Beau Rivage: eine Rückkehr - Lydia Mischkulnig - E-Book

Beau Rivage: eine Rückkehr E-Book

Lydia Mischkulnig

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Beschreibung

Der Völkerrechtler Karl Ofracek kehrt von einem Einsatz aus Afghanistan nach Genf zurück. Die Ankunft gerät zur Heimsuchung. Ein kraftvoller, vielschichtiger Roman über die Suche nach dem eigenen Platz in einer brüchigen Welt. Hotel Beau Rivage, schönes Ufer: Hier landet Karl nach seiner Rückkehr und soll seinen Bericht für das Internationale Rote Kreuz ablegen. Er war ein Jahr lang in Afghanistan, hat Einsätze und abgeschobene Menschen betreut. Jetzt ist er selbst der Rückkehrer – und fühlt sich fremd. Seine Frau hat ihn nicht vom Flughafen abgeholt, seine minderjährige Tochter ist in Nöten und ein zwielichtiger Bekannter seines Vaters will ihn in dubiose Geschäfte verwickeln. Karl, der einst als Weltverbesserer loszog, ist mit einer Realität konfrontiert, in der das Gute keinen Platz zu haben scheint. Globale und private Zwänge vermengen sich. Was wäre »die beste aller Welten« für Karl? Lydia Mischkulnig erzählt von den leisen, unerhörten Momenten, in denen das Leben auseinanderbricht und sich neu formt. Ein kraftvoller, vielschichtiger, spannender Roman über Familie, Liebe und die Suche nach dem »eigenen« Platz in einer brüchigen Welt.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Der Völkerrechtler Karl Ofracek kehrt von seinem Einsatz aus Afghanistan zurück. Die Ankunft gerät zur Heimsuchung. Ein kraftvoller, vielschichtiger Roman über die Suche nach dem eigenen Platz in einer brüchigen Welt.

Hotel Beau-Rivage, schönes Ufer, schillerndes Genf: Hier landet Karl Ofracek und soll seinen Bericht für das Internationale Rote Kreuz ablegen. Er war ein Jahr lang in Afghanistan, leitete Hilfseinsätze und betreute aus Europa abgeschobene Flüchtlinge. Jetzt ist er selbst der Rückkehrer – und fühlt sich fremd. Seine Frau hat ihn nicht vom Flughafen abgeholt, seine minderjährige Tochter ist in Nöten – und ein zwielichtiger Bekannter von Ofraceks Vater will ihn in dubiose Geschäfte verwickeln. Karl, der einst als Weltverbesserer loszog, ist mit einer Realität konfrontiert, in der das Gute keinen Platz mehr zu haben scheint. Globale und private Zwänge vermengen sich. Welche wäre die beste aller Welten?

Über Lydia Mischkulnig

Lydia Mischkulnig, 1963 in Klagenfurt geboren, lebt und arbeitet in Wien. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Veza-Canetti-Preis und Johann-Beer-Literaturpreis sowie den Würdigungspreis des Landes Kärnten für Literatur. Zuletzt erschien ihr Erzählband »Die Gemochten« (Leykam 2022), der auf der ORF-Bestenliste stand.

www.lydiamischkulnig.net

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Lydia Mischkulnig

Beau Rivage: eine Rückkehr

für T & T

Inhalt

Kapital 01

Kapital 02

Kapital 03

Kapital 04

Kapital 05

Kapital 06

Kapital 07

Kapital 08

Kapital 09

Kapital 10

Kapital 11

Kapital 12

Kapital 13

Kapital 14

Kapital 15

Kapital 16

Kapital 17

Kapital 18

Kapital 19

Kapital 20

Kapital 21

Die sieben Grundsätze des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz

01

Die Route kostete ihn so viel Zeit wie die Erzählung über die Menschheit. Zunächst war die Schweiz noch weit weg. Karl Ofracek wartete in Kabul auf die Messung seiner Temperatur, eine Vorsichtsmaßnahme, die grotesk war. Jederzeit könnte ein Anschlag sein Schicksal besiegeln. Nach Jahren der Pandemie waren die Maßnahmen gegen Corona in Europa längst eingestellt. Hier aber wurde Fieber gemessen. Ein Irrwitz. Ofracek funktionierte, blieb bei der Sache. Sein Augenmerk war auf eine besondere Fracht gerichtet. Die Zeit im eigenen Körper stand still, die Anspannung drohte ihn zu zerreißen. Er reagierte vegetativ und sorgte für Widerspruch. Sensationen wie plötzliches Fieber, das auf den Druck antwortete, traten auf. Ofracek erlebte das Schweißbad wie in Zeitlupe.

Passagiere, Diplomaten und Angestellte im Dienst aus aller Herren- und Frauenländer standen vor dem Gate in der Warteschlange. Ihre Disziplin im allgemeinen Chaos erschien paradox. Vor ein paar Jahren waren die Massen ausgerastet, Menschen waren niedergetrampelt worden oder hingen im Stacheldraht. Sie brüllten, sie starben, man stieg über sie hinweg, um zum Gate durchzubrechen. Und die kruden neuen Machthaber sorgten heute für Fiebermesser.

In der Halle stand ein Wasserspender für die Fluggäste des diplomatischen Corps zur Verfügung. Ofracek scherte aus und steuerte darauf zu. Er drückte den Knopf, beugte sich hinunter und stülpte die Lippen über den aufschießenden Wasserstrahl. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Ein schmächtiger Mann in einer weit geschnittenen, kragenlosen Kurta putzte danach beflissen mit Desinfektionsmittel den Druckknopf, die Austrittstelle des Wasserstrahls und das Becken. Ofracek steckte ihm seine letzte Münze zu.

Die Kiste wurde durch die Halle gerollt und bahnte den Weg für eine Frau, deren Schleier, ein Hidschab, verrutscht war. Sie trug ihre Papiere wie Gebetstafeln vor sich her. Die Kiste war groß und länglich, schlingerte und hopste über die Schwelle der Schiebetür. Ofracek vernahm ein Geräusch, als ob die Kiste rülpste. Da wurde die Frau hektisch und hastete ihr hinterher. Der Schleier enthüllte ihren Haaransatz. Sie zupfte den Stoff zurecht, aber ein Wächter drehte sich schon in ihre Richtung.

Ofraceks Haare waren zurückgeklatscht, ein Gespinst aus melierten Strähnen, gebändigt mit Wachs. Den Bart hatte er seit Wochen stehen lassen, nun überwucherte er sein Gesicht. Ofracek taxierte den Talib, der die Frau ins Auge gefasst hatte. Dieser schulterte jetzt seine Kalaschnikow und wechselte ein paar Worte mit den anderen Wächtern. Die Frau sah verstohlen hin. Der Wächter stob auf sie zu. In seinem Patronengurt glänzte die Munition. Das Gesicht wirkte streng und stumpf. Die anderen blickten starr geradeaus, schablonierte Larven mit ausgeschnittenen Löchern für die verengte Perspektive. Wehe! Jede falsche Bewegung wurde registriert. Dann flitzten die Augen hin und her, bis sie die Beute fokussiert hatten.

Die Kiste glitt durch das Gate und sprang von dort über die Schwelle hinaus ins Sonnenlicht. Als die Frau nachsetzte, verstellte ihr der Wächter den Weg.

Die Parallelaktion war bisher gut verlaufen. Die anhaltenden Wirren auch nach dem Abzug der Besatzungsmacht hatten geholfen, die tatsächliche Absicht zu verbergen. Die idealen Umstände konnte man sich aber nicht aussuchen. Die Kiste stand in der prallen Sonne. Niemand kümmerte sich um das Frachtgut. Auf dem Rollfeld wartete schon das Flugzeug der türkischen Airline. Nun brachte der Wächter seine Kalaschnikow in Anschlag, ein anderer zog die Peitsche aus der Gürtelschlaufe und kam näher. Die Frau wehrte sich gegen die Bedrohung in einer der Landessprachen, streckte ihnen Papiere hin und kreischte, dass sie das Land verlassen durfte. Sie sei österreichische Staatsbürgerin. Der Wächter holte mit der Peitsche aus, einem dicken Gummilappen. Das Gekreische der Frau mischte sich mit der Ungeduld der Schlange stehenden Passagiere, die berechtigt waren auszureisen. Der Tumult schwoll an und alle Wächter legten die Hände an die Waffen. Die Peitsche verharrte an ihrem Zenit.

Ofracek schubste die Frau zur Seite, stellte sich breitbeinig vor den Peitsche schwingenden Talib, fuchtelte mit dem Dienstpass vor seiner Nase. Karl Ofracek, Führungskraft, Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Die Brosche, der IKRK-Badge, steckte an seinem Parka. Ofraceks Körpergröße schien den Mann eher einzuschüchtern als die Autorität seines Amtes. Ein Vernunftmensch in Gestalt eines alten weißen Mannes mit markantem Gesicht im Auftrag der Weltverbesserung hielt hier stand und strotzte vor Überzeugung. Immer wieder hatte er sich gewundert, dass seine Haltung, für die Schwachen zu kämpfen, aus den Poren seines Körpers zu dringen schien, ihn mit einer Aura versah, als trüge er die unsichtbare Rüstung einer Schutzmacht. Er fühlte sich nicht unverwundbar, er war sich selbst in diesem Augenblick egal, seine Mission war wichtig: die Überführung oder auch Entführung, wie er es nannte, und Rückholung einer Zwangsbraut als Akt der Zivilcourage. Die Rettung einer fünfzehnjährigen Österreicherin mit afghanischen Wurzeln.

Die Wächter spürten diese unerbittliche Entschlossenheit und weil der Aufruhr im Flughafengebäude nicht mehr aufzuhalten war und sich auch auf das Flugfeld ausweiten konnte, wichen sie zurück, klaubten nur mehr in den Papieren der Frau herum und versuchten zu lesen. Sie konnten es nicht, aber taten so, als prüften sie die Identität. Der Augenblick ihrer Scham war zu nützen. Karl Ofracek forderte die Papiere zurück und trieb die Frau aus dem Gate. Sie warf sich mit Klagerufen auf die Kiste und er folgte unbehelligt. Ein paar Leute in Overalls der türkischen Airline traten heran und rollten die Kiste zum Flugzeug. Ofracek packte die Frau und drückte sie tröstend an die Brust. Sie duckte sich in seinen Schutz, dann liefen sie über das Flugfeld. Ein klappriger Bus fuhr ihnen hinterher. Sie waren schneller, stürmten die Gangway hoch und betraten in dem Moment türkisches Hoheitsgebiet. Stewardessen erwarteten sie schon.

Die Kiste wurde am Fuß der Gangway abgeladen. Ein Durcheinander von Gepäckträgern war inszeniert, sodass niemand vom Terminal aus sehen konnte, dass der Deckel der Kiste geöffnet wurde und ein schlankes, in weiße Tücher gehülltes Mädchen heraussprang, die Gangway hinauffegte. Die Tür wurde geschlossen und die Kiste zum Schein übertrieben umständlich in den Bauch der Maschine verfrachtet.

Der Abflug funktionierte reibungslos, die Stimme des Towers krachte im Cockpit. Die Piloten waren unaufgeregt, für sie herrschte Routine. Die Verzweiflung der Zurückgelassenen vor dem Flughafen war nicht mehr vernehmbar. Aber das Gerangel war vorstellbar, die panischen Menschen, die damals das Land mit den Besatzern hatten verlassen wollen, wie sie die Security überrannt hatten, vorbeipreschten auf das Flugfeld. Wären die Fenster im Flieger geöffnet gewesen, hätte man den Wahnsinn noch heute riechen können. Es stank nach Eisen, Kot und Kerosin, bis in den hoffnungslosen Himmel über dem Land und in den sich abschottenden Westen hinein, wo die Sonne unterzugehen begann, um anderntags blutrot im Osten wieder aufzugehen.

Die Frau mit dem verrutschten Schleier schaute sich an Bord nach Karl um. Sie stieß erleichtert einen Seufzer aus. Damit dankte sie ihm und er ihr mit einem Blick und einem Nicken. Sie nahm den Schleier ab. Karl legte den Sicherheitsgurt an.

Er vernahm die verängstigten Laute der Zwangsbraut, sah ihr Gesicht, blass und feucht vom Angstschweiß. Sie wimmerte und lechzte nach Wasser. Eine Stewardess brachte ihr eine Flasche Wasser, die junge Frau hatte keine Kraft, sie zu öffnen. Die Stewardess setzte sich zu ihr, öffnete den Verschluss. Die andere setzte die Flasche an und trank gierig, verschluckte sich, prustete los. Wie eine Prinzessin durfte sie in der ersten Klasse sitzen und Wasser aus einem goldenen Becher trinken. Diese Behandlung hätte auch Karls Tochter gefallen.

Das Flugzeug stieg in die Lüfte, und Karl kamen die letzten anderthalb Jahre in dem fremden Land wie eine Ewigkeit vor. Seine Mission war jetzt erledigt. Die Genugtuung würde er spüren, sobald er festen Boden unter den Füßen hätte. Er streckte die Beine aus, entspannte sich. Er blickte hinunter auf die Stadt, wissend, dass er nie mehr wiederkommen würde. Er segnete das schöne Land, die Menschen, ihren Kampf gegen die Einsamkeit, die Korruption und die rohe Gewalt. Er bewunderte den Ernst des Gebets, das Durchhalten der Frauen. Die herbe Landschaft schrumpfte zu einem Relief. Gebirge und Wüste und fruchtbare Gebiete quollen ineinander und wirkten weich wie aus Teig. Karl Ofracek knetete diese Masse in Gedanken und wandte sich seiner Rückkehr zu.

Die Reise über Istanbul und die Ankunft in Zürich verliefen wie erwartet. Auffällig war, dass viele Passanten Notiz von ihm nahmen, als könnte man ihm das überstandene Abenteuer ansehen. Er trat durch die Schleuse in die Ankunftshalle und die Blicke hefteten sich auf ihn. Im ersten Moment spürte er den Impuls, sich zu verbeugen, doch freilich erhob niemand die Hände zum Applaus für seinen Auftritt, nur Schilder mit Namen ankommender Passagiere wurden hochgehalten. IPads mit vergrößerten Buchstaben auf dem Display, manche Abholer glotzten nur. Ofracek ging voran, die entführte Braut folgte ihm. Sie wirkte wie seine Tochter, steckte schon in westlicher Kleidung. Die dazugehörige vermeintliche Mutter trug ein Businesskostüm und telefonierte. Undenkbar für Außenstehende, dass diese Scheinfamilie vor ein paar Stunden einem System brutaler, männlicher Gewalt ausgesetzt gewesen war. Die Kooperation war mit viel persönlichem Einsatz der mutigen Leute vor Ort, dem Freiheitswillen der jungen Frau, ihrer Fähigkeit, sich Hilfe zu organisieren, sowie mit Diplomatie und Glück eingefädelt worden. Karl Ofracek betrachtete die multilaterale Aktion als erfolgreich beendet.

Nun suchte er seine Frau in der Menge. Vielleicht erkannte sie ihn nicht mehr? Vor ein paar Wochen, als sie sich in Dubai getroffen hatten, war der Bart nur ein bläulicher Schatten gewesen. Die Ankunft in der Schweiz war vollzogen, aber niemand war hier, um Karl persönlich in Empfang zu nehmen. Er schulterte den Rucksack. Die Stiefel und andere schwere Habseligkeiten hatte er seinen Helfern vor Ort zurückgelassen. Fotos von Almuth und Kunigunde waren natürlich eingepackt. Nebst Papieren und einem Brief auch die nötigsten Wäschestücke.

Er konnte nicht glauben, dass Kunigunde seine Ankunft vergessen hatte. Eine fremde Frau riss die Arme hoch und wedelte ihm um Aufmerksamkeit heischend zu. Die stark geschminkten Augen füllten sich mit Tränen der Freude, als er sie anblickte. Wovon war sie betroffen? Es musste sich um eine nahe Bezugsperson der jungen Frau handeln. Vielleicht die Schwester? Im Gefolge tauchten zwei Männer in Sweater und Sneakers auf. Sie übernahmen im Vorbeigehen den Schutz der Zwangsbraut, die sich mit einem Kopfnicken von ihm verabschiedete und mit ihrer Begleiterin im Businesskostüm abzog und verschwand. Eine Begrüßung war unterbunden worden, um kein Aufsehen zu erregen. Ofracek schaute der jungen Frau nach. Dann schritt er die Halle ab, begab sich zum Meetingpoint und wollte dort auf seine Frau warten. Das Handy hatte sein Netz gefunden. Er setzte sich auf einen der weißen Ledersessel an der Kaffeebar und rief Kunigunde an. Kein Anschluss unter ihrer Nummer. Was lief falsch? Er ging zum Informationsschalter und ließ sie ausrufen. Nichts. Grund zur Sorge? Grund für Groll?

Die Kellnerin der Kaffeebar registrierte ihn. Sie spürte wohl seinen Kummer, fragte, was sie ihm bringen dürfe.

„Ein Wasser“, sagte Karl.

„Nur das?“

„Seife und ein Rasiermesser.“

Die Kellnerin kicherte. Sie hielt sich peinlich berührt die Hand vor den Mund.

Karl strich sich über den Bart.

„Sie haben recht“, sagte er.

Kunigunde Ofracek hätte mit dem Zug aus Wien nach Zürich kommen sollen, um gemeinsam mit Karl nach Genf weiterzureisen. Und jetzt, dachte er, fraß ihn die Leere auf. Er überlegte, seine Tochter anzurufen. Aber wieso sollte er sie beunruhigen. Almuth war fünfzehn, sie könnte seinen Anruf falsch verstehen. Ihre Mutter war eine verantwortungsbewusste und erwachsene Frau. Karl fuhr in die Geschäftsetage mit den Shops, fahndete auch dort vergebens nach Kunigunde und beschloss daraufhin, einen Barbier aufzusuchen.

Der junge Mann besaß eine Aufenthaltsgenehmigung und hatte eine sichere Arbeit im Shop am Flughafen gefunden. Sein Glück sei seine Chefin gewesen, die nach seiner Ausschaffung, wie man Abschiebung in der Schweiz nannte, die Rückkehr in die Schweiz erkämpft habe, erzählte er. Er schlug Ofracek vor, einen Dreitagesbart stehen zu lassen, um sich nicht nackt zu fühlen. Karl rief wieder Kunigunde an. Die Verbindung kam nicht zustande.

In Afghanistan hatte er sich in Geduld zu üben gelernt. In Zürich wurde er langsam nervös. Seine Mission hatte eineinhalb Jahre gedauert, und dass Kunigunde ihn versetzte, war absurd, auch dass Freiheit sich so anfühlte, als wäre er seiner Frau egal und nicht nur unerwünscht. Vielleicht erkannten sie beide einander nicht mehr?

Er wusste nicht, was tun. Er musste den Abschlussbericht, das Debriefing, im Hauptquartier des Roten Kreuzes in Genf abliefern. Wie lautete der Auftrag für den Rest seiner Tage? Ein beschauliches Eheleben erwartete ihn offenbar nicht. In dem Moment kam Leben in sein Handy. Eine Nachricht seiner Frau: Es tut mir leid, ich musste in Salzburg umdrehen und zurückfahren. Almuth geht es sehr schlecht. Bitte, mach dir keine Sorgen! Ich fliege in den nächsten Tagen direkt nach Genf, um dich dort zu treffen!

Karl war enttäuscht, stieß einen verächtlichen Ton aus. Almuth war verwöhnt und mittlerweile eine totale Egoistin. Sie dürfte sich, seit er aufgebrochen war, nicht geändert haben.

Reisende aus aller Welt kamen ihm entgegen, man unterhielt sich hauptsächlich auf Englisch, Französisch und Deutsch, trug Übergangsmäntel und warme Jacken. Eine Melange aus Grau, Braun, Dunkelblau und Beige mit verstreuten Leuchtpunkten in Gelb, Orange und Pink wies auf die Individuen in der Menschenmasse hin. Karl steckte das Handy ein.

Er durfte sich Zeit lassen, seinem Takt folgen. Ein Schatten flog durch die Halle. Karl duckte sich unwillkürlich, gewöhnte sich aber schnell an das Lichtspiel, Kunst am Bau, vor den Fenstern. Er trat an die frische Luft. Nun war er ganz in Freiheit. Aber wohin damit? Ein Schlendern unter Passagieren des Alltags, das klang zu pathetisch, zeigte ihm aber das Tempo friedlicher Zustände an. Er wollte die Stadt besichtigen, bevor er nach Genf weiterreisen würde. Zürich fand er obskur, denn er vertraute dem sozialen Frieden nicht. Der Weg durch die Bahnhofstraße tat in seinen Augen sogar weh. So viel Friede und Reichtum. Er legte Pausen ein und schaute in die Auslagen. Ein Messer fuhr durch das Fleisch von Erdbeeren und Bananen. Eine Schokoladenköchin mit weißer Schürze und weißem Häubchen auf dem Kopf zerteilte Früchte und drapierte sie auf einem Teller neben dem Brunnen, aus dem Kaskaden von Schokolade quollen. Karl trat ein, atmete die Süße. Die Frau reichte ihm ein hölzernes Spießchen für ein Stück Banane, um es in Schokolade zu tauchen. Er war überwältigt vom Abgang des Leckerbissens. Die Schokoladenköchin lächelte und Karl erschrak fast über ihr blendend weißes Gebiss. Er blickte beschämt zur Seite und ging davon.

Flaschen diverser Jahrgänge Laphroaigs lagerten in den Regalen einer Whiskeybar. Das schottische Gesöff, auf den Hebriden in einem Eichenfass gereift, nahe der See, soll daher seinen Teergeschmack haben. Karl prüfte die Sorten.

Er hätte eine Taxifahrt zum schönsten Aussichtspunkt Zürichs unternehmen können, er hatte Zeit und die Organisation hätte es ihm bezahlt, doch die Lust, auf einen sauberen Bahnsteig zuzusteuern und auf einen pünktlichen Zug zu warten, machte ihn glücklicher als jedes Panorama.

In der Bahnhofshalle hing der wuchtige Engel Niki de Saint Phalles von der Decke. Die üppige Skulptur schwebte über Ofracek, bunt bemalt, mit einem Korsett bekleidet und so eindeutig weiblich mit ausgeprägten Rundungen, dass es ihm den Atem verschlug. Der weibliche Riese breitete seine goldenen Flügel aus. Die Menschen verhielten sich gleichgültig, auch in einem der reichsten Länder der Welt ganz normal. Unter den Flügeln stand er und hier hätte er Kunigunde küssen wollen. Vor Starbucks lungerten Jugendliche, das freie WLAN mit ihren Smartphones nutzend. Seinen Hunger stillte er mit dem ersten Croissant seit Jahren und schluckte die Bissen mit einem Latte macchiato hinunter. Er wischte die Brösel vom Parka. Der Kaffee war sehr heiß und Karl blies ins Gebräu. Er studierte die Abfahrtszeiten nach Genf, senkte den Blick und entdeckte etwas Herrliches, was ihm, wie er mit Schrecken feststellte, die letzten Jahre gar nicht abgegangen war. Direkt unter dem Engel befand sich eine Buchhandlung.

Er sondierte Reiseführer für Trekker, Bücher über die Schweiz, Biografien berühmter Schweizer, wie etwa Grisélidis Réal. Architektur in der Literatur von Max Frisch. Gespräche mit Adelheid Duvanel und Unica Zürn. Krieg und Frieden in Kunst und Leben von Paul Klee bis zu Rousseau. Schweizer Friedhöfe. Berühmte Ausländer und ihre Gräber.

Karl schnappte sich das Buch über Grisélidis Réal, eine emanzipierte Sexarbeiterin, wie es hieß. Sie stammte aus Lausanne und war in Genf gestorben, besaß ein Ehrengrab neben dem argentinischen Dichter Jorge Luis Borges, der in Genf das Zeitliche gesegnet hatte. Karl Ofracek liebte eher Lausanne, die Stadt war erschwinglicher als Genf, schmutziger und heimischer, weil er sich lieber in Nischen zwischen Gossen aufhielt als in der Reichen-Nische-Gosse.

Bildbände zeigten Radwanderwege, Yachthäfen der Schweizer Seen mit Ansichten von Zürich, Genf oder Luzern. Gebirgszüge zackten in den Horizont und glänzten mit ihren Schneegefilden. Das Buch über Édouard Manet steckte bei der Antike von Winckelmann. Karl blätterte in dem Kunstband. Sein Blick blieb bei „Olympia“ hängen. Die hellhäutige Frau lag einer Venus gleich nackt auf dem Canapé. Sie hatte die Augen offen und musterte den Betrachter. Ihr Blick stellte Karls Schaulust auf ihren Körper bloß, er wurde rot vor Scham. Olympia war eine Hure, aber auf Augenhöhe mit ihm. Die Pose und Positionierung waren bedeutsam für die gesamte Kunstgeschichte, Olympia nagelte Karl ans Fadenkreuz des Voyeurismus.

Ein Buch über Protestantismus war weniger aufregend. Häuser ohne Schmuck, mittelalterliche Fassaden. Tisch. Stuhl. Bett. Herd. Couch. Betstuhl. Alles aus gediegenem Material und gebaut für ein Leben in Ewigkeit, Amen.

Bücher in Pastell, Romanzen, die er herausklaubte, Kitsch, wie er befand, wenn das Herz eines Good Girls ausgerechnet für einen Bad Boy schlug. Er nahm ein Buch über Afghanistan zur Hand, mit Porträts lachender Menschen, die Gebisse mit Lücken und schlechten Zähnen versetzt. Kinder hielten Plastikwaffen fest. Er legte den Band weg und plötzlich sprang ihm ein Werk ins Auge. Es zeigte eine Frau auf dem Cover. Im ersten Moment glaubte er, seine Schwester zu erkennen. Eine Frau, die an einem Fenster lehnte. Ihre Ärmel waren aufgekrempelt. Sie hatte das Haar zusammengebunden, wie seine Schwester, wenn sie im Amt war. Der Titel des Romans lautete: The Judge. Gabrielle war Richterin in Wien. Das Buch war auf Englisch und wie der Klappentext versprach eine wahre Geschichte über den Konflikt, zwischen Recht und Gerechtigkeit die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die Autorin des Buches sagte ihm nichts. Ihr Name klang wohl vertraut in seinen Ohren.

Ofracek trug das Buch zur Kassa, fragte, ob es auch auf Deutsch vorrätig sei. Die Verkäuferin tippte den Titel in den Computer. Es stand irrtümlicherweise bei den Sachbüchern. Sie holte das Exemplar und fragte, ob sie das Plastik ablösen solle. Er schüttelte den Kopf. Solange man mit diesem Material noch so großzügig umging, wollte er nicht darauf verzichten, eingeschweißt wirkte das Buch neuer. Die letzten Monate hatte er mit den abgegriffenen, labbrigen Seiten des gebrauchten Nabokov-Romans Lolita verbracht.

Er hielt der Verkäuferin seine Kreditkarte hin. Sie legte sie auf den Zahlungsapparat. Die Kreditkarte funktionierte nicht. Die junge Frau startete den Zahlungsprozess neu. Karl tippte den PIN-Code ein.

„Na bitte“, sagte sie, „klappt ja, wenn man sich bemüht.“

Der Automat ratterte, der Kundenbeleg ruckelte aus dem Schlitz. Das Papier fühlte sich warm an. Karl steckte den Beleg in die Brieftasche. Dann ging er zum Bankomaten und besorgte sich Bargeld. Die Banknoten trugen den sichtbaren Hinweis, dass sie strafrechtlich geschützt waren, grafisch illustriert mit dirigierenden Händen, einem Globus und dem Emblem der UN, mit dem Gotthardtunnel und den doppelspurigen Geleisen, mit den Zahnrädern und der Unruh schweizerischer Uhrmacherkunst. Alles auf Sicherheitspapier gedruckt. Die Bedeutung der Zeichen und Abbildungen dieses handlichen Wertpapiers wog praktisch nichts zwischen den Fingern. Eine Frau beobachtete Ofracek, wie er so dastand und in seinen Geldscheinen blätterte.

„Sind Sie fertig?“, fragte sie.

Er schämte sich für seine Verlorenheit, klappte die Brieftasche zu, steckte sie in die Gesäßtasche und machte Platz vor dem Bankomaten.

„Packen Sie das Portemonnaie lieber in die Innentasche Ihrer Jacke“, sagte die Frau. „Dort hinten könnte es Ihnen gestohlen werden, ohne dass Sie es merken.“

Karl kam sich ertappt vor. Die Frau irritierte ihn. Jetzt erst fiel ihm auf, weshalb. Er hatte monatelang keine Frau mit Stirnfransen gesehen.

„Woher kommen Sie?“, fragte sie weiter.

„Aus Kabul“, sagte er.

Sie blies die Stirnfransen auseinander und sagte: „Ja, wie kommt das denn? Sind Sie ein Held?“

Ofracek lachte schwach und musste zum Zug. Die Zeit wurde nun knapp.

„Darf ich noch Ihren Namen wissen?“, fragte sie. „Ich könnte Ihnen die Schweiz näherbringen und Sie mir Ihre Welt.“

Er kam aus dem Krieg und hatte alles getan, um Menschen zu retten, sagte er sich, sollte sein Name Karl bekannt werden, weil er war, wie er war, schreckhaft, selbstironisch und pessimistisch, aber vielleicht deshalb guten Herzens. Oder unterlag er in seiner Selbsteinschätzung dem Weißen-Retter-Komplex, einer Facette des strukturellen Rassismus, ein Stachel in seinem Fleisch. Er eilte von dannen, rief ihr aber noch zu: „Mein Name ist Karl.“ Und verschwand in der Menge unter dem Engel.

Karl Ofracek kaufte das Ticket nach Genf. Auf dem Bahnsteig rief er erneut Kunigunde an. Wieso ging es Almuth so schlecht? Bahnte sich eine Katastrophe an? Sorge durchrieselte ihn, freilich war er zu lange im Einsatz gewesen. Als wäre er ein Sandsack, der eine Überschwemmung aufsaugen musste, so schwer fühlte er sich plötzlich. Er blickte auf die Uhr, die von der Decke hing. Der Sekundenzeiger floss über das Ziffernblatt. Er versuchte nun auch Almuth zu erreichen. Das Kind hatte das Handy abgedreht. Die Nachricht blieb unzustellbar.

Er stieg in den Zug, stand zuerst im Gang zwischen den Sitzreihen, weil er vergessen hatte, eine Reservierung vorzunehmen. Die Bezüge waren blaugrün gemustert, winzige Pfeile, die in alle Richtungen wiesen. Staub, Brösel und andere Spuren verloren sich in diesem Gewusel. Die Sitze wirkten sauberer als mit einem ruhigen Stoffmuster. Manche Passagiere kauten an ihren Sandwiches, tranken aus schön gestalteten Thermoskannen, genossen die Sicht aus dem Fenster. Die Scheiben waren ohne Kratzer und durchsichtig sauber. Man unterhielt sich leise oder schwieg, es wurde ins Smartphone getippt oder Musik über Kopfhörer gehört. Ofracek hielt sich an einer Lehne fest und sein Blick fiel auf den Haaransatz einer Sitzenden, deren Mittelscheitel so exakt gezogen war, als hätte sie ihn eingeritzt. Der Zug hielt in einem Vorort und da wurde ein Sitzplatz frei. Er verstaute den Rucksack.

02

Ofracek. Karl. Aus dem Rachen krachendes K, daraus geborenes A, am Gaumenzäpfchen geriebenes R, von der Zunge über die Spitze in den Zahndamm gerolltes L. Er musste grinsen beim Gedanken an die Frage der Passantin, ob er ein Held sei? Beeindruckt löste er die Plastikfolie von der Richterin. Er schlug die Beine übereinander, rutschte tiefer in den Sitz und zog das Knie an. Der Oberschenkel diente als Stütze für das Buch. Er blätterte das Schmutzblatt um, das Titelblatt, die Seite mit dem Motto und begann zu lesen. Die Geschichte von einer Asylrichterin, die Flüchtlinge abschob und damit ihre Probleme hatte. Nach den ersten Sätzen leckte er sich die Zeigefingerspitze ab und blätterte weiter bis zur Danksagung an die Lieferanten von Inhalt und Inspiration für dieses Buch. Er las schnell ein paar Seiten und schlug es zu, als er auf eine Figur stieß, die Karl hieß.

Seine Augen blinzelten im Streiflicht der Sonne. Er zog die Brauen zusammen. Seine gerade Nase juckte und ein Anflug von bitterer Strenge presste die Lippen zusammen. Er wirkte sofort freundlicher, wenn er nur mit der Wimper zuckte und an etwas Angenehmes dachte. Diese Selbstbeobachtung ließ auf einen gesunden Instinkt und gute Menschenkenntnis schließen. Er wusste, wie er Sympathie erregte. Er steckte das Buch ins Taschennetz am Vordersitz und hob den Kopf, der rund wie ein Fußball war. Diesen Vergleich mochte er nicht. Zu oft geschah es, dass der Kopf Enthaupteter in Wirklichkeit für diesen Spielsport verwendet wurde. Außerdem hatte er seine Mutter geliebt. Sie hatte sich oft beschwert, dass sein Kopf schuld an den Schmerzen gewesen war, die ihr seine Geburt bereitet hatte. Sie gab ihm den Namen Karl, weil er für sie rund klang, gewöhnlich und vielseitig war, deshalb auch anspielungsreich. Jede Familie hatte ihren Karl. Auch Karls Vater war schon ein Karl gewesen.

Er sah aus dem Fenster, Autos rollten langsamer werdend auf Augenhöhe mit dem Zug. Er fuhr an den Schranken eines Bahnübergangs vorbei und in die hügelige Landschaft hinein, die wieder in ein gemäßigtes Industriegebiet überging.

Städtische Wohnsiedlungen schoben sich in den Fensterausschnitt. Die Wälder am Rand der Wiesen wirkten fixiert im Hintergrund. Eine Weide mit Kühen. Ob er den Weg abkürzen würde oder verhielte er sich wie der Wanderer, der einen großen Bogen um die Herde zu machen schien. Waren alle Kühe aggressiv? In den Krisengebieten waren Tiere vor Hunger und Dürre zu schwach, um angriffslustig zu sein, Hunde gingen dort vor die Hunde.

Ein grauhaariges Paar radelte mit durchsichtigen Helmen auf dem Kopf neben dem zuckelnden Zug her. Sie nahmen das Trottoir. Die Autos in der Kolonne bildeten eine Kette aus Trennstrichen, an der sie vorbeifuhren. Die Autofahrer blickten geradeaus, einer ließ die Scheibe herunter. Der Himmel war grau und der erste Tropfen zerplatzte am Fenster. Hinter dem zerrissenen Spritzer liefen Kinder mit Schulranzen auf dem Rücken über die Straße, hüpften von einem auf das nächste weiße Feld des Zebrastreifens. Sie trugen Regenmäntel, von Kopf bis Fuß, aber die Mäntel waren transparent.

Der Zug fuhr im Schritttempo durch die friedlich wirkende Kleinfamilienöde. Dabei war die Gegend ein Ausflugsziel. Vom Bahnhof aus konnte man Richtung Mont Pèlerin zu Fuß weiterwandern. Wie einst die vor den Nazis fliehenden Juden, um nach Genf zu gelangen und auszuwandern. Ein Spaziergang für heutige Touristen, um auf dem Plateau das spektakuläre Panorama zu genießen, Frankreich und Italien zu erblicken. Von seinem Waggon aus betrachtet war der Berg nur ein Hügel mit Fels und selbst die Bezeichnung Hügel mit Fels kam ihm wie eine Übertreibung vor, verglichen mit dem Hindukusch. Die Erhebung schob sich hier in den Horizont ohne Klüfte, verlief als milde Kante zwischen Himmel und Erde.

Karl hatte jegliches Landschaftsleben für seinen Familienstil ausgeschlossen. Frau und Tochter waren im sicheren Wien geparkt und er war in Krisengebieten daheim, um die Welt zu befrieden, ja, schweizerisch anmutende Familiengründe zu schaffen, wie sie vor dem Fenster herrschten. Sollten sich Höllen darin verbergen, die einmal als Romanzen begonnen hatten, wo finanzielle und emotionale Verhältnisse gut zusammenpassten, konnte er nichts dafür.

Die herrschenden Triebkräfte in familiären Mikrosystemen konnten in Wahnsinn umschlagen, waren aber gesellschaftlich leichter kleinzuhalten als bahnbrechender sozialer Unfrieden. Kunigunde stillte die gemeinsame Tochter vermutlich mit Haferschleim und diente mit totaler Fürsorglichkeit ihrer Geltungssucht. Karl hatte keinen Draht mehr zu seinem Kind, seit seine Überspanntheit zur Übergriffigkeit bei der letzten Abreise geführt hatte. Das gestand er sich ein. Es wurde ihm zugeschrieben, dass Almuth auf ihn und er auf Almuth eifersüchtig war. Dabei war Kunigunde der Zankapfel. Der lautlose Machtkampf um die Liebe des Kindes prägte den Familienalltag. Kunigundes Kinderwunsch war nicht umzubringen gewesen. Sie bildete sich das Baby ein, lief als Glucke herum, konnte nicht zulassen, dass es herangereift war. Die Unschuld einer jungen Frau konnte aber nicht nur mit Mütterlichkeit behütet werden.

Die Entscheidung für ein Kind war von Kunigunde ausgegangen. Er war bereit gewesen, dem Traum nachzugeben. Almuth spielte das Elternpaar seither gegeneinander aus. Karl unterstellte ihr, die Wiederbegegnung mit Kunigunde absichtlich vereitelt zu haben. Er würde die Tochter zur Rede stellen, ihr die Situation logisch auseinandersetzen. Kunigunde war Karls rechte Braut und die Tochter zwang sie daheimzubleiben. Mit Verständnis für eine Pubertierende konnte er nicht reagieren, manchmal brach die Wut auf die häusliche Terroristin aus. Er schluckte sein Ressentiment, denn er verachtete derartige Ausbrüche, die er von seinem Vater kannte. Sein ungerechtfertigter Jähzorn war schuld gewesen, dass Karl die Schule abgebrochen hatte.

Er misstraute jedem häuslichen Idyll, hatte es aber gesucht und im Rausch der Drogen gefunden. Er hatte vor vielen Jahren den einschneidenden Entzug in einer Berner Klinik gemacht. Afghanisches Haschisch und Heroin hatten ihn fast das Leben gekostet. Die Berner waren Vorreiter für die Behandlung von Junkies. Man durfte sich außerhalb der Anstalt frei bewegen, nur war diese Freiheit in gefinkelter Weise sehr eingeschränkt worden. Nirgends gab es die Chance, heimlich zu fixen. Nicht einmal nachts in den öffentlichen Toiletten oder Telefonzellen, denn das Licht, das notwendig war, um die Nadel zu setzen, war ultraviolett und machte die Venen unsichtbar. Die perfide Kontrolle der ganzen Stadt hatte genützt, um ihn zu heilen. War er also in die Knie gezwungen worden? Karl wusste es bis heute nicht.

Die Rettung der Welt war sein ehrliches Ansinnen, erfolgsgeil und ohnmachtsbewusst zugleich. Er glaubte an den Einsatz zum Wohle der Menschheit, die ohne ihn verrottete. Sie konnte niemals gut werden, höchstens besser, vielleicht auch als er.

Ofracek war ein Homo paradoxon, zwischen heißer Wut und kalter Berechnung sich selbst domestizierend, zu Gewalt und Güte befähigt, das mehr oder weniger Böse kalkulierend. Jahrhundertelanger Frieden und direkte Demokratie resultierten seiner Meinung nach aus der Entscheidung zur Freiheit jenseits moralischer Grundsätze, die später eine zivilisierte Gesellschaft erst ausformulierte. Die Schweiz wäre nicht schlecht für ein Paradies, doch waren es ihre Oligarchen, das Bankgeheimnis und die Privatkliniken, die Golddepots ermordeter Juden und das schmutzige Geld im Land der Sauberkeit, woran sich zeigte, dass Heimtücke alle Vorsätze unterwanderte und das Gute ins Böse verwandelte. Die Reichen waren nicht einmal unbedingt die Bösen. Das wäre zu einfach, schwarz-weiß zu zeichnen anstatt zu differenzieren. Charlie Chaplin war auch reich und trotzdem kein Gauner, er lebte zurückgezogen in der diskreten Schweiz, weil ihn die Vereinigten Staaten von Amerika als Kommunist hinausgeworfen hatten.

Karl war nie Kommunist gewesen. In seiner Jugend hatte er die Chance dazu verpasst. Heute bezeichnete er sich als linken Liberalen. Wie hoch wäre der Preis, hier im Paradies als Oligarsch zu leben? An den Berghängen des Hindukusch wäre gutes Leben für viel Geld möglich. So viel Geld besaß er nicht.

Der Zug brauste über die Trasse an den einstigen Fluchtrouten entlang. Ofracek spürte einen Druck in den Ohren. Er hielt sich die Nase zu und schluckte. Dann hörte er ein ersticktes Klingeln. Die Frau, die auf der anderen Seite des Ganges in der gleichen Reihe saß, zog ihr Handy aus der Tasche. Sie strich über das Display, wies den Anruf ab. Dann tippte sie auf die Fotodatei. Ein schlafendes Babygesicht war auszumachen. Die Frau hatte rot lackierte Fingernägel. Karl studierte die Oberfläche dieser weiblichen Erscheinung eindringlicher, das Kostüm aus feinem Tuch, Pepitamuster. Sie streckte die Beine aus. Die Nylonstrümpfe waren vielleicht aus Seide, sie schlugen Falten. Die Blusenärmel hingen sehr lose von den zart gerundeten Schultern herab. Die Füße steckten in Sandalen. Am Knie des linken Beines hatte sie eine gut verheilte, aber auch durch das Strumpfgewebe sichtbare Narbe. Spuren einer Operation? Sie schlug die Beine übereinander. Der Blazer lag über ihrem Schoß. Ohrringe. Zusammengedrehtes Haar. Kleine Handtasche. Große, prall gefüllte Aktentasche. Sie steckte das Handy hinein, lehnte sich zurück. Worüber dachte sie nach? War sie eine Mutter, gar eine Großmutter? Vielleicht war sie nur eine interessante Frau, die keine Lust hatte, an die Aufzucht eines Kindes zu denken. Sie runzelte die Stirn.

Der Zug ruckelte und drosselte die Geschwindigkeit abrupt. Karl schlug mit dem Kopf fast gegen den Vordersitz. Er schnappte nach dem Sicherheitsgurt, dann kapierte er, in einem europäischen Zug zu sitzen und nicht in einem Flugzeug, das ihn von Ghazni, Kabul, Dubai nach Istanbul brachte.