Beast Changers, Band 2: Im Reich der Feuerdrachen - Amie Kaufman - E-Book

Beast Changers, Band 2: Im Reich der Feuerdrachen E-Book

Amie Kaufman

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Beschreibung

Wecke das Tier in dir: Bist du Eiswolf oder Feuerdrache? Bewaffnet mit einem mächtigen Schneestein rüsten sich die Eiswölfe zum Angriff gegen die Feuerdrachen. Mit diesem Stein können die Wölfe eisige Temperaturen heraufbeschwören – eine Katastrophe für die Drachen! Nur das Sonnenzepter könnte das Gleichgewicht der Mächte wiederherstellen und einen Krieg zwischen den Tierwandlern verhindern. Also machen sich die Zwillinge Anders und Rayna auf eine gefahrvolle Suche … Entdecke alle Abenteuer der "Beast Changers"-Trilogie: Band 1: Im Bann der Eiswölfe Band 2: Im Reich der Feuerdrachen Band 3: Der Kampf der Tierwandler

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2020Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag GmbH© 2020 Ravensburger VerlagOriginaltitel: Elementals: Scorch Dragons© 2019 by HarperCollins PublishersPublished by arrangement with HarperCollins Children’s Books, a division of HarperCollins Publishers.Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Hannover.Umschlaggestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung von Motiven von © duskbabe/depositphotos und © jag_cz/depositphotosVignette im Innenteil: Adobe Stock/ulyankinÜbersetzung: Britta KeilAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-51052-8www.ravensburger.de

Für Michelle,meine Gefährtin bei unzähligen Abenteuern –vergangenen und zukünftigen.

1

Der Kampf zwischen den Drachen und den Wölfen war vorüber.

Nun, knapp eine Stunde später, saß Anders auf der Krankenstation zwischen zwei behelfsmäßig errichteten Betten, in denen seine beste Freundin Lisabet und seine Zwillingsschwester Rayna lagen. Um ihn herum herrschte hektisches Treiben.

Alle Feuerdrachen hatten menschliche Gestalt angenommen, denn in die überfüllte Höhle tief im Berg hätte nicht einmal ein einziger Drache gepasst. In jeder Nische lagen Verwundete, und Heiler eilten von einem zum anderen.

Da stöhnte Lisabet neben Anders auf. Sein Blick flog sofort zu ihr. Ihre blasse Haut war noch blasser als sonst, und selbst ihre Sommersprossen wirkten irgendwie farblos. Lisabet hatte die Drachen gegen das Wolfsrudel verteidigt, das sie und Anders unabsichtlich hierhergeführt hatten, und sich dabei hart den Kopf angeschlagen.

„Geht es dir gut?“ Anders beugte sich zu ihr, doch die Antwort kam von der anderen Seite.

„Sie hat sich fast den Schädel zertrümmert. Wie sollte es ihr da gut gehen?“, entgegnete seine Schwester.

Er drehte sich zu Rayna um. Sie hatte sich unter einem riesigen Berg Decken zusammengerollt, nur der Kopf schaute heraus. Als sie von dem Eisspeer eines Wolfes getroffen worden war, hatte sich ihre braune Haut besorgniserregend grau verfärbt, und auch wenn sie allmählich wieder eine normale Farbe annahm, so waren ihre Wangen noch immer unnatürlich blass – grau wie Asche. Kälteschaden, hatte der Heiler gesagt.

Einer von Anders’ Mitschülern von der Ulfar-Akademie hatte den Speer auf Rayna abgeschossen. Dabei waren Anders und Lisabet doch hergekommen, um Rayna zu retten! Aber ihre Klassenkameraden hatten die Verfolgung aufgenommen. Hätten sie das doch bloß sein lassen! Dann wäre niemandem etwas zugestoßen.

Anders hatte den ganzen langen Weg nach Drekhelm Angst gehabt. Angst davor, Rayna würde von den Drachen geopfert werden. Angst davor, er würde ihr nicht helfen können, selbst wenn er es bis nach Drekhelm schaffte. Angst davor, dass sie gar nicht seine Zwillingsschwester war, weil sie sich in einen Feuerdrachen und er sich in einen Eiswolf verwandeln konnte. Jeder wusste, dass es nie zweierlei Arten von Tierwandlern innerhalb einer Familie gab.

Aber Rayna hätte gar keiner Rettung bedurft. Es war ihr gut gegangen in Drekhelm – bis Anders die Gefahr direkt vor ihre Türschwelle gelockt und sich die Wölfe zu Feinden gemacht hatte, die gerade zu seinem Rudel geworden waren.

Und nun war er gefangen in Drekhelm, der Drachenfeste.

„Mir geht’s gut.“ Lisabets Stimme katapultierte ihn zurück in die Gegenwart.

„Die Schwester meinte, du würdest Kopfschmerzen haben“, sagte er leise. „Und dass du noch ein paar Stunden wach bleiben musst, damit sie sicher ausschließen können, dass du irgendwelche inneren Kopfverletzungen davongetragen hast, die man von außen nicht sieht.“

„Rayna?“, flüsterte Lisabet und sah zu Anders’ Schwester hinüber, die immer noch zitterte.

„Mir geht’s gut“, behauptete Rayna. „War doch bloß ein Eisspeer. Und zum Glück hat er mich ja auch nur ein bisschen gepikst. Sicher lässt die Wirkung bald nach. Ich wette, spätestens in einer Stunde bin ich wieder auf den Beinen.“

Anders überkam eine Welle der Zuneigung, die ihn innerlich wärmte. Das war Rayna, wie er sie kannte – einfach unverwüstlich. Er konnte noch immer nicht fassen, dass sie beide endlich wieder vereint waren.

In diesem Moment tauchte ein Pfleger hinter ihr auf. „Du wirst in einer Stunde nirgendwo hingehen“, sagte er, die Hände in die Hüften gestemmt. „Wenn du Glück hast, wirst du morgen früh entlassen, und dann auch nur, weil wir noch andere Patienten zu versorgen haben, denen es schlechter geht als dir. Und was euch beide betrifft …“ Er deutete mit einem Nicken auf Anders und Lisabet, die beiden Wölfe. In seinem kantigen Gesicht zeigte sich keinerlei Regung. „Ihr könnt euch zu den Gästequartieren begeben. Da drüben wartet jemand auf euch, der euch hinbringen wird. Der Drachenrat will euch vor morgen früh nicht sehen.“

Anders folgte seinem Blick und entdeckte Ellukka, das blonde Drachenmädchen, von dem Rayna behauptet hatte, es sei ihre Freundin. Am Anfang hätte Ellukka Lisabet und Anders am liebsten bei lebendigem Leib geröstet, aber seit dem Kampf in der großen Halle schien sie ihre Meinung über die beiden Wölfe geändert zu haben. Nun ja, immerhin hatte sie gesehen, wie Lisabet für Leif, das Oberhaupt des Drachenrates, buchstäblich ihren Kopf hingehalten hatte.

Nun lehnte sie mit verschränkten Armen an der Wand neben dem Eingang zur Krankenstation. Sie war größer und breiter als Anders, und wie sie so dastand, sah sie wieder aus wie jemand, mit dem nicht zu spaßen war.

Anders drehte sich zu Rayna um. „Ich will nicht ohne dich gehen“, sagte er, wobei er immerhin größtenteils an das Wohl seiner Schwester dachte.

„Du hast es doch gehört: Vor morgen darf ich hier nicht raus“, antwortete sie. „Wenn was ist, weißt du ja, wo du mich findest. Geh dich ein bisschen ausruhen. Ich komm schon klar.“

Noch immer sträubte sich alles in Anders dagegen, seine Schwester zurückzulassen, aber er wusste, dass er auf sie hören musste. Die Drachen hatten ihr bis jetzt nichts getan, und er brauchte dringend eine Mütze Schlaf. Der gestrige Tag hatte ihm alles abverlangt. Erst hatte er tagsüber mit dem Rudel die weiten Ebenen von Vallen durchquert, dann war er nachts durch einen Fluss geschwommen und mit Lisabet den Berg nach Drekhelm hinaufgekraxelt. Inzwischen war später Vormittag, was bedeutete, dass er seit mehr als einem Tag auf den Beinen war.

„Sie sollen mir Bescheid geben, falls es dir schlechter geht“, sagte er zu Rayna.

„Ich an deiner Stelle würde mir größere Sorgen um mich selbst machen“, sagte der Pfleger zu Anders und schaute düster drein. „Man wird dir morgen eine Menge Fragen stellen, und wenn dem Drachenrat deine Antworten nicht gefallen, kannst du sicher sein, dass er die richtigen Antworten aus dir rauskitzeln wird.“

„Lass ihn in Ruhe!“, fauchte Rayna und stemmte sich aus dem Bett hoch.

Der Pfleger bedachte die drei mit einem letzten vielsagenden Blick, dann stapfte er davon, um nach den anderen Patienten zu sehen.

Rayna wandte sich wieder an Anders. „Ich sorge dafür, dass sie dir Bescheid geben, falls es mir schlechter geht“, versprach sie. „Und wegen morgen – darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn es so weit ist. Aber mir fällt bestimmt eine gute Erklärung für alles ein.“

Davon war Anders weit weniger überzeugt, als seine Schwester klang. Raynas Ausreden hatten doch schließlich erst dazu geführt, dass sie sich in einen Drachen und er sich in einen Wolf verwandelt hatte.

Aber Anders wusste, dass er heute nichts mehr ausrichten konnte – nicht, solange seine Schwester und seine beste Freundin so geschwächt waren. Also half er Lisabet dabei, sich aufzurichten und aufzustehen, wobei er vorsichtig einen Arm um sie legte.

Ellukka stieß sich von der Wand ab, um die Wölfe zu ihrem Quartier zu bringen. Dass Lisabet in ihrem Ansehen gestiegen war, schien für Ellukka wohl noch kein Grund zu sein, Anders dabei zu helfen, seine Freundin zu stützen. Und so marschierte sie vorneweg und führte Anders und Lisabet durch die in den dunklen Stein des Berges gehauenen Gänge. Die meisten waren von der Größe her für Menschen gemacht, nicht für Drachen, und Anders fragte sich, ob wohl auch die Drachen so wie die Wölfe die meiste Zeit in menschlicher Gestalt verbrachten.

Überall in den Gängen hingen geschmiedete Lampen, und wann immer sie sich einer dieser Lampen näherten, leuchtete sie auf. Als Anders zurückschaute, stellte er fest, dass die Lampen hinter ihnen bereits wieder erloschen waren.

Auch Lisabet war das beeindruckende Lichtspiel nicht entgangen. „Das ist alles echt, oder?“, fragte sie. „Das sind nicht bloß irgendwelche Halluzinationen, weil ich mir den Kopf angeschlagen habe?“

„Die Lampen?“, fragte Ellukka mit einem Blick über die Schulter. „Klar sind die echt. Das sind Artefakte.“

Bei genauerem Hinsehen konnte Anders auch die Runen erkennen, die ringsum in die Wandleuchter eingraviert waren. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren sie also von Wölfen entworfen und von Drachen geschmiedet worden – irgendwann vor der letzten großen Schlacht vor zehn Jahren.

Ellukka blieb vor einem Schrank stehen, der in den Fels eingelassen war, und zog einen bunten Stapel aus blauen, grünen und roten Kleidungsstücken heraus. Die Drachen schienen leuchtende Farben zu bevorzugen, und selbst in der kurzen Zeit, die er erst hier war, war Anders bereits aufgefallen, dass kein Drache wie der andere gekleidet war. Die Wölfe trugen alle die gleiche Uniform – als Erkennungszeichen des Rudels und zum Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit.

„Das ist unser Gästetrakt“, erklärte Ellukka, als sie Anders’ fragenden Blick bemerkte. „Wir haben hier extra Zimmer und Schränke mit Wäsche und allem, was unsere Gäste sonst noch so brauchen.“

„Bekommt ihr denn oft Besuch?“, fragte Anders und versuchte sich vorzustellen, wer wohl freiwillig den beschwerlichen Weg den Berg hinauf auf sich nahm. Davon abgesehen musste er das fremde Mädchen irgendwie in eine freundliche Unterhaltung verwickeln, denn im Augenblick war er auf jede Hilfe angewiesen, die er kriegen konnte.

„Die meisten Drachen sind viel auf Reisen“, sagte Ellukka. „Wir leben ja weit verstreut. Es gibt Drachenhorste überall entlang des Eisspitzen-Gebirges – eigentlich in allen Bergregionen von Vallen –, darum besuchen wir uns ziemlich oft. Und da ist es einfacher, wenn man nicht jedes Mal einen Haufen Gepäck mit sich herumschleppen muss.“

Vor einer Holztür blieb sie stehen. Wie sich herausstellte, befand sich dahinter eine gemütliche Schlafkammer mit zwei Betten, auf denen jeweils eine dicke Steppdecke lag. Auf dem kargen Steinboden lag ein Läufer, und durch ein verglastes Fenster konnte man eine Bergwand sehen. Von der Kammer ging eine weitere Tür ab, und an der Wand daneben hing eine Wasseruhr – eine Apparatur aus beschrifteten Röhrchen, durch die träge eine Flüssigkeit tröpfelte, die einem anzeigte, wie viel Zeit vergangen war.

Sehr gut, dachte Anders. So konnten sie genau ablesen, wie lange Lisabet noch wach bleiben musste. Und wie lange es noch bis zum Morgen dauerte – bis zum Treffen mit den Drachen.

„Ganz schön warm hier drinnen“, sagte Lisabet, und Anders musste sofort an die lodernde Glut denken, die er durch einen tiefen Spalt im Fels gesehen hatte, als er auf Raynas Rücken auf Drekhelm zugeflogen war.

„Und in der Halle war es auch warm“, setzte Lisabet hinzu. „Aber ich habe nirgendwo einen Kamin gesehen. Nutzt ihr zum Heizen die unterirdischen Lavaströme?“

„Was sonst?“, erwiderte Ellukka. Sie warf die Kleidungsstücke auf eines der Betten und fing an, sie in zwei Stapel aufzuteilen. „Und ein paar Artefakte helfen auch dabei, die Temperatur zu regulieren. Hinter der Tür da ist übrigens ein Badezimmer. Es gibt so viel heißes Wasser, wie ihr wollt. Ich meine, ich weiß schon, dass Wölfe es lieber kühl mögen, aber ich dachte mir, auf eine eiskalte Dusche seid ihr vielleicht auch nicht unbedingt scharf.“

„Nicht, wenn wir in Menschengestalt sind“, bestätigte Lisabet.

„Dann wascht euch mal“, sagte Ellukka und stapfte mit verschränkten Armen zur Tür. „Ihr stinkt wie nasser Hund.“

Nachdem Ellukka das Zimmer verlassen hatte, ließ sich Anders auf eines der Betten sinken. Obwohl ihm jeder Muskel wehtat, brachte er es irgendwie fertig, sich vorzubeugen, die Schnürsenkel seiner Stiefel zu öffnen und die Schuhe von den Füßen zu streifen. Er legte sie auf den warmen Steinboden, damit das Leder trocknen konnte. Dann zog er seine Socken aus, die ebenfalls nass vom Schnee waren.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass er ja noch immer den Mantel seiner Schwester anhatte. Er drückte die Nase in den Stoff und atmete tief ein. Der Mantel roch noch immer wie Rayna, wobei sich unter ihren typischen Duft nun eine würzig-süßliche Note gemischt hatte, die vorher nicht dagewesen war. Trotzdem war die Vertrautheit ihres Geruchs so überwältigend schön, dass ihm die Tränen kamen.

Er hatte es geschafft. Er war hier, bei Rayna. Und ganz gleich, was ihnen noch bevorstand – er würde jede Herausforderung meistern, denn er war wieder mit seiner Schwester vereint.

„Du kannst zuerst in die Wanne“, sagte er zu Lisabet. Anders brauchte noch ein paar Minuten, um sich zu sammeln.

Nachdem sie im Bad verschwunden war, warf er sich rücklings aufs Bett und starrte an die Decke. Sie bestand aus glattem Stein, genau wie die Wände.

Weil wir uns mitten in einem Berg befinden, rief er sich in Erinnerung. Im Herzen von Drekhelm.

Was würde der Drachenrat morgen sagen? Welche Antworten würde er aus ihnen herauslocken wollen?

Und wie konnte er die Drachen davon überzeugen, dass es eine gute Idee war, ihn hierzubehalten – bei Rayna –, ohne dass er dafür zum Verräter an den Wölfen werden musste?

Auch wenn der Pfleger vorhin nicht sonderlich nett und seine kleine Rede durchaus einschüchternd gewesen war, so hatte Anders inzwischen den starken Verdacht, dass die Drachen ganz anders waren, als er sie sich immer vorgestellt hatte. Jedenfalls konnten die Geschichten, die man sich an der Ulfar und in Holbard über sie erzählte – von blutrünstigen Bestien, deren einziger Lebensantrieb darin bestand, all jene zu vernichten, die nicht so waren wie sie –, so nicht stimmen. Wie auch immer die Wahrheit aussah, sie war weitaus komplizierter. Die Drachen hatten Freunde hier, Familie. Sie hatten Zimmer für Gäste, und sie führten Debatten darüber, was richtig und was falsch war. Sie schlugen nicht einfach wild drauflos.

Rayna hatte hier sogar ein Zuhause gefunden – was Anders nie für möglich gehalten hätte –, und es war auch noch nicht absehbar, was das für ihn bedeutete, oder für Lisabet.

Als seine Freundin aus dem Bad kam, hing Anders noch immer seinen Gedanken nach. Lisabet trug ein Hemd der Drachen, eine Tunika und Beinlinge. Ihr schwarz gelocktes Haar war nass. Sie hatte sogar wieder etwas Farbe im Gesicht – zumindest war ihre Haut nicht mehr kalkweiß, sondern ein wenig rosig. Aber sie kaute auf ihrer Unterlippe. Und das tat sie immer dann, wenn sie grübelte.

„Was sollen wir jetzt tun, Anders?“, fragte sie leise.

„Ich weiß nicht, wie viel wir überhaupt tun können“, gab er zu. „Wenn der Drachenrat uns Fragen stellt, die wir nicht beantworten können, dann …“

„Ich weiß …“, wisperte Lisabet. „Aber zurück nach Hause können wir auch nicht. Irgendwie hatte ich mir die ganze Zeit ausgemalt, wie wir Rayna einfach einsammeln und mit zurück nach Holbard nehmen. Dabei war doch eigentlich klar, dass das so nicht funktionieren würde … Ich meine, das Rudel wäre uns überallhin gefolgt. Ennar hätte uns nie einfach so ziehen lassen. Und was hätten wir mit einem Drachen angestellt, wenn wir erst einmal zurück in Holbard gewesen wären?“

Bei dem Gedanken an Ennar, ihre Kampfausbilderin, die sich selbst und die ganze Klasse in größte Gefahr gebracht hatte, nur um ihn und Lisabet zu finden, überkam Anders ein tiefes Schuldgefühl. Beim Großen Reißzahn! Wären Ennar und die anderen ihnen doch nur nicht gefolgt!

„Rayna fühlt sich wohl hier“, sagte er, ohne genau zu wissen, wie er das eigentlich fand.

„Aber wieso?“, fragte Lisabet. Sie wirkte in diesem Moment ganz klein, geradezu verängstigt.

Dabei war sie immer diejenige gewesen, die sich für die Drachen stark gemacht und ihren Lehrern unbequeme Fragen gestellt hatte. Zum Beispiel wie es sein konnte, dass die Wölfe sich einst mit den Drachen zusammengetan hatten, um die Artefakte herzustellen, die man heutzutage in ganz Vallen fand, wenn die Drachen doch angeblich so böse waren, wie ihre Lehrer immer behaupteten.

„Sie ist seit ein paar Wochen hier“, antwortete Anders. „Das klingt jetzt vielleicht nicht besonders lange, aber uns beiden hat die Zeit ja auch ausgereicht, um Freunde zu werden.“

„Allerdings“, sagte Lisabet. „Du bist mein bester Freund. Wenn Rayna hier auch so gute Freunde gefunden hat, wäre das durchaus ein Grund, hierbleiben zu wollen.“

„Neben der nicht ganz unwesentlichen Tatsache, dass die Wolfsgarde sie töten wollte, als sie das letzte Mal in Holbard war“, bemerkte Anders. „Sie wird wollen, dass wir auch hierbleiben.“ Auf jeden Fall würde sie wollen, dass er hierblieb. Was Lisabet betraf, war da wohl noch etwas Überzeugungsarbeit seinerseits vonnöten. „Ich weiß nicht, ob wir hier in Sicherheit sind, aber wir können auch nirgendwo anders hin. Wir haben den Kelch gestohlen. Na ja, genau genommen habe ich ihn gestohlen, aber sie werden nicht glauben, dass du nichts damit zu tun hattest. Nicht nach dem Kampf. Sie haben gesehen, wie du dich schützend vor Leif geworfen hast.“

„Was hätte ich denn sonst machen sollen?“, sagte Lisabet hilflos und ließ sich auf das Bett gegenüber von Anders sinken. „Wenn die Wölfe das Oberhaupt des Drachenrates getötet hätten, wäre ein Krieg ausgebrochen. Und gegen den hätte die letzte große Schlacht ausgesehen wie eine kleine Rangelei. Das muss doch jedem klar sein.“

„Es wird jedem klar werden, wenn du es ihnen erklärst“, sagte Anders. „Du hast die Konsequenzen sofort durchschaut, während alle anderen noch nicht mal drüber nachgedacht haben.“ So war Lisabet – ein kluger Kopf, den anderen gedanklich immer einen Schritt voraus. „Was droht uns deiner Meinung nach, wenn wir zurückgehen?“, fragte er.

„Verbannung“, flüsterte sie. „Den Kelch zu stehlen und zu kämpfen war ein Verrat am Rudel. Man könnte uns zum Beispiel auf ein Schiff nach Übersee verfrachten, ohne Rückfahrschein.“

Beide verfielen in Schweigen und malten sich aus, wie sie ihr Zuhause und alles, was ihnen vertraut war, für immer verlieren würden. Und dabei drohte Lisabet ein noch viel größerer Verlust als Anders.

Lisabet war Sigrids Tochter, und Sigrid wiederum war die Fyrstulf. An der Ulfar hatte sie das Sagen – sie hatte das Sagen über alle Wölfe. Und auch wenn Sigrid manchmal Furcht einflößend, ja geradezu übermächtig wirkte und möglicherweise nicht ganz ehrlich war, so war sie immer noch Lisabets Mutter. Anders wusste aus eigener Erfahrung, was es hieß, seine Familie zu verlieren, aber er hatte seine Schwester wieder, zumindest vorerst. Lisabet stand das Schlimmste noch bevor.

Anders hatte den kalten Blick der Fyrstulf so deutlich vor Augen, als stünde sie ihm leibhaftig gegenüber. Dass Lisabet ihre Tochter war, würde sie beide nicht vor Sigrids Zorn bewahren, und auch nicht vor der Verbannung. Lisabet musste also nicht nur den Verlust des Rudels verkraften, sondern auch das Wissen darum, dass ihre eigene Mutter ihr eine Rückkehr nach Hause verweigern würde.

„Geh jetzt baden“, sagte sie. „Du wirst dich besser fühlen, wenn du wieder sauber bist. Ich werde in der Zwischenzeit tun, was die Heiler gesagt haben, und nicht einschlafen, versprochen.“

Anders nahm seine frischen Sachen vom Bett und ging ins Badezimmer. In dem kleinen Raum stand eine robuste Holzwanne, an der Wand gegenüber hingen Handtücher auf einer Leiste, und es gab ein weiteres Fenster, durch das man jedoch nichts sehen konnte, weil sich dahinter dichter Nebel oder Wolken ballten. Über der Wanne entdeckte er einen Duschkopf und etwas weiter unten einen Wasserhahn, mit dem man sich ein Bad einlassen konnte. Anders entschied sich gegen eine Dusche und drehte den Hahn auf. Als die Wanne fast voll war, zog er seine Sachen aus und stieg vorsichtig hinein.

Er ließ sich bis zum Kinn ins heiße Wasser sinken. Seine Finger und Zehen kribbelten, die Wärme prickelte auf seiner Haut und drang bis in seine müden Knochen. Zum ersten Mal seit seinem Aufbruch aus dem Lager der Wolfsschüler war Anders richtig warm. An der Ulfar hatte es ihm oft schon zu schaffen gemacht, wenn draußen ein bisschen die Sonne schien. Hier und jetzt fühlte er sich gut. Das war seltsam. Was war anders als sonst?

Während er sich schrubbte, strudelten die Gedanken in seinem Kopf umher wie das heiße Wasser um seine Knie. Einerseits war er froh, seine Schwester wieder nah bei sich zu haben und sie jederzeit sehen zu können – er brauchte ja nur den Flur hinunterzulaufen –, andererseits war er voller Sorge und Reue, sobald er an seine Freunde an der Ulfar dachte. Er hatte gerade angefangen, sich dort heimisch zu fühlen, und nun würde er nie wieder mit ihnen an einem Tisch im Speisesaal sitzen und Sakarias dabei beobachten, wie er den anderen ihren spärlichen Nachtisch abschwatzte, während ihm Viktoria heimlich Gemüse auf den Teller legte, wenn er nicht hinguckte. Er würde nie wieder gemeinschaftlich mit den anderen beim Kampftraining leiden und unter Professorin Ennars wachsamem Blick endlose Runden durch die Turnhalle drehen.

Ja, er hatte an der Ulfar ein Zuhause gefunden, doch nun hatte er es wieder verloren – und er hatte keine Ahnung, ob Drekhelm jemals ein Zuhause für ihn werden könnte. Er war ein Waisenkind und daran gewöhnt, überall irgendwie klarzukommen, aber würde der Drachenrat überhaupt in Erwägung ziehen, ihn hier bleiben zu lassen? Was würde passieren, wenn er ihre Fragen nicht beantworten konnte – oder wollte?

Er beugte sich vor, um den Stöpsel herauszuziehen, stieg aus der Wanne und trocknete sich langsam ab. Die Sachen, die Ellukka für ihn herausgesucht hatte, waren durchaus ansehnlich, und sie waren genauso zweckmäßig wie seine Wolfskleider, wenn auch etwas bequemer: eine dunkelblaue Hose, ein hellblaues Hemd und eine dunkelgrüne Tunika zum Darüberziehen.

Er stieß die Badezimmertür auf und sah Lisabet auf ihrem Bett sitzen. Sie aß einen breiigen Eintopf aus einer Schüssel.

„Ellukka war noch mal hier und hat uns Essen gebracht“, erklärte sie mit vollem Mund.

Anders holte sich seine Schüssel, die auf einem Tischchen neben der Tür stand, und setzte sich auf sein Bett. Die weiche Steppdecke unter ihm gab nach. Dann herrschte minutenlang Stille. Sie tunkten dunkelbraunes Brot in die dickflüssige Brühe und löffelten Rindfleisch, Möhren und Kartoffelstückchen.

Als sie mit essen fertig waren, lagen immer noch mehrere Stunden vor ihnen, in denen Lisabet wach bleiben musste. Anders ließ sich in sein Kopfkissen sinken. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als unter die Decke zu kriechen und die Augen zuzumachen, denn er war unendlich erschöpft. Davon abgesehen hätte er bei einem kleinen Nickerchen kurz Ruhe vor den Gedanken und Fragen gehabt, die ihm durch den Kopf spukten. Aber er zwang sich dazu, die Augen offen zu halten.

„Dann sind wir jetzt also bei den Drachen in Drekhelm“, stellte er fest.

„Und liegen in ihren Betten!“, rief Lisabet. „Beim Großen Reißzahn! Näher kann man den Drachen ja wohl nicht kommen.“

„Ich wünschte, du wärst mir nicht nachgelaufen“, sagte Anders leise. „Also nicht, weil ich dich nicht hier haben will!“, setzte er eilig hinzu, denn Lisabet schnappte schon zitternd nach Luft. „Aber jetzt kannst du nicht mehr nach Hause zurück. Ich bin es gewohnt, ständig umherzuziehen und an fremden Orten Fuß zu fassen. Du nicht. Dein Zuhause war schon immer die Ulfar.“

„Wir wissen ja noch nicht mal, ob wir überhaupt hierbleiben dürfen“, gab sie zu bedenken. „Du hast den Mann auf der Krankenstation doch gehört.“

„Das macht mir am meisten Sorgen“, gestand Anders. „Was, wenn sie morgen versuchen, uns über die Ulfar auszuquetschen?“

„Ich fürchte, dann werden wir ihnen Rede und Antwort stehen müssen“, erwiderte Lisabet. „Aber sie werden auch wissen wollen, was es mit deinem Eisfeuer auf sich hat.“

„Das würde mich allerdings auch mal interessieren!“, rief er. „Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe. Und ich glaube auch nicht, dass es mir noch mal gelingen würde. Ich wüsste ja gar nicht, wie ich das anstellen soll.“

„Und wenn wir ihnen das genau so sagen?“, überlegte Lisabet. „Dann werden sie uns vielleicht nicht mehr für so bedrohlich halten.“ Es klang nicht danach, als würde sie das wirklich glauben.

Doch in Anders begann bereits eine neue Idee zu reifen. „Wer sagt eigentlich, dass wir tatenlos rumsitzen und abwarten müssen, wie der Drachenrat entscheidet?“, fragte er. „Wir können nicht nach Holbard zurück, so viel ist inzwischen klar, aber vielleicht gibt es noch eine dritte Möglichkeit – außer dorthin zurückzukehren oder hierzubleiben, meine ich.“

„Und was schwebt dir da vor?“

„Falls es Rayna morgen früh besser geht, könnte sie uns von hier wegbringen, irgendwohin, wo uns die Drachen nicht finden. Dort könnten wir dann so lange bleiben, bis wir wissen, was sie mit uns vorhaben“, schlug er vor.

„Glaubst du denn, dass Rayna schon wieder fliegen kann?“ So hoffnungsvoll, wie ihre Frage klang, schien Lisabet genauso große Angst vor dem morgigen Verhör und seinen Folgen zu haben wie Anders.

„Wir schleichen uns morgen früh zu ihr und finden es raus“, antwortete er.

Dann war im Zimmer für eine ganze Weile nichts mehr zu hören außer dem gemächlichen Tröpfeln des Wassers in der Uhr und einem leisen Knacken, sobald die Zeiger weiterwanderten, immer wenn ein Röhrchen voll war und das Wasser wieder herausfloss, damit die nächste Viertelstunde gezählt werden konnte. Gelegentlich vergewisserte sich Anders, dass Lisabet auch nicht eingeschlafen war – aber sie war jedes Mal wach.

Bis die Wartezeit verstrichen war, die die Heiler ihnen verordnet hatten, war es früher Abend. Mittlerweile waren sie seit gut anderthalb Tagen ohne Schlaf.

Sie krochen unter ihre Decken, ließen die Vorhänge aber offen, damit sie früh von der Morgensonne geweckt wurden.

Anders wartete darauf, dass ihn der Schlaf übermannte. Die Matratze war herrlich weich, das leise Tröpfeln des Wassers wirkte beruhigend, und entgegen aller Befürchtungen und Geschichten, die er über die Drachen gehört hatte, war dies das bequemste Bett, in dem er je gelegen hatte. Seine Lider wurden allmählich schwer.

Was immer sie morgen erwartete – er musste dafür gewappnet sein. Falls Rayna sie zu einem Versteck bringen konnte, würde ihnen das Zeit verschaffen herauszufinden, was der Drachenrat vorhatte, und einen Plan zu schmieden. Falls nicht, musste er sich dem Verhör mit den Drachen stellen und etwas tun, wovon er nie geglaubt hätte, dass er es jemals tun würde: den Drachenrat dazu überreden, dass er und Lisabet in Drekhelm bleiben durften.

2

Anders wachte auf, weil ihm der Magen knurrte. Einen Moment lang wusste er nicht, wo er war, und starrte verwirrt an die Decke, die ganz anders aussah als die in seinem Zimmer in der Ulfar. Und noch etwas war anders. Er hörte weder Sakarias im Schlaf murmeln noch die fernen Geräusche der Stadt.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz: Er war in Drekhelm.

Er richtete sich auf und sah sich in der kleinen Kammer um, die er mit Lisabet teilte. Seine Freundin lag immer noch zusammengerollt unter ihrer Steppdecke. Sie waren allein, und im Zimmer war es viel zu hell. Er schob seine Decke zurück, eilte hinüber zum Fenster und sah hinaus. Hinter ihm beschwerte sich Lisabet mit einem schläfrigen Stöhnen, denn er hatte sie geweckt, aber er nahm kaum Notiz davon. Die Sonne stand schon viel zu hoch am Himmel. Sein Herz tat einen erschrockenen Satz. Sie hatten verschlafen, und die Chance, jetzt noch ungesehen zu Rayna zu gelangen, tendierte gegen Null.

„Wiespätisses?“, nuschelte Lisabet unter der Bettdecke.

„Es ist Morgen“, erwiderte Anders und warf den Kopf herum. „Später Morgen.“ Beim Großen Reißzahn!

Er setzte sich aufs Bett, zog seine Stiefel an und schnürte sie fest zu. Sie durften nicht länger tatenlos hier herumliegen. Sie mussten etwas unternehmen! Sie mussten zu Rayna und herausfinden, wie sie dem Drachenrat und seinen gefährlichen Fragen entgehen konnten.

„Wir sollten uns besser beeilen“, sagte Lisabet, warf ihre Decke zurück, sprang aus dem Bett und flitzte hinüber zur Zimmertür, um zu lauschen, eine Hand am Türknauf.

„Es muss mehr als einen Weg zur Krankenstation geben“, sagte Anders. „Rayna wird …“ Doch er verstummte, als er Lisabets seltsamen Gesichtsausdruck sah.

Sie versuchte, den Türknauf zu drehen. Einmal, zweimal. Dann stemmte sie die Schulter gegen das Holz, rüttelte an dem Knauf – und gab schließlich auf. Gegen die Tür gelehnt, sah sie zu Anders. „Abgeschlossen“, sagte sie. „Die haben uns eingesperrt.“

Anders starrte sie an, und ein Schauer überlief ihn.

Sie waren Gefangene.

„Wir können nicht drauf warten, dass sie uns holen“, sagte Lisabet.

„Das sehe ich genauso. Und Rayna wäre längst bei uns gewesen, wenn sie wüsste, dass wir eingesperrt sind. Also weiß sie es nicht, oder aber sie haben sie noch nicht von der Krankenstation entlassen.“

Anders ging hinüber zu Lisabet, kniete sich neben sie und spähte durch das Schlüsselloch. Er konnte ein winziges Stück Korridor erkennen. Dieses Schloss sah nicht so aus, als wäre es viel schwerer zu knacken als das von Hayns Werkstatt, allerdings hatte Anders diesmal keine Haarnadel zur Hand. Er betrachtete das Metall und versuchte sich zu erinnern, was er über Schlösser wusste.

Weder er noch Lisabet waren stark genug, um die Tür gewaltsam aufzubrechen, also mussten sie sich irgendeinen Trick einfallen lassen. Lisabet machte sich wieder mit aller Kraft an dem Knauf zu schaffen, obwohl sie beide wussten, dass das nichts nützen würde, doch es brachte Anders auf eine Idee.

„Kannst du das Schloss einfrieren?“, fragte er. „Wenn du das Metall mit ausreichend Kälte bearbeitest, lässt es sich danach leichter brechen.“

„Ich kann’s versuchen.“ Lisabet schloss die Augen, um sich zu konzentrieren, und nahm Wolfsgestalt an.

Anders trat einen Schritt zurück, als Lisabet ihre Vorderpfoten in den Boden rammte und einen dünnen Eisspeer heraufbeschwor, den sie auf das Schloss zuschießen ließ. Er traf das Schlüsselloch, und auf dem Metall ringsum bildete sich sofort eine weiße Frostschicht.

Anders holte mit einer halben Drehung Schwung und rammte die Ferse seiner Stiefelsohle mit voller Wucht gegen den Metallbeschlag.

Das Schloss knackte, aber es hielt.

„Noch mal“, sagte Anders, und Lisabet beschwor einen zweiten Speer herauf. Die Luft im Raum wurde kühler.

Anders trat noch einmal zu. Die heftige Erschütterung war in jedem Muskel seines Beins zu spüren.

Diesmal ging das Schloss entzwei. Anders riss es aus dem Holz heraus, und die Tür schwang langsam auf.

Keuchend nahm Lisabet wieder menschliche Gestalt an. „Bei der Hitze hier überall ist es viel schwerer, sich zu verwandeln.“ Sie schlüpfte hastig in ihre Stiefel und schnürte sie zu.

Unterdessen spähte Anders auf den Flur hinaus, um sich zu vergewissern, dass die Luft rein war. „Lass uns zur Krankenstation gehen“, sagte er. „Ich will wissen, wo Rayna ist.“

„Die Drachen werden sich wundern, wenn sie uns durch die Gänge spazieren sehen“, wandte Lisabet ein. „Sie haben uns doch eingesperrt.“

„Die meisten von denen werden uns gar nicht erkennen“, antwortete Anders. „Wir sehen in menschlicher Gestalt doch genauso aus wie sie. Und wir tragen ihre Kleider.“

Lisabet zögerte, aber Anders wusste, dass sie einlenken würde. Sonst hätte sie ihm nicht dabei geholfen, die Tür aufzubrechen. „Dann los“, sagte sie schließlich.

Sie schlichen auf den Flur hinaus – jede Sekunde auf der Hut, jede Sekunde bereit, beim ersten Anzeichen von Gefahr loszurennen.

Es war nicht allzu schwer, den Weg, den sie am Tag zuvor mit Ellukka gekommen waren, zurückzuverfolgen, allerdings stießen sie immer wieder auf Drachen, sodass sie dazu gezwungen waren, auf weniger belebte Nebengänge auszuweichen. Anders konnte nur hoffen, dass sie in diesem vertrackten Labyrinth nicht die Orientierung verloren und in die richtige Richtung liefen.

Sie kamen an weiteren Schlafgemächern vorbei und stießen schließlich auf einen verlassenen Gemeinschaftsraum, in dem ein paar Polsterbänke sowie Stühle und Tische standen, auf denen Spielkarten lagen. Für den Fall, dass hungrige Drachen vorbeikamen, stand an der Längsseite des Raumes auch eine Schale mit dunklem, dick mit Butter beschmiertem Brot bereit. Anders und Lisabet nahmen sich jeder eine Scheibe und liefen weiter.

Ein paar Gänge später blieb Anders plötzlich vor einem Durchgang stehen und spähte mit großen Augen hinein. Der Raum dahinter war viel größer als alle Räume, in denen sie bisher gewesen waren, abgesehen von der Großen Halle. Die Wände waren mit Landkarten behängt, wovon die meisten kleine Ausschnitte von Vallen zeigten, eine aber auch die gesamte Insel. Sie nahm fast eine ganze Wand ein.

An einem langen Tisch standen ein Dutzend Stühle, die alle zur Stirnseite des Saales zeigten. Dort hing eine riesige Karte, die selbst den groß gewachsenen Anders an Höhe überragte.

Es handelte sich um eine Karte von Holbard, der Hauptstadt von Vallen, wo sich auch die Ulfar-Akademie befand. An den Rändern waren die weiten Ebenen eingezeichnet, die die Stadt an drei Seiten begrenzten, und der Hafen im Süden.

Lisabet schob sich neben Anders und reckte den Hals. „Das ist eine Karte von zu Hause“, sagte sie.

Als die beiden den Saal betraten, um die Karte aus der Nähe zu betrachten, hallten ihre Schritte auf dem Steinboden wider.

„Da ist die Ulfar.“ Anders zeigte auf die rechteckigen Umrisse, die die Baracken der erwachsenen Soldaten und die Akademie darstellten. Das Gelände war mit einem großen roten Kreuz markiert.

„Warum hängt diese Karte hier?“, flüsterte Lisabet hörbar beunruhigt. Anders war genauso mulmig zumute wie seiner Freundin.

Sie liefen die Karte ab, auf der all die Straßen und Plätze verzeichnet waren, die sie nur allzu gut kannten. Bei den Docks am Hafen entdeckten sie noch ein dickes rotes Kreuz. Anders kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, welcher Ort genau damit markiert war – und sog scharf die Luft ein.

„Lisabet“, wisperte er.

Sie war sofort bei ihm. „Was ist da?“

„Genau an dieser Stelle ist damals das Feuer ausgebrochen. Ich erkenne die Häuser wieder.“

„Beim Großen Reißzahn“, hauchte sie.

„Habt ihr euch verlaufen?“, ertönte es hinter ihnen in scharfem Tonfall. Ellukka.

Anders und Lisabet wirbelten herum und sahen das Drachenmädchen neben Mikkel stehen, dem Jungen, dem sie am Tag zuvor mit Rayna und Ellukka auf dem Berghang begegnet waren.

Mikkel machte eine tiefe, spöttische Verbeugung. „Wie ich sehe, haben unsere verehrten Gäste schon einen kleinen Rundgang unternommen“, sagte er.

„Wir haben euch überall gesucht“, setzte Ellukka hinzu.

„Weil wir nicht in der Kammer waren, in die ihr uns eingesperrt habt?“, entgegnete Anders geradeheraus.

Mikkel zuckte die Schultern. „Ihr seid nun mal Wölfe“, sagte er, als müsste diese Erklärung genügen.

Obwohl sie verärgert aussah, wich Ellukka Anders’ Blick aus. Vielleicht hatte sie im Gegensatz zu Mikkel wenigstens den Anflug eines schlechten Gewissens.

„Warum ist auf eurer Karte der Platz am Hafen markiert?“, hörte Anders Lisabet fragen.

Ellukka kam mit düsterer Miene auf sie zumarschiert, blieb neben ihnen stehen und starrte an der Karte empor. Kurz darauf folgte Mikkel. Er war groß und blass und hatte kupferrotes, wild gelocktes Haar, das an den Seiten kurz geschoren war. Er sah Anders’ Wolfsfreund Sakarias sehr ähnlich, nur dass Sakarias strahlende blaue Augen hatte und Mikkel dunkelbraune, und in Mikkels wachem Blick stets etwas Lauerndes, ja fast schon Feindseliges lag.

Anders zeigte auf die Karte. „Genau hier ist vor gerade mal einer Woche ein großes Feuer ausgebrochen. Es war Drachenfeuer, das habe ich mit eigenen Augen gesehen.“

„Hör zu“, sagte Mikkel, „keine Ahnung, was du da gesehen hast, aber niemand von uns würde mitten in Holbard Feuer legen. Das wäre viel zu gefährlich.“ Er klang sich seiner Sache sehr sicher. „Und wenn es so gewesen wäre, wüssten wir davon.“

„Oder sie haben euch nur nichts davon erzählt, weil ihr erst zwölf seid“, wandte Lisabet ein.

„Vielleicht hat einer von den anderen Drachen das Feuer beobachtet und die Stelle auf der Karte markiert“, sagte Ellukka. „Meine Güte, das hier ist bloß eine Karte von der Stadt!“

„Ist es eben nicht!“, entgegnete Lisabet. „Und das weißt du genau. Sieht gerade nicht so rosig für euch aus, was?“

„Ach so, aber ihr zwei macht gerade eine richtig gute Figur, oder wie?“, schoss Mikkel zurück. „Ihr habt eben die Tür zu eurer Kammer aufgebrochen, und jetzt schnüffelt ihr in Drekhelm herum.“

Anders durchbohrte ihn mit Blicken. „Wir mussten die Tür aufbrechen, nachdem ihr uns eingesperrt habt!“

„Ihr seid Wölfe!“ Diesmal brüllte Mikkel fast.

„Ja, und?“, blaffte Anders hitzig. „Was genau soll das jetzt heißen?“

„Das soll heißen, dass man euch nicht trauen kann“, antwortete Mikkel. „Was ihr bewiesen habt, indem ihr eure Nase bei der erstbesten Gelegenheit in Sachen steckt, die euch nichts angehen.“

Anders knurrte aus tiefster Kehle. „Das kannst du uns ja wohl nicht ernsthaft vorhalten. Wir wollten zu meiner Schwester, nachdem ihr uns eingeschlossen hattet, und falls ich dich noch mal daran erinnern darf, sind wir dabei auf eine Karte gestoßen, in der ihr euer Angriffsziel eingezeichnet habt.“

Lisabet hob beschwichtigend die Hände. „Also wenn ihr mich fragt, macht hier im Augenblick niemand eine besonders gute Figur. Wollen wir jetzt wirklich darüber streiten, ob es die größere Schandtat war, uns einzusperren oder eine Tür aufzubrechen?“

Diesmal ergriff Ellukka das Wort. „Leif will euch sehen. Darum wollten wir euch abholen. Fragt ihn doch, was es mit dieser Karte hier auf sich hat, wenn ihr euch so sicher seid, dass sie irgendwas beweist.“

Anders wurde flau im Magen. Jetzt hatten sie ihre Chance endgültig vertan, der Unterredung mit dem Drachenrat zu entkommen. Nun mussten sie sich den Drachen stellen, ohne zu wissen, was die mit ihnen vorhatten.

Mikkel schielte noch immer schräg an der Karte hoch, als versuchte er ebenfalls, sich einen Reim darauf zu machen. „Was ist das hier?“ Er zeigte auf die Ulfarstrat. „Die Hauptstraße?“

Lisabet drehte sich zu ihm um. „Ja, genau.“

„Und wie ist Holbard so?“, fragte Mikkel nach einer kurzen Pause. Er klang nun gar nicht mehr sauer, sondern einfach nur neugierig.

„Groß“, antwortete Lisabet. „Mit einer hohen Steinmauer drum herum, unzähligen gepflasterten Straßen und Gässchen und bunten Häusern. Die meisten sind zwei oder drei Stockwerke hoch und rosa, blau, gelb oder grün gestrichen – such’s dir aus. Die Fensterrahmen sind holzfarben oder weiß, und die Dächer sind mit Gras bewachsen. Das hält die Kälte ab. Im Frühling und im Sommer blühen dort oben überall Blumen. Es ist ein bisschen so, als wäre man draußen auf den Wiesen jenseits der Stadt. Und Holbard liegt am Hafen. Wenn er voll ist, sehen die Masten der Schiffe wie ein Wald aus kahlen Bäumen aus. Über der Einfahrt wölben sich riesige Metallbögen, die Windwächter. Wölfe und Drachen haben sie einst zusammen gebaut, damit sie die Schiffe vor Stürmen schützen.“

„Es gibt Artefakte, die so groß sind, dass ein Schiff darunter durchfahren kann?“ Mikkel stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

„Und man trifft in Holbard die unterschiedlichsten Menschen“, fuhr Lisabet fort. „Aus fast allen Ländern, die es gibt. Sie sprechen verschiedene Sprachen, sehen anders aus, verkaufen die unterschiedlichsten Speisen und spielen alle ihre ganz eigene Musik. Es ist einfach herrlich“, schwärmte sie. „Weil die Stadt direkt am Meer liegt, sind wir aber auch jedem Wetter schonungslos ausgesetzt. Manchmal regnet es so stark, als wollten uns die Tropfen dem Erdboden gleichmachen, und manchmal spürt man eine warme Brise, die sich anfühlt, als wäre sie von weither übers Meer gekommen.“

Mikkel und Lisabet schienen vergessen zu haben, dass Anders und Ellukka auch noch da waren. In diesem Augenblick hätte Mikkel genauso gut einer ihrer Freunde von der Ulfar sein können.

Als Lisabet die hohen Stadtmauern erwähnt hatte, hatte Anders gedacht, sie habe Mikkel einfach nur begreiflich machen wollen, wie wehrhaft Holbard war. Aber darum ging es gar nicht. Im Gegensatz zu Anders hatte sie einfach gemerkt – oder zumindest erahnt –, dass die jungen Drachen die Wölfe ebenso spannend fanden wie die Wölfe die Drachen. Bestimmt wussten sie Schauergeschichten über die Wölfe zu erzählen, die denen in nichts nachstanden, die Sakarias ihnen neulich am Lagerfeuer über die Drachen erzählt hatte.

„Der Drachenrat wartet“, beendete Ellukka die andächtige Stille. „Und übrigens: Als ich vorhin von der Krankenstation kam, haben sie Rayna gerade entlassen. Sie dürfte also in der großen Halle auf uns warten.“

„Viel Glück“, sagte Mikkel. Es klang fast so, als würde er es sogar ernst meinen. „Ich bin noch verabredet. Wir sehen uns später.“

Anders schluckte, dann nickte er. Er konnte es kaum erwarten, seine Zwillingsschwester wiederzusehen, doch er durfte das Wesentliche jetzt nicht aus dem Blick verlieren. Nachdem sie ihre Chance verpasst hatten, sich zu verstecken, musste er nun einen Weg finden, in Drekhelm zu bleiben – aber ohne den Wölfen noch weiteren Schaden zuzufügen.

So wie es bei Mikkel geklungen hatte, ging dieser wohl schon davon aus, dass Anders hierbleiben würde, aber das rote Kreuz auf der Karte war wie ein Mahnmal, das Anders daran erinnerte, wie wenig er in Wirklichkeit über die Drachen wusste. Und er durfte nicht riskieren, diejenigen, die ihm am Herzen lagen, durch irgendeine Leichtsinnigkeit erneut in Gefahr zu bringen. Nur darum ging es.

Rayna wartete tatsächlich vor der Tür zur großen Halle auf sie. Als sie Anders kommen sah, rannte sie sofort zu ihm und drückte seine Hand. Ihre Berührung hatte etwas Vertrautes, ihre Haut fühlte sich warm an.

Eigentlich mochten Wölfe Wärme nicht, so wie Drachen Kälte nicht mochten. Sie schwächte sie und vernebelte ihren Verstand. Aber die Wärme, die Rayna verströmte, machte Anders nichts aus, genau wie das heiße Bad am Abend zuvor. Sehr seltsam. Hing das etwa mit dem Eisfeuer zusammen, das er in der großen Halle heraufbeschworen hatte, um den Kampf zwischen Drachen und Wölfen zu beenden? Es war weder Wolfseis noch Drachenfeuer gewesen – und doch irgendwie beides …

Von Rayna und Lisabet flankiert, folgte er Ellukka in die große Halle, wo der Drachenrat sie bereits erwartete. Es war ein gigantischer Raum mit hoher Decke, die so glatt war, dass Anders sich fragte, ob diese Höhle einst in den Fels gehauen oder doch vor langer Zeit durch heiße Lavaströme ausgewaschen worden war. Die riesigen Flügeltüren, durch die die Drachen nach draußen gelangten, waren verrammelt und verriegelt, genau wie die kleineren Türen darunter, durch die auch Anders’ Klassenkameraden hereingekommen waren.

Am anderen Ende der Halle stand eine lange Tafel, an der die fünfundzwanzig Mitglieder des Drachenrates saßen. Ihr Anführer Leif – der Fordrek – saß an der Stirnseite. Er hatte rotes Haar, einen fein säuberlich gestutzten Bart und wettergegerbte raue Wangen. Seine stämmige Gestalt ließ darauf schließen, dass er ein starker, fähiger Anführer war.

In diesem Moment lag ein ernster Ausdruck auf seinem Gesicht.

Anders ließ seinen Blick über die Runde schweifen. Die Ratsmitglieder waren ein ebenso bunt gemischter Haufen wie die Bürger von Holbard. Sie trugen zweckmäßige, bequeme Kleider, die meisten in leuchtenden Farben. Während die Wölfe der Ulfar an ihrer einheitlichen Uniform zu erkennen waren, hatten die Drachen dort am Tisch auf den ersten Blick überhaupt keine äußerlichen Gemeinsamkeiten. Sie wirkten ganz und gar nicht wie … ein Rudel.

Die zwei jüngsten Mitglieder des Rates – sie waren kaum älter als die Absolventen an der Ulfar – blickten ein wenig freundlicher drein als der Rest der Truppe. Anders entdeckte auch den Mann wieder, der Ellukka so ähnlich sah – einen breitschultrigen Hünen mit sonnengebräunter Haut und strohblonden Haaren, die zum Zopf geflochten waren. Seine Miene war düster. Und neben ihm saß der Mann, der Anders am Vortag mit dem größten Misstrauen von allen begegnet war. Er musterte Anders mit kaltem, grimmigem Blick unter buschigen schwarzen Brauen, den Mund unter einem üppigen Rauschebart verborgen. Er war fast so groß wie sein Nebenmann und wirkte sogar noch einschüchternder.

„Guten Morgen“, sagte Leif – und hatte sofort Anders’ ungeteilte Aufmerksamkeit. „Anders, Lisabet, wir haben uns gestern nur flüchtig kennengelernt, darum möchte ich euch noch einmal den Drachenrat vorstellen. Wir sind ein gewähltes Gremium, das aus allen Regionen Vallens zusammenkommt, um sämtliche Belange zu besprechen, die für die Drachen von Bedeutung sind. Alles, was die Drachen tun, wird hier an dieser Tafel entschieden. Ich bin der Fordrek, das Oberhaupt des Drachenrates, was aber nicht heißt, dass meine Stimme mehr Gewicht hat als die der anderen. Ich leite lediglich die Diskussionen. Davon abgesehen sind wir gleichberechtigt und fällen alle Beschlüsse gemeinsam.“

Anders nickte, wobei er der Versuchung widerstehen musste, zu Rayna oder Lisabet hinüberzuschielen – oder gar zu Ellukka, die so stramm an Raynas Seite stand, als wäre auch sie Geladene bei diesem Verhör. Hatte Leif ihm mit seiner kleinen Ansprache über Gleichberechtigung zu verstehen geben wollen, dass Anders nicht nur ihn, das Oberhaupt, sondern alle fünfundzwanzig anwesenden Drachen für sich gewinnen musste?

„Danke, dass ich hierbleiben darf“, sagte Anders, woraufhin Rayna ein Stück näher an ihn heranrückte und ihre Schulter gegen seine presste, um ihm zu zeigen, dass er nicht allein war.

„Das ist noch nicht entschieden“, knurrte Rauschebart.

Leif ging nicht darauf ein. „Wie ihr euch sicher denken könnt, haben wir eine Menge Fragen an euch.“

Anders schlug das Herz bis zum Hals. Wie sollte er auf diese Fragen – die sicher allesamt die Wölfe betrafen – antworten, ohne zu dem Verräter zu werden, für den seine Freunde und Klassenkameraden ihn ohnehin schon hielten? Es war eine Sache, darauf zu hoffen, hier in Drekhelm ein Zuhause zu finden, aber eine ganz andere, den Wölfen an der Ulfar dafür Schaden oder Leid zuzufügen.

Und was würde passieren, wenn er die Fragen tatsächlich nicht beantworten konnte? Was genau hatte der Pfleger auf der Krankenstation damit gemeint, als er sagte, man würde die richtigen Antworten schon aus ihm rauskitzeln?

„Wir werden versuchen, eure Fragen zu beantworten“, sagte Lisabet. Sie sprach ganz leise. Wahrscheinlich gingen ihr gerade dieselben Gedanken durch den Kopf wie Anders.

„Zunächst einmal möchte ich wissen, wie ihr uns gefunden habt“, sagte Leif. „Wir haben große Anstrengungen unternommen, ein gutes Versteck für Neu-Drekhelm zu finden, nachdem wir nach der letzten großen Schlacht dazu gezwungen waren, umzuziehen. Wir sind wenig erpicht auf einen weiteren Umzug.“

Diese Frage konnte Anders ohne Gewissensbisse beantworten, denn höchstwahrscheinlich würden die Drachen früher oder später sowieso dahinterkommen. „Wir haben Fylkirs Kelch benutzt“, sagte er, und ein Raunen ging durch den Saal.

„Ein Artefakt?“, fragte eine ältere Frau mit verhärmtem Gesicht. „Wie funktioniert es?“

„Man füllt den Kelch mit Wasser und lässt eine spezielle Nadel darauf schwimmen“, erklärte Anders. „Sie funktioniert wie ein Kompass, nur dass sie nicht nach Norden zeigt, sondern auf den Ort in Vallen, an dem sich die größte Ansammlung von Drachen befindet.“

„Und warum habt ihr Wölfe den Kelch nicht schon früher benutzt, um uns anzugreifen?“, fragte Rauschebart.

„Wir dachten, der Kelch funktioniert nicht mehr“, sagte Lisabet. „Aber vor einigen Tagen kam dann die Idee auf, dass man ihn vielleicht nur aus der Stadt herausbringen müsste, weg von den Bewohnern Holbards, die womöglich Spuren von Drachenblut in sich tragen. Wir hatten die Hoffnung, dass der Kelch noch einmal funktionieren könnte, wenn man ihn zur Tagundnachtgleiche einsetzt – wenn die magischen Essenzen in der Natur am stärksten sind und die Drachen in großer Zahl zusammenkommen, um zu feiern. Und es hat geklappt.“

„Wir haben den Kelch gestohlen, um meine Schwester zu finden“, schloss Anders.

Wieder erhob sich Gemurmel, vorwiegend aus Richtung derer, die schon am Tag zuvor lautstark ihren Zweifel darüber geäußert hatten, dass Rayna Anders’ Schwester war. Denn Anders war nun mal ein Wolf – und Rayna eine Drachin.

Der Mann mit dem blonden Zopf, bei dem es sich wahrscheinlich um Ellukkas Vater handelte, beugte sich vor. „Und wo ist der Kelch jetzt?“

Anders und Lisabet sahen sich kurz an. Die Antwort würde den Drachen nicht gefallen.

„Wir haben ihn liegen lassen, als Rayna, Ellukka und Mikkel uns auf dem Berg entdeckt haben“, sagte Anders. „Wahrscheinlich haben ihn unsere Mitschüler auf der Suche nach uns gefunden.“

„Also habt ihr eine Fährte gelegt.“ Rauschebart hob den Finger und zeigte auf sie. „Ihr habt ihnen den Weg zu unserer Festung gezeigt! Euretwegen haben sie uns angegriffen!“

„Nein!“, riefen Anders und Lisabet im Chor. „Natürlich nicht!“

„Vater!“, protestierte Ellukka – für ihre Verhältnisse überraschend zaghaft –, aber der große Mann mit dem blonden Zopf brachte sie mit einem Kopfschütteln zum Schweigen.

Leif hob die Hand, um für Ruhe zu sorgen. „Wenn ich einen Großangriff planen und eine Fährte legen wollte, würde ich dies wohl kaum für eine Armee von Zwölfjährigen tun, und zu unserem großen Glück war das genau der Gegner, mit dem wir es zu tun bekommen haben.“

„Dieses Mal“, sagte eine blasse, silberhaarige Frau am oberen Ende des Tisches düster.