übermäßig aufgebauscht hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, mich jemals dämlicher gefühlt zu haben als in diesem Moment. »Du hättest dich nicht klarer ausdrücken können.«

Wieder fluchte er, bevor er näher kam und die Lücke zwischen uns schloss. Er senkte den Kopf und sorgte so dafür, dass ihm mehrere lockige Strähnen ins Gesicht fielen. »Tess, du verstehst nicht …«

Ich lachte kurz auf, während Scham mich überschwemmte wie eine hereinbrechende Flutwelle. »Oh, ich bin mir sicher, ich habe dich richtig verstanden. Du bereust es. Verstanden. Es war ein Fehler. Du willst wahrscheinlich einfach nicht mehr daran erinnert werden. Mein Fehler. Und es spielt keine Rolle. Was auch immer.« Ich faselte, doch ich konnte nichts dagegen tun, unbedingt mein Gesicht wahren zu wollen. Ich sah ihn nicht an, während ich weitersprach. Ich konnte es nicht. Also konzentrierte ich mich auf seine Turnschuhe mit den Grasflecken. »Es ist ja sowieso nicht so, als würde ich lange hierbleiben. Sobald mein Knie sich erholt hat, bin ich weg. Und das wird nicht mehr so lange dauern. Also musst du dir keine Sorgen darum machen, dass wir uns ständig begegnen oder dass ich das Thema noch mal anspreche. Es ist ja nicht so, als wärst du der einzige Typ, der …«

»Dich geküsst hat?« Angesichts der Schärfe in seiner Stimme hob ich den Blick. Er hatte die Augen zusammengekniffen, sodass sie nur noch dünne, silbrige Schlitze waren. »Wie viele Typen hast du geküsst, Teresa?«

Nicht viele. Ich konnte sie an einer Hand abzählen, und um zu zählen, bei wie vielen es über Knutschen hinausgegangen war, brauchte ich nur zwei Finger. Doch mein Stolz verhinderte, dass ich das zugab. »Genug«, sagte ich, während ich die Arme verschränkte. »Mehr als genug.«

»Wirklich?« Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Weiß dein Bruder davon?«

Ich schnaubte. »Als würde ich mit meinem Bruder über so etwas reden. Und er hat mir auch nicht zu sagen, auf wen oder wohin ich meine Lippen drücke.«

»Wohin?«, wiederholte er mit schräg gelegtem Kopf, als müsse er über dieses einzelne Wort intensiv nachdenken. In dem Moment, als er verstand, was es wohl bedeuten mochte, versteiften sich seine Schultern. »Wohin drückst du denn deine Lippen?«

»Pah. Als ginge dich das irgendwas an.«

Sein Blick wurde schärfer. »Es geht mich absolut etwas an.«

Lebte er in einem Paralleluniversum? »Das glaube ich nicht.«

»Tess …«

»Nenn mich nicht so!«, fuhr ich ihn an.

Jase griff nach mir, doch ich wich ihm mühelos aus. Das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte, war seine Berührung. Sein markantes Gesicht strahlte plötzlich Entschlossenheit aus. »Wo …«

Hinter uns fiel die Tür zum Haus ins Schloss und rettete mich damit. Jase trat zurück und atmete tief durch, als sein kleiner Bruder über Gras und Kies auf uns zurannte.

Der kleine Junge warf sich schon ungefähr eineinhalb Meter vor uns in die Luft und rief: »Superman-Cape! Superman-Cape!«

Jase fing Jack auf, wirbelte ihn herum und schlang die Arme seines kleinen Bruders um seinen Hals. Jack hing über seinen Rücken wie ein Cape aus Knochen und Muskeln.

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.« Cam grinste, ohne die unerträgliche Spannung zu bemerken, die zwischen uns in der Luft hing. »Deine Mom hatte Limonade. Und gedeckten Apfelkuchen. Da musste ich einfach zugreifen.«

Jase lächelte, zog jedoch gleichzeitig ein wenig den Kopf ein. »Verständlich.«

Ich stand da wie eine Statue. Mir hätte ein Vogel auf den Kopf kacken können, und ich hätte mich nicht bewegt. Meine Finger waren schon taub, weil ich meine Hände so fest zu Fäusten ballte.

Als Jase sich abwandte, lächelte Jack mich an. »Wirst du reiten lernen?«

Zuerst verstand ich nicht, worüber er sprach. Doch als es mir dämmerte, hatte ich keine Ahnung, was ich sagen sollte. Ich bezweifelte, dass Jase mich noch mal auf der Farm sehen wollte, selbst wenn ich den Mut besessen hätte, auf eines dieser Viecher zu steigen.

Cam musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen, während Jase mit zusammengebissenen Zähnen auf den Boden starrte und Jack auf meine Antwort wartete.

»Ich weiß es nicht«, erklärte ich schließlich heiser. Ich ermahnte mich selbst, mich nicht noch mehr zum Narren zu machen, und zwang mich zu einem Lächeln. »Aber falls ja, wirst du mir dabei helfen, es zu lernen, richtig?«

»Ja!« Jack strahlte. »Ich kann es dir gebeibringen!«

»Beibringen«, murmelte Jase und legte die Arme unter Jacks Beine. »Wie ich schon sagte, kleiner Kerl, sie hat wahrscheinlich Besseres zu tun.«

»Nichts ist besser, als auf einem Pferd zu reiten«, hielt Jack dagegen.

Jase hielt seinen Bruder fest, richtete sich wieder auf und warf mir einen Blick zu. Seine Miene war verschlossen, und ich wünschte, das Thema Reiten wäre nicht aufgekommen. Jase dachte wahrscheinlich, ich meinte es ernst und versuchte, einen Weg zu finden, um ihn regelmäßig zu sehen.

Doch nach dieser ganzen Aktion gerade wollte ich ihm eigentlich nie wieder begegnen.

Es tat weh, das einzusehen. Vor dem Kuss waren wir Freunde geworden – gute Freunde. Hatten uns SMS geschrieben. E-Mails. Uns unterhalten, wann immer er mit Cam vorbeischaute. Und jetzt war das alles kaputt.

Ich werde nicht heulen. Ich werde nicht heulen. Mit diesem persönlichen Mantra schlurfte ich zurück zum Truck und stieg ein, wobei ich mein gutes Bein einsetzte, um mich nach oben zu stemmen. Ich werde wegen diesem Trottel nicht heulen. Außerdem ermahnte ich mich, Jase nicht mehr anzustarren, doch trotzdem beobachtete ich ihn mit seinem Bruder, bis meiner endlich kam.

»Bereit zum Aufbruch?«, fragte Cam, als er die Fahrertür zuschlug.

»Bereit.« Meine Stimme klang unnatürlich belegt.

Er warf mir einen Blick zu, als er den Wagen startete, dann runzelte er die Stirn. »Geht es dir gut?«

»Ja«, sagte ich, um mich dann zu räuspern. »Heuschnupfen.«

Mit dem zweifelnden Ausdruck auf seinem Gesicht hatte ich gerechnet. Ich hatte keinen Heuschnupfen. Und mein Bruder wusste das.

Cam setzte mich vor West Woods Hall ab. Nachdem ich ihm Grüße an Avery aufgetragen hatte, stieg ich vorsichtig aus dem Pick-up und wanderte den schmalen Weg zum Yost-Gebäude hinauf, während ich gleichzeitig meine Schlüsselkarte aus der Tasche kramte.

Ich hatte Glück gehabt, was das Wohnheimzimmer anging. Nachdem ich mich verspätet angemeldet hatte, waren alle Räume in Kenamond und Gardiner Hall bereits voll gewesen. Das waren die normalen Wohnheime für Studienanfänger. Fast hätte ich gar kein Zimmer mehr bekommen. Am Tag bevor die Uni losging, war ich zur Abteilung für Wohnungsfragen gegangen und hatte darum gebettelt, dass sie mich irgendwo unterbringen konnten – irgendwo. Meine einzige andere Möglichkeit war, bei Cam einzuziehen, und sosehr ich meinen Bruder auch liebte, ich wollte auf keinen Fall mit ihm zusammenwohnen.

Nach einiger Anstrengung und viel Hin und Her endete ich schließlich in West Woods, dessen Zimmer viel besser waren als die winzigen Streichholzschachteln in den anderen Wohnheimen.

Mit meiner Karte öffnete ich die Tür zu dem klimatisierten Foyer, dann ging ich zum Treppenhaus. Ich hätte natürlich auch mit dem Lift in den dritten Stock fahren können, doch ich war davon überzeugt, dass Laufen und Treppensteigen gut für mein Bein seien. Sonst war mir eigentlich jede Art Bewegung untersagt. Doch bald würde ich hoffentlich wieder trainieren dürfen. Es musste einfach so sein. Und wenn ich im nächsten Frühjahr wieder ins Ballettstudio wollte, musste ich dafür in Form kommen.

Ich keuchte, als ich endlich die Tür zu meinem Appartement erreichte. Es haute mich um, dass mein Körper in so kurzer Zeit von Terminator auf Sponge Bob umgeschaltet hatte.

Seufzend zog ich die Karte durch den Leser und trat in das Wohnzimmer der Suite. Ich wünschte mir nichts mehr, als ins Bett zu steigen, meinen Kopf unter dem Kissen zu vergraben und so zu tun, als habe der heutige Tag nie stattgefunden.

Doch das wäre wohl zu viel verlangt gewesen.

Ich schnaubte, als ich den leuchtend pinken Schal sah, der am Türknauf zum Schlafzimmer hing. Pinker Schal war der Code für »Betreten auf eigene Gefahr«. Anders ausgedrückt: Meine Mitbewohnerin bekam gerade ihren Anteil an süßer Liebe. Oder sie waren dort drin und stritten sich leise. Und wenn sie sich leise stritten, würden sie sich schon bald laut streiten.

Zumindest konnte ich noch ins Bad.

Ich humpelte zu der abgenutzten braunen Couch und ließ mich mit der Eleganz eines schwangeren Bergschafes darauf fallen. Ich stellte meine Tasche neben mich, dann schwang ich mein schwaches Bein auf den Couchtisch und streckte es in der Hoffnung, dass der dumpfe Schmerz in meinem Knie dann nachlassen würde.

Auf einmal schlug es von der anderen Seite heftig gegen die Wand, und ich zuckte zusammen. Ich sah mich um und runzelte die Stirn. Keine Sekunde später sorgte ein unterdrücktes Stöhnen dafür, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten.

Das klang nicht nach einem glücklichen Stöhnen kurz vor dem Höhepunkt. Nicht, dass ich gewusst hätte, wie so etwas klang. Die wenigen Male, die ich bis jetzt Sex gehabt hatte, hatten damit geendet, dass ich jeden Liebesroman verfluchte, der mich hatte glauben lassen, dass ich glücklich auf Wolke Sieben schweben würde. Doch das hier klang auf keinen Fall richtig.

Ich ließ mein Bein auf dem Tisch liegen, richtete mich jedoch auf, um darauf zu lauschen, was in unserem Zimmer vor sich ging. Debbie Lamb, meine Mitbewohnerin, war im dritten Studienjahr und wirkte wirklich nett. Sie hatte mich nicht dafür verflucht, dass ich ihr mit meinem Einzug ein potenziell mitbewohnerfreies Semester versaut hatte. Sie war wirklich klug und freundlich.

Doch ihr Freund war eine ganz andere Geschichte.

Ein paar Sekunden vergingen, dann hörte ich ein sehr aussagekräftiges, männliches Grunzen. Mit glühenden Wangen riss ich den Kopf so schnell herum, dass ich mir fast den Hals ausgerenkt hätte. Ich schnappte mir ein Kissen und drückte es mir aufs Gesicht.

Sie hatten auf jeden Fall Sex.

Und ich saß hier draußen und hörte ihnen zu wie eine Stalkerin.

»Oh Gott«, stöhnte ich ins Kissen. »Warum bin ich auf dem College?«

Wie zur Erinnerung pulsierte dumpfer Schmerz in meinem Knie.

Langsam ließ ich das Kissen sinken. Die Tür mir gegenüber, die zu dem anderen Zimmer führte, das zur Suite gehörte, war nach wie vor geschlossen. Ich hatte die Mitbewohner aus diesem Zimmer noch nicht gesehen, nicht ein einziges Mal, seitdem die Uni begonnen hatte. Ein Teil von mir war davon überzeugt, dass sie unsichtbar waren oder Lamas oder im Zeugenschutzprogramm und daher gezwungen, sich dauerhaft in ihrem Zimmer zu verstecken. Ich wusste, dass sie nicht tot waren, weil ich sie manchmal hörte, wenn ich mich im Wohnzimmer aufhielt. Doch sie verstummten immer sofort, sobald sie mitbekamen, dass ich mich in der Suite bewegte.

Seltsam.

Ich lehnte das hellbraune Kissen gegen meine Brust, griff in meine Tasche und zog mein Handy heraus. Dann dachte ich kurz darüber nach, Sadi eine SMS zu schreiben. Doch ich hatte nicht mehr mit ihr gesprochen, seitdem ich im Juli das Tanzstudio verlassen hatte. Ich hatte seitdem mit keiner meiner Freundinnen gesprochen.

Die meisten von ihnen waren in New York City. Sadi fing an der Joffrey School of Ballet an – derselben Schule, für die ich ein volles Stipendium hatte. Sie lebten mein Leben und meinen Traum. Doch das Stipendium war nicht gestrichen worden. Die Ausbilder hatten mir, sobald meine Verletzung geheilt war, einen Platz für nächsten Herbst versprochen.

Ich ließ das Handy wieder in meine Tasche fallen, dann lehnte ich mich zurück und umklammerte das Kissen. Dr.Morgan, der Spezialist an der West Virginia University, der mich operiert hatte, ging davon aus, dass ich eine neunzigprozentige Chance besaß, mich vollkommen zu erholen. Solange ich mir nicht eine weitere Verletzung zuzog. Die meisten Leute hätten das wohl für eine sehr gute Chance gehalten, doch mir jagten die restlichen zehn Prozent eine Höllenangst ein. Ich wehrte mich dagegen, auch nur darüber nachzudenken.

Vierzig Minuten vergingen, bevor die Schlafzimmertür sich öffnete und Debbie ins Wohnzimmer trat. Sie fuhr sich mit der Hand durch die schulterlangen braunen Haare, um sie zu glätten. Dann sah sie mich an und wurde rot.

Debbie zuckte zusammen. »Oh! Bist du schon lange hier draußen?«

»Nein. Nur ein paar Minuten …« Mein Satz verklang, als ich mir Debbie genauer ansah, während sie ihre geblümte Bluse zurechtrückte. Ihre Augen waren rot und geschwollen. Sie hatten sich gestritten. Mal wieder. Sie mussten sich versöhnt haben, aber sie stritten sich so oft, dass ich mich fragte, wie sie überhaupt Zeit für etwas anderes als Streitereien und Versöhnungssex fanden.

Erik erschien. Seine Finger strichen über den Bildschirm seines Handys. Seine kurzen dunklen Haare standen in alle Richtungen ab. Er sah gut aus, das musste ich ihm lassen, aber trotzdem verstand ich nicht, wieso Debbie ihn anziehend fand. Überhaupt nicht. Er war eine große Nummer in der Verbindung, zu der auch Jase gehörte. Während der Highschool war er eine Art örtlicher Basketballstar gewesen, aber letztendlich besaß er den Charakter einer in die Enge getriebenen Hyäne.

Erik schob sein Handy in die Hosentasche und lächelte mich an. Es war ein nervöses Lächeln, das mich unruhig machte.

»Geht es dir gut?«, fragte ich Debbie.

»Natürlich geht es ihr gut«, antwortete Erik mit einem Lachen.

Ich starrte Debbie an, wobei ich ihn vollkommen ignorierte, doch sie nickte schnell. »Ja, alles prima. Wir besorgen uns noch etwas zu essen, bevor wir zur Party gehen. Willst du mitkommen?«

Ich wollte gerade etwas sagen, da antwortete bereits Erik für mich. »Sie sieht aus, als würde ihr Knie ihr Probleme machen, also will sie sicher lieber hierbleiben.«

Ich klappte den Mund wieder zu.

Debbie wirkte unangenehm berührt, als Erik anfing, sie Richtung Tür zu drängen. »Kommst du zur Party?«

Ich war eigentlich nicht eingeladen, aber ich wusste, dass niemand etwas sagen würde, wenn ich trotzdem auftauchte – niemand außer Jase, und ihn wollte ich nicht sehen. Ich zuckte mit den Achseln. »Bin mir noch nicht sicher.«

Sie zögerte. »Okay, also …«

»Babe, komm schon, ich bin verdammt hungrig.« Erik packte ihren Arm so fest, dass er ihre Haut unter seinen Fingern quetschte. »Wir sind spät dran.«

Ein Brennen breitete sich in meiner Magengegend aus, als ich durch zusammengekniffene Augen seine Hand an Debbies Arm musterte. Wie oft hatte Jeremy mich so gepackt? Zu oft. Allein der Anblick sorgte dafür, dass mir leicht übel wurde. Und ich an Dinge dachte, die ich lieber vergessen wollte.

Debbies unsicheres Lächeln verblasste. »Schick mir eine SMS, wenn du willst … oder irgendwas brauchst.«

Erik grummelte etwas, dann waren sie verschwunden. Und ich saß da mit meinem Bein auf dem Couchtisch und starrte auf die Tür. Doch in Wirklichkeit befand ich mich plötzlich wieder in der Vergangenheit.

»Du weißt, dass ich verdammt hungrig bin«, sagte Jeremy, lehnte sich vor und packte meinen Oberarm. Dann drückte er zu, bis ich aufschrie. Plötzlich schien das Auto viel zu klein. Ich bekam keine Luft. »Was hast du so lang getrieben? Telefoniert?«

»Nein!« Ich wusste, dass ich stillhalten musste und nicht versuchen durfte, mich zu befreien, weil ihn das nur noch wütender machte. »Ich habe mich nur mit Cam unterhalten.«

Jeremy entspannte sich, bis seine Finger mich fast freigaben. »Er ist zu Hause?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe mit ihm …«

»Telefoniert?« Er kniff die Augen zusammen, und von einer Sekunde auf die andere wirkte er nicht mehr süß, sondern monströs. Ich verzog das Gesicht, als seine Finger sich durch meinen Pulli gruben. »Ich dachte, du hast nicht telefoniert?«

Ich riss mich aus der Erinnerung und stellte erfreut fest, dass ich nur noch einen Rest von Wut spürte. Sehr lange Zeit über war mir schlecht geworden, wann immer ich an Jeremy dachte. Doch diese Zeiten waren schon lange vorbei.

Jeremy mochte ein Frauenschläger gewesen sein, aber ich war nicht länger ein Opfer.

Ich war mit dem fertig, was er mir angetan hatte. Fertig. Fertig. Fertig.

Ich riss meinen Blick von der Tür und drückte das Kissen, bis mir die Arme wehtaten. Es gab keinen Beweis dafür, dass Erik Debbie schlug. Ich hatte nur so ein unbestimmtes Gefühl. Und ich wusste, dass sich die blauen Flecken kaum an sichtbaren Stellen befinden würden. Nicht, wenn Erik klug war, so wie Jeremy es gewesen war.

Den Rest des Abends verbrachte ich damit, Kleinigkeiten aus dem Automaten am Ende des Flurs zu essen und mein Geschichtsbuch durchzublättern, bevor ich früh ins Bett ging. Während ich dort lag und im Halbschlaf vor mich hin dämmerte, fühlte ich mich ziemlich jämmerlich. So sah es nun also aus, es war ein paar Monate vor meinem neunzehnten Geburtstag, an einem Samstagabend, und ich schlief schon vor zehn.

»Jämmerlich« traf es nicht mal ansatzweise.

Ich drehte mich auf die Seite und dämmerte ein, während ich darüber nachdachte, ob Jase’ Zurückweisung auch so schmerzen würde, wenn ich mein Bein nicht verletzt hätte.

Das Piepen meines Handys erklang wie aus weiter Ferne, als es mich eine Weile später weckte. Verwirrt öffnete ich die Augen. Die grünen Zahlen meines Weckers, der auf dem Nachttisch stand, verkündeten, dass es Viertel nach eins war. Wieder erklang das Piepen.

Ich tastete herum, bis ich mein Handy fand, dann hob ich es hoch und spähte auf die SMS. Überzeugt, dass ich noch träumte, las ich sie noch mal. Fragte mich, ob ich wohl das Lesen verlernt hatte. Dann setzte ich mich auf und blinzelte mir den Schlaf aus den Augen. Der dunkle Raum nahm genug Konturen an, um festzustellen, dass das Bett auf der anderen Seite des Raumes leer war. Wieder sah ich auf mein Handy.

Muss mit dir reden.

Die SMS war von Jase.

Die zweite SMS lautete Bin draußen, und mein Herz schlug schneller.

Jase war hier.

Kapitel  3    Ich musste träumen.

Zumindest fühlte ich mich so, als ich mir schnell meine Flip-Flops auf die Füße schob und dann nach meiner Schlüsselkarte griff. Für einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, die SMS zu ignorieren, doch mein Körper schien seinen eigenen Willen zu haben.

Morgen früh würde ich mir dafür definitiv selbst eins über die Rübe hauen wollen.

Als ich die Suite verließ, fing ich an zu fürchten, dass das alles nur ein dummer Scherz war. Denn woher sollte Jase wissen, in welchem Wohnheim ich wohnte? Selbst wenn er wusste, dass es West Woods war … das Wohnheim bestand aus sechs verschiedenen Gebäuden. Ich bezweifelte stark, dass er Cam danach gefragt hatte.

In meiner Magengegend rumorte und kribbelte es ganz schön, als ich die Stufen hinunterstieg und mich am Geländer festklammerte. Vor den Fenstern im Treppenhaus war es vollkommen dunkel. Vielleicht träumte ich ja wirklich, und es würde sich als Albtraum entpuppen. Das Geländer würde sich in eine Schlange verwandeln – Gott, ich hasste Schlangen – wie in der Serie Beetlejuice.

Angewidert löste ich meine Hand von der kalten Metalloberfläche des Geländers und humpelte ins Erdgeschoss. Die Lobby war still, abgesehen von dem sanften Summen und Klappern eines Trockners im Waschraum.

Kaum trat ich in die Nacht, bildete sich auf meinen Armen Gänsehaut. Ich wünschte mir, ich wäre so schlau gewesen, mir eine Jacke mitzunehmen. Die Nachtluft war überraschend kühl.

Ich hielt auf der Veranda an und umklammerte meine Schlüsselkarte, bis sie fast schon in meine Hand einschnitt, während ich mit den Augen die Wege und Bäume daneben absuchte. Alle Bänke waren leer. Hier draußen war niemand. Abgesehen von dem Zirpen der Grillen, hörte ich nur weit entfernt Lachen und Musik, die ab und zu von einem fröhlichen Schrei untermalt wurde.

Mein Herz wurde schwer, als ich von der Veranda trat und mir mit der freien Hand die Haare aus dem Gesicht schob. Es war ein Witz. Oder er hatte die SMS eigentlich jemand anderem schicken wollen und wartete jetzt vor ihrem Wohnheim. Bei dem Gedanken, dass er einem anderen Mädchen um ein Uhr morgens eine SMS schickte, prickelte meine Haut, auch wenn es dämlich war.

Ich schlurfte ein paar Schritte auf den Weg, um zwischen die Bäume und dichten Gebüsche zu spähen. Meine Wangen fingen an zu glühen, als ich mitten auf dem Weg anhielt. Ich verlagerte das Gewicht von meinem schmerzenden Bein auf das andere. Was tat ich hier draußen? Ich hatte nicht mal mein Handy mitgenommen. Es musste ein Fehler sein oder ein Witz oder ein …

Ein breiter Schatten löste sich unter einem Baum aus der Dunkelheit und schob sich zwischen zwei Gebüsche. Die große, breite Gestalt trat in den Lichtkegel einer Laterne, und ich stand mit offenem Mund da. Es war Jase. Doch was trieb er dahinten? Als er sich zu mir umdrehte, hob er gerade die Hand vom Reißverschluss seiner Jeans. Oh mein Gott.

»Jase?«, zischte ich, während ich auf ihn zueilte.

Beim Klang meiner Stimme hob er den Kopf. »Da bist du ja«, sagte er, als habe er eine Ewigkeit und noch mehr auf mich gewartet. Ein Mundwinkel hob sich. »Du bist da.«

Beim Anblick seines halben Lächelns hob sich ein flatterndes Gefühl in meiner Brust. Doch die Erinnerung an das, was er nachmittags zu mir gesagt hatte, half mir dabei, den dämlichen Schmetterling in mir zu ignorieren. »Hast du gerade gepinkelt?«

Das halbe Grinsen wurde breiter. »Ich musste mal austreten.«

»Zwischen den Büschen?«

»Jemand musste sie gießen.«

Meine Lippen zuckten, während ich zu ihm aufstarrte. Seine widerspenstigen Locken fielen ihm über die Stirn und fast bis in die Augen. Das alte Hemd im Vintage-Stil spannte an seinen breiten Schultern und über der Brustmuskulatur. Als er die Hand hob, um sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen, rutschte es nach oben und gab den Blick auf seine tiefsitzende Jeans und sein T-Shirt frei. Außerdem sah ich harte Bauchmuskeln.

Ich wandte den Blick ab, weil das wirklich das Letzte war, was ich anstarren sollte. »Du bist betrunken.«

»Ähm …« Er schwankte nach links, als gäbe es dort irgendeine Schwerkraftquelle, die auf mich keine Wirkung hatte. »Ich würde nicht so weit gehen, zu behaupten, dass ich betrunken bin. Vielleicht ein wenig beduselt.«

Ich zog eine Augenbraue hoch, als er nach rechts schwankte. Und in diesem Moment bemerkte ich die kleine rosa Schachtel auf der Bank. »Gehört die dir?«

Er folgte meinem Blick, dann grinste er. »Mist. Hatte ich ganz vergessen. Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht.«

Meine Brauen schossen nach oben, als er sich vorlehnte und fast aufs Gesicht fiel, bevor er sich fing und die Schachtel hochhob. »Was ist das?«

Er drückte sie mir in die Hand. »Etwas, was ähnlich lecker ist wie ich.«

Ich schnaubte anmutig, während ich den Blick senkte. Durch den Plastikdeckel konnte ich einen überdimensionierten Cupcake sehen. Ich warf einen Blick zu Jase.

Er hob eine Schulter in einem halben Achselzucken. »Cupcakes sind gut. Also dachte ich, ich bin gut und teile ihn mit dir.«

»Danke.« Ich öffnete die Schachtel und tauchte meinen kleinen Finger in die Creme. Dann kostete ich und musste fast aufstöhnen, so gut schmeckte das.

Jase schluckte und wandte den Blick ab. »Ich glaube, ich setze mich mal hin. Solltest du auch tun … du weißt schon, wegen deines Beins.«

Als könnte ich das je vergessen.

Jase beobachtete, wie ich mich vorsichtig setzte. Er legte den Kopf schräg. »Macht dir dein Bein Probleme?«

Ich öffnete den Mund, doch er sprach weiter. »Daran hatte ich gar nicht gedacht. Du solltest dein Bein wahrscheinlich nicht so oft belasten und …«

»Es ist okay.« Ich nahm einen schnellen Bissen von dem Cupcake. Es war wie ein zuckerhaltiger Orgasmus meiner Geschmacksnerven. »Willst du auch was?«

»Verdammt noch mal, ja.«

Meine Mundwinkel wanderten nach oben, als ich den Rest des Cupcakes in zwei Teile brach. Innerhalb von fünf Sekunden hatte er seine Hälfte verschlungen. Auch mit meiner Hälfte machte ich kurzen Prozess, und nachdem ich die Schachtel in einen nahe stehenden Mülleimer geworfen hatte, holte ich tief Luft. »Du bist aber nicht hergekommen, um mir einen Cupcake vorbeizubringen, oder?«

»Ähm, nein.«

»Was … Was tust du hier, Jase?«

Er antwortete mir nicht sofort, doch der Blick seiner grauen Augen blieb an mir haften und war erstaunlich scharf. »Ich möchte mit dir reden.«

»So viel habe ich verstanden. Aber ich glaube, du hast bereits alles gesagt, was du sagen wolltest. Ich hätte nie damit gerechnet, dass du hier auftauchst.« Ich fühlte mich wie ein Miststück, weil ich ihm das einfach so vor den Kopf knallte, doch es war wahr. Und irgendwie hatte er es verdient. Ich spielte für niemanden den Fußabtreter.

Jase wandte den Blick ab, während seine Schultern sich anspannten, dann trat er vor und setzte sich neben mich. Ich roch eine leichte Alkoholfahne, als er mich ansah. Ohne ein Wort zu sagen, griff er nach meiner Hand. Ich riss die Augen auf, als er sie hochhob und mir einen Kuss auf die Handfläche drückte.

Jep. Er war betrunken.

Und meine Haut kribbelte dort, wo er sie mit den Lippen berührt hatte, wie nach einem elektrischen Schlag. Fassungslos beobachtete ich, wie er meine Hand wieder auf meinen Schoß legte.

»Ich bin ein Vollidiot«, sagte er.

Ich blinzelte nur.

»Ich hätte den Mist, den ich heute Nachmittag erzählt habe, nie sagen dürfen. Es war nicht richtig, und ich habe gelogen.« Er holte tief Luft und richtete seinen Blick auf die leere Bank uns gegenüber. »Ich war an diesem Abend nicht betrunken. Absolut nicht.«

Mein Herz schlug seit dem Moment, in dem er meine Hand geküsst hatte, wie wild, und bei diesen Worten legte es noch mal einen Gang zu. Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich weiß.«