„Because here in Germany“. Kategorisierung und Wirklichkeit - Sara Dirnagl - E-Book

„Because here in Germany“. Kategorisierung und Wirklichkeit E-Book

Sara Dirnagl

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Beschreibung

Die spontane und längerfristige Kategorisierung von Mitmenschen ist wesentlicher Bestandteil der menschlichen Kommunikation. So können durch die Aktivierung einer Kategorisierung gemeinsame Wissensbestände generiert oder erweitert werden, die Voraussetzung einer gelungenen Kommunikation sind. Dabei findet derzeit die Interaktion zwischen Menschen, die bereits länger in einer Gesellschaft leben, und Personen, die neu hinzukommen, besonders große politische wie mediale Beachtung. Sara Dirnagl untersucht Migrationsberatungsgespräche mikroanalytisch, um gegenseitige Zuschreibungen in der Interaktion aufzudecken und Rückschlüsse auf zugrunde liegende Vorstellungen von Realität zu ziehen. Die Ergebnisse geben dabei nicht nur Aufschluss über die untersuchten Gespräche, sondern auch Hinweise auf gesellschaftliche Kategorisierungen im Rahmen der Migrationsdebatte. Die ethnomethodologisch ausgerichtete Studie richtet sich an im Bereich der Linguistik und der Migrationsforschung Tätige sowie allgemein an Leser, die sich für die verdeckten Strukturen interkultureller Interaktion interessieren.

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Seitenzahl: 400

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Aktuelle Relevanz des Themas

1.2 Bisherige Studien

1.3 Forschungsbedarf

1.4 Vorhaben

2 Qualitative Forschung

2.1 Grundannahmen qualitativer Forschung

2.2 Diskussion qualitativer Forschung

2.3 Die Rolle der Forscherin

2.3.1 Wie sollte die Selbstreflexion der Forscherrolle aussehen?

2.3.2 Was soll hier reflektiert werden?

2.3.3 Die Subjektivität der Forscherin

2.3.4 Erforschte werden zu Objekten degradiert

2.3.5 Rollenambiguität

2.3.6 Beeinflussung des Geschehens

2.3.7 Die Forscherin als Teil des Forschungsgegenstands

3 Methode

3.1 membership categorization analysis (MCA)

3.1.1 Erkenntnisinteresse der MCA

3.1.2 Wissenschaftstheoretische Ursprünge der MCA

3.1.2.1 Ethnomethodologie

3.1.2.1.1 Historische und wissenschaftstheoretische Einordnung

3.1.2.1.2 Untersuchungsgegenstand und Erkenntnisinteresse

3.1.2.1.3 Theoretische Grundlagen

3.1.2.1.4 Methode

3.1.2.1.5 Kritische Auseinandersetzung mit der Ethnomethodologie

3.1.3 Forschungsgegenstand der MCA

3.1.4 Theoretische Grundlagen der MCA

3.1.5 Praktische Grundlagen der MCA

3.1.6 Ausrichtungen bisheriger MCAs

3.2 Weiterentwicklung der MCA

3.2.1 construction of the common ground (CCG)

3.2.2 CCG und MCA – Zusammenführen der Grundlagen

3.3 Entwurf neuer Arbeitsschritte

3.3.1 Phase 1 - Erfassen der Kategorisierungen, Beschreibungen und speech action patterns

3.3.2 Phase 2 – Rekonstruktion der devices

3.3.3 Phase 3 – Erstellen der Cluster

3.3.4 Phase 4 – Theoretische und inhaltliche Reflexion der Ergebnisse

3.4 Diskussion

4 Analyse - Phasen 1 bis 3

4.1 Auswahl des Datenmaterials

4.2 Erhebung des Datenmaterials

4.3 Transkription

4.4 Analysephasen 1 bis 3

4.4.1 Phase 1 – Erfassen der Kategorisierungen, Beschreibungen und speech action patterns

4.4.1.1 Erfassen der expliziten personalen und non-personalen Kategorisierungen

4.4.1.2 Erfassen der expliziten personalen Eigenschaften und Aktivitäten

4.4.1.3 Erfassen der speech action patterns

4.4.1.4 Erfassen der impliziten und dynamischen Kategorisierungen

4.4.2 Phase 2 - Rekonstruktion der devices

4.4.3 Phase 3 – Erstellen der Cluster

4.4.3.1 Depersonalisierung

4.4.3.2 Identitätsarbeit

4.4.3.3 Ortskunde

4.4.3.4 Verdacht

4.4.3.5 Wege

4.4.4 Zusammenfassung der Ergebnisse

5 Analyse - Phase 4

5.1 Depersonalisierung – der Mensch als Ware

5.1.1.1 objectification

5.1.1.2 Menschenhandel

5.1.1.3 Hassrede

5.1.2 Reflexion der Analyseergebnisse hinsichtlich dieses Themas

5.1.2.1 objectification

5.1.2.2.Menschenhandel

5.1.2.3 Hassrede

5.2 Identitätsarbeit

5.2.1.1 Qualitative Identität

5.2.1.2 MCA als Identitätsrekonstruktion

5.2.1.3 Identität versus Alterität?

5.2.2 Reflexion der Analyseergebnisse hinsichtlich dieses Themas

5.2.2.1 Qualitative Identität

5.2.2.2 MCA als Identitätsrekonstruktion

5.2.2.3 Identität versus Alterität

5.3 Ortswissen

5.3.1.1 Beratung

5.3.1.2 Migrationsberatung

5.3.1.3 Experten-Laien-Kommunikation

5.3.1.4 Fremdsprachenkommunikation

5.3.2 Reflexion der Analyseergebnisse hinsichtlich dieses Themas

5.3.2.1 Beratung

5.3.2.2 Migrationsberatung

5.3.2.3 Experten-Laien-Kommunikation

5.3.2.4 Fremdsprachenkommunikation

5.4 Verdacht

5.4.1.1 Vertrauen und Misstrauen in der Interaktion

5.4.1.2 Verhörstrukturen im Gespräch

5.4.2 Reflexion der Analyseergebnisse hinsichtlich dieses Themas

5.4.2.1 Vertrauen und Misstrauen in der Interaktion

5.4.2.2 Verhörstrukturen im Gespräch

5.5 Wege

5.5.1.1 Mobilität

5.5.1.2 Migration und Mobilität

5.5.1.3 Orte

5.5.1.4 Migration zwischen Orten

5.5.2 Reflexion der Analyseergebnisse hinsichtlich dieses Themas

5.5.2.1 Mobilität

5.5.2.2 Migration und Mobilität

5.5.2.3 Orte

5.5.2.4 Migration zwischen Orten

5.6 Zusammenfassung der Ergebnisse

5.6.1 Depersonalisierung

5.6.1.1 objectification

5.6.1.2 Menschenhandel

5.6.1.3 Hassrede

5.6.2 Identitätsarbeit

5.6.2.1 Qualitative Identität

5.6.2.2 MCA als Identitätsrekonstruktion

5.6.2.3 Identität versus Alterität

5.6.3 Ortswissen

5.6.3.1 Beratung

5.6.3.2 Migrationsberatung

5.6.3.3 Experten-Laien-Kommunikation

5.6.3.4 Fremdsprachenkommunikation

5.6.4 Verdacht

5.6.4.1 Vertrauen und Misstrauen im Gespräch

5.6.4.2 Verhörstrukturen im Gespräch

5.6.5 Wege

5.6.5.1 Mobilität

5.6.5.2 Migration und Mobilität

5.6.5.3 Orte

5.6.5.4 Migration zwischen Orten

5.7 Die Ergebnisse im Überblick

6 Diskussion und Ausblick

7 Literaturverzeichnis

8 Abbildungsverzeichnis

9 Anhang

9.1 Transkriptionskonventionen

9.2 Transkripte

9.2.1 Transkript des Gesprächs I

9.2.2 Transkript des Gesprächs II

9.2.3 Transkript des Gesprächs III

9.2.4 Transkript des Gesprächs IV

9.2.5 Transkript des Gesprächs V

Kultur-Kommunikation-Kooperation

Impressum

 

 

„Because here in Germany“

Kategorisierung und Wirklichkeit

Eine dynamische Membership Categorization Analysis von Migrationsberatungsgesprächen

 

 

Sara Dirnagl

Diese Arbeit wäre ohne die Unterstützung zahlreicher Personen nicht möglich gewesen.

Ich danke meinem Doktorvater, Prof. Dr. Dominic Busch, der mir während der gesamten Arbeit mit seinem Fachwissen zu unterschiedlichsten Themen und konstruktiver Kritik zur Seite gestanden hat.

Ich danke außerdem Prof. Dr. Burkhard Schäffer für die zielführenden Diskussionen im Rahmen der Kolloquien und für die Ratschläge zu einem guten Weg zwischen Empirie und Theorie.

Prof. Dr. Daniel Lois danke ich für die Übernahme des Prüfungsvorsitzes. Allen drei Professoren sowie meinen Kolleginnen und Kollegen an der Universität der Bundeswehr München danke ich außerdem für die gute Atmosphäre und kollegiale Arbeit.

Ohne die freundliche Einwilligung der vielen BeraterInnen und Ratsuchenden in die Aufzeichnung ihrer Migrationsberatungsgespräche wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ihnen gilt mein herzlicher Dank. Den meist schwierigen Lebenswegen der Ratsuchenden sowie der Arbeit der Ratgebenden möchte ich hier meine Anerkennung aussprechen.

Gerne möchte ich mich auch bei meinen sehr guten Freundinnen und Freunden und besonders bei meinem Freund Karl für ihren Zuspruch, die nötige Ablenkung und Unterstützung bedanken. Ihre Aufmunterung und Geduld gerade auf den letzten Metern der Dissertation haben mir Aufschwung gegeben.

Meine Familie hat mich immer in meinem Vorhaben bestärkt und mir in jeglicher Lage beigestanden. Bei meinen Eltern, meinem Bruder sowie meiner Großmutter möchte ich mich daher besonders herzlich bedanken. Sie haben mir in jeder Hinsicht den Weg geebnet und begleiten mich bei allem was ich beginne.

1 EINLEITUNG

Jedes Ich, das sich ausspricht, ist eine Rolle.Max Frisch

Und nicht nur das. Jedes Ich, das sich aussprdassicht, gibt auch einen Hinweis auf seine Sicht auf die Welt. Stelle ich mich beispielsweise mit den Worten „Ich bin Hamburgerin“ vor, so verweist das auf einen anderen Grundgedanken als „Ich bin Deutsche“ oder „Ich bin Deutsche mit Migrationshintergrund“. Während die ersten zwei Aussagen eine lokale Verortung aktivieren, formuliert die dritte Aussage eine weitere soziale Kategorisierung, die sich auf meine familiären Wurzeln bezieht. Weiter könnten diese Vorstellungen je nach Kontext beispielsweise auch auf bestimmte Einstellungen hinsichtlich des Nationalitätsgedankens schließen lassen. Mit jeder Äußerung, die ich mache, nehme ich also eine Einordnung meiner selbst und meiner Umwelt vor. Diese Einordnungen wiederum geben Aufschluss darüber, was ich situativ relevant setze und welche Vorstellung von Wirklichkeit meiner Handlung zugrunde liegt.

Dabei hat jeder Mensch seine eigene Wahrnehmung von Wirklichkeit, die er mit seinem Handeln in der Interaktion ausdrückt, verhandelt, verändert und konstruiert1. Dies passiert unter anderem dann, wenn er seine Umwelt strukturiert und das Wahrgenommene einordnet, um eine bessere Handhabbarkeit des Informationsüberflusses zu gewährleisten. Entsprechende Einordnungen und Kategorisierungen betreffen hier den Menschen selbst als auch andere wahrgenommene Personen. So kann er einen Menschen beispielsweise als „Kind“ kategorisieren, was sein eigenes Handeln diesem Menschen gegenüber bestimmt und ebenso Einfluss auf die kategorisierte Person hat. Ordnet er einen Erwachsenen in diese Kategorie ein und verhält sich zu ihm entsprechend wie zu einem Kind, so könnte das vom Gegenüber zum Beispiel als Beleidigung oder Abwertung aufgefasst werden. Damit wird deutlich, wie Kategorisierungen in der Interaktion Rückschlüsse über zugrunde liegende Wirklichkeitswahrnehmungen geben können2.

An dieser Stelle setzt die vorliegende Studie an: Es werden Gespräche mikroanalytisch untersucht, um die Zuschreibungen in der Interaktion aufzudecken und Rückschlüsse auf zugrunde liegende Vorstellungen von Realität zu ziehen. Die Untersuchung von Migrationsberatungsgesprächen scheint der Autorin dabei von besonderem Interesse zu sein, da diese einen interkulturellen Kontakt aufzeigen, der aufgrund der natürlichen Migrationsbewegungen auf der Welt immer von Bedeutung sein wird. Die Interaktion zwischen Personen, die bereits länger in einer Gesellschaft leben, und Personen, die neu hinzukommen, wird auf unterschiedliche Weise in der Gesellschaft diskutiert und findet aktuell besonders große politische wie mediale Beachtung.

Die Fragestellungen dieser Arbeit lassen sich also wie folgt formulieren: „Welche Kategorisierungen werden in den untersuchten Migrationsberatungsgesprächen aktiviert?“ und „Auf welche zugrunde liegenden Wirklichkeitswahrnehmungen verweisen diese Kategorisierungen?“. Die Beantwortung dieser Fragen kann nicht nur Aufschluss über die untersuchten Gespräche, sondern auch Hinweise auf teils unbewusste gesellschaftliche Kategorisierungen geben.

In diesem ersten Kapitel soll es zu Beginn darum gehen, in einem kurzen Überblick die aktuelle Relevanz des Themas aufzuzeigen und einen Einblick in die aktuelle Forschungslandschaft zu geben. Aus diesen Informationen ergeben sich dann ein bestimmter Forschungsbedarf sowie die Fragestellung dieser Studie. Der anschließende Abschnitt stellt entsprechend vor, wie die Forschungsfrage beantwortet und welches Vorgehen dabei gewählt werden soll. Abschließend leitet eine Vorstellung und Begründung der Struktur dieser Arbeit in das nächste Kapitel über.

 

1.1 AKTUELLE RELEVANZ DES THEMAS

Die Aktualität der vorliegenden Studie kann derzeit als geradezu offensichtlich bezeichnet werden. Im Jahr 2015 wurde über wenige Themen in Deutschland so viel berichtet und diskutiert wie über das der Migration. Dies liegt unter anderem an den steigenden Flüchtlings- und Asylbewerberzahlen. So wurden laut der Jahresstatistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (2016) im Jahr 2015 476.649 Asylanträge in Deutschland gestellt, während es im Jahr 2014 laut dieser Statistik lediglich 202.834 Anträge waren. Auch der Generalsekretär von Amnesty International, Salil Shety, erklärt im Amnesty Report 2016: „Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht, wie seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr.“ (Shetty, 2016, S. 1) Dass eine kontroverse Auseinandersetzung mit diesem Thema auch im Alltag der Menschen stattfindet, zeigt beispielsweise das Ranking einer Suchmaschine. So stellt der Online-Dienst Google Trends Statistiken über die Häufigkeit verwendeter Suchbegriffe in der Google-Suchmaschine auf, wobei das entsprechende Ranking für Deutschland aus dem Jahr 2015 die Relevanz des Migrationsthemas sichtbar macht. Demgemäß wird unter anderem der Begriff „Flüchtlinge“ auf Position 8 des Rankings der gesuchten Schlagzeilen und „Warum so viele Flüchtlinge?“ auf Position 9 der gesuchten Warum-Fragen gelistet (Google Trends, 2016). Im Jahr 2014 wurden im Gegensatz dazu keine migrationsrelevanten Begriffe im Google-Ranking Deutschland genannt.

Laut eines Artikels auf sueddeutsche.de will das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Jahr 2016 in Reaktion auf die sogenannte Flüchtlingskrise 2700 neue Stellen und zusätzliche 1000 befristete Stellen schaffen. Auch den Angeboten zur Migrationsberatung, zu Integrationskursen und weiteren Integrationsprojekten sollen dabei mehr Mittel zukommen:

„[...] die Mittel für die Integrationskurse [steigen] auf insgesamt etwa 559 Millionen Euro. Für die Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer (MBE) stehen insgesamt etwa 45 Millionen Euro zur Verfügung, für die Integrationsprojekte etwa 34 Millionen Euro.“ (N.N., 2015b)

Die Bundesregierung diskutiert stetig über weitere Maßnahmen zur Bewältigung der Wanderungsbewegungen und verhandelt kontrovers über Grenzschließungen, Sozialleistungen für Asylsuchende, Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen, sichere oder unsichere Herkunftsländer, ausreichende Unterkünfte und viele weitere Themen. Noch im Sommer 2015 sagt Bundeskanzlerin Merkel „Wir schaffen das!“ und spricht sich damit für eine Aufnahme syrischer Flüchtlinge aus, bereits im September veranlasst die Regierung Grenzkontrollen. Andere Länder wie Mazedonien, Serbien und Kroatien haben ihre Grenzen bereits vorübergehend geschlossen. Doch ein Aussperren der Hilfesuchenden führt lediglich zur Erschließung immer neuer Wanderungswege, wie beispielsweise der beschwerlichen Balkanroute. So sollte es nicht darum gehen, Wanderungen und Fluchtbewegungen aufzuhalten, sondern einen konstruktiven, integrativen Umgang mit diesen Bewegungen zu gestalten. Eine Frage, die die Bayerische Staatsregierung womöglich gerne im Alleingang regeln würde3, zu der es sicherlich aber am sinnvollsten auf EU-Ebene oder in noch größerem Kontext Lösungen geben kann.

Auch der Amnesty Report (2016) erklärt den Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden zum zentralen Thema seines Deutschlandkapitels. So werden nicht nur die politischen Entscheidungen diesbezüglich, wie Bestimmungen zum Umgang mit syrischen Flüchtlingen, die Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsländer oder Regelungen des Familiennachzugs, genannt, sondern auch auf zahlreiche vom Fremdenhass verursachte Vorfälle verwiesen. Demnach ist parallel zu der Registrierung von etwa 1,1 Millionen Asylsuchenden in Deutschland im Jahr 2015 ein deutlicher Anstieg von Gewalttaten gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden zu vermerken:

„Ablehnende Haltungen gegenüber Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten, vor allem gegen Personen muslimischen Glaubens, führten im ganzen Land zu Hunderten Demonstrationen. Gegen Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten gerichtete Hassverbrechen nahmen stark zu. Laut Angaben der Regierung wurden 2015 in den ersten zehn Monaten insgesamt 113 gewaltsame Angriffe auf Asyl- und Flüchtlingsunterkünfte verübt - verglichen mit 29 im Gesamtjahr 2014.“ (2016, S. 2).

Dieser Anstieg an fremdenfeindlichen Verbrechen wird in der Öffentlichkeit mit einer Angst vor Überfremdung, Instabilität und Perspektivenlosigkeit in Verbindung gebracht.

Als der damalige Bundespräsident, Chrsitian Wulff, zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit beispielsweise verkündete: „[...] der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ (Wulff, 2010), löste das eine Diskussion in Deutschland aus, die sich nicht auf Religionsfragen beschränkte, sondern ebenso unterschiedliche Meinungen zum Thema Migration, Deutschland als Einwanderungsland, Fremdheit und Identität widerspiegelte. Dabei scheint eine Angst vor Überfremdung einige Teile der Bevölkerung zu drastischen Aussagen und Maßnahmen zu bewegen. Der derzeitige Bundespräsident, Joachim Gauck, sagte dazu auf dem Bellevue Forum „Flüchtlinge – eine Herausforderung für Europa“:

„Es geht längst nicht mehr allein um die Lösung der Flüchtlingskrise. Wir begreifen, dass unter den Kontroversen und Debatten eine tieferliegende Furcht liegt und Ängste, kaum definiert, die damit zusammenhängen, dass es in vielen Bevölkerungen eine Angst vor Entgrenzung gibt, eine Angst vor dem Erlernen einer neuen Rolle.“ (Gauck, 2016)

So gewinnen die rechtsextrem ausgerichteten Parteien „Alternative für Deutschland“ (AfD) oder die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD), die fremden- und islamfeindliche Organisation „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) und ähnliche kleinere Organisationen an Zulauf und grenzen sich vehement von der deutschen Asylpolitk ab. Fremdenfeindliche, hasserfüllte und kriminelle Aktivitäten werden dabei teilweise von den Tätern selbst als notwendiges Mittel gesehen, um die eigene Integrität zu schützen und auf sich aufmerksam zu machen.

Die gemeinnützige Amadeu Antonio Stiftung und die deutsche Menschenrechtsorganisation PRO ASYL führen gemeinsam eine Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle in Deutschland.4 Demnach wurden im Jahr 2015 1075 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte verübt und es gab 267 Körperverletzte bei flüchtlingsfeindlichen Angriffen (Asyl & Stiftung, 2015). Da sich viele dieser Vorfälle im Osten Deutschlands zutragen, ist bei der Berichterstattung und Diskussionen zum Thema eine weitere Kategorisierung auszumachen. So werden nicht nur einzelne Tätergruppen benannt, sondern gleich das gesamte Bundesland zur Verantwortung gezogen. Beispielsweise titelte die Bild nach den letzten Vorfällen in Clausnitz5: „Die Schande von Sachsen!“ (Selig, Bittner, Schlitter, & Passmann, 2016), „Warum immer wieder Sachsen?“ (N.N., 2016a), „Schon wieder Sachsen!“ (N.N., 2016e) und „Gewalt-Report Sachsen“ (N.N., 2016c). Innerhalb Deutschlands scheint es um eine Suche nach Identifizierung und Abgrenzung zu gehen. Ein Bedürfnis nach Stabilität und klaren Zuordnungen lässt dabei sehr konträre Kategorisierungsmöglichkeiten zu.

Neben der pauschalen Angst vor Überfremdung wurde auch die Maskulinisierung des öffentlichen Raums aufgrund der hohen Zahl an männlichen Zuwanderern diskutiert. So schreibt beispielsweise der Soziologe Armin Nassehi im Oktober 2015 für die Meinungsseite der Welt:

„Es wird womöglich zu einer ‚Maskulinisierung‘ öffentlicher Räume kommen – insbesondere durch junge Männer. Es gilt fast kulturunabhängig: Wer die Energie junger Männer nicht zu bündeln und zu kanalisieren weiß, erzeugt ein hohes Konfliktpotenzial.“ (Nassehi, 2015)

Nassehi empfiehlt hier eine rechtzeitige Einbindung der männlichen Migranten und Kanalisierung ihrer Kräfte. Die Angst vor Überfremdung und Maskulinisierung der Gesellschaft zeigte sich auch in den entsetzten Diskussionen nach der Silvesternacht 2015/2016, als es in mehreren deutschen Großstädten zu sexuellen Übergriffen kam. In der folgenden Berichterstattung wurde der Fokus oft nicht auf die sexuellen Übergriffe selbst gelegt, sondern die nordafrikanische Herkunft einiger Täter offensiv benannt. Im Bayernkurier vergleicht der Redakteur Maetzke (2016) dazu einige Zeitungsartikel anderer europäischer Länder zu den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln. Dabei stellt er fest, dass nicht nur Vergleiche zu den Terroranschlägen in Paris gezogen werden, sondern auch gleich der gesamte Europäische Raum in Gefahr gewähnt wird. Schließlich endet es in dem Vorwurf, die deutsche Politik und Medienlandschaft würde mit ihrem Schweigen zum Thema diese Bewegungen unterstützen.

Es gibt jedoch auch zahlreiche positive Stimmen, die eine Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen und MigrantInnen befürworten und sich selbst aktiv für eine offene Gesellschaft einsetzen. Im Herbst 2015, als besonders viele Schutzsuchende nach Deutschland kamen, überraschte das Land mit einer großen Zahl freiwilliger HelferInnen, ohne die die Situation womöglich nicht so geregelt hätte laufen können. Die Besinnung auf Menschlichkeit und Empathie prägt den Diskurs zur Flüchtlingskrise ebenso wie die Ablehnung. Wie ambivalent die gesellschaftlichen Reaktionen auf Flüchtlinge und MigrantInnen sind, wird auch deutlich, als das Nachbarland Österreich das Wort „Willkommenskultur“ zum Wort des Jahres 2015 wählt (Muhr, 2015), wo es sonst gerade in jenem Jahr eher durch flüchtlingsfeindliche politische Reaktionen Schlagzeilen in der europäischen Presse macht. In Deutschland wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache im selben Jahr das Wort „Flüchtling“ zum Wort des Jahres, wobei nicht die Häufigkeit der Verwendung, sondern die Signifikanz und Popularität eines Begriffs ausschlaggebend ist (GfdS, 2015). Auf dem zehnten Platz findet sich hier Merkels Satz von ihrer Sommerpressekonferenz 2015 „Wir schaffen das!“ (Bundesregierung, 2015), der sehr gegensätzlich diskutiert wurde.

Der Graffiti-Künstler Banksy setzte sich Anfang des Jahres in einem Graffito mit dem Thema auseinander.

Abb. 1: Graffito von Banksy: „the son of a migrant from Syria“ (Ahuja, 2016)

In der Nähe des Flüchtlingslagers in Calais, Frankreich, ließ Banksy ein Graffito entstehen, das Steve Jobs mit Wandergepäck und Apple-Computer als Flüchtling zeigt. Banksy spielt dabei auf den syrischen Migrationshintergrund des berühmten Unternehmers an und macht somit auf die Individualität, Menschlichkeit und das Potenzial von Flüchtenden aufmerksam. Ein Bild flüchtender Menschen bekommt die Mehrheit der europäischen Bevölkerung lediglich als sekundäre Information vermittelt, die meist namenlose Gruppen zeigt. In einem Interview auf jetzt.de erklärt die Migrations- und Medienwissenschaftlerin Christina Rogers entsprechend, wie die Motivwahl in der Berichterstattung bewusst gesteuert wird, um bestimmte Gefühle bei den Rezipienten auszulösen. So sei es beispielsweise ein großer Unterschied, ob eine Gruppe Männer oder eine Frau mit ihrem Kind unter einem Artikel über Flüchtlinge zu sehen sind (Hoffmann, 2016). Oft impliziert auch bereits die Wortwahl in der Berichterstattung und Politik bestimmte politische Tendenzen. Handelt es sich um eine Flüchtlingskrise, einen Flüchtlingsansturm, um die Lügenpresse, um das schwarze Schaf Sachsen? Auch die Medien selbst reflektieren teilweise ihre Rolle in der Informationsgestaltung. Die Linguistin Elisabeth Wehling erklärt in einem Interview mit der ZEIT, dass alle Begriffe einer Sprache einen Bedeutungsrahmen mit unterschiedlichen Zuschreibungen haben. Entsprechend könnte auch der Begriff „Flüchtling“ als eine politisch abwertende Formulierung gewertet werden:

„Die Endung ,-lingʻ macht diese Menschen klein und wertet sie ab. Denn das Kleine steht im übertragenden Sinn oft für etwas Schlechtes, Minderwertiges. [...] Außerdem ist >>der<< Flüchtling männlich – und damit transportiert dieses Wort sehr viele männliche Merkmale: >>Der<< Flüchtling ist eher stark als hilfsbedürftig, eher aggressiv als umgänglich.“ (Brost & Pinzler, 2016)

Wie Migration wahrgenommen wird, hängt stets von individuellen Wirklichkeitsbildern sowie den entsprechend verfügbaren Informationen ab. So ist nicht nur die Analyse der in den Medien vermittelten Bilder, sondern auch der zugrunde liegenden Wirklichkeitsvorstellungen und entsprechenden Einordnungen der Beteiligten interessant.

Die Kategorisierung von MigrantInnen6 oder Flüchtenden findet dabei nicht nur in der politisch rechten und rechtsextremen Ecke der Gesellschaft statt, sondern auch in jenen Kreisen, die eine tolerante und offene Flüchtlingspolitik befürworten. So kategorisiert der Titel „Deutsche sollten wie Eltern für Flüchtlinge sein“ (L. Schmidt, 2016) Flüchtlinge als kinderartige Wesen, die den deutschen „Eltern“ in einem ganz bestimmten Machtverhältnis zugeordnet sind. Der Psychotherapeut Wielant Machleidt äußerte sich in diesem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen aus einer, wie er selbst sagt, „Entwicklungsperspektive“ zur Migration:

„Das für mich Neue jetzt an der Willkommensstruktur ist die andere Qualität des Umgangs mit den Migranten von Seiten der Politik, von ehrenamtlichen Helfern und breiten Teilen der Bevölkerung. Jetzt können wir die verantwortliche Elternposition übernehmen. Dazu gehört, Orientierungen zu vermitteln und Grenzen zu setzen.“ (L. Schmidt, 2016)

In eine konträre Richtung zielt die Kategorisierung in einem Artikel auf der Internetseite der offen antisemitischen und ausländerfeindlichen Dortmunder Rechtspartei „Turnhallen-Asylanten werden frech und wollen mehr Geld, Essen und größere Wohnungen“ (N.N., 2015a). Beide Titel setzen ein bestimmtes Rollenverständnis relevant: Deutsche übernehmen einen Elternpart gegenüber MigrantInnen oder Asylsuchenden und diese die Rolle von aufmüpfigen Jugendlichen oder unartigen Kindern. Ein entsprechendes Machtverhältnis zwischen mächtigen Eltern und schwächeren, zu erziehenden Kindern liegt dabei auf der Hand.

Eine weitere im Diskurs häufiger anzutreffende Kategorisierung von Flüchtlingen ist die Einordnung als Islamisten und Terroristen, wie sie jüngst der republikanische Präsidentschaftskandidat der USA, Donald Trump, äußerte. Aufgrund der in seinen Augen sehr offenen Flüchtlingspolitik drohe Deutschland schon bald ein „radikalislamischer Terrorismus“ (N.N., 2016d). Wie auch in der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung Terroranschläge und Flüchtlingsströme miteinander in Verbindung stehen, wird in vielen Medienberichten deutlich. Obwohl bisher kein Zusammenhang zwischen hohen MigrantInnenzahlen und dem Terrorismus im Land nachgewiesen werden konnte, besteht diese Verbindung im Kopf vieler Menschen. Hier kann teilweise von einer Kategorisierung von MigrantInnen als IslamistInnen und TerroristInnen gesprochen werden, die jede Form der Differenzierung und Überprüfung mit den Fakten ausschließt. Es passt in das zugrunde liegende Weltbild. Eine Erforschung der Mechanismen, wie Wirklichkeitsbilder und Kategorisierungen konstruiert werden, könnte Aufschluss darüber geben, wie menschenfeindlichen Kategorisierungen entgegengewirkt werden kann.

Diese Studie untersucht Gespräche der Migrationsberatung, die mit einer steigenden Zahl an MigrantInnen in Deutschland an Bedeutung gewinnt. Ein konstruktives Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen kann unter anderem dadurch ermöglicht werden, dass neuen BewohnerInnen entsprechende Informations- und Beratungsangebote zur Verfügung stehen, damit sie sich schnellstmöglich in den gesellschaftlichen Strukturen zurechtfinden. Die Migrationsberatung selbst wird im öffentlichen Diskurs eher selten thematisiert. Meist wird sie lediglich als Teil des spezifischen Angebots für MigrantInnen und Flüchtlinge oder als Arbeitsplatz von ExpertInnen zum Thema aufgeführt. Dennoch ist sie in individuellen Lebensläufen gerade zu Beginn des Aufenthalts in Deutschland von zentraler Bedeutung, da sie eine erste Orientierung und Hilfestellung gewährleistet. So schätzen nach einer Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge 95% der Ratsuchenden die Hilfeleistung der Migrationsberatung für Erwachsene als „sehr gut“ oder „gut“ und 81% der befragten Ratsuchenden schätzt das Angebot rückwirkend als maßgebliche Unterstützung bei der Lösungsfindung ein (Brandt, Risch, & Lochner, 2015, S. 13f.).

Auch in der Forschung wurde die Migrationsberatung bisher zwar in einzelnen Studien erforscht, jedoch noch nicht als breites Themenfeld erfasst. Eine genaue deskriptive Analyse der Migrationsberatungen trüge hier nicht nur zur besseren Kenntnis der Situation bei, sondern könnte auch gewinnbringend für die Weiterentwicklung und Anpassung des Beratungsangebots sein.

1.2 BISHERIGE STUDIEN

Als forschungsrelevante Felder können zu Beginn dieser Studie zunächst lediglich das datenbezogene Themenfeld der Migrationsberatung sowie die Frage nach Kategorisierungen und Wirklichkeitsentwürfen in Gesprächen ausgemacht werden. Eine Beschränkung auf diese Felder ergibt sich aus dem Anliegen, das Datenmaterial weitestgehend induktiv zu erforschen. Die relevanten Themen der untersuchten Beratungsgespräche werden entsprechend erst im Rahmen der Analyse aus den Daten selbst ermittelt und in Kapitel 5 in ihrem jeweiligen wissenschaftlichen Kontext reflektiert.

Die Migrationsberatung selbst ist dabei kein geschützter und sehr weit gefasster Begriff. In dieser Arbeit wurden zunächst diejenigen Angebote als Migrationsberatung identifiziert, die im Rahmen ihres Internetauftritts als Beratung speziell für MigrantInnen ausgewiesen wurden und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ebenfalls als Migrationsberatungsstellen der freien Wohlfahrtspflege gelistet werden7 (Rudolf Winter, Jacob, & Wundenberg, 2013, S. 6). Um den Forschungsgegenstand entsprechend zu definieren, wurden in einigen Studien bereits inhaltliche Differenzierungen (z.B. B. Schmidt & Tippelt, 2006) als auch, meist normativ ausgerichtete, Unterteilungen nach Beratungsmethode vorgenommen.

Neben diesen wenigen Studien zur Beratung im pädagogischen oder medizinischen Kontext, findet auch dieBeratung in Behörden langsam mehr Beachtung in der Forschung. Sandra Wasilewski (2011) untersuchte beispielsweise die Machtstrukturen in der Migrationsberatung im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung in der Ausländerbehörde. Dabei konnte sie im Verhalten der Beratenden einige Gründe für Verständigungsprobleme innerhalb dieser Gespräche aufdecken. Auch tenThije (2003) vermutet in der Migranten-Verwaltungs-Kommunikation besonderes Forschungspotenzial, da sich durch die wiederkehrenden Kontakte im institutionellen Kontext, vermutlich viele Beispiele für die Konstruktion gemeinsamer Wirklichkeits- und Verstehenskonzepte finden ließen. Dabei weist Ertelt (2009) in seinem Artikel zur interkulturellen Berufsberatung jedoch darauf hin, dass das Konzept der Beratung selbst bereits ein westlich orientiertes Konzept ist, was den Beratungsvorgang maßgeblich beeinflussen kann8. In Anbetracht dieser Bedingungen entwickelten Ivey et al. (2002) auf Grundlage der Arbeit von Sue (1995 zit. nach Ertelt, Schulz, & Ivey, 2008, S. 29) für die interkulturelle Beratung einige Maximen, die diesen besonderen Typus der Kommunikation prägen und auf die die Beratenden im Idealfall vorbereitet sein sollten.

Eine der wenigen gesprächsanalytischen Forschungen zur Migrationsberatung ist von Ulrich Reitemeier. Er erkennt die bereits in das Gespräch mitgebrachte Divergenz in Motivation, Voraussetzung und Chancen der GesprächsteilnehmerInnen als besonderes Merkmal der Migrationsberatung (Reitemeier, 2010)9. Hier stellt sich außerdem ein weiteres zentrales Phänomen ein: Die Ratsuchenden sind meistens nicht mit den Abläufen und Institutionen des Aufnahmelandes vertraut und auch allgemein kulturelle oder sprachliche Differenzen können das Gespräch beeinflussen. Es geht also insbesondere auch um Wissensasymmetrien im kulturell-sprachlichen Bereich, die eine Motivation und auch Voraussetzung der Migrationsberatung darstellen.

Wie in Kapitel 5.3.1.2 in ausführlicherer Form beschrieben, können bereits einige Erkenntnisse zur Migrationsberatung aus bisherigen Studien gezogen werden. Dennoch besteht insbesondere für deskriptiv analysierende Studien des Gegenstands ein weiterer Forschungsbedarf. Dieser Versuch soll hier mittels einer dynamischen Rekonstruktionsmethode von Zuschreibungen in der Interaktion geleistet werden. So verweist die Frage nach den Kategorisierungen in der Interaktion direkt auf die methodische Grundlage dieser Studie. Die ethnomethodologisch ausgerichtete membership categorization analysis (MCA) ist eine mikroanalytische Methode zur Rekonstruktion von gegenseitigen Zuschreibungen und den entsprechend zugrunde liegenden Wirklichkeitsmustern. Sie kann als Ausgangspunkt der Methodenentwicklung dieser Studie gesehen werden und wird in Kapitel 3.1 eingehend vorgestellt. Besonders in der Linguistik und den Gender Studies wurde die von Sacks (1974) entwickelte MCA erforscht und auf spezifische Themenbereiche angewendet. Dabei wird davon ausgegangen, dass Wirklichkeit lokal in der Interaktion hergestellt, verändert und manifestiert wird. Um sich selbst und ihr Handeln verstehbar zu machen, müssen Individuen daher ihre Realität stetig in der Interaktion ausdrücken und entwickeln. Die MCA setzt an dieser Stelle an und erforscht die Konstruktion von Wirklichkeit im Moment ihrer Entstehung. Entsprechend funktioniert auch das weiter oben aufgeführte Beispiel „Deutsche sollten wie Eltern für Flüchtlinge sein“ (L. Schmidt, 2016), indem Kategorisierungen von Deutschen als fürsorgliche Eltern und Flüchtlingen als hilfsbedürftige Kinder wirken. Sie verweisen auf eine Vorstellung der deutschen Gesellschaft als Familie mit unterschiedlich mächtigen und verantwortlichen Teilhabern. So kann die MCA unter anderem punktuelle gesellschaftliche Zustände aufzeigen und entsprechende Normen und Handlungserwartungen der InteraktantInnen nachzeichnen, die auf den ersten Blick nicht unbedingt zugänglich sind.

Hester und Eglin (1997) verweisen auf Verfechter der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, die die MCA unter anderem zum Aufzeigen gesellschaftlicher Missstände einsetzen.10 Andere Studien konzentrieren sich auf Teilaspekte der Identitätskonstruktion wie Gender (Karl, 2012; Lee, 1984; Speer & Stokoe, 2011), Ethnizität (Hester & Eglin, 1997; Van de Mieroop & Clifton, 2012), Kultur (Busch, 2007, 2009, 2011, 2012; Busch, Mayer, & Boness, 2010; Hester & Eglin, 1997; Hester & Housley, 2002; Housley & Fitzgerald, 2009), Nationalität (Hester & Housley, 2002) oder auch die Aushandlung von Identitäten im interkulturellen Migrationskontext (Tilbury, 2007). Bisher gab es jedoch keine membership categorization analysis von Migrationsberatungsgesprächen.

1.3 FORSCHUNGSBEDARF

Im Rahmen der Recherche zur membership categorization analysis konnten ein paar zentrale Lücken in der Forschung ausgemacht werden, die in dieser Arbeit teilweise überarbeitet werden sollen. Entsprechende Analysen konzentrieren sich sehr stark auf offensichtliche inhaltliche Kategorisierungen. Gerade jene Zuschreibungen die jedoch unsagbar sind, also beispielsweise nicht gesellschaftlichen Höflichkeitsformen entsprechen, finden vermutlich eher implizit ihren Weg in die Interaktion. Für ein Aufdecken dieser Annahmen, müssten tieferliegende sprachlich-strukturelle Kategorisierungen erfasst werden. So soll in dieser Arbeit der Versuch unternommen werden, eine dynamische MCA zu entwickeln, die auf inhaltlicher wie auf struktureller Ebene greift. Eine Rekonstruktion der Kategorisierungen könnte hier weitere Erkenntnisse über Motive und Zwecke ihres Einsatzes erbringen. Ein weiterer Schwachpunkt bisheriger MCAs liegt in der bisher sehr fragmentarischen Nachzeichnung der jeweiligen Arbeitsschritte. Die Vorgehensweise ist nur selten vollständig nachvollziehbar und es finden sich keine ausführlichen Vorschläge zur Durchführung einer MCA. Aus diesem Grund soll hier nicht nur eine Weiterentwicklung der Methode stattfinden, sondern auch ein Entwurf konkreter, nachvollziehbarer Arbeitsschritte für die Analyse.

Des Weiteren soll hier ein Beitrag zur deskriptiven Untersuchung von Migrationsberatungsgesprächen geleistet werden, da die meisten Studien dieses Themenbereichs bisher einer normativen Ausrichtung folgen. So erscheint es sinnvoll, den Gegenstand selbst zunächst genau zu erfassen und zu beschreiben, bevor weitere Handlungsempfehlungen gegeben werden können. Die Untersuchung migrationsbedingter institutioneller face-to-face Interaktionen kann möglicherweise ebenso Hinweise für weitere Interaktionen dieses Kontexts geben.

1.4 VORHABEN

Die vorliegende Studie beschäftigt sich daher mit den folgenden Fragestellungen: Welche Kategorisierungen werden in den untersuchten Migrationsberatungsgesprächen explizit und implizit aktiviert und auf welche Wirklichkeitsmuster lassen sie sich zurückführen? Zu ihrer Bearbeitung wurden zunächst passende Daten generiert. Das heißt, die Autorin machte Videoaufnahmen von etwa 40 Migrationsberatungsgesprächen in unterschiedlichen Einrichtungen und transkribierte diese für die weitere Bearbeitung. Für eine den Daten wie der Fragestellung angemessene Vorgehensweise wurde dann eine neue Methode entwickelt. Diese basiert auf den Grundlagen der membership categorization analysis und der Theorie der construction of the common ground, wobei gerade diese Kombination zu der Erfassung impliziter, strukturell aktivierter dynamischer Kategorisierungen verhelfen soll. So wird die ursprüngliche MCA um Aspekte erweitert, die auch die strukturellen, sehr dynamischen Methoden der Kategorisierung nachzeichnen können. Bei der Entwicklung präziser Arbeitsschritte für die Analyse werden außerdem quantitative Darstellungsformen herangezogen, um die Daten aus einer weiteren Perspektive betrachten zu können. Dabei bleibt es insgesamt weitestgehend bei einem induktiven Forschungsansatz, der sich auf die Mikroebene der Interaktion fokussiert und sich auch in der Struktur dieser Arbeit widerspiegelt. Nach der Entwicklung einer Methode und konkreten Vorgehensweise konnte dann die Analyse durchgeführt werden.

Die Struktur der Studie richtet sich nach der oben beschriebenen Arbeitsweise. So gilt das erste Kapitel nach der Einleitung der Einordnung dieser Studie in die wissenschaftliche Tradition der qualitativen Forschung. Hier findet sich eine Zusammenfassung der Grundannahmen und Prinzipien qualitativer Forschung sowie eine kurze Diskussion zentraler Kritikpunkte. Die Rolle der Forscherin erhält im Anschluss in einem eigenen Abschnitt Beachtung, da die Positionierung und Selbstreflexion der Forschenden im Forschungsverlauf zentrales Element qualitativer Forschung ist.

Nach dieser Einordnung in eine methodische Richtung findet eine ausführlichere Vorstellung der methodischen Grundlagen statt. So wird im Sinne der von Lamnek (2010, S. 19ff.) formulierten „Offenheit“ und „Flexibilität“11 der qualitativen Forschung eine Methode entworfen, die sich direkt am Forschungsziel und Forschungsgegenstand selbst orientiert. Dabei scheint die ethnomethodologische membership categorization analysis (MCA) für die Rekonstruktion von Wirklichkeitsvorstellungen und dadurch bedingte Kategorisierungen in der Interaktion besonders passend zu sein. Mithilfe der Methode der construction of the common ground (CCG) kann außerdem die Entstehung gemeinsamer dynamischer Wirklichkeitsvorstellungen rekonstruiert werden, was zu einer Dynamisierung der MCA beitragen könnte. So werden zunächst diese zwei Ansätze der Ethnomethodologie und funktionalen Pragmatik als Voraussetzung für eine weitere Methodenentwicklung vorgestellt und schließlich eine mögliche Kombination ihrer Bestandteile vorgeschlagen.

Bei der Recherche zur MCA fiel der Autorin insbesondere auf, dass nur wenige Studien dieser Richtungen eine umfassende Nachvollziehbarkeit ihrer Ergebnisse gewährleisten. So werden selten einzelne Arbeitsschritte nachgezeichnet oder überhaupt vorgestellt. Entsprechend scheint es gerade hier wichtig, die Vorgehensweise in genau nachvollziehbaren, einzelnen Schritten zu entwerfen. Dies ermöglicht auch für die weitere Analyse ein strukturiertes, transparentes Arbeiten.

Neben der Datengenerierung und Transkription der Aufnahmen sollen hier vier Phasen der Analyse zur Identifizierung von situativen Selbst- und Fremdzuschreibungen der Interagierenden im Gespräch sowie zur Rekonstruktion der zugrunde liegenden Wahrnehmungsmuster führen. Der Moment der Interaktion, in dem Wirklichkeit über subjektive Äußerungen der InteraktantInnen konstruiert wird, steht dabei im Fokus der entwickelten Methode. Dafür bewegt sie sich sehr eng am Datenmaterial realer Situationen, um diese von innen heraus zu erfassen. Aber nicht nur der Umgang mit dem Datenmaterial ist weitestgehend induktiv, sondern auch die Struktur der Analyse und somit der gesamten Arbeit passt sich diesem Ideal an. In diesem Sinne wird erst im Rahmen der Phase 4 der Analyse eine wissenschaftstheoretische Reflexion auf inhaltlicher Ebene der Arbeit durchgeführt, da die relevanten Themenbereiche der Gespräche eben erst aus dem Datenmaterial extrahiert werden können. Auf diese Weise soll vermieden werden, dass die Forscherin, neben der Wahl des Forschungsgegenstands, zu viele Vorannahmen an die Analyse heranträgt.

Nach dem methodologisch ausgerichteten Kapitel 3 folgt dann die Empirie selbst. Kapitel 4 richtet sich entsprechend nach den entworfenen Arbeitsschritten aus und beschreibt zunächst die Datengenerierung sowie Transkription, bevor die Analysephasen 1 bis 4 nacheinander vorgestellt werden. Ziel ist in diesem Abschnitt jeweils die Entwicklung aussagekräftiger Ergebnisse sowie eine genaue Nachvollziehbarkeit der Erkenntnisse. Die für die untersuchten Gespräche relevanten Themenbereiche werden nach dieser Vorgehensweise in den Phasen 1 bis 3 rekonstruiert und in Phase 4 im wissenschaftlichen Kontext reflektiert. Das umfangreiche Theoriekapitel 5 fällt insbesondere durch seine Positionierung gegen Ende der Arbeit auf, was der angestrebten induktiven Forschungsweise entspricht. Das Zusammenführen der Analyseergebnisse aus Phase 1 bis 3 mit bisherigen Studien zum jeweiligen Thema hat hier maßgeblich zwei Potentiale: das Überprüfen und Fundieren der eigenen Ergebnisse der erweiterten MCA sowie das Überprüfen und eventuell das Ergänzen der aktuellen qualitativen und insbesondere linguistischen Forschung.

Zum Abschluss der Arbeit findet sich eine allgemeine Reflexion der Ergebnisse auch vor dem entsprechenden Hintergrund der aktuellen gesellschaftspolitischen Ereignisse in Deutschland.

 

2 QUALITATIVE FORSCHUNG

Die in der Einleitung vorgestellte Fragestellung sucht nach Erkenntnissen über situative subjektive Wirklichkeitskonstruktionen auf Mikroebene, wobei dieses Interesse bereits auf eine mögliche wissenschaftliche Einordnung in die qualitative Forschung hindeutet. Bevor also auf die hier verwendeten Theorien und die Innovation einer neuen Methode eingegangen wird, ist ein kurzer Verweis auf die wissenschaftliche Tradition der qualitativen Forschung sinnvoll, um Erkenntnisinteresse und Grundannahmen dieser Arbeit besser nachvollziehen zu können. Im Folgenden findet sich daher eine Lokalisierung sowie ein reduzierter Umriss der Grundannahmen, Kritik und Prinzipien in der Vorgehensweise qualitativer Forschung. Darauf aufbauend folgt ein Kapitel zur Rolle der Forscherin in qualitativen Studien.

Sehr verschiedene Ansätze in Theorie und Methode sammeln sich unter dem Begriff der qualitativen Sozialforschung. Flick, von Kardorff und Steinke (Flick, von Kardorff, & Steinke, 2004, S. 6) fassen diese dabei in drei großen Richtungen zusammen: den symbolischen Interaktionismus und die Phänomenologie, Ethnomethodologie und Konstruktivismus sowie Psychoanalyse und Strukturalismus.

 

Research perspective

Modes of access to subjective viewpoints

Description of processes of creation of social situations

Hermeneutic analysis of underlying structures

Theoretical positions

Symbolic interactionism Phenomenology

Ethnomethodology Constructivism

Psychoanalysis Genetic structuralism

Methods of data collection

Semistructured interviews Narrative interviews

Focus groups ethnographyParticipant observationRecording of interactionsCollection of documents

Recording of interactionsPhotographyFilms

Methods of interpretation

Theoretical codingQualitative content analysisNarrative analysisHermeneutic procedures

Conversation analysisDiscourse analysisGenre analysisDocument analysis

Objective hermeneuticsDeep structure hermeneuticsHermeneutic sociology of knowledge

Fields of application

Biographical researchAnalysis of everyday knowledge

Analysis of life-worlds and organizationsEvaluation researchCultural studies

Family researchBiographical researchGeneration researchGender research

Abb. 2: Tabelle aus (Flick, 2004: 6) – Forschungsperspektiven in der qualitativen Forschung

In Abbildung 2 fassen die Autoren verschiedene Ansätze der qualitativen Forschung in drei perspektivischen Ausrichtungen zusammen: Methoden der Erfassung subjektiver Perspektiven und Eindrücke, Beschreibungen der Prozesse sozialer Realitätskonstruktion und die hermeneutische Analyse zugrunde liegender Strukturen. In diese Perspektiven ordnen sie entsprechende Forschungsansätze, ihre Methoden zur Datengenerierung und Interpretation sowie die jeweiligen Forschungsfelder ein. Dabei wird die Diversität der Ansätze in all diesen Bereichen sehr deutlich. Die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Perspektiven liegen entsprechend eher in den Gütekriterien oder theoretischen Grundannahmen zur Wirklichkeit und lassen sich nicht einheitlich definieren. Stattdessen wurden bereits Versuche unternommen, Gemeinsamkeiten qualitativer Sozialforschung in groben Richtungen zusammenzufassen. Stets mit dem Hinweis versehen, dass nicht jede der aufgezeigten Eigenschaften dieser Forschungstradition zutreffen muss, um einen Weg als qualitativ zu bezeichnen, wird hier auf einige Versuche der Zusammenfassung eingegangen.

2.1 GRUNDANNAHMEN QUALITATIVER FORSCHUNG

Für die drei von ihnen statuierten Perspektiven qualitativer Forschung fassen Flick, von Kardoff und Steinke (2004, S. 7) einige theoretische Grundannahmen zusammen. Demnach zeichnet sich qualitative Forschung zunächst durch ein besonderes Verständnis sozialer Realität als soziales Produkt und geteilte Bedeutungszuschreibung aus. Zweitens ist diese Realität dynamisch und steht im reflexiven Zusammenhang mit den Akteuren selbst. Drittens wird eine vermeintliche Objektivität im alltäglichen Leben durch subjektive Bedeutungen und Konstruktionen hergestellt und relevant gesetzt. Berger und Luckmann (1999 [1966], S. 21f.) schreiben bereits dazu: „Die Alltagswelt wird ja nicht nur als wirklicher Hintergrund subjektiv sinnhafter Lebensführung von jedermann hingenommen, sondern sie verdankt jedermanns Gedanken und Taten ihr Vorhandensein und ihren Bestand.“ Die letzte Annahme qualitativer Forschung betrifft schließlich die wissenschaftliche Herangehensweise. So wird hier davon ausgegangen, dass aufgrund des Konstruktcharakters der Wirklichkeit eben auch eine Rekonstruktion dieser Prozesse zur Herstellung von Wirklichkeit möglich sein muss. Dies sei ausschlaggebend für die qualitative Sozialforschung (Flick et al., 2004, S. 7). So geht es laut Corsten et al. (2004, S. 177) darum, bleibende „Regeln, Ordnungen und Prozeduren der kommunikativen Praxis, die über Verstehen geleistet werden, nachtäglich sichtbar zu machen.“

Der Soziologe Siegfried Lamnek (2010) geht einen ähnlichen Weg und stellt sechs Prinzipien qualitativer Sozialforschung auf. Diese beschreiben eine besondere Haltung der Forschenden auf sich selbst, den Forschungsgegenstand und den Forschungsprozess, wie die folgende Auflistung deutlich macht:

1. „Offenheit“: In der qualitativen Sozialforschung wird eine offene Herangehensweise an das Forschungsmaterial gefordert. So soll nicht mit deduktiven Konzepten und Hypothesen gearbeitet, sondern diese selbst aus dem Datenmaterial entwickelt werden. Auf diese Weise zeigt sich die Forscherin möglichen unerwarteten Ergebnissen gegenüber offen. (Lamnek, 2010, S. 19f.)

2. „Forschung als Kommunikation“: Es wird davon ausgegangen, dass eine vollkommen objektive Herangehensweise an die Daten unmöglich ist. Aus diesem Grund wird der Einfluss der Forscherin auf die Forschung als Bestandteil der Praxis verstanden und reflektiert. Die Wissenschaft an sich wird somit zur Kommunikation zwischen Forschenden und Erforschten. (Lamnek, 2010, S. 20f.)

3. „Prozesscharakter von Forschung und Gegenstand“: Die zu erforschenden sozialen Phänomene haben einen dynamischen Charakter und müssen daher in ihrer Prozesshaftigkeit erforscht werden. Gleiches gilt auch für den Forschungsprozess selbst. (Lamnek, 2010, S. 21f.)

4. „Reflexivität von Gegenstand und Analyse“: Forschung ist generell als reflexiver Akt zwischen Forschenden und Erforschten zu verstehen. So erschließt sich der Sinn eines jeden Gegenstandes durch die Einbeziehung des Kontextes und der Kontext oder Sinn wird erst durch die Wahrnehmung des Gegenstandes konstruiert. Ebenso beeinflussen sich Forschungsgegenstand und Forschende. (Lamnek, 2010, S. 22) Der Psychologe Erik Hölzl (1994, S. 52) beschreibt des Weiteren den Einfluss des Forschungsdesigns auf Forschende und Erforschte: „Im Design wird festgelegt, was das Ziel der Untersuchung sein soll und wie der Ablauf vor sich gehen soll. Dadurch werden Rahmenbedingungen geschaffen, die die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den Forschenden und den Beforschten wesentlich beeinflussen.“

5. „Explikation“: Mithilfe von Explikation soll die Nachvollziehbarkeit der Forschung gewährleistet werden. Da jedoch keine Handlung komplett, das heißt inklusive der unbewussten Vorgänge, nachgezeichnet werden kann, ist auch eine vollständige Erklärung forschenden Handelns nicht möglich. (Lamnek, 2010, S. 23)

6. „Flexibilität“: In der qualitativen Forschung sorgt eine Flexibilität in der Vorgehensweise dafür, dass sich die Forschung am Forschungsmaterial orientiert. So kann flexibel auf die Daten eingegangen und auch unerwartete Ergebnisse zugelassen werden. (Lamnek, 2010, S. 23f.)

Diese sechs Prinzipien entsprechen den von Flick et al. (2004) genannten Grundannahmen einer dynamischen, subjektiv in der Interaktion konstruierten Realität und beschreiben bereits die allgemeine Haltung qualitativer ForscherInnen. Aus diesen Grundannahmen lassen sich laut Lamnek (2010, S. 78f.) allgemeine Hypothesen ableiten, die sich auf den Forschungsgegenstand anwenden lassen. So nimmt die Forscherin in der explorativen Forschung keine übergeordnete Rolle zu den Erforschenden ein, sondern erlebt sich selbst als „Lernende“ im Forschungsprozess auf gleicher Stufe. Weiter ist ihre direkte Erfahrung als Forscherin selbst immer Teil ihrer Arbeit, denn sie ist sich ihrer eigenen subjektiven Sozialisation und des dadurch beeinflussten Blickes auf den Forschungsgegenstand bewusst. Aus diesem Grund tritt sie mit einer weitestgehenden Offenheit an ihr Forschungsmaterial heran und erlebt dieses direkt und neu. Dabei versucht sie ihre vorgeprägten Urteile und bisherigen Blickwinkel abzulegen und das Forschen als „zweite Sozialisation“ zu erleben. Um eine größtmögliche Wirklichkeitsnähe zu erhalten, entwickelt sie außerdem Hypothesen und Theorien stets aus dem Datenmaterial heraus.

Diese von Lamnek (2010, S. 78f.) formulierten Prinzipien und Hypothesen des Forscherdaseins muten recht idealistisch an, beschreiben jedoch passend die wichtigsten Positionen, die qualitative ForscherInnen versuchen in ihrer Arbeit einzunehmen. Auch Flick et al. (2010, S. 7ff.) versuchen sich in einer Aufstellung von Charakteristika qualitativer Forschungsweisen und überschneiden sich dabei stark mit den von Lamnek (2010, S. 19ff.) genannten Prinzipien. Ein stärkerer Methodenbezug ihrer Ausführungen lässt jedoch ein paar Ergänzungen zu. So ist die qualitative Forschung laut der Autoren insbesondere durch eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden ausgezeichnet, wobei die Forschenden ihre jeweilige Vorgehensweise je nach Forschungsgegenstand und Erkenntnisinteresse wählen oder entwickeln. Dabei entspricht die bereits genannte induktive Ausrichtung der Orientierung an Alltagssituationen und -wissen. Das Verstehen löst entsprechend das Erklären ab und wird gemeinsam mit der Generierung neuer Theorien zum maßgeblichen Forschungsinteresse. Schließlich ist nach den Autoren die starke Fokussierung auf Textdaten in Form von Transkripten, Feldnotizen oder Interviewabschriften noch eine weitere Eigenschaft qualitativer Forschung (Flick et al., 2004, S. 7ff.).

Mithilfe der hier aufgeführten zusammenfassenden Arbeiten ergibt sich ein Überblick über die Grundlagen, Ziele und Vorgehensweisen qualitativer Forschung. Detaillierte Erklärungen lassen sich lediglich hinsichtlich jeweils einzelner Perspektiven oder Ansätze erklären, da die unterschiedlichen Vorgehensweisen stark differieren und die oben genannten Gemeinsamkeiten bereits eine starke Reduzierung und Verallgemeinerung darstellen.

An der qualitativen Forschung wurde insbesondere von quantitativ Forschenden viel Kritik geäußert. Die wichtigsten Diskussionspunkte sollen an dieser Stelle punktuell Beachtung finden.

2.2 DISKUSSION QUALITATIVER FORSCHUNG

Die Vorteile der qualitativen Forschung als besonders alltagsnaher, induktiver und selbstreflexiver Ansatz bergen auch einige Schwierigkeiten. So schreibt beispielsweise der Soziologe Michael Corsten (2004, S. 177), dass von einem traditionell sozialwissenschaftlichen Blickpunkt aus „die Verfahren der ‚qualitativen‘ Methodenlehre als wenig standardisiert, nicht systematisch kontrollierbar, nicht generalisierbar und nicht präzise explizierbar gelten.“ Reiner Keller (2014) setzt sich in seinem kritischen Artikel „Zukünfte der qualitativen Sozialforschung“ mit diesen Antagonismen und Schwierigkeiten der qualitativ-interpretativen Sozialforschung auseinander und zeichnet die entsprechende Debatte der letzten Jahre nach. Dabei reflektiert er auch die eigene Arbeit als intervenierende und subjektiv darstellende „Situationsdefinition“, die eine „unsichere Prognose oder Wette auf die Zukunft“ sein könnte (2014, S. 3).

Zusammenfassend für die Debatte über qualitative Sozialforschung macht Keller (2014, S. 3) dabei vier zentrale Gegensätzlichkeiten aus, die in den vergangenen Jahren besonders intensiv diskutiert wurden. So kann, wertend formuliert, zwischen jenen Arbeiten unterschieden werden, die sich mit der Sinnhaftigkeit ihres Forschungsgegenstand auseinandersetzen, und jenen, die diese nicht reflektieren (Hitzler, 2007 zit. nach Keller, 2014); jenen, die verallgemeinernd und kategorisierend vorgehen und jenen, die individuelle Konstrukte beschreiben (Knoblauch, 2013 zit. nach Keller, 2014); jenen, die theoriegeleitete präzise Methoden deduktiv anwenden und jenen, die sich in einer schnellen Beliebigkeit bewegen (Reichertz, 2009 zit. nach Keller, 2014) sowie schließlich jenen, die einen methodisch aussichtlosen Weg gehen und jenen, die mit ihren Methoden wertend arbeiten (Winter, 2010 zit. nach Keller, 2014). Diese Argumentationslinien können sicherlich als Extrempunkte der Auseinandersetzung gewertet werden. Einen ähnlich radikalen Standpunkt nehmen laut Keller (2014) Patti Lather und Elisabeth St. Pierre (Lather, 2013 zit. nach Keller, 2014) ein, die qualitative Forschung für ein unmögliches Unterfangen halten. So sehen zwar auch sie die „allgegenwärtige[..] Partikularität, Subjektivität und Selektivität der Forschenden, in einer radikalisierten Lesart des situierten Wissens“ (Keller, 2014), doch sei die exklusive Hinwendung zu den erforschten Subjekten zur Wirklichkeitsrekonstruktion zum Scheitern verurteilt. Eine induktive Forschung sei immer von der unzureichenden Selbstreflexion der Erforschten geprägt und könne somit kein brauchbares Bild sozialer Wirklichkeit geben. Diese Kritik an empirisch induktiver Forschung steht dabei dem Vorwurf der Scheinobjektivität quantitativer Studien gegenüber, die sich mehr mit Erklärungsversuchen theoriegeleiteter Muster beschäftigen, als mit der Abbildung tatsächlicher, subjektiver Wirklichkeit.

Die Lösung des Methodenstreits in den Sozialwissenschaften sieht Heiko Holweg (2005, S. 14) jedoch nicht in der Entscheidung zwischen zwei Wegen, sondern in der Zusammenführung offener Herangehensweisen und anschließend hypothesenprüfender Arbeiten. Und auch Keller (2014) hält sich bei seinen Vorschlägen zur konstruktiven Weiterentwicklung qualitativer Forschung an die Ambiguitätstoleranz und das Zusammenspiel verschiedener Ansätze. So schlägt er erstens eine stärkere Auseinandersetzung mit den Theorien hinter den Methoden und vice versa vor, zweitens eine Verbindung von eher methodischen mit eher interpretativen Herangehensweisen sowie drittens die Akzeptanz der Sozialforschung als „Wirklichkeitswissenschaft“. Der Schwerpunkt sollte dabei nicht auf der Unmöglichkeit der Erfassung von Wirklichkeit, sondern auf ihrer Eigenschaft der Begrenzung, Aktivierung und als Bezugssystem für Wahrnehmung und Interpretation liegen.

Wie später in Kapitel 3.4 überprüft wird, steht die vorliegende Arbeit weitestgehend in der Tradition der qualitativen Forschung. Dies bedeutet jedoch nicht die Ablehnung anderer Ansätze, sondern sieht dieses Vorgehen lediglich als sinnvollen Weg zur Beantwortung der gestellten Forschungsfragen. Sicherlich ließe sich eine entsprechend hypothesenprüfende Arbeit anschließen. Auch beinhaltet die hier entwickelte Methode quantitativ ausgerichtete Elemente, die in Kapitel 4.4.1.3 spezifiziert werden.

Die Grundgedanken qualitativer Forschung haben elementaren Einfluss auf Forschungsweise und Erkenntnisinteresse. Entsprechend ist auch die Rolle der Forscherin selbst im Rahmen der qualitativen Forschung zu reflektieren, was im folgenden Kapitel geschehen soll.

 

2.3 DIE ROLLE DER FORSCHERIN

Wie in Kapitel 2.1 erwähnt, zeichnet sich die qualitative Forschung unter anderem durch die Annahme starker Reflexivität zwischen Forschenden, Erforschten und sozialer Wirklichkeit aus. Entsprechend wichtig erscheint die Reflexion der eigenen Rolle im Forschungsvorgang selbst. Die hier anschließenden Kapitel erläutern die Möglichkeiten einer Selbstreflexion sowie die Schwierigkeiten, die der Forscherin als subjektiver Beobachterin im Forschungsverlauf begegnen.

2.3.1 WIE SOLLTE DIE SELBSTREFLEXION DER FORSCHERROLLE AUSSEHEN?

„Truth is dependent on the consensus for a given construction at a particular moment in time. Such ontology makes constructivism uniquely compatible with a fallibilist perspective; indeed it requires it.“ (Stewart, 2010, S. 293)

So ist zunächst die Subjektivität jeder Forschung zu erkennen und in diesem Sinne zu reflektieren, was insbesondere die eigene Tätigkeit als Forscherin betrifft. Wie entstehen für die Forschung relevante Entscheidungen? Wie nehmen Forschende Einfluss auf ihren Forschungsgegenstand? Wie bedingen sich Interpretationen? Was passiert mit Forschenden und Erforschten im Forschungsverlauf? Die Rolle der Forschenden wird in vielen sozialwissenschaftlichen Arbeiten angesprochen und reicht von einigen wenigen längeren und sehr persönlichen Reflexionen (z.B. Schondelmayer, 2009; Stewart, 2010) bis zu kurzen Bemerkungen in der Einführung, die auf die eigene Fehlbarkeit und Subjektivität verweisen. Bisher hat sich noch kein Kompromiss gefunden, um diesem Thema in allen kritischen Aspekten gerecht zu werden und den Schwerpunkt der eigentlichen Forschung dabei nicht zu verlagern. Dabei scheint es schwierig zu sein, zwischen einer distanzierten, rein theoretischen Betrachtung der Forscherrolle und einer detaillierten Reflexion der eigenen Tätigkeit ein Gleichgewicht zu finden. Einerseits kann nur eine ausführliche Reflexion die Entstehung und somit den Kontext der eigenen Arbeit nachzeichnen, andererseits ist auch diese Reflexion wieder subjektiv. Auch ist fraglich, inwiefern sie dem Forschungsverlauf hinsichtlich des eigentlichen Interessensgebiets zuträglich ist.

Deppermann (2000, S. 105) weist darauf hin, dass in konversationsanalytischen Studien bisher sehr wenig strukturierte Angaben zur Rolle der Forscher gemacht wurden und sucht zunächst entsprechende Ansätze in der ethnographischen Literatur. In den Kulturwissenschaften hingegen sieht die Ethnologin Schondelmayer (2009, S. 254f.) die Ursprünge der Beschäftigung mit der Rolle der Forschenden in den Arbeiten zur Konstruktion des Eigenen und des Fremden, die zum Teil bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden.12 So ginge es in der kulturellen Forschung meist um die Darstellung einer Innensicht von Kulturen, um diese analysieren und darstellen zu können. Die Forscherin müsse sich also in das entsprechende Umfeld begeben und beeinflusse damit unweigerlich das erforschte Geschehen. Auch sei immer wieder auf die Subjektivität der Forscherperspektive und die kulturell beeinflusste Konstruktion der Forschungsergebnisse verwiesen worden. In der neueren Literatur hält Schondelmayer insbesondere Reuters (2002) Konzept des othering für maßgeblich, das ebenso die Reziprozität des Eigenen und des Fremden beleuchtet und in gängige Schemata einordnet.

Für ForscherInnen unterschiedlicher Disziplinen bestehen zwar Kodizes zum ethischen Handeln in der Wissenschaft, wie beispielsweise der Ethik-Kodex der deutschen Gesellschaft für Soziologie und das Statement on Ethics der American Anthropological Association, doch handelt es sich hierbei um die Auflistung normativer Verhaltensregeln und nicht um eine Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Forschertätigkeit. Auch Schondelmayer (2009, S. 256f.) kritisiert, dass in kulturellen Studien zwar eine durchdachte Theorie des Eigenen und des Fremden sowie das Bewusstsein über eine notwendige Selbstreflexion im Forschungsprozess vorhanden sind, diese jedoch kaum in der Praxis umgesetzt werden. Sie reflektiert daraufhin in ihrem Kapitel „Die Kultur der Forscherin“ (Schondelmayer, 2009) ihre eigene Rolle im Forschungsvorgang in Bezug auf drei Aspekte: die Reflexion der eigenen kulturellen Prägung, der Einfluss der Forscherin auf die erforschte Situation und den Forschungsvorgang selbst sowie die Notwendigkeit der kulturellen Selbstreflexion in der Forschertätigkeit. So analysiert Schondelmayer (2009) anhand ihres eigenen Vorgehens bei einer Studie die Rolle der Forscherin in der Praxis. Zunächst reflektiert sie die selbst vorgenommene Einschränkung bei der Wahl des Themas und der Einleitung der Interviews, die möglicherweise zu einer bestimmten Ausrichtung der Ergebnisse geführt haben könnten, und versucht dann besonders ihre Rolle in der Interaktion mit den Probanden zu beschreiben. Dabei stellt sie auch bei sich selbst kulturalisierende Momente fest und überlegt, in welcher Form und in welchem Ausmaß Forschende ihre eigene Kultur im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit reflektieren sollten, ohne zu einem abschließenden Ergebnis zu kommen.

Ähnlich persönlich geht Stewart (2010) vor, die ihre eigene Forschertätigkeit über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet und eine Entwicklung feststellt, die auch ihre Ergebnisse beeinflusst. In ihrem Artikel „Researcher as an Instrument: Understanding ‚Shifting’ Findings in Constructivist Research“ beschreibt sie den Einfluss der Forschenden in konstruktivistischen Untersuchungen. Die ForscherInnen selbst als Instrument der Forschung zu reflektieren, sei notwendig, um beispielsweise Differenzen in den Ergebnissen zu überprüfen. Sie selbst stellt eine Entwicklung ihrer Forschertätigkeit hin zur Professionalität fest und erkennt entsprechende Veränderungen in ihren Ergebnissen.

Es scheint also durchaus gewinnbringend zu sein, die eigene Positionierung während der Ausarbeitung zu reflektieren, um eine präzisere Überprüfbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten. Gleichzeitig soll diese Reflexion hier nicht zu weit ins Detail gehen, um überflüssige, doch wieder subjektive Erkenntnisse zu vermeiden. Lediglich einige zentrale Aspekte der Forscherarbeit sollen im Folgenden Beachtung finden.

2.3.2 WAS SOLL HIER REFLEKTIERT WERDEN?

Zunächst geht es um die Befangenheit der Forscherin und die Unmöglichkeit eines distanziert neutralen Blickes auf den Forschungsgegenstand. Anschließend soll insbesondere jenen Aspekten Beachtung geschenkt werden, die bei der Erforschung von Menschen essenziell werden. So ist der Umgang mit den Erforschten selbst und die mit einer Forschungsarbeit einhergehende objectification der Erforschten ebenso relevant wie der Schutz entsprechender personenbezogener Daten. Durch den direkten Kontakt mit den Erforschten müssen außerdem die Rollenambiguität der Forscherin und die Beeinflussung der erforschten Situationen reflektiert werden. Abschließend findet sich eine kurze Zusammenfassung über die Rolle der Forscherin als Teil des Forschungsgegenstands und als Forschungsinstrument.

2.3.3 DIE SUBJEKTIVITÄT DER FORSCHERIN