Fall with Me - J. Lynn - E-Book

Fall with Me E-Book

J. Lynn

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Beschreibung

Roxy Ark war schon immer unsterblich in Reece Anders verliebt. Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr gibt es keinen anderen für sie. Als es nach Jahren der Schwärmerei endlich zu einer unvergesslichen Nacht mit dem sonst so anständigen jungen Polizisten kommt, hofft Roxy, dass Reece sie ebenso will, wie sie ihn. Will er aber nicht. Mit gebrochenem Herzen versucht Roxy daraufhin, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen – bis jemand sie bedroht, der die Vergangenheit nicht auf sich beruhen lassen kann …

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Für die Leser. Viel Spaß!

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

ISBN 978-3-492-96978-9

Mai 2015

© 2015 Jennifer L. Armentrout

Titel der Amerikanischen Originalausgabe:

»Fall with Me«, William Morrow Paperbacks/HarperCollins Publishers, New York 2015

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015 

Covergestaltung: Zero Werbeagentur

Covermotiv: Fuse/Getty Images

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht.

Kapitel 1   Gerade einmal zehn Minuten nachdem ich mich in einen der üppig gepolsterten Sessel im sonnendurchfluteten Wartezimmer hatte fallen lassen, schoben sich abgewetzte weiße Turnschuhe in mein Blickfeld. Ich hatte eingehend den Holzboden betrachtet und darüber nachgedacht, dass sich mit privaten Pflegeheimen offenbar eine hübsche Stange Geld verdienen ließ, wenn sie sich einen derart feudalen dunklen Parkettboden leisten konnten.

Andererseits hatten Charlie Clarks Eltern für die Langzeitpflege ihres einzigen Sohnes auch keine Kosten gescheut, sondern ihn in der besten Einrichtung Philadelphias untergebracht. Die Summe, die sie dafür jährlich aufbrachten, musste astronomisch hoch sein – auf jeden Fall mehr, als ich mit meinem Job als Barkeeperin im Mona’s und den gelegentlichen Webdesign-Aufträgen verdiente.

Vermutlich dachten sie, das mache es wett, dass sie Charlie nur einmal im Jahr für vielleicht zwanzig Minuten besuchten. Es gab bestimmt bessere, großherzigere Menschen als mich auf der Welt, denn es fiel mir schwer, das Brennen der Irritation in meiner Kehle zu ignorieren, das entstand, wann immer ich an Charlies Eltern dachte. Jetzt hob ich den Blick zu dem gastfreundlichen Lächeln, das sich die Krankenschwester ins Gesicht gekleistert hatte. Ich blinzelte, weil ich das kupferfarbene Haar und die haselnussbraunen Augen heute zum allerersten Mal sah.

Sie war offensichtlich neu.

Noch immer lächelnd, ließ sie ihren Blick einen Moment länger als üblich auf meinem Haar ruhen. Dabei war meine Frisur keineswegs sonderlich ausgeflippt. Ich hatte mir lediglich vor ein paar Tagen eine purpurne Strähne gefärbt, trotzdem sah ich vermutlich ein bisschen zerzaust aus, weil ich sie zu einem nachlässigen Knoten frisiert hatte. Ich hatte gestern den Schlussdienst in der Bar gemacht, was bedeutete, dass ich erst nach drei Uhr morgens nach Hause gekommen war. Es war schon anstrengend genug gewesen, auch nur aufzustehen, mir die Zähne zu putzen und mir das Gesicht zu waschen, bevor ich in die Stadt fuhr.

»Roxanne Ark?«, fragte sie, als sie vor mir stehen blieb und die Hände vor dem Körper verschränkte.

Der Klang meines vollen Namens ließ mich erstarren. Meine Eltern waren echt schräge Vögel. Vermutlich hatten sie in den Achtzigerjahren Koks geschnupft oder irgendwas. Ich war nach dem Song »Roxanne« benannt, während meine Brüder Gordon und Thomas hießen – zwei der bürgerlichen Vornamen von Sting.

»Ja«, sagte ich und griff nach dem Stoffbeutel, den ich mitgebracht hatte.

Das Lächeln der Pflegerin strahlte weiter, als sie auf die geschlossene Doppeltür zeigte. »Schwester Venter ist heute nicht hier, aber sie hat mir gesagt, dass Sie jeden Freitagmittag kommen, also ist Charlie bereit.«

»O nein, geht es ihr gut?« Sorge stieg in mir auf. In den letzten sechs Jahren meiner Besuche hier hatte ich mich mit Schwester Venter angefreundet. Daher wusste ich auch, dass ihr jüngster Sohn im Oktober endlich heiraten würde und ihre Zweitälteste ihr letzten Monat das erste Enkelkind geschenkt hatte.

»Sie hat sich eine Sommergrippe eingefangen«, erklärte die Schwester. »Eigentlich wollte sie heute wieder zum Dienst kommen, aber wir waren alle der Meinung, dass sie sich lieber übers Wochenende auskurieren sollte.« Die Schwester trat zur Seite, als ich aufstand. »Sie hat mir erzählt, dass Sie Charlie gerne vorlesen.«

Ich nickte und packte meine Tasche fester.

Vor der Doppeltür blieb sie stehen, nahm ihr Namensschild vom Revers ihres Kittels und fuhr damit über einen Sensor an der Wand. Es klickte, dann schob sie die Tür auf. »In den letzten Tagen ging es ihm einigermaßen, wenn auch nicht so gut, wie wir es uns wünschen würden«, fuhr sie fort, als wir in den breiten, weiß gestrichenen Flur mit den schmucklosen Wänden traten. Dieser Flur hatte keine Persönlichkeit. Gar keine Ausstrahlung. »Aber heute Morgen ist er früh aufgewacht.«

Meine neongrünen Flipflops klapperten über den Boden, wohingegen die Turnschuhe der Krankenschwester praktisch keinerlei Geräusch verursachten. Wir gingen den Flur entlang, der zum Gemeinschaftsraum führte. Charlie war dort nie gern gewesen, was so seltsam war, denn früher … vor seiner Verletzung … war er ein sehr geselliger Mensch gewesen.

Und nicht nur das.

Charlies Zimmer lag am Ende eines weiteren Korridors in einem Trakt, der speziell darauf ausgerichtet war, einen schönen Ausblick über den grünen Park und das therapeutische Schwimmbad zu bieten, das Charlie allerdings nie genutzt hatte. Schon früher war er kein großer Schwimmer gewesen, aber jedes Mal, wenn ich dieses verdammte Schwimmbad sah, wollte ich auf irgendetwas einschlagen. Ich hatte keine Ahnung, warum. Vielleicht weil wir anderen etwas für selbstverständlich nahmen – die Fähigkeit, eigenständig zu schwimmen – oder weil Wasser ein grenzenloses Gefühl ausstrahlte, während Charlies Zukunft inzwischen engen Grenzen unterlag.

Die Krankenschwester blieb vor der geschlossenen Tür stehen. »Sie wissen ja, wie es läuft, wenn Sie wieder gehen wollen.«

Das wusste ich – ich musste mich bei der Schwesternstation abmelden; vermutlich wollten sie nur sichergehen, dass ich nicht versuchte, Charlie heimlich rauszuschmuggeln oder so. Mit einem freundlichen Nicken in meine Richtung wirbelte die Krankenschwester auf dem Absatz herum und ging mit schnellen Schritten den Weg zurück, den wir gekommen waren.

Einen Moment lang starrte ich auf die Tür, atmete tief ein und dann langsam wieder aus. Das musste ich jedes Mal tun, bevor ich Charlie besuchte. Es war der einzige Weg, diesen scheußlichen Knoten aus Gefühlen – all die Enttäuschung, Wut und Trauer – zu verdrängen, bevor ich den Raum betrat. Charlie sollte nichts davon mitbekommen. Manchmal gelang es mir nicht, trotzdem versuchte ich es jedes Mal aufs Neue.

Erst als ich sicher war, lächeln zu können, ohne vollkommen irre zu wirken, öffnete ich die Tür. Und wie jeden Freitag in den letzten sechs Jahren traf mich Charlies Anblick wie ein Schlag in die Magengrube.

Er saß auf einem Sessel vor dem großen Panoramafenster – in seinem Sessel, einem dieser runden Rattandinger mit einem leuchtend blauen Kissen. Dieser war ein Geschenk zu seinem sechzehnten Geburtstag gewesen, wenige Monate bevor sich sein Leben so abrupt verändert hatte.

Charlie sah nicht auf, als ich den Raum betrat und die Tür hinter mir schloss. Das tat er nie.

Das Zimmer war ganz nett, ziemlich geräumig, mit einem Bett, das eine der Schwestern ordentlich gemacht hatte, einem Schreibtisch, den Charlie nie benutzte, und einem Fernseher, den ich in sechs Jahren nicht ein Mal angeschaltet gesehen hatte.

Er wirkte schrecklich dünn, fast mager. Schwester Venter hatte mir erzählt, dass sie ihn kaum dazu brachten, drei volle Mahlzeiten am Tag zu essen. Und auch die Umstellung auf fünf kleinere Mahlzeiten hatte nicht funktioniert. Vor einem Jahr hatten sie ihn sogar über eine Magensonde ernähren müssen. Die Angst von damals saß immer noch tief, denn damals hatte ich geglaubt, ich würde ihn verlieren.

Sein blondes Haar war am Morgen gewaschen, aber nicht gestylt worden. Früher hatte er einen kunstvoll zerzausten Look getragen, der ihm super gestanden hatte, doch mittlerweile war sein Haar ein gutes Stück kürzer. Er trug ein weißes Hemd und eine graue Trainingshose, die nicht einmal ansatzweise cool aussah. Nein, die hier hatte Gummibündchen an den Knöcheln. Gott, wenn er das wüsste, würde er einen Anfall kriegen, und zwar zu Recht, weil Charlie … na ja, Stil und Geschmack und all das waren ihm immer wichtig gewesen.

Ich ging zu dem zweiten Rattansessel mit dem passenden blauen Kissen, den ich vor drei Jahren gekauft hatte, und räusperte mich. »Hey, Charlie.«

Er sah nicht auf.

Ich spürte keine Enttäuschung. Na ja, da war schon dieses »Das ist nicht fair«-Gefühl, doch ich wurde nicht von einer neuerlichen Woge des Entsetzens überrollt. Denn so war es immer.

Ich setzte mich und stellte meine Tasche neben mir auf den Boden. Aus der Nähe wirkte Charlie älter als zweiundzwanzig – viel älter. Das Gesicht war ausgezehrt, die Haut wirkte blass, und dunkle Ringe lagen unter seinen einst so lebhaften grünen Augen.

Ich atmete ein weiteres Mal tief durch. »Heute ist es lächerlich heiß dort draußen, also lach mich bitte nicht aus, weil ich kurze Hosen anhabe.« Früher hätte er mich gezwungen, mich umzuziehen, bevor er sich mit mir in der Öffentlichkeit gezeigt hätte. »Die Wetterfee hat gemeint, dass wir am Wochenende Rekordtemperaturen kriegen werden.«

Charlie blinzelte langsam.

»Und auch ein paar fiese Stürme.« Ich verschränkte die Finger im Schoß und betete, dass Charlie mich anschaute. Manchmal tat er das; bei meinen letzten drei Besuchen jedoch nicht, und das jagte mir eine Höllenangst ein. Denn als er mich das letzte Mal so lange ignoriert hatte, hatte er kurz darauf einen schrecklichen Krampfanfall erlitten. Diese zwei Dinge hatten nichts miteinander zu tun, trotzdem fühlte ich, wie mein Magen sich verkrampfte; vor allem, weil Schwester Venter mir erklärt hatte, dass Patienten mit durch stumpfe Gewalteinwirkung verursachten Hirnverletzungen zu Krampfanfällen neigten. »Du weißt ja noch, dass ich Stürme mag, oder?«

Keine Antwort.

»Na ja, es sei denn, die Stürme wachsen sich zu Tornados aus«, fügte ich hinzu. »Aber da wir hier in Philly sind, wird es wohl kaum dazu kommen.«

Wieder blinzelte er langsam.

»Oh! Heute Abend haben wir im Mona’s eine geschlossene Gesellschaft«, plapperte ich weiter. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm schon davon erzählt hatte. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hatte. »Eine Privatparty.« Ich hielt inne und holte tief Luft.

Charlie starrte immer noch aus dem Fenster.

»Ich glaube, dir würde das Mona’s gefallen. Es ist zwar ein bisschen heruntergekommen, aber auf eine schräge, flippige Art. Aber das habe ich dir ja schon erzählt. Ich weiß nicht, aber ich wünschte mir …« Mit geschürzten Lippen sah ich zu, wie er die Schultern hob und einen tiefen Seufzer ausstieß. »Ich wünsche mir viele Dinge«, endete ich flüsternd.

Charlie fing an, sich vor- und zurückzuwiegen, in einem sanften Rhythmus, der mich an die Wellen des Meeres denken ließ.

Für einen Moment kämpfte ich gegen den Drang, den ganzen Frust, der sich in mir aufbaute, einfach herauszuschreien. Charlie hatte früher geredet wie ein Wasserfall. Die Lehrer in unserer Grundschule hatten ihm den Spitznamen Plappermaul gegeben, und er hatte darüber gelacht – o Gott, er hatte ein wunderbares Lachen gehabt, ansteckend und ehrlich.

Aber er hatte seit Jahren nicht mehr gelacht.

Ich schloss die Augen, um meine aufsteigenden heißen Tränen zurückzuhalten, während ich mich am liebsten auf den Boden geworfen und mit den Fäusten auf den Boden getrommelt hätte. Es war alles so unfair! Charlie sollte gesund sein und dort draußen herumlaufen, seinen Collegeabschluss in der Tasche haben und mit einem heißen Kerl zusammen sein, der ihn liebte. Er sollte sich mit mir und meiner aktuellen Flamme zu einem Viererdate treffen und längst seinen ersten Roman veröffentlicht haben, wovon er immer geträumt hatte. Und zwischen uns wäre alles wie immer. Beste Freunde – unzertrennlich. Er würde mich in der Bar besuchen und mir sagen, dass ich endlich mein Leben auf die Reihe kriegen müsse, wenn ich einen Tritt in den Hintern brauchte.

Charlie sollte leben. Denn das – was auch immer das hier sein sollte – war alles, aber kein Leben.

Stattdessen hatte ein beschissener Abend, eine Handvoll dämlicher Worte und ein verdammter Stein alles zerstört.

Ich öffnete meine Augen wieder, in der Hoffnung, dass Charlie mich ansah. Doch das tat er nicht. Also blieb mir nichts anderes übrig, als mich wieder zusammenzureißen. Ich zog ein gefaltetes Aquarell aus meiner Tasche. »Das habe ich für dich gemalt.« Meine Stimme klang heiser, trotzdem fuhr ich fort. »Weißt du noch, als wir fünfzehn waren und meine Eltern uns mit nach Gettysburg genommen haben? Du hast Devil’s Den geliebt, also habe ich es für dich gemalt.«

Ich hielt es ihm hin, auch wenn er es nicht anschaute. Stundenlang hatte ich diese Woche damit zugebracht, die sandfarbenen Felsen über den grünen Wiesen zu zeichnen und die richtigen Farben für den Stein und das Geröll dazwischen zu finden. Die Schatten waren am schwierigsten gewesen, weil ich Wasserfarben verwendet hatte, aber letztendlich war das Gemälde ziemlich cool geworden.

Ich trat mit dem Bild zu der Wand gegenüber von Charlies Bett, nahm eine Reißzwecke und hängte es neben die anderen Bilder. Für jede Woche, in der ich ihn besucht hatte, gab es ein Bild. Dreihundertzwölf Exemplare.

Ich ließ meinen Blick über die Wände gleiten. Meine Lieblingsbilder waren die Porträts, die ich von ihm gemalt hatte – Bilder von Charlie und mir zusammen, als wir noch jünger waren. Langsam ging mir der Platz aus. Wir würden demnächst auf die Decke ausweichen müssen. Doch nichts an diesen Wänden zeigte die Gegenwart oder die Zukunft. Es war eine Galerie der Erinnerungen.

Ich ging zurück zu meinem Sessel, zog das Buch heraus, das ich ihm gerade vorlas – Bis(s) zur Mittagsstunde. Wir hatten uns den ersten Film zusammen angeschaut, und fast hätten wir es sogar noch in den zweiten geschafft. Ich schlug es an der Stelle auf, wo ich das letzte Mal aufgehört hatte. Ich war überzeugt davon, dass Charlie zum Team Jacob gehört hätte. Emo-Vampire wären definitiv nicht sein Ding gewesen. Und obwohl es das vierte Mal war, dass ich ihm dieses Buch vorlas, schien er es immer noch zu mögen.

Zumindest redete ich mir das ein.

Während der ganzen Stunde, die ich mit ihm verbrachte, sah er mich kein einziges Mal an. Schließlich packte ich meine Sachen zusammen. Mein Herz lag so schwer in meiner Brust wie dieser Stein, der alles verändert hatte. Ich beugte mich vor, bis ich seinem Gesicht ganz nahe war. »Schau mich an, Charlie.« Ich wartete eine Sekunde, während meine Kehle immer enger wurde. »Bitte.«

Doch Charlie blinzelte nur und wiegte sich weiter. Vor und zurück. Das war alles, obwohl ich volle fünf Minuten auf eine Reaktion wartete – irgendeine Reaktion. Doch nichts geschah. Mit feuchten Augen drückte ich ihm einen Kuss auf die kühle Wange und richtete mich auf. »Wir sehen uns nächsten Freitag, okay?«

Ich tat so, als hätte er mir geantwortet. Nur so konnte ich diesen Raum verlassen und die Tür hinter mir schließen. Ich meldete mich bei den Schwestern ab, trat in den brennenden Sonnenschein und kramte meine Sonnenbrille aus dem Beutel. Die Hitze fühlte sich auf meiner kühlen Haut wunderbar an, doch mein Inneres konnte sie nicht wärmen. So fühlte ich mich immer, wenn ich Charlie besucht hatte, und daran würde sich auch nichts ändern, bis ich meine Schicht im Mona’s antrat.

Fluchend machte ich mich auf den Weg in den hinteren Teil des Parkplatzes zu meinem Wagen.

Glühende Hitze stieg vom Asphalt auf, und ich fragte mich sofort, welche Farben ich mischen müsste, um diesen Effekt auf Leinwand einzufangen. Schließlich entdeckte ich meinen treuen VW Jetta. Jeder Gedanke an Farben verschwand aus meinem Kopf. Mein Magen machte einen Sprung, und fast wäre ich über meine eigenen Füße gestolpert. Neben meinem Auto stand ein hübscher, praktisch neuer Truck.

Ich kannte diesen schwarzen Truck.

Ich hatte ihn sogar einmal gefahren.

O Mann.

Meine Füße verweigerten den Dienst. Abrupt blieb ich stehen.

Der Fluch meines Lebens war hier – seltsamerweise war es derselbe Mann, der regelmäßig eine Starrolle in meinen Fantasien übernahm, selbst in den schmutzigen – besonders in den schmutzigen.

Reece Anders war hier, und ich hatte keine Ahnung, ob ich ihn in die Eier treten oder lieber küssen wollte.

Kapitel 2   Die Fahrertür schwang auf, und mein Herz – dieses elende, verräterische Miststück – machte einen Sprung, als ein langes Bein in Jeans erschien, zusammen mit einem Flipflop mit dunklem Lederband. Wieso musste ich gerade auf Typen stehen, die sich trauten, Flipflops zu tragen? Aber … o Mann, ich fand wirklich, dass der Look zusammen mit verblassten Jeans total sexy rüberkam. Das zweite Bein erschien, gefolgt von seinem Oberkörper – ich erhaschte einen Blick auf ein ausgebleichtes Metallica-Shirt, unter dem ein Streifen eines Wahnsinnssixpacks hervorblitzte. Das Shirt klebte förmlich an seinem Körper, sodass sich gewissermaßen jeder einzelne Muskel abzeichnete, während sich die Ärmel über seinem Bizeps spannten.

Mein Blick wanderte weiter, über seine breiten Schultern – Schultern, die ohne Weiteres das Gewicht der Welt tragen könnten, was sie auch bereits getan hatten – zu seinem Gesicht mit der schwarzen Sonnenbrille. O Mann!

Wahnsinn!

In Freizeitklamotten sah Reece fantastisch aus, in seiner Polizeiuniform steigerte sich das Ganze zu »superheiß«, und nackt – nun ja, in diesem Zustand konnte der Typ einen visuellen Orgasmus auslösen.

Und ich hatte ihn nackt gesehen. Na ja, sozusagen. Okay, ich hatte sein Teil gesehen, und es war wirklich begeisterungswürdig.

Reece war ein klassisch attraktiver Mann, mit einer Knochenstruktur, bei deren Anblick meine Finger automatisch nach einem Zeichenstift greifen wollten – hohe Wangenknochen, volle Lippen und ein markantes Kinn, von dem andere nur träumen konnten. Außerdem war er Polizist – Freund und Helfer, was ebenfalls superheiß war.

Unglücklicherweise hasste ich ihn auch. Zumindest meistens. Manchmal. So ziemlich jedes Mal, wenn ich seinen heißen Körper sah und anfing, mich nach ihm zu verzehren. Genau dann hasste ich ihn.

Und jetzt gerade reagierten meine Intimteile heftig auf Reece, was bedeutete, dass ich ihn in diesem Moment wieder mal nicht ausstehen konnte. Ich umfasste meine Tasche fester und schob die Hüfte vor, so wie ich es bei Katie gesehen hatte, einer … etwas schrägen Freundin von mir, die das immer tat, wenn sie drauf und dran war, wieder mal jemandem eins vor den Latz zu knallen.

»Was machst du denn hier?«, fragte ich und spürte sofort, wie mich ein kalter Schauder überlief – trotz der Bullenhitze. Ich hatte seit über elf Monaten nicht mit Reece gesprochen. Na ja, wenn man die Worte Verpiss dich nicht mitrechnete, die ich ihm in dieser Zeit … keine Ahnung … vierhundertmal entgegengeschleudert hatte. Aber die zählten eigentlich nicht.

Dunkle Brauen erschienen über dem Rand seiner Sonnenbrille, dann lachte er leise, als hätte ich den Witz des Jahrtausends gerissen. »Wie wäre es, wenn du mich zuerst anständig begrüßt?«

Wäre ich nicht so perplex gewesen, hätte ich ihm eine Salve der wüstesten Flüche an den Kopf geknallt. Ich hatte ihm eine vollkommen berechtigte Frage gestellt. Soweit ich wusste, war Reece in den sechs Jahren, seit ich Charlie besuchte, nie hier gewesen. Aber ein Anflug von Schuldgefühlen und meine gute Erziehung gewannen die Oberhand. »Hi«, presste ich hervor.

Er schürzte seine wohlgeformten Lippen und schwieg, während ich die Augen hinter meiner Sonnenbrille zusammenkniff. »Hallo … Officer Anders?«

Er legte den Kopf schief. »Im Moment bin ich nicht im Dienst, Roxy.«

O Mann, allein wie er meinen Namen aussprach. Roxy. Mit einem rollenden R. Ich hatte keine Ahnung, wie er das schaffte, aber ich spürte, wie das Blut durch einige Teile meines Körpers rauschte, wo ich es im Moment definitiv nicht gebrauchen konnte.

Er schwieg weiter. »Hallo …«, begann ich. »Reece.« Am liebsten hätte ich mich selbst dafür geohrfeigt, weil ich mich auf sein Spielchen einließ.

Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, das mir verriet, dass er stolz war. Und das sollte er auch sein. Mich dazu zu bringen, seinen Namen auszusprechen, war eine echte Leistung. Hätte ich Kekse dabeigehabt, hätte ich ihm jetzt zur Belohnung einen ins Gesicht geschoben. »War das so schwer?«, fragte er.

»Ja, war es. Ein Teil meiner Seele ist dabei abgestorben.«

Zu meiner Verblüffung lachte er. »Deine Seele ist eine Sommerwiese voller Regenbogen und Hundewelpen, Süße.«

Ich schnaubte. »Falsch. Meine Seele ist erfüllt von Dunkelheit und unendlicher Leere.«

»Unendliche Leere?« Wieder lachte er und fuhr sich mit der Hand durch die dunkelbraunen Haare, die er an den Seiten rasiert hatte, oben hingegen für einen Polizisten ziemlich lang trug. »Wenn das stimmt, war es zumindest nicht immer so.« Sein lässiges, halbwegs – okay, umwerfend – charmantes Grinsen verflog, und er presste die Lippen aufeinander. »Allerdings, das war nicht immer so.«

Mir stockte der Atem. Reece und ich … wir kannten uns schon sehr lange. Zu Beginn meiner Highschoolzeit war er bereits im dritten Jahr und auch damals schon der Schwarm aller Mädchen gewesen. Ich war bis über beide Ohren in ihn verknallt gewesen, hatte Herzchen mit seinem Namen in meinen Schulblock gekritzelt – meine ältesten und leider auch schwächsten Werke – und mich über jedes Lächeln, jeden Blick in meine Richtung gefreut. Aufgrund meines Alters hatte ich mich kaum in denselben Kreisen bewegt wie er, aber er war trotzdem immer freundlich zu mir gewesen.

Wahrscheinlich, weil er mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder in das Haus neben uns eingezogen war.

Jedenfalls war er immer nett zu Charlie und mir gewesen. Mit achtzehn war er zu den Marines gegangen, und ich war am Boden zerstört gewesen, weil ich mir eingeredet hatte, dass wir heiraten und einen Stall voller Kinder in die Welt setzen würden. Die Jahre seiner Abwesenheit waren hart gewesen, und ich würde niemals den Tag vergessen, als Mom mich anrief, um mir zu sagen, dass er im Krieg verwundet worden war. Mein Herzschlag hatte ausgesetzt, und ich war vor Angst wie gelähmt gewesen, selbst dann noch, als man uns versichert hatte, dass er wieder gesund werden würde. Als er endlich nach Hause kam, war ich nicht mehr minderjährig, und wir wurden tatsächlich Freunde. Enge Freunde. Ich war während der schlimmsten Zeit seines Lebens für ihn da gewesen. In diesen schrecklichen Nächten, als er sich mit Alkohol betäubt hatte oder so launisch geworden war, dass er an einen Löwen im Käfig erinnerte, der jeden biss, der sich ihm nähern wollte – jeden außer mir. Doch dann hatte eine Nacht mit zu viel Whisky alles zerstört.

Jahrelang hatte ich von Reece geträumt, obwohl er immer unerreichbar gewesen war. Und ganz egal, was in dieser Nacht geschehen war, würden wir trotzdem niemals zusammenkommen.

»Wieso zum Teufel reden wir über meine Seele?«

»Du hast damit angefangen.«

Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber er hatte ja recht. Und das war irgendwie seltsam. Ich spürte einen feinen Schweißfilm auf meiner Stirn. »Warum bist du hier?«

Mit zwei langen Schritten stand er vor mir. Ich krümmte die Zehen in meinen Flipflops und widerstand dem Drang, herumzuwirbeln und davonzulaufen. Reece war groß, fast eins neunzig, während ich ohne Weiteres als Zwerg im Zauberer von Oz auftreten könnte. »Wegen Henry Williams.«

Schlagartig waren die Probleme zwischen uns vergessen, ebenso wie der Helligkeitsgrad meiner Seele. Ich starrte ihn an. »Was?«

»Er wurde aus dem Gefängnis entlassen, Roxy.«

Der Schweißfilm auf meiner Stirn schien zu gefrieren. »Ich … weiß ich. Er ist schon seit ein paar Monaten raus. Ich habe die Bewährungsanhörungen verfolgt. Ich …«

»Ich weiß«, sagte er leise, aber eindringlich, und mein Magen verkrampfte sich. »Aber du warst nicht bei seiner letzten Anhörung … der, nach der er entlassen wurde.«

Ich schüttelte den Kopf, obwohl es eigentlich keine Frage war. Ich war bei der vorhergehenden Anhörung gewesen, doch es war mir immer noch schwergefallen, Henry Williams’ Anblick zu ertragen. Allerdings war mir klar geworden, dass er gute Chancen hatte, beim nächsten Anlauf auf Bewährung entlassen zu werden. Und genau so war es gekommen. Es hieß, Henry hätte während der Haft Gott gefunden oder irgendwas. Schön für ihn.

Was allerdings nichts daran änderte, was er getan hatte.

Reece nahm seine Sonnenbrille ab und richtete seine strahlend blauen Augen auf mich. »Ich war dort.«

Überrascht wich ich zurück und wollte etwas sagen, fand jedoch keine Worte. Das hatte ich nicht gewusst. Mir war nicht einmal der Gedanke gekommen, dass er das tun könnte. Und ich hatte keine Ahnung, warum er das tun sollte.

Er sah mir unverwandt in die Augen. »Er hat darum gebeten …«

»Nein«, stieß ich hervor. »Ich weiß, was er wollte. Ich habe gehört, was er tun will, sobald er auf freiem Fuß ist, und ich sage Nein. In tausend Jahren nicht. Außerdem ist es nicht Sache des Gerichts, so etwas zu erlauben.«

Reece’ Miene wurde sanft, und so etwas wie Mitleid erschien in seinen Augen. »Ich weiß, Süße. Aber dir ist auch klar, dass du in diesem Punkt genauso wenig zu sagen hast.« Er zögerte kurz. »Er möchte Wiedergutmachung leisten, Roxy.«

Hilflos ballte ich die Faust. »Was er getan hat, kann er nicht wiedergutmachen.«

»Das sehe ich genauso.«

Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff. Es war, als tue sich der Erdboden unter meinen Füßen auf. »Nein«, flüsterte ich, während mein Magen sich verkrampfte. »Bitte sag mir, dass Charlies Eltern ihm nicht die Erlaubnis dazu gegeben haben. Bitte.«

Ein Muskel an seinem markanten Kinn zuckte. »Ich wünschte, ich könnte, aber genau das haben sie getan. Heute Morgen. Sein Bewährungshelfer hat es mir gesagt.«

Meine Brust wurde eng, und ich wandte mich ab, damit er nicht sah, wie sehr mich die Worte trafen. Ich konnte es nicht glauben. Mein Hirn weigerte sich schlichtweg anzuerkennen, dass Charlies Eltern diesem … diesem Mistkerl die Erlaubnis gegeben hatten, ihren Sohn zu besuchen. Das war herzlos und grausam und falsch. Nur wegen dieses homophoben Arschlochs war Charlie in diesem Pflegeheim. Mein Magen zog sich noch fester zusammen, sodass ich allmählich Angst hatte, mich gleich übergeben zu müssen.

Reece legte seine Hand auf meine Schulter. Ich zuckte zusammen, schob sie aber nicht weg. Diese Berührung … irgendwie verankerte sie mich in der Realität. Ein winziger Teil von mir war dankbar, gleichzeitig erinnerte es mich auch daran, wie es einmal zwischen uns gewesen war. »Ich hielt es für besser, wenn ich es dir gleich sage, damit du weißt, was Sache ist.«

Ich schloss fest die Augen »Danke«, krächzte ich.

»Das ist noch nicht alles. Er möchte auch mit dir sprechen«, fuhr er fort, ohne die Hand von meiner Schulter zu lösen.

Ich zuckte zurück, sodass seine Hand den Halt an meiner Schulter verlor, dann drehte ich mich wieder zu ihm um. »Nein. Ich will ihn nicht sehen.« Plötzlich stieg wieder diese Nacht vor meinem inneren Auge auf. Alles hatte ganz harmlos angefangen. Ein paar Scherze, Hänseleien. Und auf einmal war die Situation komplett außer Kontrolle geraten. »Auf keinen Fall.«

»Du musst das nicht tun.« Reece trat abermals auf mich zu und streckte die Hand aus, ließ sie jedoch wieder sinken. »Aber du solltest es wissen. Ich werde seinem Bewährungshelfer sagen, dass Henry sich von dir fernhalten soll. Sonst …«

Ich hörte kaum noch hin – registrierte weder das »Sonst« noch die Drohung, die in seiner tiefen Stimme mitschwang. Mein Herz raste, und plötzlich wollte ich nur noch weg, allein sein, um das alles zu verarbeiten. Meine Stofftasche wie einen Schild vor die Brust gepresst, schob ich mich an ihm vorbei. »Ich … ich muss weg.«

»Roxy!«

Ich trat um die Motorhaube meines Wagens, doch er war schneller. Er trat vor mich, die Sonnenbrille immer noch in der Hand, und blickte mich aus seinen strahlend blauen Augen an.

Er legte die Hände auf meine Schultern, und es war, als hätte ich meine Finger in eine Steckdose gesteckt. Trotz der Nachricht, die er mir gerade überbracht hatte, spürte ich seine Berührung in jeder Zelle meines Körpers. Ich hatte keine Ahnung, ob er es ebenfalls spürte. »Was mit Charlie passiert ist«, sagte er leise, »war nicht deine Schuld, Roxy.«

Abrupt riss ich mich von ihm los. Diesmal hielt er mich nicht auf, als ich die Tür öffnete und mich auf den Fahrersitz warf. Meine Brust hob und senkte sich in schweren Atemzügen.

Reece blieb noch einige Sekunden vor der Motorhaube stehen. Für einen Augenblick dachte ich, er würde ebenfalls einsteigen, doch dann schüttelte er den Kopf und setzte seine Sonnenbrille wieder auf. Ich sah, wie er sich umdrehte und mit großen Schritten zu seinem Truck zurückkehrte.

»Verdammte Scheiße«, stieß ich hervor und legte meine zitternden Finger um das Steuer. Ich wusste nicht, was schlimmer war: dass Charlie auch heute nicht auf mich reagiert hatte, dass Henry Williams ihn würde besuchen dürfen oder die Frage, ob Reece recht hatte.

Ob ich tatsächlich keine Schuld daran trug, was mit Charlie geschehen war.

Kapitel 3   Ein Teil von mir wünschte sich, ich könnte mir bei der Arbeit ein paar Drinks genehmigen, denn nach einem Tag wie diesem wäre mir ein anständiger Vollrausch durchaus willkommen gewesen. Doch ach, ich war mir ziemlich sicher, dass der Besitzer des Mona’s nicht begeistert wäre, wenn ich hinter der Bar an die Eiswürfelmaschine gekuschelt im Saufkoma versank.

Jackson James, von allen nur Jax genannt, hatte das Mona’s nur mit Muskelschmalz und Entschlossenheit wieder zum Laufen gebracht. Davor war die Kneipe ein Dreckloch gewesen – kaum mehr als ein Treffpunkt für Junkies aller Art. Doch diese Zeiten waren vorbei.

Jax schob die Arme um die Taille seiner Freundin Calla. Sie reagierte sofort und mit liebenswerter Unbeschwertheit. Sie lehnte sich gegen ihn und grinste ein anderes Pärchen an, das mit ihnen neben den alten Billardtischen stand.

Zur Hölle, überall waren Pärchen. Als hätten wir einen Pärchenabend im Mona’s ausgerufen, ohne dass jemand mir Bescheid gesagt hatte.

Cameron Hamilton und seine Verlobte, Avery Morgansten, saßen an einem der Tische. Vor ihm stand ein Bier, vor ihr eine Cola, und wie immer waren die beiden absolut süß. Avery hatte diese unglaublichen roten Haare und Sommersprossen und wirkte eigentlich wie das perfekte Hautcrememodel, während Cam auf diese durch und durch amerikanische Weise gut aussehend war.

Die beiden unterhielten sich mit Jase Winstead und Cams jüngerer Schwester Teresa. Diese beiden waren zusammen einfach atemberaubend – die Brangelina des Mona’s. Und dann waren da noch Brit und Ollie, die blonden Granaten. Ollie erklärte gerade irgendeinem Typen am Billardtisch, dass das Jahr 2015 zweiundfünfzig Freitage hatte oder etwas ähnlich Bizarres. Bei unserer letzten Begegnung hatte er mir erzählt, dass er eine Firma gründen wollte, die Leinen verkaufte … für Schildkröten. Wow!

Ich rückte die Brille zurecht, die ich eigentlich immer tragen müsste, und ließ meinen Blick wieder zu Calla und Jax gleiten. Meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Zuzusehen, wie zwei Leute, die Liebe verdient hatten, diese Liebe tatsächlich fanden, war einfach unglaublich schön. Mir wurde ganz warm um mein kleines Herz, als Calla kurz den Kopf hob und Jax ihr sofort einen Kuss auf die Lippen drückte.

Heute Abend drehte sich alles um die beiden – na ja, eigentlich um Calla. Sie würde am Montag wieder nach Shepherdstown zurückkehren, wo sie aufs College ging. Jax hatte die Kneipe für einen Abend zugemacht, um eine kleine Abschiedsparty zu schmeißen – die Privatparty, von der ich Charlie erzählt hatte.

Ich mixte einen Whisky-Cola für Melvin, der so alt wie Methusalem sein musste und gewissermaßen seinen eigenen Hocker an der Bar hatte. Ich grinste, als er zwinkernd nach seinem Glas griff. »Das ist Liebe«, rief er über den Rock-’n’-Roll-Song hinweg und nickte in Richtung Calla und Jax. »Die Art von Liebe, die hält.«

Tatsächlich schien ringsum eine wahre Liebesepidemie ausgebrochen zu sein. Selbst Dennis, der mit Reece und seinem Bruder zusammenarbeitete, war mit seiner Frau hergekommen. Das reinste Liebesparadies. Es machte mich ein wenig traurig, weil ich heute Abend ganz allein zwischen die Laken kriechen würde.

»Allerdings.« Ich stellte die Flasche ins Regal zurück und lehnte mich gegen die Bar. »Willst du Chicken Wings oder irgendwas?«

»Nein, heute Abend halte ich mich an den richtigen Stoff.« Fragend hob ich eine Augenbraue, worauf er sein Glas hob. »Schön, die beiden so zu sehen«, fügte er nach dem ersten Schluck hinzu. »Das Mädchen hatte es nicht immer leicht im Leben. Aber Jax wird sich gut um sie kümmern.«

Meiner Meinung nach konnte Calla zwar ganz gut selbst auf sich aufpassen, trotzdem verstand ich, was Melvin auf seine altmodische Art sagen wollte. Man musste Calla nur ansehen, um zu wissen, dass ihr einige schlimme – sehr schlimme – Dinge zugestoßen waren. Über ihre linke Wange zog sich eine lange Narbe, die sie inzwischen kaum noch versteckte. Sie hatte mir erzählt, was das Feuer am Rest ihres Körpers angerichtet hatte. Sie war bei dem Brand noch ein junges Mädchen gewesen und hatte praktisch ihre gesamte Familie verloren. Ihre Brüder waren gestorben, und ihre Mutter war danach in den Drogenrausch abgedriftet, während ihr Vater sich vom Acker gemacht hatte, weil er mit alledem nicht umgehen konnte.

Wie gesagt: Es war schön zu sehen, wie jemand Liebe fand, der sie so sehr verdient hatte.

Ich schob meine Brille hoch. »Und was ist mit dir, Roxy-Mädchen?«, fragte Melvin und legte den Kopf schief.

Stirnrunzelnd sah ich mich in der halb leeren Kneipe um. »Was meinst du?«

Er grinste breit. »Wann liegst du endlich in den Armen eines guten Mannes?«

Unwillkürlich schnaubte ich. »Nicht in absehbarer Zeit.«

»Berühmte letzte Worte«, gab er zurück und hob sein Glas an die Lippen.

Ich schüttelte den Kopf und lachte. »Ähm, nein. Nicht berühmt. Nur wahr.«

Stirnrunzelnd rutschte er von seinem Barhocker. »Letzte Woche habe ich dich mit diesem Jungen in das italienische Restaurant gehen sehen. Wie heißt er noch mal?«

»Mit Jungen gehe ich eigentlich nicht aus«, gab ich neckend zurück. »Deshalb weiß ich nicht, von wem du sprichst.«

Melvin kippte den Rest seines Drinks so schnell hinunter, dass sich seine Leber garantiert freute. »Du hast sogar eine Menge Dates, kleine Lady.«

Ich zuckte lediglich mit den Achseln. Er hatte recht, ich ging tatsächlich ziemlich oft aus. Und einige der Typen benahmen sich tatsächlich wie Jungs, wenn sie dachten, dass ein billiges Abendessen im Olive Garden genügte, um mich hinterher flachlegen zu dürfen. Himmel, es sollte wirklich irgendeine Regel geben, die besagte, dass Filet und Hummer auf der Speisekarte gestanden haben mussten, bevor man einlochen durfte.

»Und was ist mit dem einen, der aussah, als wäre er noch feucht hinter den Ohren? Dieser Rothaarige?«, fragte Melvin. »Rote Haare und Pfirsichflaum auf den Wangen.«

Pfirsichflaum? Ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht zu lachen, denn ich wusste genau, wen er meinte. Und wieder hatte Melvin recht – der arme Kerl brachte noch nicht mal einen anständigen Bart zuwege. »Sprichst du von Dean?«

»Keine Ahnung, ist auch egal«, meinte Melvin wegwerfend. »Ich mag ihn jedenfalls nicht.«

»Du kennst ihn doch gar nicht! Eigentlich ist er ein ziemlich netter Kerl und noch dazu älter als ich.«

Melvin grunzte nur. »Du brauchst einen echten Mann.«

»Meldest du dich freiwillig?«, schoss ich zurück.

Ihm entkam ein tiefes, kehliges Lachen. »Wäre ich jünger, Mädchen, würde ich dir zeigen, wie man sich amüsiert.«

»So, so.« Lachend verschränkte ich die Arme vor dem »HUFFLEPUFFDOESITBETTER«-Aufdruck auf meinem Shirt. »Willst du noch was trinken? Aber wenn, dann nur ein Bier. Harte Sachen hattest du für heute mehr als genug.«

Er lachte, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Hast du jemanden, der dich nach deiner Schicht zum Wagen begleitet?«

Ich fand die Frage seltsam. »Ja, einer der Jungs, wie immer.«

»Gut. Du musst vorsichtig sein«, erklärte er. »Bestimmt hast du von dem Mädchen drüben in Prussia gehört. Sie ist ungefähr in deinem Alter, lebt allein und arbeitet bis spät in die Nacht. Ein Typ ist ihr nach Hause gefolgt und hat sie übel zugerichtet.«

»Ja, da war etwas in den Nachrichten. Aber ich dachte, sie hätte den Täter gekannt … ihr Exfreund oder so.«

Melvin schüttelte den Kopf und nahm die Bierflasche, die ich ihm reichte. »Soweit ich gehört habe, steht er nicht mehr unter Verdacht, sondern die Polizei glaubt, es sei ein Fremder gewesen. Prussia ist nicht allzu weit von hier entfernt. Und dann dieses Mädchen, das vor einem Monat verschwunden ist. Shelly Winters hieß sie, wenn ich mich nicht irre. Sie lebte in Abington Township. Sie haben sie immer noch nicht gefunden.« Vage erinnerte ich mich daran, eine Vermisstenanzeige auf Facebook gesehen zu haben – ein hübsches Mädchen mit blauen Augen und braunem Haar. »Pass einfach auf dich auf, okay?«

Ich sah zu, wie Melvin davonschlenderte. Ich dagegen lehnte mich mit einem Stirnrunzeln gegen die Bar. Dieses Gespräch hatte ja mal eine unheimliche Wendung genommen.

»Lust auf eine Wette?«

Ich drehte mich um und musste den Kopf weit in den Nacken legen, um zu Nick Dormas aufzusehen. Er war sozusagen der Inbegriff des großen, dunklen, grüblerischen Typs, und die Mädels, die in die Kneipe kamen, standen total auf ihn. Obwohl ihm »Ich werde dir das Herz brechen« gewissermaßen auf der Stirn stand, prügelten sich die Mädchen regelrecht um ihn. Es überraschte mich etwas, dass er mit mir redete, denn für gewöhnlich hielt er sich eher an Jax. Ich hatte keine Ahnung, wie er es schaffte, so viele Mädchen abzuschleppen, obwohl er kaum die Zähne auseinanderbekam. Nick gehörte zur »Einmal in die Kiste und Ende«-Fraktion. Ich hatte einmal gehört, wie Jax erklärt hatte, dass er es sich schlichtweg nicht leisten konnte, Mädchen aus der Kneipe zu schmeißen, mit denen Nick mal etwas gehabt hatte, nur weil er sie nicht wiedersehen wollte. »Was für eine Wette?«

Nick griff nach einer Flasche Tequila und nickte in Jax’ Richtung. »Dass er nach Shepherdstown düst, noch bevor die Woche zu Ende ist.«

Er grinste, während ich zur Seite trat, damit er an die Gläser kam. »Vergiss es, außer ich darf darauf wetten, dass er es tut.«

Nick lachte leise, was ebenfalls seltsam war, weil er sich nur selten dazu hinreißen ließ. Ich hatte keine Ahnung, was mit ihm los war. Nick konnte ziemlich launisch sein, trotzdem mochte ich ihn. »Hey«, sagte ich. »Willst du mal was hören?«

Er zog eine Augenbraue hoch.

»Banane.«

Er grinste. »Ist das ein Codewort für irgendwas?«

»Nein. Ich hatte bloß Lust, das Wort zu sagen.« Ich wischte einen Tequilafleck vom Tresen. »Aber wäre das nicht ein schräges Safeword beim SM-Sex? Wenn ein Mädchen mittendrin plötzlich Banane schreit? Das wäre echt peinlich.«

Nick starrte mich nur an.

»Ich habe mal ein Buch gelesen, in dem ein Mädchen direkt vor dem großen Bow-chicka-bow-wow ganz laut Katze gerufen hat«, erklärte ich. »Es war rasend komisch.«

»Okay«, murmelte er, ehe er sich vom Acker machte.

Als ich mich umdrehte, entdeckte ich Jax, der mit hochgezogenen Augenbrauen vor der Bar stand. »Worum zum Teufel ging es da gerade?«

Ich grinste ihn und Calla an. »Um Safewords beim Sado-masosex.«

»Ähm … okay. Klingt ja sehr interessant.«

Ich kicherte und fühlte mich zum ersten Mal an diesem Tag halbwegs entspannt. »Wollt ihr was trinken?« Ich grinste wie der Joker auf Koks. »Wie wär’s mit einem Tequila?«

Calla wich entsetzt zurück. »Nein! Dieses Teufelszeug rühre ich nie wieder an!«, stieß sie hervor.

Lachend zog Jax sie an sich – eine Geste, bei der mir erneut ganz warm ums Herz wurde. »Also, ich finde es irgendwie süß, wenn du mit der Flasche kuschelst.«

Sie wurde rot und legte ihre Hand auf seinen Bauch. »Lieber nicht.«

Am Ende nahm er ein Bud light, während sie sich für einen Alkopop entschied. »Das T-Shirt gefällt mir«, bemerkte Calla, als sie die Flasche an die Lippen hob. »Ich werde dich und deine T-Shirts vermissen.«

»Ich werde dich auch vermissen!«, rief ich, und wäre ich fähig gewesen, über die Bar zu klettern, hätte ich mich auf sie geworfen. »Aber du kommst doch zurück, oder? Wir haben gemeinsames Sorgerecht für dich!«

Sie lachte. »Ich bin so schnell zurück, dass du nicht mal Zeit haben wirst, mich zu vermissen.«

Oh, und wie ich sie vermissen würde.

»Und ich komme auch.« Teresa trat neben Calla und strich sich mit einer Hand über ihr langes dunkles Haar. »Mir gefällt es hier.«

Calla warf einen Blick zu Jase, der sich gerade mit Cam unterhielt. »Ich hoffe nur, du willst ihn nicht zurücklassen. Das wäre keine gute Idee.«

»Niemals.« Tess sah mich an. »Er ist eine wirklich hübsche Armverzierung.«

Mein Blick schweifte zu dem gut aussehenden Kerl mit den silbergrauen Augen. »Das kannst du laut sagen.«

»Okay, ich glaube, es ist Zeit für mich zu gehen.« Jax zog seinen Arm zurück und gab Calla einen Kuss auf die Wange. »Aber Jase ist wirklich ein Wahnsinnstyp. Sogar ich würde ihn nehmen.«

Das hatte er laut genug gesagt, dass Jase uns einen verwirrten Blick zuwarf, der bei ihm irgendwie sexy aussah. Ich brach in wildes Gekicher aus.

Tess schüttelte den Kopf und lehnte sich zu Calla. »Aber jetzt mal ehrlich, es gefällt uns beiden hier. Und dasselbe gilt für Cam und Avery. Es ist perfekt, um mal rauszukommen.«

»Und du kannst uns auch jederzeit besuchen«, sagte Calla zu mir.

Ich nickte geistesabwesend, als die Tür aufging. Heute Abend waren nur Freunde von Jax und Calla eingeladen, deshalb war es vermutlich Katie, die sich bisher noch nicht hatte blicken lassen. Doch stattdessen trat Reece durch die Tür. Mein dämliches Herz machte einen kleinen Sprung. Es war Freitagabend. Hatte er etwa keinen Dienst?

Verdammt.

Er sah nicht mal in Richtung der Jungs an den Billardtischen. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Bar. Unsere Blicke trafen sich. Und meine Intimteile standen sofort in Habachtstellung.

Zweimal verdammt.

Wie jedes Mal, wenn ich Reece sah, stockte mir auch jetzt der Atem. Vielleicht lag es daran, wie er sich bewegte – o Gott, er kam direkt auf mich zu! Ich wirbelte herum. »Ich muss mal kurz ins Lager«, sagte ich zu Nick.

»Irgendwann wirst du mir mal verraten müssen, warum du das tust«, murmelte Calla. Den Rest ihrer Worte hörte ich nicht mehr, weil ich bereits mit schnellen Schritten davoneilte.

Vielleicht war das zickig von mir, nachdem Reece sich heute Morgen so viel Mühe gemacht hatte. Darüber hatte ich den gesamten Nachmittag nachgedacht. Na ja. Und darüber, dass Henry Williams Wiedergutmachung leisten wollte.

Wiedergutmachung – als wäre so etwas möglich.

Gott, am liebsten hätte ich gelacht, als ich den Flur entlang ins Lager eilte. Ich schloss die Tür hinter mir, ließ mich dagegensinken und stieß den Atem aus, sodass eine purpurbraune Strähne vor meinem Gesicht wippte. Ich wollte im Moment nicht über Henry nachdenken. Und so übel das auch klang, ich wollte auch nicht an Charlie denken. Ich hatte gute Laune, und es würde noch mehrere Stunden dauern, bevor meine Schicht endete und ich endlich ins Bett fallen konnte.

Reece kam mir wieder in den Sinn. Ich hatte immer noch keine Ahnung, warum er sich die Mühe gemacht hatte, zum Pflegeheim zu fahren, um mir von Henry zu erzählen. Zugegeben, wir waren früher gut befreundet gewesen, aber in den letzten elf Monaten herrschte Eiszeit zwischen uns. Doch jetzt hatte er besagtes Eis gebrochen, und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Wahrscheinlich bedeutete es gar nichts. Es durfte nichts bedeuten, denn Reece … tja, vor elf Monaten hatte er mir ein Stück meines Herzens aus der Brust gerissen.

Und er wusste es noch nicht mal.

Ich wartete fünf Minuten, weil ich davon ausging, dass er sich inzwischen von Nick einen Drink hatte einschenken lassen. Dann schob ich die lose Strähne hinters Ohr und machte die Tür auf.

»Himmel!«, schrie ich und stolperte zurück ins Lager.

Reece stand mit gesenktem Kopf vor mir im Türrahmen und sah mich nicht gerade erfreut an. »Hast du dich jetzt lange genug versteckt?«

»Ich … ich habe mich nicht versteckt. Absolut nicht.« Meine Wangen wurden heiß. »Sondern nur kurz das Lager überprüft.«

»Hm-mm.«

»Ehrlich!«

Er zog nur eine Augenbraue hoch.

»Ist ja auch egal. Ich muss wieder da raus, also könntest du bitte …«

»Nein.«

Mir fiel die Kinnlade herunter. »Nein?«

Er richtete sich auf, doch statt mich vorbeizulassen, trat er einen Schritt vor und hielt die Tür auf. Sein Bizeps wölbte sich, als er sie hinter sich zuschlug. »Wir beide müssen uns unterhalten.«

O Gott. »Ich wüsste nicht, was wir beide zu besprechen hätten.«

Reece trat noch einen Schritt auf mich zu. Wieder wich ich unwillkürlich zurück, bis ich mit dem Rücken gegen ein Regal stieß. Flaschen klirrten. Er stand direkt vor mir, so dicht, dass mir bei jedem Atemzug der frische Geruch seines Aftershaves in die Nase stieg.

Zwei Hände legten sich rechts und links neben meinen Schultern auf ein Regalbrett, und er beugte sich noch weiter vor. Sein warmer Atem strich über meine Wange, und ein Schauder überlief mich. Hoppla. Intimteile in Habachtstellung und bereit für den Einsatz.

»Ich habe das zwischen uns viel zu lange laufen lassen«, erklärte er und sah mich an. Diese Augen … kobaltblau – ein Blau, das man mit Aquarellfarben nur ganz schwer einfangen konnte …

Meine Zunge fühlte sich plötzlich schwer an. Seit dieser verhängnisvollen Whisky-Nacht war Reece mir nicht mehr so nahe gekommen. »Zwischen uns läuft doch gar nichts.«

»Schwachsinn! Du gehst mir seit Monaten aus dem Weg.«

»Stimmt gar nicht«, widersprach ich. Okay, das klang ziemlich lahm, aber sein Mund befand sich direkt vor meinem Gesicht, und ich erinnerte mich genau, wie er sich auf meinen Lippen angefühlt hatte – eine perfekte Kombination aus fest und weich. Außerdem wusste ich nur zu gut, wie stark Reece war. Wie er mich einfach hochgehoben hatte und …

Und ich musste dringend aufhören, ausgerechnet jetzt darüber nachzudenken.

»Elf Monate. Elf Monate, zwei Wochen und drei Tage. Genau so lange gehst du mir schon aus dem Weg.«

Heilige Scheiße, hatte er mir das tatsächlich gerade auf den Punkt vorgerechnet? Denn er hatte absolut recht. Genauso lange machte ich schon einen Bogen um ihn, wenn ich ihm nicht gerade an den Kopf warf, dass er sich verpissen sollte.

»Wir werden jetzt über das letzte Mal reden, als du und ich uns richtig unterhalten haben.«

O nein, darüber würden wir garantiert nicht reden.

Er senkte den Kopf und sprach mir direkt ins Ohr, während ich mich am Regal festklammerte. »Genau, Süße. Wir werden jetzt über die Nacht reden, in der du mich nach Hause gefahren hast.«

Ich schluckte schwer. »Du … meinst die Nacht, als du sturzbetrunken warst und ich dich nach Hause fahren musste?«

Reece hob den Kopf ein Stück, und seine Augen bohrten sich in meine. Für einen langen Moment sprach keiner von uns, während meine Gedanken zu jenem Abend vor elf Monaten, zwei Wochen und drei Tagen zurückkatapultiert wurden. Er war in der Bar gewesen, und wir hatten geflirtet, wie wir es seit seiner Rückkehr aus Übersee jedes Mal taten, wenn wir uns begegneten. Es hatte sich angefühlt, als wäre er nie weg gewesen. Visionen von Ehe und Babys füllten meinen Kopf, obwohl ich mich ermahnte, nicht zu viel in unsere harmlosen Plänkeleien hineinzuinterpretieren. Aber ich war verknallt; und außerdem dämlich. In dieser Nacht bat er mich, ihn nach Hause zu fahren. Ich dachte, er würde endlich versuchen, mir näherzukommen, schließlich stand ich seit Ewigkeiten auf ihn und sehnte mich nach seiner Aufmerksamkeit. Also sagte ich Ja, folgte ihm in sein Apartment und … na ja, ehrlich gesagt, war ich diejenige, die tatsächlich den ersten Schritt machte.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und küsste ihn, kaum dass er die Tür geschlossen hatte. Im Handumdrehen nahmen die Dinge ihren Lauf – Kleider flogen herum, noch mehr Küsse, Berührungen, und ich …

»Ich würde alles dafür geben, mich an diese Nacht zu erinnern«, fuhr Reece fort, während er mir in die Augen sah. Seine Stimme klang plötzlich noch tiefer. »Daran, wie es sich angefühlt hat, in dir zu sein.«

In diesem Moment passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Muskeln tief in meinem Unterleib verkrampften sich, während eine Woge der Enttäuschung in mir aufstieg und meine Wut fortspülte. Ich schloss die Augen und biss mir auf die Unterlippe.

Reece glaubte, dass wir vor elf Monaten, zwei Wochen und drei Tagen Sex gehabt hatten – wilden, fantastischen Sex im Stehen. Er war davon überzeugt, dass er nur zu betrunken gewesen war, um sich daran zu erinnern. Zu blau, um sich an mehr zu erinnern als den Moment, als wir uns im Flur die Sachen vom Leib gerissen hatten.

Ich hatte damals nicht begriffen, dass er so tief ins Glas geschaut hatte – was ziemlich dämlich war; schließlich arbeitete ich als Barkeeperin und wusste eigentlich genau, wann Leute genug hatten. Verdammt, er hatte mich gebeten, ihn nach Hause zu fahren. Doch ich hatte mich so … verzweifelt nach seiner Aufmerksamkeit gesehnt. Ich war so hoffnungsfroh gewesen und so vollkommen in meiner Schwärmerei versunken. Eigentlich war es auch mehr als das. Ich hatte mich mit fünfzehn in ihn verknallt, und daran hatte sich in all den Jahren nichts geändert.

Ich war die Nacht über bei ihm geblieben, und als er am nächsten Morgen mit einem üblen Kater aufgewacht war, reumütig, völlig zerknirscht und regelrecht panisch, mir bloß nicht mehr zu nahe zu kommen, war mein Herz gebrochen. Und in den Wochen danach, als er mir ausgewichen war, als hätte ich die Pest, war es endgültig in Stücke zerfallen.

Das Traurige war, dass Reece alles falsch verstanden hatte.

Wir waren nicht einmal an den Punkt gekommen, wo Stecker A in Buchse B eingeführt wurde. Wir hatten in dieser Nacht keinen Sex gehabt. Er hatte es gerade noch so ins Schlafzimmer geschafft, bevor er eingeschlafen war. Und ich war bei ihm geblieben, weil ich mir Sorgen gemacht und gedacht hatte … Ach, egal, was ich gedacht hatte. Tatsache war: Wir hatten keinen Sex gehabt.

Kapitel 4   Reece dachte, wir hätten miteinander geschlafen, und bereute etwas, was nie geschehen war. Gab es etwas Schlimmeres? Reece Anders verabscheute Lügen jeder Art. Notlügen. Kleine Lügen. Notwendige Lügen. Höfliche Lügen. Jegliche Lügen.

Mein Vergehen fiel wohl in die Kategorie von Unterlassungslüge. Ich hatte nie behauptet, wir hätten Sex gehabt, sondern ihm nur nie gestanden, dass zwischen uns nichts passiert war. Reece kannte mich, seit ich fünfzehn war. Er war während der schweren Zeit nach dem Angriff auf Charlie für mich da gewesen. Und als er nach vier Jahren bei den Marines zurückgekehrt war, hatte er sofort beim Haus meiner Eltern vorbeigeschaut. Bis heute behauptete Mom steif und fest, dass er nach mir gesucht hätte. Doch das bezweifelte ich. Unsere Familien standen sich nahe, das war alles. Ich war mit achtzehn ausgezogen und folglich nicht dort gewesen. Als meine Eltern anriefen und meinten, ich solle nach Hause kommen, hatte ich mit dem Schlimmsten gerechnet, weil meine Mom klang, als stünde sie kurz vorm Herzinfarkt. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Reece zurück war, und er hatte mir … wow, die beste Umarmung aller Zeiten angedeihen lassen. Und obwohl wir seitdem enge Freunde geworden waren, seit er als Polizist für das County arbeitete, würde meine Lüge ihn auf die Palme bringen.

Seine Abneigung gegen Verlogenheit hatte ihren Ursprung in der Zeit, bevor wir uns kannten, und hatte irgendetwas mit seinem Vater zu tun. Ich kannte keine Details, ging aber davon aus, dass es etwas mit Seitensprüngen zu tun hatte, weil er relativ bald zu seiner Mom und seinem Stiefvater gezogen war, während sein Vater ein Leben als serieller Fremdgänger führte.

Also, ja, Reece anzulügen war gleichbedeutend mit dem Shitstorm des Jahrhunderts.

Er sah auf mich herunter und wartete auf eine Antwort, die ich nicht geben konnte. In den letzten elf Monaten hatte ich mir so oft gewünscht, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu schreien. Doch der Schmerz, den er mir mit seinem Verhalten am Morgen danach zugefügt hatte, um mich dann wochenlang zu ignorieren, verband sich mit der Wut darüber, dass er sich überhaupt so sehr betrunken hatte, dass er sich nicht erinnerte, ob er mit mir geschlafen hatte. Das alles hatte mich tief getroffen.

Aber – um ehrlich zu sein – es war mir auch peinlich, und ich war über mich selbst entsetzt. Hätte Charlie das alles mitbekommen, hätte er mir wahrscheinlich ordentlich den Kopf gewaschen. Denn ich hätte es besser wissen müssen. Aber passiert war passiert, und ich hatte ordentlich dafür bezahlt. Ganze Tage hatte ich im Eiscreme-Koma verbracht, und wochenlang war ich jedes Mal fast in Tränen ausgebrochen, wenn jemand auch nur seinen Namen erwähnte. Monatelang hatte ich ihm nicht ins Gesicht sehen können, ohne sofort rot anzulaufen.

Und ich war immer noch zutiefst verletzt.

Genau an diesen Schmerz und die Demütigung dachte ich jetzt und spürte, wie meine Wut erneut zu brodeln begann. »Wie gesagt, da gibt es nichts zu besprechen. Ich erinnere mich selbst kaum an diese Nacht.«

Lügen! Alles nur Lügen! »So weltbewegend war es nicht.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Ich glaube dir kein Wort.«

»Denkst du wirklich, du wärst so toll im Bett, dass du selbst stockbetrunken noch Eindruck hinterlässt?«, schoss ich zurück.

»Nein.« Seine Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln. »Aber deine Erinnerung muss ziemlich lebhaft sein, wenn du mir die ganze Zeit über ausgewichen bist.«

Mist. Gutes Argument. »Aber eigentlich würde ich mich lieber nicht daran erinnern.« Kaum hatten diese Worte meinen Mund verlassen, würde ich sie am liebsten ungeschehen machen. Das war gemein. Und auch wenn ich Reece tunlichst aus dem Weg gegangen und immer wieder ziemlich unhöflich zu ihm gewesen war – Gemeinheit war definitiv nicht mein Ding.

Seine Lippen wurden schmal, und er legte den Kopf schief. Ich rechnete fest damit, dass er mir meine Beleidigung mit gleicher Münze heimzahlen würde. Nach diesem Tiefschlag hätte ich das verdient gehabt. Doch er tat es nicht. »Ich wünschte, ich könnte sagen, es wäre schön für dich gewesen. Und ich hätte dafür sorgen können, dass es das wirklich ist«, sagte er stattdessen mit tiefer Stimme. Sofort verstärkte sich das Kribbeln in meinem Unterleib.

Erinnerungen überschwemmten mich und raubten mir den Atem. Selbst vollkommen betrunken war er auf dem besten Weg gewesen, unsere Begegnung in ein unvergessliches Erlebnis zu verwandeln. Ich würde diese Nacht niemals vergessen, und zwar im positiven Sinne. Reece’ Blick glitt zu meinem Mund, und meine Brust hob sich in einem scharfen Atemzug. Er starrte meine Lippen lang genug an, dass eine verrückte Idee in meinem Kopf aufkeimte. Es war quasi die Königin aller verrückten Ideen. Leider endeten solche Ideen meistens im vollkommenen Chaos.

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Reece drauf und dran war, mich zu küssen. Und schon beim nächsten Atemzug war ich mir nicht mehr sicher, ob ich ihn davon abhalten wollte. Was sagte das über mich aus? Dass ich offensichtlich eine masochistische Ader hatte.

Er räusperte sich und sah mir wieder in die Augen. »Aber so blau, wie ich war, bin ich mir einfach nicht sicher. Ich weiß nicht …«

»Ich muss wieder raus.« Ich konnte dieses Gespräch auf keinen Fall fortführen. Ich musste hier verschwinden, bevor mein gesunder Menschenverstand einer üblen Mischung aus Verlangen und dem Bedürfnis, Reece aus seiner Misere zu befreien, zum Opfer fiel. Ich wollte unter seinem Arm hindurchtauchen, doch in diesem Moment trat er einen Schritt zur Seite, sodass ich keine Chance hatte, an ihm vorbeizukommen.

»Hör endlich auf, vor mir wegzulaufen.«

Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Ich laufe nicht weg.«

Erneut suchte er meinen Blick, und wieder stand ich wie ein Reh im Scheinwerferlicht vor ihm, während er vorsichtig eine Fingerspitze gegen den Nasenbügel meiner Brille drückte und sie nach oben schob. Mein Herz machte einen Sprung – genau das hatte er früher ständig getan.

»Ich muss sie dringend anpassen lassen«, hatte ich dann immer gesagt, und er hatte jedes Mal geantwortet: »Nein, ich bin gern der offizielle Hüter deiner Brille.« Himmel, bei dieser Erinnerung zog sich mein Herz erneut zusammen.

»Habe ich … habe ich dir etwas getan, Roxy?«

Ich erstarrte, als hätte er mir einen Kübel mit Eiswasser über den Kopf geschüttet. »Was?«

Reece stand immer noch, die Hände auf das Regal gestützt, vor mir, doch seine lässige Überheblichkeit war Wachsamkeit und Anspannung gewichen. »Habe ich dir wehgetan?«

Mir fiel die Kinnlade herunter. Hatte er mir wehgetan? Ja. Er hatte mir das Herz gebrochen. Es in Stücke zerschlagen, aber vermutlich war es nicht das, was er meinte. »Nein. Gott, nein. Wie kannst du so was denken?«

Er schloss für einen Augenblick die Augen und atmete erleichtert auf. »Ich wusste nicht, was ich denken sollte.«

O Gott, plötzlich wurde meine Brust ganz eng. Ich musste ihm unbedingt die Wahrheit sagen. Denn sosehr er meine Gefühle und meinen Stolz auch verletzt haben mochte, durfte ich auf keinen Fall zulassen, dass er so etwas von sich dachte. Die Worte lagen mir bereits auf der Zunge.

»Das hätte niemals passieren dürfen«, fuhr er fort. »Du und ich … nicht auf diese Art.«

Die Worte fielen in sich zusammen, verloschen wie ein Funke in einem Regenguss. Mir war durchaus bewusst, wie verrückt es war, sauer zu sein. Schließlich hatte er nur gesagt, dass etwas nicht hätte passieren dürfen, was ohnehin nie passiert war. Doch es ging um seine Einstellung. »Du bereust es tatsächlich, was?« Meine Stimme klang viel zu heiser. »Ich weiß, dass ich wohl nicht das erste Mädchen war, bei dem du …«

»… so betrunken warst, dass ich mich nicht daran erinnern kann, mit ihr geschlafen zu haben?«, unterbrach er mich. »Doch, bist du.«

Ich war nicht sicher, ob ich erleichtert oder gekränkt sein sollte. »Du … du wünschst dir also, diese Nacht wäre nie passiert, richtig?«

»Ja.« Seine offene Antwort traf mich wie eine Kugel in der Brust. »Weil ich …«

Plötzlich ging die Tür zum Lager auf. »Oje, ich und mein Timing.« Nick trat herein. »Entschuldigung, wenn ich … ähm, störe. Ich muss nur kurz … etwas holen.«