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Anna Todd

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Beschreibung

Bevor Hardin Tessa begegnete, war er voller Wut und zerstörerischer Leidenschaft. Als er sie traf, wusste er sofort, dass er sie brauchte. Für sich allein. Ohne sie würde er nicht überleben. Und er würde nie mehr der sein, der er einmal war ...
Nichts ist so, wie es scheint: Hardins Bericht von seinen ersten Begegnungen mit Tessa wird das Bild vom skrupellosen Bad Guy, der den unschuldigen Engel verführt, in ein ganz neues Licht rücken.

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DAS BUCH

Bevor Hardin Tessa begegnete, war er voller Wut und zerstörerischer Leidenschaft. Als er sie traf, wusste er sofort, dass er sie brauchte. Für sich allein. Ohne sie würde er nicht überleben. Und er würde nie mehr der sein, der er einmal war ...

Nichts ist so, wie es scheint: Hardins Bericht von seinen ersten Begegnungen mit Tessa wird das Bild vom skrupellosen Bad Guy, der den unschuldigen Engel verführt, in ein ganz neues Licht rücken.

DIE AUTORIN

Anna Todd lebt gemeinsam mit ihrem Ehemann im texanischen Austin. Sie haben nur einen Monat nach Abschluss der Highschool geheiratet. Anna war schon immer eine begeisterte Leserin und ein großer Fan von Boygroups und Liebesgeschichten. Mit der erfolgreichen AFTER-Serie konnte sie ihre Leidenschaften miteinander verbinden und sich dadurch einen Lebenstraum erfüllen.

LIEFERBARE TITEL

After passion

After truth

After love

After forever

ANNA TODD

BEFORE

us

Roman

Band 5

Aus dem Amerikanischen von

Anja Mehrmann und Sabine Schilasky

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe BEFORE erschien bei Gallery Books,

a division of Simon & Schuster, Inc., New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält

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Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch

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eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag

keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Zitat: Emily Brontë, Sturmhöhe.

Aus dem Englischen von Michaela Meßner.

© 1997 Deutscher Taschenbuch Verlag, München

Deutsche Erstausgabe 04/2016

Copyright © 2015 by Anna Todd, vertreten durch Wattpad

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: © FinePic, München 

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-19067-5

www.heyne.de

Für all meine großartigen Leser.

Ihr inspiriert mich mehr, als ihr ahnt.

Playlist Hessa

The Fray – Never Say Never

Imagine Dragons – Demons

The Civil Wars – Poison & Wine

Ed Sheeran – I’m a Mess

The 1975 – Robbers

One Direction – Change Your Ticket

The Weeknd – The Hills

Andrew Belle – In My Veins

The Cab – Endlessly

Halsey – Colors

Kelly Clarkson – Beautiful Disaster

Passenger – Let Her Go

A Great Big World, ft. Christina Aguilera – Say Something

Hunter Hayes – All You Ever

Bon Iver – Blood Bank

One Direction – Night Changes

Ron Pope – A Drop in the Ocean

John Mayer – Heartbreak Warfare

Jon McLaughlin – Beautiful Disaster

One Direction – Through the Dark

Coldplay – Shiver

Kodaline – All I Want

Sia – Breathe Me

ERSTER TEIL

BEFORE

Als kleiner Junge hatte er sich oft vorgestellt, was er später einmal werden würde.

Polizist vielleicht oder Lehrer. Der Job von Mommys Freund Vance bestand darin, Bücher zu lesen, und das schien Spaß zu machen. Aber der Junge wusste nicht genau, was er überhaupt konnte. Er hatte keine besonderen Talente. Er konnte nicht singen wie Joss, der mit ihm in eine Klasse ging, und er konnte auch nicht wie Angela große Zahlen addieren und subtrahieren. Er brachte es kaum fertig, vor seinen Klassenkameraden zu sprechen, im Gegensatz zu dem lustigen, großmäuligen Calvin. Das Einzige, was er gern tat, war lesen. Er wartete immer darauf, dass Vance ihm Bücher mitbrachte: ungefähr eins pro Woche, mal mehr, mal weniger. Manchmal ließ sich Vance eine Weile nicht sehen, und dann wurde dem Jungen langweilig, und er las die eingerissenen Seiten seiner Lieblingsbücher einfach noch mal. Aber er lernte, darauf zu vertrauen, dass der freundliche Mann wiederkommen würde, mit einem Buch in der Hand. Der Junge wurde größer und klüger – es war, als kämen alle zwei Wochen ein Zentimeter und ein neues Buch dazu.

Seine Eltern veränderten sich ebenso wie die Jahreszeiten. Sein Vater wurde lauter und nachlässiger und seine Mom immer müder. Ihr Schluchzen erfüllte die Nacht, jedes Mal lauter. Der Geruch nach Tabak und Schlimmerem fing an, sich zwischen den Wänden des kleinen Hauses auszubreiten. So sicher, wie sich Schüsseln und Teller in der Spüle türmten, so sicher lag der Geruch nach Scotch in Dads Atem. Die Monate vergingen, und manchmal vergaß er schon ganz, wie sein Vater überhaupt aussah.

Vance kam jetzt öfter vorbei, und der Junge bemerkte kaum, dass sich die nächtlichen Schluchzer seiner Mutter veränderten. Zu diesem Zeitpunkt hatte er Freunde gefunden. Na ja, einen Freund. Dann zog der Freund weg, und er machte sich nie die Mühe, einen neuen zu finden. Er hatte das Gefühl, niemanden zu brauchen, es machte ihm nichts aus, allein zu sein.

Die Männer, die in jener Nacht kamen, veränderten etwas tief im Innern des Jungen. Was seiner Mutter passierte, ließ ihn verhärten, und je fremder sein Vater wurde, desto zorniger wurde der Junge. Bald darauf hörte sein Vater ganz damit auf, in das kleine, dreckige Haus zu torkeln. Er war verschwunden, und der Junge war erleichtert. Kein Scotch mehr, keine zertrümmerten Möbel oder Löcher in den Wänden. Das Einzige, was er zurückließ, war ein Junge ohne Vater und ein Wohnzimmer voller halb leerer Zigarettenschachteln.

Der Junge verabscheute den Geschmack, den die Zigaretten in seinem Mund hinterließen, aber er liebte es, wie der Rauch seine Lunge füllte und ihm den Atem raubte. Er rauchte sie alle, und dann besorgte er sich Nachschub. Er fand Freunde, wenn man die Clique aus Rebellen und Verbrechern so nennen konnte. Wegen dieser zweitklassigen Freunde geriet er ständig in Schwierigkeiten. Er fing an, abends spät nach Hause zu kommen, und aus den kleinen Notlügen und harmlosen Streichen zorniger Jungs wurden allmählich Straftaten. Sie taten schlimme Dinge und wussten alle, dass es falsch war – so falsch, wie etwas nur sein konnte –, aber sie redeten sich ein, dass sie einfach nur Spaß hatten. Sie hatten ein Recht darauf und konnten nicht auf den Adrenalinstoß verzichten, der dieses Gefühl der Macht begleitete. Nach jeder geraubten Unschuld pulsierte noch mehr Arroganz durch ihre Adern, mehr Hunger, und es gab immer weniger Grenzen.

Der Junge war noch immer der Sanfteste von ihnen, aber er hatte die innere Ruhe verloren, die ihn einst davon träumen ließ, Feuerwehrmann oder Lehrer zu werden. Seine Beziehungen zu Frauen verliefen nicht gerade typisch. Er lechzte nach ihren Berührungen, schirmte sich aber innerlich gegen jede tiefere Verbindung ab. Das schloss auch seine Mutter ein, für die er nicht einmal mehr ein schlichtes »Ich liebe dich« übrig hatte. Er sah sie sowieso kaum noch. Er war fast nur noch unterwegs, und das Haus bedeutete ihm nichts mehr, abgesehen davon, dass dort gelegentlich Päckchen für ihn ankamen. Vance’ Name und eine Adresse im Staat Washington stand darauf.

Auch Vance hatte ihn verlassen.

Die Mädchen schenkten dem Jungen Beachtung. Sie hängten sich an ihn, gruben ihm mit ihren langen Fingernägeln kleine Halbmondsicheln in den Arm, wenn er sie anlog, sie küsste, sie fickte. Nach dem Sex versuchten die meisten, ihn in den Arm zu nehmen. Dann wies er sie zurück, ohne sie zu küssen oder sanft zu liebkosen. Meistens war er schon verschwunden, bevor sie wieder zu Atem kamen. Er verbrachte seine Tage high und die Nächte noch higher. Hing auf der Straße hinter dem Spirituosenladen herum oder im Geschäft von Marks Dad und verschwendete sein Leben. Brach in Schnapsläden ein, drehte grauenhafte Homevideos, demütigte ahnungslose Mädchen. Er hatte die Fähigkeit verloren, irgendetwas zu empfinden, abgesehen von Arroganz oder Wut.

Irgendwann hatte seine Mutter die Nase voll. Sie hatte nicht mehr die Kraft oder Geduld, um mit seinem zerstörerischen Verhalten fertigzuwerden. Seinem Vater war ein Job an einer Universität in den Vereinigten Staaten angeboten worden. In Washington, um genau zu sein. Derselbe Staat, in dem auch Vance war, und sogar dieselbe Stadt. Der gute und der böse Mann waren mal wieder an einem Ort vereint.

Seine Mutter glaubte, er könne sie nicht hören, als sie mit seinem Vater darüber sprach, ihn dorthin zu verschiffen. Offenbar hatte der alte Herr in seinem Leben ein bisschen aufgeräumt, aber der Junge war sich da nicht so sicher. Er würde sich niemals sicher sein. Sein Vater hatte auch eine Freundin, eine nette Frau, um die ihn der Junge beneidete. Sie durfte von den Vorteilen seines neuen Ichs profitieren. Sie aß mit einem nüchternen Mann zu Abend, von dem sie freundliche Worte hörte – Dinge, die er nie hatte erleben dürfen.

Als er an der Uni anfing, zog er in ein Verbindungshaus, aus purer Gehässigkeit seinem alten Herrn gegenüber. Obwohl ihm das Haus nicht gefiel, als er seine Kisten in das einigermaßen große Zimmer schleppte, verspürte er doch einen Anflug von Erleichterung. Der Raum war doppelt so groß wie sein Zimmer in Hampstead. Es gab keine Löcher in den Wänden, und im Bad krabbelten keine Käfer aus dem Waschbecken. Endlich hatte er Platz genug für all seine Bücher.

Anfangs blieb er allein, machte sich nicht die Mühe, Freundschaften zu schließen. Dann formierte sich seine Clique, und damit verfiel er wieder in dasselbe finstere Muster.

Er lernte den geistigen Zwillingsbruder von Mark kennen, weit weg von ihm, drüben in Amerika, und überzeugte ihn allmählich davon, dass die Welt nun mal so war. Er fing an zu akzeptieren, dass er immer allein sein würde. Er war gut darin, Menschen zu verletzen, Unheil anzurichten. Er tat einem weiteren Mädchen genauso weh wie dem davor, und er fühlte, dass derselbe Sturm in ihm wütete und sein Leben mit wilder Energie zu zerstören versuchte. Er fing an zu trinken wie sein Dad, und das machte ihn zu einem Heuchler der schlimmsten Sorte.

Aber es war ihm egal. Er fühlte nichts, und seine Freunde halfen ihm, sich davon abzulenken, dass es in seinem Leben nichts Echtes gab.

Nichts spielte wirklich eine Rolle.

Nicht einmal die Mädchen, die ihn zu erreichen versuchten.

Natalie

Als er das Mädchen mit den blauen Augen und den dunklen Haaren kennenlernte, wusste er, dass sie ihn auf eine ganz neue Art herausfordern würde. Sie war freundlich, die sanftmütigste Seele, der er je begegnet war – und sie war verknallt in ihn.

Er holte das naive Mädchen aus ihrer aufgeräumten, heilen Welt und schleuderte sie in ein finsteres, unerbittliches Reich, das ihr vollkommen fremd war. Gefühllos machte er sie zu einer Ausgestoßenen, die erst aus ihrer Kirche und dann aus ihrer Familie vertrieben wurde. Das Gerede war vernichtend – in der Gemeinde flüsterte eine bibeltreue Frau der nächsten ins Ohr.

In ihrer Familie war es nicht besser. Sie hatte niemanden, und sie beging den Fehler, mehr in ihm zu sehen, als er tatsächlich für sie sein konnte.

Was er diesem Mädchen antat, war für seine Mutter der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Das Ganze sorgte dafür, dass sie ihn nach Amerika schickte, in den Staat Washington, wo er bei seinem Möchtegern-Vater leben sollte. Weil er Natalie so behandelt hatte, wurde er selbst aus seiner Londoner Heimat vertrieben. Die Einsamkeit, die er die ganze Zeit schon in sich gespürt hatte, war endlich in seinem Alltag angekommen.

Die Kirche ist heute brechend voll. Reihenweise sitzen unsere Leute hier, alle vereint, um an einem heißen Julinachmittag zu beten. So ist es jede Woche, und meistens kommen dieselben Leute, die ich alle mit Namen kenne.

Meine Familie war königlich in dieser kleinen dienstlichen Gemeinde.

Cecily, meine jüngere Schwester, sitzt in der ersten Reihe neben mir, ihre kleinen Finger knibbeln an dem abblätternden Lack der hölzernen Kirchenbank herum. Unsere Kirche hat gerade einen Zuschuss bekommen, um einen Teil des Innenraums renovieren zu lassen, und unsere Jugendgruppe hat mitgeholfen, das Material einzusammeln, das die Gemeindemitglieder gespendet haben. Diese Woche sollen wir bei den ortsansässigen Geschäften Farbe besorgen, und damit streichen wir dann die Kirchenbänke neu. Ich habe meine Abende damit verbracht, von einem Baumarkt zum nächsten zu laufen und um Spenden zu bitten.

Ich höre ein leises Knacken und sehe, dass Cecily auf ihrem Sitzplatz gerade ein kleines Stück Holz aus der Bank herausgebrochen hat. Als wolle Sie die Sinnlosigkeit der ganzen Sache demonstrieren. Ihre Fingernägel sind pink lackiert, damit sie zu dem Reif in ihrem dunkelbraunen Haar passen, aber meine Güte – sie kann ganz schön zerstörerisch sein.

»Cecily, wir renovieren die Bänke nächste Woche. Bitte lass das.« Sanft nehme ich ihre kleinen Hände in meine, und sie schmollt ein bisschen. »Du kannst uns helfen, sie anzustreichen, damit sie wieder schön aussehen. Das möchtest du doch gern, oder?« Ich lächle sie an.

Sie lächelt zurück, ein hinreißendes Zahnlückenlächeln, und nickt. Ihre Locken wippen mit und erfüllen meine Mutter mit Stolz auf das Werk, das sie an diesem Morgen mit dem Lockenstab vollbracht hat.

Der Pfarrer ist mit seiner Predigt fast fertig, und meine Eltern blicken händchenhaltend nach vorn. Schweiß sammelt sich in meinem Nacken und rollt mir in klebrigen Tropfen über den Rücken, während mir Worte über Sünde und Leid um den Kopf schwirren. Es ist so heiß hier drin, dass das Make-up meiner Mutter am Hals zu glänzen anfängt und sich schmierige schwarze Ringe um ihre Augen legen. Es sollte die letzte Woche sein, die wir ohne Klimaanlage durchstehen müssen. Hoffentlich. Sonst stelle ich mich vielleicht sogar krank, um nicht in diese glühend heiße Kirche gehen zu müssen.

Am Ende der Messe steht meine Mutter auf, um mit der Frau des Pfarrers zu sprechen. Meine Mutter bewundert sie sehr, ein bisschen zu sehr sogar, finde ich. Pauline, die First Lady unserer Kirche, ist eine knallharte Frau mit wenig Mitgefühl für andere, darum verstehe ich eigentlich gar nicht, warum meine Mom sie so toll findet.

Ich winke Thomas zu, dem einzigen Jungen in meinem Alter in der Jugendgruppe. Als er und der Rest seiner Familie an mir vorbei die Kirche verlassen, winken sie zurück. Um ein bisschen frische Luft zu schnappen, stehe ich auf und wische mir die Hände an meinem blassblauen Kleid ab.

»Kannst du Cecily zum Auto bringen?«, fragt mich mein Dad und lächelt vielsagend.

Er wird versuchen, meine Mutter von ihren Schwätzchen abzuhalten, so wie jeden Sonntag. Sie gehört zu den Frauen, die immer noch weiterplaudern, auch wenn sie sich schon mindestens dreimal verabschiedet haben.

In dieser Hinsicht komme ich überhaupt nicht nach ihr. Stattdessen eifere ich meinem Vater nach, der nur wenige Worte macht, die dann aber meistens ein Leben lang gelten. Und ich weiß, dass mein Dad sich freut, weil er so viel von sich selbst in mir wiederfindet: sein ruhiges Auftreten, das dunkle Haar, die blassblauen Augen und auch unsere Körpergröße. Oder den Mangel daran. Wir sind beide kaum einen Meter fünfundsechzig groß, obwohl er ein ganz kleines bisschen größer ist als ich. Cecily wird uns beiden schon mit zehn Jahren über den Kopf gewachsen sein, zieht meine Mutter uns gern auf.

Ich nicke meinem Vater zu und nehme meine Schwester bei der Hand. Sie geht schneller als ich, in ihrem kindlichen Eifer läuft sie direkt durch den Rest der kleinen Menschenmenge. Ich will sie zurückhalten, doch sie dreht sich zu mir um, ein breites Lächeln im Gesicht, und ich kann mich zu nichts anderem durchringen, als ihr hinterherzurennen. Wir spurten los, rasen die Treppe hinunter und auf den Rasen. Cecily rempelt ein älteres Paar an, und ich lache, als meine kleine Schwester quietscht und um ein Haar Tyler Kenton umrennt, den ätzendsten Jungen in unserer Gemeinde. Die Sonne scheint hell, meine Lunge brennt, und ich renne immer schneller, jage ihr hinterher, bis sie auf dem Rasen hinfällt. Ich gehe in die Knie, um nachzusehen, ob mit ihr alles in Ordnung ist, beuge mich über sie und streiche ihr die Haare aus dem Gesicht. Die kleinen Tränenseen in ihren Augen drohen überzulaufen, und ihre Unterlippe zittert heftig.

»Mein Kleid …« Mit ihren kleinen Händen klopft sie auf ihr weißes Kleid, starrt auf die Grasflecken auf dem Stoff. »Es ist kaputt!« Sie vergräbt das Gesicht in ihren schmutzigen Händen, und ich greife nach ihnen und drücke sie ihr sanft in den Schoß.

Ich lächle und sage lieb: »Es ist nicht kaputt. Wir können es waschen, Mäuschen.«Mit dem Daumen wische ich ihr die Träne fort, die ihr über die Wange rollt. Sie schnieft, will mir aber nicht glauben.

»So was passiert andauernd; mir ist das mindestens schon dreißigmal passiert«, beruhige ich sie, obwohl es gar nicht stimmt.

Ihre Mundwinkel wandern nach oben, und sie muss lächeln. »Gar nicht.« Wegen meiner Flunkerei sieht sie mich herausfordernd an.

Ich lege den Arm um sie und ziehe sie auf die Füße. Mein Blick wandert über ihre blassen Arme, weil ich sichergehen will, dass mir nichts entgangen ist. Alles sauber. Als wir über den Friedhof auf den Parkplatz zugehen, habe ich immer noch den Arm um sie geschlungen. Meine Eltern kommen uns entgegen, weil mein Vater es offenbar endlich geschafft hat, meine Mutter loszueisen.

Auf der Fahrt nach Hause sitze ich mit Cecily auf der Rückbank und male mit ihr kleine Schmetterlinge in ihrem Lieblingsmalbuch aus, während mein Dad mit meiner Mom das Problem mit dem Waschbären an den Mülltonnen hinter dem Haus bespricht, mit dem wir uns seit einiger Zeit herumschlagen. Mein Dad lässt den Motor laufen, als er in der Auffahrt anhält. Cecily gibt mir rasch einen Kuss auf die Wange und klettert von der Rückbank. Ich folge ihr, umarme meine Mutter und bekomme von Dad einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor ich mich auf den Fahrersitz setze.

Mein Vater blickt auf mich herab. »Und jetzt fahr vorsichtig, mein Käferchen. Bei dem schönen Wetter heute sind ’ne Menge Leute unterwegs.« Er hebt eine Hand, um seine Augen gegen die Sonne zu schützen, und blinzelt.

Es ist der sonnigste Tag, den es seit langer Zeit in Hampstead gegeben hat. Bisher war es zwar heiß, aber die Sonne hat sich nicht gezeigt. Ich nicke und verspreche meinem Vater, vorsichtig zu fahren.

Ich warte, bis ich unsere Wohngegend hinter mir gelassen habe, ehe ich den Radiosender wechsle und Richtung Stadtzentrum fahre. Ich drehe die Lautstärke auf und singe die Songs mit. Ich hoffe, dass ich in jedem der drei Läden etwa drei Eimer Farbe bekomme. Wenn ich überall nur einen kriege, bin ich auch zufrieden, aber eigentlich will ich drei, denn dann haben wir genug, um alles zu streichen.

Das erste Geschäft, Mark’s Paint and Supply, ist das billigste in der ganzen Stadt. Mark, der Inhaber, hat in unserer Gegend einen echt guten Ruf, und ich freue mich, ihn mal kennenzulernen. Ich stelle den Wagen auf dem beinahe leeren Parkplatz ab; nur ein metallicrot lackierter Oldtimer und ein Minivan parken auf der gesamten Fläche. Das Gebäude ist alt und besteht aus Holzbalken und instabilen Trockenbauwänden. Das M auf dem verbeulten Ladenschild kann man kaum noch lesen. Als ich die Holztür öffne, quietscht sie, und eine Glocke erklingt. Eine Katze springt von einem Karton herunter und landet direkt vor mir. Kurz streichle ich das Fellknäuel, dann steuere ich auf die Kasse zu.

Innen wirkt der Laden genauso unordentlich wie von außen, und durch das ganze Gerümpel sehe ich den Jungen hinter der Kasse erst gar nicht und erschrecke. Er ist groß und breitschultrig und sieht aus wie jemand, der seit Jahren Sport treibt.

»Mark …«, sage ich und komme ins Stocken, weil mir sein Nachname nicht gleich einfällt. Alle nennen ihn immer nur Mark.

»Ich bin Mark«, sagt eine Stimme hinter dem athletisch wirkenden Jungen.

Ich beuge mich zur Seite und sehe noch einen Jungen, der auf einem Stuhl hinter der Kasse sitzt, ganz in Schwarz gekleidet. Er ist viel schlanker als der andere, und trotzdem strahlt er irgendetwas aus, das ihn größer wirken lässt. Sein Haar ist dunkel und an den Seiten lang, und eine Strähne hängt ihm in die Stirn. Auf den Armen hat er Tattoos, die aussehen wie zufällig verstreute schwarze Tintenflecke in einem Meer gebräunter Haut.

Eigentlich sind Tattoos nicht mein Ding, aber statt ihn kritisch zu beäugen, denke ich nur, dass alle außer mir schon braun sind.

»Stimmt nicht, ich bin Mark«, sagt eine dritte Stimme.

Ich blicke auf die andere Seite und sehe einen Jungen von mittlerer Größe, schmächtigem Körperbau und mit einem extrem dichten Igelschnitt. »Allerdings bin ich Mark junior. Wenn du meinen alten Herrn suchst: Der ist heute nicht hier.«

Der dritte Junge hat auch ein paar Tätowierungen, die aber systematischer angeordnet sind als bei dem mit den wilden Haaren, und er hat ein Piercing in der Augenbraue. Mir fällt ein, dass ich meine Familie mal gefragt habe, was sie davon halten würde, wenn ich mir den Bauchnabel piercen lassen würde, und ich muss heute noch lachen, wenn ich an ihre entsetzten Gesichter denke.

»Er ist der nettere von den beiden Marks«, sagt der Junge mit den wilden Haaren langsam und mit tiefer Stimme. Er lächelt, und in seinen Wangen erscheinen zwei schöne, tiefe Grübchen.

Ich lache, habe aber den Verdacht, dass seine Behauptung nicht mal annähernd stimmt. »Irgendwie bezweifle ich das«, necke ich ihn.

Jetzt lachen alle, und mit einem Lächeln auf den Lippen kommt Mark Jr. auf mich zu.

Der Typ, der auf dem Stuhl gesessen hat, steht auf. Er ist so groß, dass seine Präsenz jetzt noch intensiver wirkt. Er kommt näher und ragt vor mir auf. Er sieht gut aus, sein Gesicht verrät Stärke. Eine kantige Kieferpartie, dunkle Wimpern, dichte Augenbrauen. Seine Nase ist schmal, die Lippen sind hellrosa. Ich starre ihn an, und er starrt zurück.

»Hast du einen bestimmten Grund, warum du meinen Dad sprechen willst?«, fragt Mark.

Als ich nicht sofort antworte, blicken Mark und der sportliche Junge zwischen mir und ihrem Freund hin und her.

Ein bisschen verlegen, weil sie mich beim Starren erwischt haben, komme ich wieder in die Gegenwart zurück und sage meinen Spruch auf. »Ich komme von der Hampstead Baptist Church und wollte mal fragen, ob ihr uns Farbe oder anderes Material spenden würdet. Wir gestalten unsere Kirche neu und sind dafür auf Spenden angewiesen …«

Ich schweige, weil der charmante Typ mit den rosa Lippen inzwischen ein Gespräch mit seinen Freunden angefangen hat und sie so leise reden, dass ich nichts verstehen kann. Dann verstummen sie, und alle drei Jungs starren mich an – drei lächelnde Gesichter nebeneinander.

Mark redet als Erster. »Das machen wir natürlich gern«, sagt er.

Sein Lächeln erinnert mich irgendwie an eine Katze. Ich kann nicht genau sagen, warum. Ich lächle zurück und will schon anfangen, mich bei ihm zu bedanken.

Er wendet sich an seinen Freund, der ein riesiges Schiffstattoo auf dem Bizeps hat. »Hardin, wie viele Eimer stehen da hinten?«

Hardin? Merkwürdiger Name, den habe ich noch nie gehört.

Die schwarzen Ärmel von diesem Hardin bedecken kaum die untere Hälfte des hölzernen Schiffs. Es ist gut gemacht; die Details und Schattierungen sind sehr schön gelungen. Als ich ihm ins Gesicht und einen Herzschlag lang auf die Lippen blicke, spüre ich, dass meine Wangen ganz heiß werden. Er sieht mich direkt an und bemerkt, wie prüfend ich ihn betrachte. Ich sehe, dass sich Mark und Hardin Blicke zuwerfen, kann Marks Geste aber nicht deuten.

»Wie wär’s mit ’nem Vorschlag?«, fragt Mark und deutet mit einem Kopfnicken auf Hardin.

Das klingt interessant. Dieser Hardin scheint lustig zu sein, ein bisschen neben der Spur, aber bis jetzt gefällt er mir. »Und der wäre?« Ich spiele mit einer Haarsträhne und warte ab.

Hardin sieht mich immer noch an. Irgendwie hat er etwas Vorsichtiges an sich. Ich kann es auf der anderen Seite des kleinen Ladens spüren und merke, dass ich sehr neugierig auf diesen Typ bin, der sich furchtbar anstrengt, um knallhart zu wirken. Innerlich zucke ich zusammen, als ich mir vorstelle, was meine Eltern von ihm halten würden, wie sie reagieren würden, wenn ich ihn mit nach Hause brächte. Meine Mom findet Tattoos ganz schlimm, aber ich bin mir da nicht so sicher. Auch wenn sie mir nicht unbedingt gefallen, habe ich das Gefühl, man kann durch sie etwas von sich selbst ausdrücken, und darin liegt eigentlich immer eine gewisse Schönheit.

Mark kratzt sich das glatte Kinn. »Wenn du zweimal mit meinem Freund Hardin hier ausgehst, gebe ich dir vierzig Liter Farbe.«

Ich blicke zu Hardin hinüber, der mich taxiert, während ein Grinsen seine Lippen umspielt. So schöne Lippen. Seine leicht feminin wirkenden Gesichtszüge machen ihn attraktiver als seine schwarzen Klamotten oder das strubbelige Haar. Ich frage mich, ob es das ist, worüber sie flüstern. Dass Hardin mich mag?

Während ich noch darüber nachdenke, erhöht Mark den Einsatz: »Egal, welche Farbe. Finish deiner Wahl. Aufs Haus. Vierzig Liter.«

Er ist ein guter Verkäufer.

Ich schnalze mit der Zunge. »Nur ein Date«, kontere ich.

Hardin lacht; es klingt, als würde sich etwas lösen, und die Grübchen in seinen Wangen vertiefen sich. Okay, er ist verdammt scharf. Ich kann nicht fassen, dass ich nicht gleich beim Reinkommen gemerkt habe, wie scharf er ist. Ich war so auf die Farbe fixiert, dass mir kaum aufgefallen ist, wie grün seine Augen im Neonlicht wirken.

»Ein Date ist okay.« Hardin schiebt eine Hand in die Hosentasche, und Mark sieht den Typen mit dem Igelschnitt an.

Ich fühle mich, als hätte ich einen Sieg errungen, weil ich erfolgreich gefeilscht habe. Also lächle ich nur und zähle die Farben auf, die ich für die Bänke, die Wände und die Treppen brauche. Und die ganze Zeit über tue ich so, als würde ich mich nicht auf mein Date mit Hardin freuen, dem vorsichtigen Jungen mit den zerzausten Haaren, der so unschuldig und schüchtern ist, dass er bereit ist, vierzig Liter Farbe gegen ein einziges Date einzutauschen.

Molly

Als er noch ein Junge war, erzählte seine Mom ihm immer Geschichten über gefährliche Mädchen. Je gemeiner ein Mädchen zu dir ist, je weiter sie vor dir davonrennt, desto lieber mag sie dich. Ihr sollt den Mädchen hinterherlaufen, bringt man den Jungs bei.

Wenn diese aufdringlichen Jungs dann älter werden, finden sie irgendwann heraus, dass ein Mädchen, das sie nicht mag, sie meistens eben einfach nicht mag. Das Mädchen ist ohne eine Frau aufgewachsen, die ihr gezeigt hätte, wie sie sein sollte. Ihre Mom hat von einem flotten Leben geträumt, einem Leben, das größer war, als sie es sich leisten konnte. Und wie sichMänner benehmen sollten, hat das Mädchen gelernt, indem sie diejenigen beobachtete, die um sie herum waren.

Als sie heranwuchs, kapierte sie sehr schnell, wie das Spiel funktionierte, und sie wurde zu einer Meisterin darin.

Ich ziehe mein Kleid herunter, als ich um die dunkle Ecke in die Gasse einbiege. Der Netzstoff reißt hörbar, während ich daran zerre, und ich könnte mich verfluchen, weil ich es schon wieder tue.

Ich hatte den Zug in die Innenstadt genommen, in der Hoffnung … etwas zu erleben.

Was, weiß ich selbst nicht so genau, aber ich habe es satt, mich so zu fühlen. Wegen dieser Leere verhält man sich so, wie man es sich nie hätte vorstellen können, und das hier ist die einzige Möglichkeit, das riesige Loch in meinem Innern zu stopfen. Die Befriedigung kommt und geht, während die Männer mich anglotzen. Sie glauben, ein Recht auf meinen Körper zu haben, weil ich mich auf eine Art kleide, die sie bewusst anlockt. Sie sind ekelhaft, und sie irren sich total, aber ich spiele mit ihrer Lust und ermutige sie noch mit einem Augenzwinkern. Ein schüchternes Lächeln kann bei einem einsamen Mann viel bewirken.

Dass ich diese Aufmerksamkeit so sehr brauche, ekelt mich an. Es ist mehr als nur Schmerz, es ist ein kochendes, weiß glühendes Brennen in meinem Magen.

Als ich um eine weitere Ecke biege, nähert sich mir ein schwarzes Auto, und ich wende den Blick ab, als der Mann langsamer fährt, um mich zu taxieren. Die Straßen sind dunkel, und diese im Zickzack verlaufende Gasse liegt hinter einer der reichsten Gegenden Philadelphias. Geschäfte säumen die Straßen, und jedes hat hier hinten seine eigene Laderampe.

Es gibt zu viel Geld und zu wenig Freundlichkeit in Main Line.

»Lust auf eine Spritztour?«, fragt der Mann, während das Fenster mit einem leisen Surren herunterfährt. Sein Gesicht ist faltig, und sein grau meliertes Haar ist ordentlich gescheitelt und an den Seiten glatt gekämmt. Sein Lächeln ist charmant, und für sein Alter sieht er gut aus. Aber in meinem Kopf schrillt eine Alarmglocke, wie an jedem Wochenende, wenn ich aus irgendeinem unverständlichen Grund diese idiotische Nummer durchziehe. Die gespielte Freundlichkeit in seinem Lächeln ist genauso unecht wie meine »Chanel«-Tasche. Sein Lächeln kommt daher, dass er Geld hat, das weiß ich inzwischen. Männer mit schwarzen Autos, die so sauber sind, dass sie im Mondlicht glänzen, haben Geld, aber kein Gewissen. Ihre Frauen haben seit Wochen nicht mit ihnen gevögelt – oder sogar seit Monaten –, und sie suchen in den Straßen nach der Zuwendung, die ihnen vorenthalten wird.

Aber ich will sein Geld nicht. Meine Eltern haben Geld, sogar zu viel.

»Ich bin keine Nutte, du krankes Arschloch!« Ich trete mit meinem Plateaustiefel gegen sein beschissenes glänzendes Auto und sehe den schimmernden Ehering an seinem Finger.

Er bemerkt meinen Blick, und schiebt eine Hand unter das Lenkrad. Scheißkerl.

»Netter Versuch. Fahr nach Hause zu deiner Frau – egal, was du ihr erzählt hast, lange glaubt sie dir deine Ausreden sowieso nicht mehr.«

Ich gehe weiter, und er sagt noch was, aber das Geräusch verliert sich zwischen uns, wird in die Nacht hinausgetragen, in irgendeine dunkle Ecke. Ich mache mir nicht die Mühe, mich nach ihm umzusehen. Die Straße ist fast leer, denn es ist Montag und schon nach neun Uhr. Die Lichter an den Rückseiten der Häuser sind schummrig, die Luft ist windstill, und es ist ruhig. Ich gehe an einem Restaurant vorbei, aus dessen Dach Dampf quillt, und der Geruch von Holzkohle dringt mir in die Nase. Es riecht köstlich und erinnert mich an die Grillpartys, die wir mit Curtis’ Familie im Hof gefeiert haben, als ich noch jünger war. Damals, als sie für mich wie eine zweite Familie waren.

Ich blinzle die Gedanken fort und erwidere das Lächeln einer Frau in mittlerem Alter, die eine Schürze und eine Kochmütze trägt und aus dem Hintereingang eines Restaurants tritt. Die Flamme ihres Feuerzeugs leuchtet hell in der Nacht. Sie nimmt einen Zug von der Zigarette, und wieder lächle ich sie an.

»Sei vorsichtig hier draußen, Mädchen«, warnt sie mich mit ihrer rauen Stimme.

»Bin ich immer«, antworte ich lächelnd und winke ihr zu.

Sie schüttelt den Kopf und zieht wieder. Der Rauch erfüllt die kalte Luft, und die rote Glut knistert in der Stille der Nacht, bevor sie sie auf den Betonboden wirft und sie fest austritt.

Ich gehe weiter, und es wird immer kälter. Noch ein Wagen fährt vorbei, und ich halte mich am Rand. Das Auto ist schwarz … Ich sehe noch mal hin und bemerke, dass es dasselbe glänzende Schwarz wie bei dem Wagen vorhin ist. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, als der Typ langsamer fährt und die Reifen auf dem Müll knirschen, der hier die Fahrbahn bedeckt.

Ich gehe schneller und beschließe, hinter einem Müllcontainer zu verschwinden, um so viel Abstand wie möglich zu dem Fremden zu bekommen. Meine Füße bewegen sich noch schneller, und ich laufe ein Stück weiter.

Ich weiß nicht, warum ich heute Abend so paranoid bin; schließlich mache ich so was fast jedes Wochenende. Ich ziehe mir ein hässliches Kleid an, gebe meinem Dad einen Kuss auf die Wange und bitte ihn um Geld für den Zug. Er runzelt die Stirn und sagt, dass ich zu viel Zeit allein verbringe und mich wieder mehr am Leben beteiligen soll, damit es nicht an mir vorüberzieht. Wenn es so leicht wäre weiterzumachen, dann würde ich mir nicht so eilig das Kleid anziehen und das hässliche Ding in meine Handtasche stopfen, um es mir auf der Fahrt nach Hause wieder anzuziehen.

Weitermachen. Als wäre das so einfach.

»Molly, du bist erst siebzehn. Du musst wieder anfangen zu leben, bevor du zu viel von deinen besten Jahren verpasst«, sagt er jedes Mal zu mir.

Wenn das die besten Jahre meines Lebens sind, sehe ich nicht viel Sinn darin, noch weiterzuleben.

Aber ich nicke immer, stimme ihm lächelnd zu, und im Stillen wünschte ich, er würde aufhören, seinen Verlust mit meinem zu vergleichen. Der Unterschied ist, dass meine Mom gehen wollte.

Irgendwie ist es heute Abend anders als sonst, vielleicht auch, weil jetzt zum zweiten Mal innerhalb von zwanzig Minuten derselbe Typ neben mir anhält.

Ich renne los, und meine Angst trägt mich über die Gasse voller Schlaglöcher zu der belebten Straße weiter vorne.

Ein Taxi hupt mich an, als ich auf die Straße stolpere, wieder auf den Gehweg zurückspringe und dort versuche, wieder zu Atem zu kommen.

Ich muss nach Hause. Jetzt. Meine Brust brennt, und es fällt mir schwer, die kalte Luft einzuatmen. Ich trete auf dem Gehweg einen Schritt zurück und blicke mich in alle Richtungen um.

»Molly? Molly Samuels, bist du das?«, ruft eine Frau hinter mir.

Ich drehe mich um und sehe in das vertraute Gesicht der letzten Person auf dieser Welt, der ich zufällig begegnen wollte. Als sich unsere Blicke kreuzen, kämpfe ich das Bedürfnis nieder, einfach wegzurennen. Mit je einer braunen Einkaufstüte in der Hand kommt sie auf mich zu.

»Was machst du hier draußen, und noch dazu so spät?«, fragt Mrs. Garrett, und eine Haarsträhne fällt ihr über die Wange.

»Ich geh nur spazieren.« Ich versuche, mir das Kleid über die Oberschenkel zu ziehen, bevor sie noch mal hinsieht.

»Allein?«

»Sie sind doch auch allein«, sage ich, und meine Stimme klingt, als müsste ich mich rechtfertigen.

Sie seufzt und schiebt sich die Einkaufstüten auf einen Arm. »Komm, steig ein.« Sie geht auf den braunen Transporter zu, der an der Ecke parkt.

Mit einem Klicken entriegelt sich die Tür auf der Beifahrerseite, und ich steige zögerlich ein. Ich möchte jetzt doch lieber mit ihr und ihrer Missbilligung in diesem Wagen sitzen als draußen auf der Straße mit dem Typen in dem schwarzen Auto, der kein Nein zu akzeptieren scheint.

Meine vorläufige Retterin steigt auf der Fahrerseite ein und sieht eine Minute lang stur geradeaus, bevor sie sich zu mir dreht. »Du weißt schon, dass du dich nicht für den Rest deines Lebens so aufführen kannst.« Ihre Worte klingen überzeugend, aber ihre Hände auf dem Lenkrad zittern.

»Ich bin keine …«

»Tu nicht so, als wäre nichts.« Ihre Antwort macht deutlich, dass sie nicht in der Stimmung ist, Höflichkeiten mit mir auszutauschen. »Du bist ganz anders angezogen als früher, und mit Sicherheit auch anders, als es deinem Vater gefällt. Deine Haare sind pink – was nichts mit deinem natürlichen Blond zu tun hat. Mitten in der Nacht läufst du hier draußen herum, ganz allein. Glaub mir, ich bin nicht die Einzige, die dich gesehen hat. John aus meiner Kirchengemeinde hat dich neulich abends hier entdeckt. Er hat es uns allen erzählt.«

»Ich …«

Sie tut meinen Protest mit einer Geste ab. »Ich bin noch nicht fertig. Dein Vater hat mir gesagt, dass du nicht einmal die Ohio State besuchen wirst, obwohl Curtis und du euch all die Jahre darauf vorbereitet habt, gemeinsam hinzugehen.«

Der Name geht mir durch und durch, bricht die harte Schale auf, in der ich inzwischen gewohnheitsmäßig lebe. Die dicke Schicht aus Nichts, mit der ich mich selbst schütze. Das Gesicht ihres Sohns taucht vor mir auf, und seine Stimme klingt mir in den Ohren.

»Hören Sie auf«, stoße ich durch meinen Schmerz hervor.

»Nein, Molly«, sagt Mrs. Garrett.

Sie wirkt so aufgewühlt, als würde sie kurz vorm Explodieren stehen.

»Er war mein Sohn«, sagt sie. »Also tu nicht so, als hättest du mehr Grund, verletzt zu sein, als ich. Ich habe ein Kind verloren – mein einziges Kind –, und jetzt sitze ich hier und sehe, wie du, die süße Molly, die ich habe aufwachsen sehen, ebenfalls auf Abwege gerätst. Und ich werde jetzt nicht mehr schweigen. Schaff deinen Hintern ins College und verschwinde aus dieser Stadt, so wie du es mit Curtis geplant hattest. Fang endlich wieder an zu leben. Das müssen wir alle. Und wenn ich das schaffe, so schwer es mir auch fällt, kannst du es todsicher auch.«

Als Mrs. Garrett aufhört zu reden, habe ich einen Knoten im Magen. Sie war immer eine stille Frau, meistens hat nur ihr Mann geredet, aber nach nur fünf Minuten kommt sie mir irgendwie weniger zerbrechlich vor. Ihre sonst so sanfte Stimme hat einen neuen, entschiedenen Klang, und Mrs. Garrett beeindruckt mich. Und außerdem macht sie mich traurig, weil ich zulasse, dass mein Leben so morbide wird.

Aber ich bin damals gefahren.

Ich hatte mich bereit erklärt, Curtis’ kleinen Truck zu fahren, obwohl ich keinen Führerschein hatte. Wir waren aufgeregt, und mit seinem Lächeln hatte er mich überredet. Ich liebte ihn mit jeder Faser meines Körpers, und als er starb, habe ich mich praktisch aufgelöst. Er war meine Gelassenheit, die Bestätigung, dass ich nicht wie meine Mutter enden würde, eine Frau, die nur dafür lebte, mehr zu sein als die Frau irgendeines Mannes in einem großen Haus und einer reichen Gegend. Sie verbrachte ihre Tage damit, in unserem großen Haus zu malen und zu tanzen, Lieder zu singen und mir zu versprechen, dass wir es aus dieser Null-achtfünfzehn-Stadt herausschaffen würden.

»Wir werden hier nicht sterben – eines Tages werde ich deinen Vater überzeugen«, sagte sie immer.

Sie hielt sich nur an die Hälfte der Abmachung und ging vor zwei Jahren mitten in der Nacht einfach fort. Sie wurde offensichtlich nicht damit fertig, dass sie nur Ehefrau und Mutter war. Den meisten Frauen war das nicht peinlich, aber bei meiner Mom war das anders. Sie wollte alle Aufmerksamkeit für sich – sie brauchte es, dass die Leute ihren Namen kannten. Wenn sie das nicht taten, machte sie mich dafür verantwortlich, obwohl sie das zu verbergen versuchte. Sie hat sich meinetwegen immer geschämt und erinnerte mich ständig daran, was ich ihrem Körper angetan hatte. Viele Male hat sie mir gesagt, wie gut sie ausgesehen habe, bevor ich kam. Sie tat so, als hätte ich darauf bestanden, dort eingepflanzt zu werden, in den Bauch dieser egoistischen Frau. Einmal hat sie mir ihre Schwangerschaftsstreifen gezeigt, und beim Anblick ihrer rissigen Haut bin ich neben ihr zusammengezuckt.

Obwohl ich sie einschränkte, versprach sie mir die ganze Welt. Sie erzählte mir von größeren, glanzvolleren Städten mit riesigen Werbeflächen, und sie wünschte sich so sehr, darauf abgebildet zu sein.

Und eines frühen Morgens, nachdem ich ihr am Abend zuvor zugehört hatte, wie sie mir von der Welt erzählte, die sie sich wünschte, sah ich durch das massive Treppengeländer aus Metall, wie sie ihren Koffer über den Teppich zur Haustür zog. Sie fluchte und warf das Haar über die Schultern zurück. Sie war angezogen, als ginge sie zu einem Vorstellungsgespräch, mit komplettem Make-up und frisch geföhntem Haar – sie muss eine halbe Dose Haarspray benutzt haben. Sie wirkte aufgeregt und zuversichtlich, während sie vorsichtig ihr Haar richtete.

Kurz bevor sie aus der Tür trat, blickte sie sich in ihrem hübsch eingerichteten Wohnzimmer um, und das breiteste Lächeln, das ich je an ihr gesehen hatte, erschien auf ihrem Gesicht. Dann schloss sie die Tür, und ich stellte mir vor, wie sie sich draußen glücklich dagegenlehnte, noch immer lächelnd, als würde sie ins Paradies aufbrechen.

Ich weinte nicht, während ich auf Zehenspitzen die Stufen hinunterstieg und versuchte, mir einzuprägen, wie sie aussah. Ich wollte mich an jede Begegnung, jedes Gespräch, jede Umarmung von ihr erinnern. Schon damals war mir klar, dass sich mein Leben wieder mal verändern würde. Durch das Wohnzimmerfenster sah ich zu, wie sie in ein Taxi stieg. Ich starrte einfach nur in die Auffahrt. Wahrscheinlich hatte ich immer schon gewusst, dass ich mich nicht auf sie verlassen konnte. Nun, mein Vater hat vielleicht Angst, die Stadt zu verlassen, in der er aufgewachsen ist und einen tollen Job hat, aber auf ihn kann ich mich verdammt noch mal wenigstens verlassen.

Vorsichtig berührt Mrs. Garrett mit einem Finger meine pinken Haarspitzen. »Wenn du deine Haare in Lebensmittelfarbe tauchst, ändert das überhaupt nichts an dem, was passiert ist.«

»Ich habe meine Haare nicht gefärbt, weil ich gesehen habe, wie Ihr Sohn verblutet ist«, blaffe ich, und mir fällt wieder ein, wie mich die dunkelrosa Farbe an Blut erinnert hat, als sie beim Auswaschen in den Abfluss rann.

Ich schiebe ihre Hand weg, und ja, meine Worte sind brutal, aber wer zum Teufel ist sie, dass sie glaubt, mich verurteilen zu können?

Als ihr langsam bewusst wird, was ich gesagt habe, stellt sie sich bestimmt Curtis’ geschundenen Körper vor, neben dem ich zwei Stunden lang saß, bevor uns jemand zu Hilfe kam. Ich habe versucht, seinen Sicherheitsgurt vom Fahrersitz abzureißen, aber vergeblich. Als wir gegen das Geländer geprallt waren, hatte sich das Metall so verbogen, dass ich meinen Arm nicht mehr bewegen konnte. Ich versuchte es trotzdem, und ich habe geschrien, als mir das gezackte Metall die Haut aufriss. Mein Liebster bewegte sich nicht, gab keinen Laut von sich, und ich schrie ihn an, ihn und das Auto und das ganze Universum, als ich uns zu retten versuchte.

Ein Universum, das mich betrog und sich verfinsterte, während sein Gesicht bleich wurde und seine Arme erschlafften. Heute danke ich meinem Körper dafür, dass er abgeschaltet hat, als er starb, dass ich nicht dasitzen und das Ding ansehen musste, das er nicht mehr war, es ansehen und hoffen, dass er irgendwie wieder zum Leben erwachen würde.

Mit einem leisen Seufzer lässt Mrs. Garrett den Wagen an und fährt los. »Ich verstehe ja deinen Schmerz, Molly … Wenn ihn irgendjemand versteht, dann ich. Ich versuche ja auch, irgendwie weiterzuleben, aber du ruinierst dein Leben wegen etwas, für das du nichts kannst.«

Ich bin verwirrt und versuche mich zu konzentrieren, indem ich mit einer Hand über das Plastik der Wagentür fahre. »Für das ich nichts kann? Ich bin doch gefahren.« Das Geräusch von Metall, das sich verbiegt, als das Auto gegen einen Baum und dann gegen ein anderes Hindernis aus Metall prallt, überflutet meine Ohren, und ich spüre, dass meine Hände in meinem Schoß zittern. »Ich hatte die Kontrolle über sein Leben, und ich habe ihn getötet.«

Er war das Leben, der Inbegriff von Leben für mich. Er war klug und warmherzig und liebte alles und jeden. Curtis konnte sich an den dämlichsten und einfachsten Dingen erfreuen. Ich war nicht wie er. Ich war zynischer, vor allem, nachdem meine Mom gegangen war. Aber er hörte mir jedes Mal zu, wenn mein Zorn mich wieder dazu brachte, einen Fehler zu begehen. An seinem Geburtstag half er meinem Dad, das Atelier meiner Mom aufzuräumen, nachdem ich es verwüstet und schwarze Farbe auf die wertvollen Gemälde gespritzt hatte, die sie uns hinterlassen hatte. Er fragte mich nie, warum ich ihr den Tod wünschte.

Er verurteilte mich nie und stabilisierte mich auf eine Weise, wie ich es selbst nicht konnte. Ich habe immer gedacht, dass er mir helfen würde, das College zu schaffen oder Freunde in einer neuen Stadt zu finden. Ich war nie gut darin zu verbergen, was ich von anderen hielt, und darum fiel es mir auch nie besonders leicht, Freunde zu finden. Immer wieder hat er mir gesagt, dass es in Ordnung war … dass ich so, wie ich war, gut war, nur einfach zu ehrlich. Er würde derjenige sein, der die Rolle des Lügners übernehmen musste. Er würde vorgeben, die reichen Angeberkids in unserer Schule zu mögen, die sich ihre Pullis um die Hüften banden. Er war immer der Nette, der, den jeder mochte. Ich war sein Anhängsel. Wir waren so oft zusammen, dass alle anfingen, mich und mein Verhalten zu akzeptieren. Vermutlich machte er es mit seinem Charme wieder wett. Er war meine Entschuldigung der Welt gegenüber, denn offensichtlich sah er etwas Besonderes in mir. Er war der einzige Mensch, der mich jemals akzeptieren und lieben würde, aber dann hat auch er mich verlassen. Es war meine Schuld, genauso, wie ich weiß, dass meine Mom gegangen ist, weil sie diese Stadt leid war, die Normalität meines Vaters und ihre blonde Tochter mit der Schleife im Haar.

Der letzte Rest Normalität verschwand in dem Augenblick, als der Abfluss sich pink verfärbte und mein Blond verschwunden war.

»Ich habe einen einflussreichen Freund drüben in Washington.«

Beinahe hätte ich vergessen, wo ich war, weil ich in Gedanken jede beschissene Erfahrung meines Lebens erneut durchlebte.

»Ich könnte ihn bitten, seine Beziehungen spielen zu lassen und dich an einer guten Schule unterzubringen. Es ist schön dort. Hübsch und grün. Es ist zwar schon spät im Jahr, aber wenn du willst, kann ich es versuchen«, bot sie mir an.

Washington? Was zum Teufel soll ich in Washington?

Ich denke über ihr Angebot nach, komme ins Grübeln, ob ich überhaupt noch aufs College gehen will. Und während mich diese Frage beschäftigt, wird mir klar, dass ich tatsächlich wegwill aus dieser gottverdammten, erbärmlichen Stadt, also sollte ich vielleicht Ja sagen. Ich habe oft über andere Städte nachgedacht, als ich noch kleiner war. Meine Mom hat mir von Los Angeles erzählt, wo allein durch das Wetter jeder Tag perfekt ist. Sie erzählte mir von New York und dass dort die Straßen voller Menschen sind. Sie erzählte mir von den glamourösen Städten, in denen sie leben wollte. Wenn sie mit solchen Städten zurechtkommt, dann werde ich wohl auch mit Washington klarkommen.

Aber es ist weit weg, am anderen Ende des Landes. Mein Dad wäre dann hier allein … obwohl das vielleicht sogar gut für ihn wäre. Er hat kaum noch Freunde, weil er sich ständig Sorgen um mich macht und will, dass ich glücklich bin. Er hat es völlig aufgegeben, sich um sein eigenes Leben zu kümmern. Vielleicht hilft es ihm, wenn ich weggehe, um ein College zu besuchen. Vielleicht würde es ihm ein bisschen Normalität zurückgeben.

Es ist möglich, dass ich auch Freunde finde. Meine pinken Haare schüchtern die Leute in einer etwas weltoffeneren Stadt vielleicht nicht so ein. Meine freizügigen Klamotten sind in einer anderen Stadt für die Mädchen in meinem Alter vielleicht nicht so bedrohlich.

Ich könnte noch mal ganz von vorn anfangen und Mrs. Garrett stolz machen.

Ich könnte auch Curtis einen Grund geben, stolz auf mich zu sein.

Washington ist vielleicht genau das, was der Doktor mir verordnen würde.

Und so sitze ich im Auto dieser Frau, der freundlichen Mutter des Jungen, den ich geliebt und verloren habe, und gelobe hier und jetzt, mich zu bessern.

Ich werde nicht mit dem Bus in die finsteren Gegenden von Washington fahren.

Ich werde nicht in der Vergangenheit schwelgen.

Ich werde mich nicht aufgeben.

Ich werde nur Dinge tun, die mir guttun – und ich gebe einen Dreck darauf, was irgendjemand dazu sagt.

Melissa

Als er ihr zum ersten Mal begegnete, unterschätzte er das Mädchen. Damals wusste er nichts über sie, und bis zum heutigen Tag weiß er eigentlich noch immer nicht sehr viel. Er lernte zuerst ihren Bruder kennen und verbrachte viele Nächte mit ihm. Sie betranken sich, lernten sich besser kennen, und er kapierte, was für ein schrecklicher Mensch der Typ war. Er war eine Schlange, die über den Campus glitt, als wäre das Gelände ihr persönliches Jagdgebiet, in dem sie sich ihre Beute suchte.

Aber durch gründliche Beobachtung erkannte er, dass diese Schlange eine Schwäche hatte: seine Schwester, eine Naturgewalt mit pechschwarzem Haar und hellbrauner Haut. Als er die Schlange zu hassen anfing, bemerkte er, wie zart und empfindlich diese Schwäche war, und dass er über diesesMädchen wachte, als gäbe es auf der ganzen Welt nichts anderes, abgesehen natürlich von seinen eigenen perversen Begierden. Und als er sich davon überzeugt hatte, dass ihm die Schlange aus der Hand glitt, dass sie ihren Dreck überall verteilte wie eine hochmütige Seuche, da heckte der Junge einen Plan aus.

Der Dreck musste weg, und seine Schwester war nichts anderes als der Kriegsgrund.

Für einen Freitagabend ist das Haus ganz schön leer. Mein Dad ist bei einem Festessen wegen seiner Beförderung im Krankenhaus, und all meine Freunde sind auf einer Party. Nichts davon klingt verlockend.

Die Party wäre okay, wenn sie nicht in dem Verbindungshaus stattfände, in dem mein Bruder immer rumhängt. Ich kann mich da nicht mal amüsieren, weil er mich dauernd beschützen will. Es ist so nervig.

Das Festessen ist vielleicht die bessere Wahl, aber nur minimal. Mein Dad, der angesehenste Arzt dieser Stadt, ist als Doktor besser als in seiner Rolle als Vater … aber er gibt sein Bestes. Seine Zeit ist kostbar und teuer, und ich kann nicht mit kranken Leuten konkurrieren, deren Arztrechnungen ihm dieses grandiose Haus finanziert haben, in dem ich gerade herumsitze und mich beklage.

Ich fühle mich ein bisschen schuldig, als ich nach meinem Handy greife und meinem Vater texte, dass ich doch noch komme. Dann merke ich, dass es schon nach neun ist und das Festessen um acht angefangen hat, und mir wird klar, dass ich nur eine unwillkommene Unterbrechung wäre, was der sehr jungen Freundin meines Vaters einen weiteren Grund geben würde, sich über mich zu beschweren. Tasha ist nur drei Jahre älter als ich und schon seit über einem Jahr mit meinem Dad zusammen. Ich hätte ein bisschen mehr Verständnis dafür, wenn ich nicht mit ihr auf der Highschool gewesen wäre, wo ich mitbekommen habe, wie zickig und gehässig sie damals war. Oder wenn sie nicht so tun würde, als erinnerte sie sich nicht mehr an mich, obwohl ich verdammt genau weiß, dass das nicht stimmt.

Egal, wie unverschämt sie sich mir gegenüber verhält, bei meinem Vater beklage ich mich nicht über sie. Sie macht ihn glücklich. Sie lächelt, wenn er sie anblickt. Sie lacht über seine abgedroschenen Witze. Ich weiß, dass sie ihn nicht so gern hat, wie sie eigentlich sollte, aber ich habe gesehen, wie sich mein Dad zum Positiven verändert hat, seit sie mit einem gebrochenen Finger und vorwitzigen Titten in sein Büro kam. Mein Dad hat die Scheidung viel schwerer genommen als meine Mutter, die ziemlich bald verkündet hat, dass sie zurück nach Mexiko gehen würde, um bei meinen Großeltern zu leben, bis sie auf eigenen Füßen stehen könnte.

Ich weiß nicht, wem sie etwas vorzumachen glaubt. Bei der Scheidung wurde ihr eine so hohe Entschädigung zugesprochen, dass sie ihr Leben lang vom goldenen Löffel essen könnte.

Anstatt Tasha und Dad zu belästigen, schreibe ich Dan eine Nachricht. Er geht mit einem Mädchen aus, mit dem ich auf der Highschool war. Mein Bruder ist überfürsorglich und übertrieben loyal, aber er ist auch ein totales Schwein. Ich wiederhole: ein totales Schwein.

Ich tue mein Bestes, um mich aus seinen Spielchen herauszuhalten. Seine Freunde sind auch Schweine, die meisten sind jünger und noch schlimmer als er. Er umgibt sich gern mit Leuten, die genauso sind wie er selbst, damit er sich besser fühlen kann. Ich schätze, er wäre zu gern der König dieser miesen Ratten.

Dan antwortet schnell. Hole dich in 20 min ab.

Ich schicke ihm einen Smiley und springe aus dem Bett, um mich fertig zu machen. Ohne Make-up und in dem grauen T-Shirt der WCU kann ich nicht mitfahren. Ein bisschen besser sollte ich schon aussehen. Trotzdem muss ich bei der Wahl meines Outfits vorsichtig sein, wenn ich mir nicht den ganzen Abend das Gemecker meines Bruders anhören will.

Ich durchwühle meinen Wandschrank, durchsuche das Meer aus Schwarz und Pailletten. Ich habe zu viele Klamotten. Meine Mutter hat mir immer ihre gegeben, nachdem sie sie einmal getragen hatte. Mein Vater versuchte immer, sie mit funkelnden Kleidern und einem roten Sportwagen glücklich zu machen, aber irgendwie schien das Glück nie zu ihr zu kommen. Als sie uns verließ, bot sie mir an, mit ihr zurück nach Mexiko zu gehen. Aber so komisch es vielleicht auch klingt, ich wollte meine Schwimmmannschaft einfach nicht verlassen. Sie ist mir wichtiger als alles andere hier in Washington. Das Schwimmen wäre das Einzige – außer meinem Dad und Dan –, was ich vermisst hätte. Dan hat darüber nachgedacht, mit ihr zu gehen, aber er wollte mich nicht hier zurücklassen. Oder konnte es nicht, wenn man bedenkt, dass er mich dauernd im Auge behält.

Nachdem ich zwei Kleider anprobiert und sie wieder in den Schrank geworfen habe, ziehe ich einen Jumpsuit heraus, den ich noch nie getragen habe. Bis auf einen kleinen Aufdruck auf den breiten Trägern ist er ganz schwarz. Er sitzt eng genug, um meinen Hintern zu betonen, und er versteckt genug von meinem Körper, damit mein Bruder den Mund hält.

Als ich gerade fertig bin, höre ich draußen Dans schrille Hupe, und ich schnappe mir meine Handtasche und stürme die Treppe hinunter. Wenn ich mich nicht beeile, beklagen sich die Nachbarn wieder über den Lärm. Schnell tippe ich den Sicherheitscode ein und renne durch die Tür, und als ich Dans Wagen erreiche, bemerke ich, dass er zwei von seinen Machokumpels mitgebracht hat.

»Logan, lass meine Schwester vorn sitzen«, sagt Dan.

Ich war schon ein paarmal mit Logan unterwegs, und er war immer nett zu mir. Auf irgendeiner Party hat er mich mal angebaggert. Als ich von der Couch aufstand, war es dann so weit. Er merkte, dass ich mindestens fünf Zentimeter größer bin als er, und sagte, dass wir super Freunde sein könnten. Ich lachte und war beeindruckt von seinem Humor. Seitdem ist er mir von den Idioten aus der Clique meines Bruders der liebste.

»Schon gut. Ich steige einfach hinten ein«, sage ich, als Logan seinen Sicherheitsgurt löst. Ich schiebe mich auf den Rücksitz und entdecke einen Typen mit dunklem, lockigem Haar, das ihm ins Gesicht fällt. Es ist etwas seltsam auf eine Seite gekämmt, aber es passt perfekt zu den Piercings in seiner Augenbraue und Lippe. Als ich mich hinsetze und Hi sage, blickt er nicht mal von seinem Handy auf.

»Beachte ihn gar nicht«, sagt Dan und sieht mich im Rückspiegel an.

Ich verdrehe die Augen und hole mein eigenes Handy heraus. Schließlich kann ich mich auf der Fahrt auch selbst beschäftigen.

Vor dem Verbindungshaus gibt es keine Parkplätze mehr. Dan schlägt vor, mich davor abzusetzen, damit ich nicht laufen muss. Ich springe raus, aber als ich die Tür zugeknallt habe, höre ich, dass auch die andere zufällt. Ich blicke auf und sehe, dass der Typ von der Rückbank auf das Haus zugeht. »Blöder Wichser!«, schreit Dan ihm hinterher.

Der Fremde hebt die Hand und streckt den Mittelfinger aus.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ihnen lieber wäre, wenn du mit ihnen zusammen reingehst«, sage ich zu ihm, während ich ihm über den Rasen folge.

Eine Gruppe Mädchen starrt ihn an, als wir vorbeigehen; eine von ihnen flüstert einer anderen etwas zu, und alle starren mich an.

»Gibt’s ein Problem?«, frage ich und sehe in die aufgedonnerten, verzweifelten Gesichter. Alle drei schütteln die Köpfe auf eine Art, die mir zeigt, dass sie nicht damit gerechnet haben, zur Rede gestellt zu werden.

Okay, da haben sie sich getäuscht. Bei braven Blondinen, die über andere Leute lästern, um sich selbst wichtig zu fühlen, kenne ich keine Gnade.

»Wahrscheinlich haben sie sich gerade in die Hose gepinkelt«, sagt der Typ mit den Locken zu mir. Seine Stimme ist tief, sehr tief, und ich könnte schwören, dass ich einen englischen Akzent herausgehört habe. Er geht jetzt langsamer, dreht sich aber nicht zu mir um. Seine Arme sind mit Tattoos bedeckt. Ich kann zwar keins davon genau erkennen, sehe aber, dass sie alle schwarz sind. Kein einziges ist farbig. Das passt zu ihm, zu seiner schwarzen Jeans und dem schwarzen T-Shirt. Seine Stiefel machen ein dumpfes, stampfendes Geräusch auf dem weichen Rasen.

Ich versuche, mit seinem Tempo mitzuhalten, aber seine Schritte sind zu lang. Er ist groß, überragt mich um einige Zentimeter.

»Na hoffentlich«, erwidere ich und sehe mich noch einmal zu den Mädels um. Sie sind weitergegangen, starren jetzt ein betrunkenes Mädchen in einem kurzen Kleid an, das an ihnen vorbeistolpert, und zeigen mit dem Finger auf sie.

Der Typ sagt kein Wort mehr, als wir ins Haus gehen. Er sieht sich auch nicht zu mir um, als er in die Küche geht, den Deckel von einer Flasche Whisky dreht und einen Zug daraus nimmt. Jetzt bin ich erst recht neugierig auf ihn, und als Dan und Logan ins Wohnzimmer kommen, beschließe ich, etwas über den tätowierten Fremden herauszufinden. Ich nehme mir ein Glas Weinschorle von der Theke und gehe rüber zu meinem Bruder. Er sitzt auf der Couch, ein Bier in der Hand. Er riecht jetzt schon nach Gras, und als sich unsere Blicke treffen, sehe ich, dass seine Augen blutunterlaufen sind.

»Wer war der Typ auf der Rückbank?«, frage ich.

Seine Miene verändert sich. »Wer, Hardin?«

Es gefällt ihm nicht, dass ich gefragt habe. Hardin? Was ist das denn für ein Name?

»Halte dich von ihm fern, Mel«, warnt mich Dan. »Ich meine es ernst.«

Ich verdrehe die Augen und beschließe, dass die Sache es nicht wert ist, mich deswegen mit meinem Bruder zu streiten. Ihm hat noch keiner meiner Freunde gefallen, und trotzdem hat er versucht, mich mit seinem besten Freund zu verkuppeln, mit Jace – bei Weitem der widerlichste von seinen Kumpels. Offensichtlich schwanken die Ansprüche meines Bruders genauso wie sein Alkohol- und Marihuanakonsum.

Als mein Bruder auf ein leeres Kissen neben sich klopft, setze ich mich still zu ihm und beobachte für eine Weile die Leute. Die Musik wird lauter, die Leute geben sich ihren Drinks hin, ihren Stimmungen, der Atmosphäre.

Ein paar Minuten später, als Logan meinen Bruder fragt, ob er noch was rauchen will, sehe ich mich nach Hardin um. Ich glaube nicht, dass ich mich je an diesen Namen gewöhnen werde.

Aber dann sehe ich ihn, in der Küche allein am Tresen. Die Whiskyflasche ist jetzt viel leerer.

Er ist also ein Partytyp. Gut.

Ich stehe schnell von der Couch auf, zu schnell, und als Dan mich am Arm fasst, wird mir klar, dass ich mir besser einen Grund einfallen lassen sollte, warum ich den Raum verlasse. Wenn ich ihm erzähle, dass ich Hardin suchen will, kommt er garantiert mit.

»Wo gehst du hin?«, fragt er.

»Pinkeln«, lüge ich. Ich hasse es, dass er mich zwar dauernd zu diesen Partys einlädt, sich aber jedes Mal, wenn ich ihm von der Seite weiche, benimmt, als wäre er mein Vater.

Er starrt mich an, um herauszufinden, ob ich lüge, aber ich wende mich ab. Ich spüre seinen Blick auf mir, als ich das Wohnzimmer durchquere, also steuere ich auf die Treppe zu. Die Badezimmer in diesem riesigen Haus sind alle oben, was natürlich völlig unpraktisch ist, aber so ist das eben in Verbindungshäusern.

Langsam steige ich die Stufen hinauf, und als ich oben ankomme, sehe ich noch einmal meinen Bruder an. Dann drehe ich mich um und renne klatsch! gegen eine schwarze Wand.

Nur dass es keine Wand ist – sondern Hardins Brust.

»Scheiße, sorry!«, rufe ich und wische über den feuchten Fleck, den meine Weinschorle auf seinem T-Shirt hinterlassen hat. »Wenigstens gibt das keine Flecken.«

Seine Augen sind strahlend grün und so durchdringend, dass ich wegsehen muss.

»Haha«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme.

Unhöflich. »Mein Bruder hat gesagt, ich soll mich von dir fernhalten«, platze ich heraus, ohne nachzudenken. Sein Blick ist so durchdringend, dass es mich echt verrückt macht, aber ich will auch keinen Rückzieher machen und den Augenkontakt halten. Langsam ahne ich, dass er das gewöhnt ist. Ich ahne, dass man genau so gegen einen wie ihn verliert.

Er hebt die Braue mit dem Ring. »Ach, hat er das?«

Jepp, eindeutig ein englischer Akzent. Am liebsten würde ich einen Kommentar dazu abgeben, aber ich weiß, wie nervig es ist, wenn einen jemand darauf hinweist, wie man redet. Mir passiert das andauernd.

Ich nicke, und der Brite macht den Mund auf, um noch etwas zu sagen. »Und warum tut er das?«

Ich weiß es nicht … aber ich möchte es gern wissen.

»Wenn Dan dich nicht leiden kann, musst du echt schlimm sein«, witzele ich.

Er lacht nicht.

Meine Schultern sind total angespannt; Hardins Energie hat mich schon erfasst.

»Wenn wir seinem Urteil über uns vertrauen, sind wir alle völlig abgefuckt.«

Instinktiv will ich mit ihm streiten, ihm sagen, dass mein Bruder nicht so schlimm ist, dass er einfach missverstanden wird. Ich sollte ihn gegen diese Beleidigung verteidigen.

Aber dann erinnere ich mich an den Tag, als die ganze Familie von Dans letzter Freundin bei uns zu Hause aufgetaucht ist; das arme schwangere Mädchen hatte sich hinter ihrem wütenden Vater versteckt. Mein Dad hat einen Scheck ausgestellt, und dann ist die ganze Bande mit meiner Nichte oder meinem Neffen verschwunden, und wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört. Etwas in meinem Inneren sagt mir, dass mein Bruder eine wirklich dunkle Seite hat, aber ich weigere mich, mir das voll und ganz einzugestehen.