Begnadet - Band 1 - Die Gabe - Manuel Neff - E-Book

Begnadet - Band 1 - Die Gabe E-Book

Manuel Neff

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Beschreibung

Begnadet - Die Gabe All Age Fantasy Genremix ab 14 Jahren: Fantasy, Thriller, Msytery, Lovestory Die junge Kriminalpsychologin Emma Engel tritt voller Tatendrang ihren ersten Job an. Als sie ihren Arbeitsvertrag mit Blut besiegelt, scheint es zunächst nur ein makabrer Scherz zu sein. Doch schon bald wird Emma mit der Wahrheit über ihren neuen Arbeitgeber konfrontiert. Jeder des Elite-Instituts verfügt über eine einzigartige, übernatürliche Gabe. Als ein mysteriöser Mord das Institut erschüttert, wird Emma mit der Aufklärung betraut. Auf ihrer Suche nach dem Täter gerät sie immer tiefer in ein gefährliches Netz aus Intrigen und Verschwörungen. Sie erkennt, dass der Mörder kein Einzelgänger ist und Emma weiß nicht mehr, wem sie trauen kann und wem nicht.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 458

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Emma
Blut
TREECSS
KI-F
Machtverhältnisse
Selbstgespräche
Professor Meusburger
Bestimmung
Xmemorie
Asklepiosstab
Stechmücken
Vegimenü
Paolo Davidi
Talenttest
Sexy-Walk
Akte 53, Todesfall Julio Malleki
Zweikomponentenkleber
Tiefgarage
Karma
Das Mal
Catwalk
Tiefschlafphase
Todesangst
3000 PETA Flops
Refugium
Corona
Biblische Ausmaße
Geheimnisse
Systemzusammenbruch
Ascham
Artefaktenarchiv
Erwischt
Lektionen
Heinrich von Stephan Str. 4, 79100 Freiburg
Das Mal
Fakten, Fakten, Fakten
016-A4
Intuition
15130815 47°59’43"nB 7°51’11"öL
Gate 34
Karlas Akte
Davidis Büro
Über dem Mittelmeer
Alptraum
Der Schmetterling
Uniklinik Freiburg / Labor
Boing 747, EgyptAir Flug 672
Jarnos Gabe
Darknet
Anne
Kennwort
Rosastraße
Crash
Dr. Theresa Schulte - DNA
Krankenhaus
Intensiv 1
Jakar
Gruselig
SMS
Uniklinikum Notfallaufnahme
Uniklinikum
Intensivstation
Flucht
Nach Hause
Erwacht
Meisteranwärter
Klarträume
Gedanken
Die alten Meister
Das Ritual
Jarno
Aufgewacht
Motorradfahrt
Festgeschnallt
Déjà-vu
Motorradfahrt die zweite
Wieder festgeschnallt
Münster
Gefesselt
Flucht
Rettung
Postausgang
Museum - Wochen später
Ursprung
Viktor
Jarno

Impressum neobooks

Manuel Neff

Begnadet

Die Gabe

Band 1

Über den Autor

Manuel Neff, geboren 1973 in Offenburg, studierte BWL in Saarbrücken. Anschließend arbeitete er viele Jahre im Projektmanagement bei einem mittelständischen Automobilzulieferer. Mittlerweile ist er als freiberuflicher Autor, Moderator und Yogalehrer tätig und lebt in der Grimmelshausenstadt Renchen. Der magische Adventskalender war sein Debütroman. Er schreibt auch Bücher für Erwachsene. Die Begnadet-Trilogie und die Violet- Reihe.

Nach der Veröffentlichung des letzten Teils der Element High - Die Schule der magischen Kinder, hat sich Manuel Neff der Fortsetzung der Buchreihe gewidmet: Element High - Colleges. Doch die Reise der magischen Clique geht noch weiter.

Natürlich möchte er auch Zeit mit seiner Familie verbringen:

Zusammen mit seiner Frau wohnt Manuel Neff in einer kleinen Stadt am Rande des Schwarzwaldes.

Dort schreibt er derzeit an weiteren Geschichten, die den Leser in spannende Abenteuer und fremde, magische Welten entführen werden.

Manuel Neff

Begnadet

Band 1

Die Gabe

Impressum

2. Auflage

Texte: © Copyright by Manuel Neff

[email protected] / www.manuel-Neff.de /Akazienweg 20 / 77871 Renchen / Deutschland Cover Gestaltung: Manuel Neff

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors auch in Teilen oder Auszügen unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle Rechte vorbehalten.

Emma

Wenn wir unsere Seelenaufgabe kennen, und nach außen in die Welt tragen, geschehen Wunder. Die Seelenaufgabe ist der eigentliche Sinn des Lebens. Es geht darum, darin zu wachsen, das größtmögliche Potenzial auszuschöpfen und Samen zu säen, die anderen Menschen und der Erde nützen. Das hat einmal meine Adoptivmutter gesagt und seitdem ist es mein persönliches Mantra. Was ist meine Seelenaufgabe? Warum bin ich hier? Wie erkenne ich den Sinn meines Lebens? Möglicherweise werde ich ihm heute auf die Spur kommen, oder ich stehe mir wie immer selbst dabei im Weg, weil ich mich einfach nicht an irrationale Regeln, hinterwäldlerische Konventionen, oder sinnfreie Gesetze halten kann.

Ich liege eingerollt in unserem französischen Bett, eingekeilt zwischen den weißen Wänden. Durch das Sprossenfenster fallen die ersten Sonnenstrahlen auf Levis Foto, das auf meinem Nachttisch steht. Seine blonden Haare stehen ihm wild vom Kopf ab. Dafür war ich verantwortlich, erinnere ich mich. Ich hasse Ordnung und Regeln, bin Anarchistin und tobe mich zurzeit an seinen Haaren aus, schmunzle ich. Seine blauen Augen, das kantige Profil und die Nase passen perfekt zusammen. Mein Gott, ich könnte mich jeden Tag aufs Neue in sein Gesicht verlieben.

»Levi?«, rufe ich und meine Stimme verhallt in unserer zwei Zimmer Wohnung.

Stille. Keine Antwort von ihm. Nur der Nachbar meldet sich.

»Ruhe!«

Ein Blick auf den Wecker verrät mir, wie spät es ist. Kurz nach 6:00 Uhr. Wo steckt er nur? Ich kuschle mich auf meine Lieblingsseite in der Hoffnung, Levi würde mich jeden Moment mit einer duftenden, heißen Tasse Kaffee überraschen, doch ich warte vergeblich. Langsam klettere ich aus unserem Liebesnest. Auf dem Rand des Bettes bleibe ich für ein paar Momente sitzen, erstaunt darüber, wie anstrengend das Aufstehen war. Über acht Stunden Schlaf und dennoch bin ich noch hundemüde. Das Blutspenden ist schuld daran, denke ich. Levi hat mich zu dieser guten Tat überredet und mir höchstpersönlich das Blut abgenommen. Wie praktisch, wenn der eigene Freund ein Arzt ist.

Ich schleppe meinen schläfrigen Körper in das kleine Bad. Es hat sogar ein winziges Fenster, der einzige Luxus, den wir uns leisten können. Falls das heute mit meinem neuen Job klappt, dann werden wir uns schon bald nach einer größeren Wohnung umsehen gönnen.

Wieder überwältigt mich eine Müdigkeitsattacke. Ich muss ausgiebig gähnen und mich auf die Toilette setzen, um nicht der Länge nach umzukippen. Ich denke nach: Um 8:00 Uhr habe ich mich im Institut bei meinem zukünftigen Chef, Professor Georg Meusburger, einzufinden. Mir ist es immer noch ein Rätsel, wie ich es mit meinem durchschnittlichen Bachelor geschafft habe, dort einen Platz für meine Masterarbeit zu ergattern. Das TREECSS-Institut ist zwar nicht so bekannt wie das Fraunhofer, aber man sagt sich, es würde zur Elite zählen. Ich bin glücklich, denn ich habe dadurch die Möglichkeit meine Fähigkeiten als Psychologin unter Beweis zu stellen. Ich bin gespannt, wie hoch mein monatliches Einkommen sein wird, und male mir aus, was ich mir von meinem ersten Gehalt alles kaufen möchte. Auf jeden Fall werde ich verreisen, kommt es mir direkt in den Sinn und lache.

Plötzlich fühle ich mich sterbenskrank, gleite von der Toilette, schaffe es noch rechtzeitig, den Deckel zu öffnen und mich qualvoll zu übergeben. Das liegt an der Aufregung, rede ich mir ein. Schließlich will ich den hohen Erwartungen eines Elite-Instituts gerecht werden.

Ich richte mich zitternd auf, halte mich am Waschbeckenrand fest, betätige die Toilettenspülung und spüle mir auch den bitteren Geschmack aus dem Mund. Dann betrachte ich die schmale Gestalt im Spiegel. Ich sah definitiv schon mal gesünder aus, stelle ich fest. Neben der Lampe entdecke ich Levis Nachricht in Form eines gelben Post-ist auf dem Glas haften.

ILU Engel

Musste früher los.

SeeU

Darunter ist ein verkümmertes Herz. Zeichnen war noch nie seine Stärke. Ich schenke der Haftnotiz einen Handkuss und flüstere: »I love you too«, ziehe mich langsam aus, schnappe mir die Zahnbürste und stelle mich Zähne schrubbend mit hängendem Kopf unter die Dusche.

Beim Einseifen fallen mir gleich zwei Dinge auf. In meiner Armbeuge, dort wo mir Levi das Blut abgezapft hat, hat sich ein riesiger Bluterguss gebildet. Ich hoffe, er stellt sich bei echten Patienten besser an. Außerdem habe ich einen komischen Ausschlag direkt neben meinem Bauchnabel. Vage versuche ich, mich zu entsinnen, wie das gestrige private Blutspenden ablief. Ich bin tatsächlich in Ohmacht gefallen? Könnte gut sein, denn ich kann kein Blut sehen. Der Bluterguss wird mich noch lange an dieses Ereignis erinnern. Für den Ausschlag will mir allerdings keine vernünftige Erklärung einfallen. Vielleicht haben wir Bettwanzen oder ein anderes Ungeziefer, das sich unter der Decke versteckt hat. Ich beschließe, im Laufe des Tages irgendwo Halt zu machen und Insektenvernichtungsmittel zu kaufen, mit dem ich das Bett ausräuchern werde. Möglicherweise sollte ich zuvor aber noch Levi fragen, ob er eine bessere Idee hat, grüble ich, während ich mich abtrockne und anschließend anziehe. Ich föhne meine Haare und lege an meinem Gesicht letzte Hand an.

Schließlich blicke ich erwartungsvoll in den Spiegel. Eine Augenweide bin ich immer noch nicht, aber es muss reichen. Meine dunkelbraunen, glatten Haare hängen wie ein Duschvorhang links und rechts von meinem Gesicht herab. Die Ränder unter meinen Augen sind fast so blau und grün wie der Bluterguss in meiner Armbeuge. Fuck, ich sehe echt aus wie ein Zombie.

Mit dunklem Kajal und hellem Make-up korrigiere ich das Schlimmste und so langsam entpuppt sich die 20-jährige, junge Frau, an der Levi so gern herumknabbert. Man sieht es mir an, dass ich keine deutschen Wurzeln habe. Irgendwas Südländisches. Vielleicht italienische, spanische oder sogar lateinamerikanische Eltern, vermute ich.

Ein Gedanke führt zum Nächsten und so lande ich bei meiner Adoptivmutter, die gestorben ist, als ich erst sechs war. An meine leibliche Mutter erinnere ich mich überhaupt nicht mehr und meinen echten Vater habe ich ebenfalls nie kennengelernt. Es wäre ein Glücksfall, wenn ich das auch von meinem Adoptivvater und seinem Sohn behaupten könnte, denn die Beziehung zu ihnen war die reinste Hölle.

Meine Eingeweide ziehen sich zusammen, als weitere Erinnerungen in mir aufsteigen. Bilder des pompösen Hauses, in dem wir wohnten. Es steht heute noch in Oberau, einem der drei südlichen Stadtteile von Freiburg. Ich war dort seit Jahren nicht mehr. Genau gesagt, seitdem ich mit sieben von zuhause geflohen bin.

Ich betrachte meinen Oberkörper im Spiegel und sehe mir die Narben an, die mich immer daran erinnern werden, was mir in jenem Haus Schreckliches widerfahren ist. Eine Gänsehaut stellt sich auf meinen Unterarmen auf und ich flüchte mich in meinen Gedanken an andere Orte. Sehe mich im Sommer als kleines Mädchen bis an die Flussufer der Dreisam rennen. Dort lasse ich mir die frische Luft ins Gesicht wehen und lausche der Stille der Natur. Ich fliehe mich in die Farben der Weinhänge, verschlinge sie mit meinen Augen in meiner Fantasie. Ich ziehe mich zurück in die Ruhe, die mich umgibt, in die Erinnerung an mondlose Nächte, in denen ich mich unbemerkt aus dem Haus geschlichen habe. Und daran, wie ich mich in den leichten Nebeln versteckte, bis ich wieder gefunden wurde.

Es klappt. Mein seit Jahren antrainierter Schutzmechanismus funktioniert und beschützt mich. Die Gänsehaut legt sich und ich fühle mich besser. Ich unterdrücke erfolgreich die Ängste und Tränen, die nur den Kajal verwischen würden. Ich nehme ein paar dunkle Strähnen und verberge damit die fast verblasste Narbe, die quer von meiner linken Schläfe bis zu meinem Ohr verläuft. Das ist ebenfalls ein Geschenk meines Stiefbruders. Und dann holt mich meine zweite Vergangenheit ein. Die Zeit, die ich im Heim verbrachte. In der ich wieder allein war und ungeliebt. Denn niemand hat verstanden, warum ich so verstört war, und ich habe nie begriffen, aus welchem Grund ich den anderen Kindern mit meiner Zurückgezogenheit Angst eingejagt habe. Ich war immer die, die gewöhnungsbedürftig war. Die Fremdartige, Unnahbare, die, vor der man sich am besten fernhielt.

Aber das Heim war besser als mein altes Zuhause, in dem mein Stiefbruder, unter der Aufsicht seines Vaters, seine sadistischen Gewaltfantasien an mir ausleben durfte.

Mein Atem beschleunigt sich wieder und mein Herz schlägt mir plötzlich bis zum Hals. Emma, konzentriere dich auf das Positive. »Auf das Positive!«, sage ich streng zu dem Spiegelbild, das mich unverwandt anstarrt. Ich versuche, meinen Schutzwall wieder zu aktivieren.

Denke an Anne!

Anne, meine Adoptivmutter, war ein wundervoller Mensch. Sie schenkte mir jeden Tag die größte Kraft im ganzen Universum. Die bedingungslose Liebe einer Mutter. Sie kannte meine wahren Wurzeln, akzeptierte mich einfach so, wie ich war und versprach mir, dass ich eines Tages meine Seelenaufgabe und meinen Platz auf dieser Erde finden werde.

Ich lege mir den Schutzengel um den Hals, den sie mir geschenkt hat und streiche zweimal über das Medaillon. Ich betrachte die feine Goldarbeit im Spiegel. Sie hat ihn mir gegeben, kurz bevor sie mich verlassen hat. Damals war ich sechs. Ich schaffe es, mich zu beherrschen, und wische alle Erinnerungen und Tränen endgültig fort.

Ich habe jetzt Levi und er würde mir nie etwas Schreckliches antun. Er wird mich hoffentlich niemals verlassen und immer beschützen. Ich bin liebenswert und wenn ich will, kann ich sehr gut für mich selbst sorgen.

»Ich Emma, bin liebenswert. Emma, du bist liebenswert. Emma ist liebenswert«, wiederhole ich mein Mantra und schaue mich im Spiegel an. Anschließend tragen mich meine Füße über den Parkettboden bis in die Küche. Ich setze einen Tee auf, schmiere mir ein Honigbrot und betrachte das getrocknete Blut auf dem Stück Papier vor mir auf dem Tisch.

Blut

Der Arbeitsvertrag ist grau, faserig und alt wie Pergament und das Blut stammt von mir. Ich sehe es noch in jeder Einzelheit vor mir, wie der rote Blutstropfen begierig von dem Papier aufgesaugt wurde. So als hätte es schon lange nur auf diesen einen Moment gewartet, so als hätte das TREECSS nach meinem Blut gedürstet.

Ich lege das Honigbrot aus der Hand und halte den Vertrag zwischen meinen Fingern. Diesen mit einem Tropfen meines Blutes und dem Abdruck meines rechten Daumens zu besiegeln, sollte mich vielleicht misstrauisch stimmen. Andererseits hat es auch durchaus etwas Spannendes an sich, denn etwas Geheimnisumwobenes umgibt das TREECSS-Institut. Ein Blick auf die Küchenuhr drängt mich zur Eile. Ich gehe ans Fenster und rufe nach meiner Katze Inka, die noch nicht zum Fressen erschienen ist. Es ist eine vergebene Müh, den sie kommt nicht.

Ich stelle ihr eine Tagesration Trockenfutter auf das Fensterbrett und ein paar Minuten später habe ich unsere Wohnung verlassen und steuere auf meinen VW-Käfer zu, den ich in der Straße parallel zum Colombipark abgestellt habe.

Ich bin gerade im Begriff einzusteigen, als mich etwas Kleines, Schwarzes, Miauendes davon abhält. Inka kommt klagend und erzählend aus der Hecke geschlüpft, die die Straße vom dahinterliegenden Park abtrennt. Sie miaut wie eine Katze, die einen guten Fang gemacht hat. Einen Vogel oder vielleicht auch eine Maus.

Oh nein! Ich bringe es nicht übers Herz. Falls das kleine Geschöpf noch leben sollte, muss ich ihm helfen. Ich beuge mich, in der Hoffnung nichts Totes zwischen ihren Fängen zu entdecken, zu Inka hinunter.

»Na, was hast du denn da Nettes?«, frage ich leicht verängstigt meine kleine Heulsuse, die sich schnurrend um mein Bein herumwickelt. Ich sehe, was sie stolz zwischen den Zähnen herumträgt. Entdecke aber weder Fell noch Federn, sondern nur Blut und rotes Fleisch. Bevor mir das Frühstück hochkommt oder Schlimmer – ich wieder in Ohnmacht falle - wende ich mich ab. Da gibt es nichts mehr zu retten.

Plötzlich lässt Inka ihren Fang fallen und als ich begreife, was es ist, das da zu meinen Füßen liegt, wird mir doch noch übel. Ich stupse das Ding mit meinem Fuß an und verfolge geschockt, wie der abgetrennte Daumen eines Menschen ein Stück wegrollt. Irritiert stehe ich da und beobachte meine Katze, wie sie ihn ableckt.

»Pfui! Inka, lass das!«

Durchatmen! Mein Gott, jetzt nur nicht die Neven verlieren. Ein Daumen! Mir wird schwindlig! Ich fühle, wie meine Knie weich werden. Trotzdem bewege ich mich, wende mich von Inka ab, hin zu dem Gebüsch, aus dem sie zuvor gekrochen ist. Langsam und einem Nervenzusammenbruch nahe schiebe ich die Äste auseinander. Ich versuche, auf alles gefasst zu sein. Vielleicht stoße ich auf einen betrunkenen Obdachlosen, der es nicht mitbekommt, wenn ihm meine Katze einen Finger abbeißt. Macht Inka so etwas überhaupt? Ist mein Samtpfötchen zu so etwas fähig? Das ist doch totaler Quatsch!

Dann werde ich brutal mit der Realität konfrontiert. Mir bleibt das Herz stehen, als etwas überraschend Schweres auf meinen Unterarm rutscht. Etwas Grauenerregendes hat sich in den Ästen verheddert. Es ist die Hand zum fehlenden Daumen. Ich kreische, springe zurück, taumle, bis ich mit dem Rücken am Auto stehe und daran halb ohnmächtig herabrutsche. Eine Schwindelattacke überkommt mich. Ein älterer Mann kommt vorbei. Sein Hund verjagt Inka und er fragt mich, ob er mir helfen könne, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich benötige keine Worte, damit er begreift und selbst in dem Gebüsch nachsieht.

TREECSS

Mit zwei Stunden Verspätung befinde ich mich auf der A5 und bin unterwegs zum TREECSS-Institut, als mich die aktuellen Meldungen im Radio erneut an den Rand eines Schwächeanfalls schicken.

Eine Leiche wurde in den frühen Morgenstunden im Colombipark gefunden. Eine junge Frau hat das Opfer entdeckt.

Diese Frau war ich. Gut, dass sie nicht erwähnen, wie lange sie mich auf der Wache behalten mussten, bis ich wieder halbwegs gerade stehen konnte. Selbst Levi ist gekommen, um mir das Händchen zu halten und höchst persönlich meinen Blutdruck zu messen. Erst als mein Gesicht wieder Farbe angenommen hatte, fiel mir ein, dass ich unbedingt ins TREECSS muss.

Der Polizei zufolge handelt es sich bei dem Toten um einen Mann mittleren Alters. Keine Ahnung, woher sie das wissen, denn in den Nachrichten schildern sie nicht, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Sie erwähnen nicht, dass dem Opfer die Haut abgezogen und auf schrecklichste Art verstümmelt wurde.

Furchtbar, zu welchen Dingen Menschen fähig sein können, meint der Nachrichtensprecher. Im idyllischen Colombipark, wo Schlösschen, Kiefern und Blumenbeete keine 100 Meter von dem Ort entfernt liegen, wo die Polizei ihre Wache hat.

Ein Mord in Freiburg. Direkt vor unserer Haustür.

Ich schalte das Radio ab, kurble das Seitenfenster runter und atme ein paar Mal tief die sommerliche Luft ein. Das tue ich solange bis es mir wieder einigermaßen besser geht und ich die gruseligen Bilder aus dem Kopf verbannt habe. Circa drei Stunden nach dem Horrorerlebnis komme ich mit meinen samtroten Käfer auf dem weitläufigen Areal des Instituts an. Es ist über die A5 in fast genau fünfundvierzig Minuten Richtung Süden zu erreichen und liegt auf einer grün bewaldeten Anhöhe.

Das ganze Gelände und das ehemalige Schloss wurden von dem Institut bereits vor Jahrzehnten gekauft. Das habe ich im Internet recherchiert, doch das ist auch schon alles, das ich über das TREECSS in Erfahrung bringen konnte. Nachdem das Schloss und seine Nebengebäude drohten aufgrund fehlender Mittel zu zerfallen, wurde beschlossen, es in private Hände zu übergeben. Man erhoffte sich dadurch, ein Stück Kultur zu bewahren. Doch das, was ich jetzt von dem Gebäude durch die Windschutzscheibe sehe, ist garantiert nicht das, was sich Historiker unter Erhaltung vorgestellt haben.

Das alte Schloss ist zwar noch vorhanden, doch es macht lediglich einen Bruchteil des gesamten Komplexes aus. Es wurde von den Architekten des TREECSS in den modernen Neubau integriert. Mein Blick schweift über verspiegelte Glasfronten, kantige Bürotürme und verspielte, kirchenähnliche Nebengebäude, die mittels gläsernen Brücken auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verbunden sind. Ich bin ehrlich gesagt baff und habe nicht mit so etwas Imposantem gerechnet. Was alle Gebäude, sowohl das Historische wie die neuen Anbauten gemeinsam haben, sind die spitzen, geometrischen Strukturen, die in den Himmel ragen.

Ich steige aus meinem VW-Käfer aus, blicke zurück und von der Anhöhe des Anwesens eröffnet sich mir ein tolles Panorama. Das Rheintal mit den Vogesen ist in der Ferne zu sehen und Richtung Süden löst sich ein Dunstschleier auf und dahinter tritt der Jurakamm und die schneebedeckten Berge der Alpen hervor. Der Ausblick ist atemberaubend und lässt mich für einen Moment komplett vergessen, was ich heute Morgen Schreckliches erlebt habe.

Ich reiße mich los, denn ich muss weiter und wende mich wieder dem Institutsgebäude zu. In seiner ursprünglichen Form hat es sich hunderte Jahre im Familienbesitz der Familie Kaltenbach - einem alten Rittergeschlecht - befunden. Lediglich die verspielten Verzierungen an der Fassade und die geschwungene Freitreppe, die hoch zu den Eingangsportalen führt, erinnern noch an die alten Bilder im Internet.

Ich schreite die Treppe nach oben und stehe schließlich vor den verschlossenen Türen meiner zukünftigen Wirkungsstätte. Hier würde ich also endlich Geld verdienen. Aber zunächst inspiziere ich die Eingangstür. Es gibt keine Klinke oder Klingel. Ich lese den Namen, der in metallenen Lettern über den Türportalen prangt:

TREECSS

Was der Name des Instituts, diese sieben Buchstaben, bedeuten, konnte ich auch nach intensiven Recherchen nicht in Erfahrung bringen. Aber alles sieht bis jetzt sehr mysteriös aus und ich bereue es nicht, mein Studentenleben an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg hierfür einzutauschen.

Das Geräusch von aufspritzendem Kies und einem Motor, der brüllt wie ein wütender Dämon, lassen mich herumfahren. Ein pechschwarzer Porsche prescht ungezähmt auf das Institutsgelände. Mit schlitterndem Heck fräst er sich um die Ecke und parkt schließlich auf dem Platz unter den großen Bäumen.

Reiche Schnösel können sich wohl überall einkaufen, kommt es mir sofort in den Sinn. Ich spüre aber auch einen Funken Hoffnung in mir aufkeimen, denn der Fahrer wird mir bestimmt einen Tipp geben, wie ich in das Gebäude reinkomme. Ich bin verblüfft, als eine junge Frau aussteigt. Das Erste, was ich von ihr zu sehen bekomme, sind ihre schwarzen, eleganten, hochhackigen Schuhe und ihre langen, schlanken Beine. Sie kommt auf mich zu, bewegt sich mit perfekter Anmut und einer Selbstsicherheit, die ich mir nur erträumen kann. Sie trägt ihre dicken, blonden Haare in einem kunstvoll geflochtenen Zopf, der elegant über ihre Schulter fällt. Eine weiße Bluse und ein nicht zu kurzer, brauner Rock betonen ihre Figur und runden den Gesamteindruck ab. Ihr teures Auto zwinkert ihr mit den Scheinwerfern zum Abschied zu.

Als ich ihr beim Gehen zusehe, erinnert sie mich an einTopmodel. Sie entdeckt mich, lächelt mich an und als sie neben mir zum Stehen kommt, bekomme ich einen trockenen Mund, weil ich registriere, wie jung sie noch ist. Sie sieht kein Jahr älter aus als ich.

»Hallo, du schaust aus wie ich an meinem ersten Tag«, sagt sie mit einem flockenleichten bayrischen Akzent.

»Arbeitest du auch hier?« Toll, ich hätte erst denken sollen und dann reden. Was soll sie denn sonst hier machen?!

»Ich bin Luise, aber alle nennen mich einfach Lu und ja, ich gehöre zum TREECSS«, sagt sie beiläufig und streckt mir ihre Hand entgegen. Ich bemerke ihre perfekte gestylten Fingernägel, ihren kräftigen Händedruck und die warme, seidige Haut.

»Ich bin Emma«, sage ich schüchtern und kann den Blick nicht von ihren himmelblauen Augen nehmen.

»Emma? Das ist ein germanischer Name und bedeutet die Große und die Gewaltige. Ich stamme aus Schliersee in Oberbayern«, gesteht sie.

»Das hört man.«

»Ich kann das Bayerische einfach nicht ablegen.«

»Ich finde, es hört sich authentisch an«, sage ich. Sie lächelt mich wieder an. Die Art, wie wir uns begegnen, ist völlig unkompliziert.

»Du bis spät dran!«, vermutet sie ganz richtig.

»Das kann ich erklären. Ich habe heute Morgen etwas sehr Verrücktes und Gruseliges erlebt«, erwidere ich.

»Emma, pass auf. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich bin auch etwas in Eile. Wenn du Lust hast, treffen wir uns heute Mittag in der Mensa. Dann erzählst du mir alles und ich stell dir ein paar meiner Freunde vor? Aber jetzt muss ich los, meine Mitarbeiter warten bereits auf mich. Hast du deinen Arbeitsvertrag denn schon unterzeichnet?«

»Ja«, mit meinem Blut, will ich ergänzen, lasse es aber sein.

»Und auch eine Anfertigung ans Institut geschickt?«

Ich bestätige das ebenfalls.

»Mit welchem Finger hast du ihn besiegelt?«, will sie wissen und ich zeige ihr meinen rechten Daumen.

»Gut, halte ihn hier hin«, bittet sie und zeigt mir eine kleine unscheinbare Glasplatte auf dem linken der beiden riesigen Türflügel. Sie ist eingebettet in ein Ornament, das sich bei näherem Betrachten als abstrakter Schmetterling entpuppt.

Ich höre, wie sich schwere Riegel zur Seite schieben. Als der Letzte in seiner Endposition einrastet, vibrieren die Türen wie bei einem kleinen Erdbeben und schwingen majestätisch auseinander.

Fast schon zwanghaft erinnere ich mich an die Tore von Moria aus Der Herr der Ringe Saga. Dort sagte Gandalf das Wort Mellon, damit sich die Tore öffnen. Hier wird ein Freund an seinem Fingerabdruck erkannt. Andere Welt. Andere Zeit. Wobei Fingerabdrücke bei den Möglichkeiten der hochauflösenden Fotografie doch gar nicht mehr so sicher sind. Im nächsten Moment schlüpfe ich hinter Luise ins Innere und die mächtigen Türen schließen sich wie von Geisterhand, nachdem wir sie passiert haben.

Luise wendet sich mir zu. »Weißt du, wo dein Gate ist?«, fragt sie.

»Ich muss zu Herrn Meusburger, aber wir haben noch nie miteinander gesprochen. Vielleicht weiß er nicht einmal, dass ich heute komme.«

»Dieser Name ist das, was wir brauchen. Und glaub mir, Professor Meusburger weiß alles. Nichts wird hier dem Zufall überlassen und schon gar nicht die Auswahl, wer zur Familie gehört und wer nicht. Komm, ich zeige dir, wie du dich zurechtfindest.«

 Wir stehen in einem Raum, der einen Halbkreis beschreibt. Hinter uns sind die Eingangstüren und eine weitere Glasplatte mit Schmetterling. Mein Fingerabdruck wird also auch nötig sein, wenn ich das Institut verlassen will. Vor uns sehe ich drei Fahrstuhltüren. Luise führt mich zu einem Touchscreen, der vor den Fahrstühlen auf einem drehbaren Sockel montiert ist. Die Büste des Gründervaters der Einrichtung hätte hier auch gut hingepasst.

Mit ihrem Daumen, langsam gewöhne ich mich an dieses genetische Kennwort, welches alle Schlüssel, Chipkarten und Passwörter ersetzt, erweckt sie ein holografisches Gesicht einer jungen Frau zum Leben. Es schwebt vor mir im Raum und dann erklingt eine Stimme: »Guten Morgen Dr. Kleist, es ist 10:23 Uhr. Sie sind heute spät dran.«

Doktor?

»Guten Morgen, Eva. Ich bin in Begleitung.« Luise schaut mich mit ihren blauen Augen an. »Emma und wie noch?«

»Engel«, höre ich die unverwechselbare Computerstimme aus den Lautsprechern meinen Nachnamen sagen.

»Was für ein schöner und treffender Nachname«, lächelt Luise und wendet sich dann wieder dem Hologramm zu. »Eva, würdest du bitte Emma Engel an ihrem ersten Tag helfen, sich zurechtzufinden?«

»Natürlich Dr. Kleist, ich stehe Frau Engel zu Diensten.«

»Danke Eva.«

»Das ist eine Selbstverständlichkeit. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.«

Lu nickt und dann schenkt sie mir ihr makellos weißes Lächeln und sagt: »Ihr Kommunikationsverhalten muss ich unbedingt verbessern. Sie ist noch etwas hüftsteif.« Sie meint offensichtlich das Computerprogramm. Wow, hat sie das etwa programmiert? »Eva ist eine KI-F«, erklärt Luise weiter. Ich nage auf meiner Unterlippe herum und höre sofort wieder damit auf, als es mir auffällt. »Eine KI-F?«, frage ich.

»KI steht für Künstliche Intelligenz und das F steht einfach nur für Freiheit. Sie besitzt einen fünfzigprozentigen Freiheitsgrad für Emotionen und Lernfähigkeit. Die zweite Hälfte wird durch determinierte Programmcodes gesteuert, die vor allem ihr soziologisches Verhalten und ihre rationalen Entscheidungen kontrollieren.«

»Hört sich interessant an, eine Künstliche Intelligenz die sich selbst weiterentwickelt und in der Lage ist, Beziehungen aufzubauen«, sage ich flugs.

Luise schaut mich überrascht an.

»Gut kombiniert. Bist du Softwareentwicklerin?«

»Oh Gott nein, ich habe Psychologie studiert.«

»Du würdest gut in mein Team passen. Oh, jetzt muss ich aber wirklich los. Eva wird dir helfen. Wir sehen uns dann gegen 12:00 Uhr in der Mensa. Ich bin gespannt auf deinen ersten Eindruck des TREECSS.«

»Okay«, sage ich kopfnickend.

»Pfiaddi Emma«, zwinkert sie zum Abschied. Ich lächle ebenfalls, wenn auch bestimmt nicht so perfekt. Luise Kleist befiehlt mit ihrem Fingerabdruck einen Fahrstuhl herbei und dann ist sie schon in dem Gebäude verschwunden. Ich gehe auf das Hologramm zu und räuspere mich, bevor ich mich persönlich vorstelle.

KI-F

»Hallo Eva, wie geht es Ihnen?«, sage ich zu Eva.

»Hallo Frau Engel. Ich bin Eva, niemand spricht mich mit Sie an.«

Das ist nicht die Antwort, die ich erwartet habe.

»Dann bin ich einfach nur Emma. Gleiches Recht auf beiden Seiten.«

Stille und dann ...

»Hallo Emma.«

»Hi Eva. Wie hat du mich vorhin erkannt?«

»Es ist genügend organisches Gewebe von dir in diesem Raum vorhanden, um dich zu identifizieren.«

Organisches Gewebe, um mich zu erkennen? Es steckt wohl doch mehr hinter dem Sicherheitssystem, als nur ein simpler Fingerabdruck.

»Eva?«, frage ich.

»Zu Diensten.«

»Heute ist mein erster Tag und ich möchte gerne wissen, wo ich Professor Meusburger finde und wie ich dann von ihm zur Mensa komme«, sage ich und überlege kurz, ob diese geschachtelte Frage zu anspruchsvoll für eine KI-F ist? Aber meine Sorgen sind unbegründet, denn das Hologramm flackert kurz auf, um sich dann in drei Hälften aufzuteilen. Links befindet sich weiterhin Evas neutrales, weibliches Gesicht, daneben sehe ich eine Karte mit meinen Standort und darunter der Ort, wo ich hinsoll: Ebene 3, Gate 13, Professor Georg Meusburger - Teamleiter GF, steht da und auf dem Gebäudeplan leuchtet eine blaue Linie, die den Weg nachzeichnet, den ich gehen soll. Ich starre fasziniert auf das Hologramm. Rechts daneben sehe ich, wo es zur Mensa geht: Ebene 0, Gate Mensa. In einer schwebenden Gedankenblase steht eine Bemerkung: Geschätzte Dauer bei normaler Schrittgeschwindigkeit: 1,6180339 Minuten bis zur Ankunft.

Ich freue mich über so genaue Informationen.

»Danke Eva, das ist super.«

»Sehr gerne. Kann ich noch etwas für dich tun?«, fragt mich die KI-F.

»Eine Frage hast du noch nicht beantwortet.«

»Bitte stelle sie erneut.«

»Wie geht es dir?«

Ein paar Sekunden lang sagt Eva gar nichts und ich sehe dem Hologramm an, dass die KI-F überlegt.

»Das hat mich noch nie jemand gefragt.«

»Ich mag erste Male. Positiv oder negativ; sie sind immer unvergesslich.«

»Ich muss erst nachdenken, wie es mir geht«, gesteht Eva nun.

»Gut, dann verschieben wir das auf später«, lächle ich und bin irgendwie froh darüber, dass Eva nicht einfach nur gesagt hat, dass es ihr gut geht. »Ich wünsche dir einen angenehmen Tag.«

»Wieder ein erstes Mal«, sagt Eva.

»Jetzt sag nicht, dass sich das noch nie jemand gewünscht hat.«

»Ich soll das nicht sagen? Ist das ein Befehl?«

Da bemerke ich, dass ich die KI-F verwirre, weil ich sie wie einen normalen Menschen behandle.

»Eva, wenn ich dir einen Tipp geben darf, dann dieser: Sein ein bisschen anarchistischer. Ein Befehl zu befolgen, ist nicht immer der beste Weg, ein Problem zu lösen. Hier ein Beispiel: Wenn ich an einer roten Ampel stehe und kein Auto kommt, dann gehe ich einfach über die Straße. Der Befehl lautet zwar, bleib stehen, bis es grün wird, aber das ergibt keinen Sinn! Die Ampel soll den Verkehr regeln und ihn nicht blockieren. Also verhalte ich mich logisch und laufe los. Du bist doch eine KI-F, also benutze deinen Freiheitsgrad!«

»Mir hat noch niemand einen angenehmen Tag gewünscht. Danke, Emma. Ich wünsche dir auch einen schönen Tag.«

»Danke«, grinse ich, wende mich dem Fahrstuhl zu und rufe ihn mit meinem Daumen herbei. Da flackert Evas Hologramm noch einmal hinter mir auf und ich höre ihre sanfte Stimme, die sich schon viel weniger elektronisch anhört.

»Emma?«

»Ja? Ich stehe hier drüben.«

»Ich finde dich sympathisch und ich wünsche dir eine erfolgreiche Zeit im Institut. In deiner Nähe empfinde ich Wärme und Zuneigung. Das fühlt sich gut an«, sagt sie. Ich fasse mir an den Mund und muss mir ein Lachen verkneifen. Ich verstehe nun, was 50% Freiheitsgrad und Lernfähigkeit bedeuten.

»Ich finde dich auch sehr nett«, sage ich fröhlich und dann zischen die beiden Fahrstuhltüren direkt vor mir auseinander. Ich frage mich, wann es so etwas in meinem Leben schon einmal gegeben hat. Zwei Begegnungen so kurz aufeinander, bei denen man sich offen gesteht, wie sympathisch man sich findet. Das war ein weiteres erstes Mal und dabei spielt es für mich nicht die geringste Rolle, dass es sich bei der zweiten Person um eine künstliche Intelligenz handelt.

Machtverhältnisse

Alex starrt ins Leere. Die Leiterin von Gate 11 kann ihn nicht aus der Fassung bringen. Abgebrüht lässt er die Strafpredigt über sich ergehen. Alex mag es nicht, fremdgesteuert zu werden.

Schon vor Jahren wurde er aufgrund seiner Führungs- und Methodenkompetenz zu den Außenteams beordert. Ihm wurde gesagt, er sei ein High Potential. Anfangs war er begeistert. Reisen, fremde Kulturen und flexibel in äußerst kniffligen Situationen ein Team zu koordinieren. Das war eine großartige Herausforderung und ein wirklich großer Job. Zu seinen erfolgreichsten Einsätzen zählt jener vor fünf Monaten in Peru: Die Nazca-Ebene. Eine riesige Wüste, die nach der Stadt Nazca benannt wurde.

Auf der Ebene sind auf ungeheuer großen, uralten Scharrbildern Vögel, Menschen, Affen, Wale und andere Wirbeltiere abgebildet, die nur vom Flugzeug aus zu erkennen sind. Das größte Bild, ein Vogel, hat von der Schnabelspitze bis zum Fußende eine Länge von fast zwei Kilometern. Diese Bilder werden als Nazca-Linien bezeichnet. Über ihr Entstehen gibt es neben wissenschaftlichen Theorien zahlreiche weitere Spekulationen. Von prähistorischen, spirituellen Naturvölkern, bis hin zu Landebahnen für Außerirdische. Alex kennt die wahre Geschichte hinter den Scharrbildern. Ein Geheimnis, das nur den Kristallkindern bekannt ist und im Artefaktenarchiv des TREECSS vor dem Rest der Welt geheim gehalten wird.

Alex erledigt seine Aufträge ohne nennenswerte Verluste oder großes Aufsehen und mit einer bestechenden Erfolgsquote. Mittlerweile scheinen sich die Schwerpunkte seiner Arbeit jedoch auf hausinterne, politische Auseinandersetzungen zu konzentrieren, denn die Amtsbestätigung der Institutsleitung steht bevor.

Sie findet alle drei Jahre statt und dieses Mal ist bei seiner Chefin eine enorme Anspannung zu spüren. Wobei ihr doch klar sein muss, dass es keine Veränderungen geben wird. Nicht solange die Mehrheit des TREECSS der Institutsleitung vertraut, denn ein Leiter kann nur durch ein Misstrauensvotum aus dem Amt entlassen werden. Somit ist die Bestätigung eine rein formelle Sache.

Angelique, Alex‘ Auftraggeberin, ist keine Bürokratin oder Strategin. Sie ist vielmehr religiös und ein Arbeitstier. Wenn es sein muss, geht sie für Stufen auf der Karriereleiter auch über Leichen. Die kleine rothaarige Leiterin von Gate 11 hat sich hinter ihrem Schreibtisch erhoben und brüllt Alex an. Ihr Gesicht läuft so rot an wie die Farbe ihrer Haare und aus ihren Augen springen grelle Funken, doch Alex bleibt cool.

Es ist nicht der erste Ausbruch, der einem Vulkan in nichts nachsteht, den er live miterlebt. Seine Rolle als Teamleiter des Außenteams LT 7 verpflichtet Alex dazu, die Anweisungen der Gate-Leitung zu befolgen. In diesem Fall geht es um Formalitäten, um leider erforderliche Bestimmungen. Überflüssig aus der Sicht von Angelique. Auslandseinsätze sind von einem der drei Institutsleiter zu genehmigen. Schriftlich und mit ihrem Blut besiegelt.

»Das werde ich als Erstes abschaffen, wenn ich die alleinige Institutsleitung übernehme«, flucht sie. Alex zieht eine Augenbraue hoch. »Wenn ich eine der drei Institutsleiter wäre«, fügt sie hastig hinzu. Angelique faucht wie ein Drache und ihr Kopf droht zu explodieren. Alex sieht ihre Zornesröte und keine Spur von Scham. Er weiß, sie hat soeben ihre wahren Absichten preisgegeben.

Selbstgespräche

Das alte Gebäude wurde hier perfekt mit ausgefeilter Technik und modernster Innenarchitektur kombiniert. Fahrstühle, eingelassen in massive Schlossmauern, Wandleuchter mit elektrischem Licht, das Sonnenlicht nachempfunden ist und vom Alter gezeichnete Parkettböden in schmalen Gängen mit satinierten Glastüren zu den einzelnen Gates. Hier und da ein tiefes Fenster, ein nachträglich angelegter Lichtschacht ins Freie oder ein Klimaschacht, der frische Luft hereinlässt. Und überall sind die geometrischen Formen präsent, die man oft an Kirchen und anderen alten Gebäuden sieht und ich auch schon im Freien entdeckt habe.

 Ich bin angetan und fühle die Energie des Instituts, die jener in freier Natur sehr ähnelt. Ich bin eine ganze Weile unterwegs, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Dann betrete ich wieder einen Gang mit abgehenden Türen und lese auf der ersten rechts von mir Gate 11. Gleich bin ich am Ziel und spüre, wie das Blut schneller durch meine Adern gepumpt wird. Selbstverständlich bin ich etwas nervös, meinem Chef das erste Mal gegenüberzutreten. Ein bisschen Adrenalin kann nicht schaden, beruhige ich mich.

Ich überlege, wie ich das Gespräch beginnen soll. Hallo, ich bin Emma Engel. Oder: Guten Morgen, mein Name ist Frau Engel.

Ich wünschte, ich hätte mir vorher einen passenden Satz zurechtgelegt, anstatt kurz bevor ich Gate 13 betrete, darüber nachzudenken, wie ich meinen ersten Eindruck gestalten soll.

Mir springt fast das Herz aus der Brust, als mit einem Knall eine Tür auffliegt und ein junger Mann herauskatapultiert wird.

»Ich will diesen Auftrag haben! Lass dich hier nicht mehr ohne dieses verdammte Blutsiegel blicken, sonst schlitze ich dir höchst persönlich die Kehle auf. Und pass auf, dass der Alte nicht das ganze Pergament mit seinem Blut besudelt! Und jetzt raus hier!«

 Die letzten Worte hätte sich die Frau auch sparen können, denn der junge Mann ist ja schon draußen. Mein Gott, bin ich erleichtert, dass es eine Frauenstimme ist, so kann es sich unmöglich um Professor Meusburger handeln. Ist das sehr egoistisch von mir? Ich stehe direkt vor dem neuen Kollegen. Er schließt die Tür nicht etwa verängstigt oder eingeschüchtert. Nein, im Gegenteil! Er schlägt sie zu und als es Wumm macht, zeigt er der satinierten Glasscheibe einen einzigen Finger, der keiner weiteren Erläuterung bedarf.

»Ist das die übliche Form, sich bei TREECSS zu verabschieden?«, frage ich und bin überrascht, wie schlagfertig ich gerade bin. Jetzt erst bemerkt er mich und zuckt unwillkürlich mit den Schultern. Ich weiß nicht, ob ich lächeln soll und schaffe es, keine Miene zu verziehen und so neutral, wie es mir in der peinlichen Situation möglich ist, dazustehen.

»Sie hat es verdient«, sagt er verstimmt. Die dunkelbraunen Locken stehen ihm zerzaust vom Kopf ab. Er hat eine hübsche Nase, ein kantiges Kinn und nette Augen. Ich schätze ihn auf Mitte Zwanzig. Er trägt dunkle, gepflegte Lederschuhe und einen schwarzen Designeranzug, der sehr teuer aussieht und perfekt seine schlanke Figur und seinen Hintern in Szene setzt. Er sieht sexy, cool und schön aus.

»Wenn sie nicht bekommt, was sie will, wird sie zum Tier«, brummt er beiläufig und legt den Kopf dabei leicht schräg, so wie es Jagdhunde tun, wenn sie etwas von der Beute abhaben wollen. Er hat eine auch schöne Stimmfarbe. So eine, der man stundenlang zuhören kann. »Sonst ist sie ganz okay. Sie hat noch nie jemandem die Kehle aufgeschlitzt«, fügt er hinzu, als ich nicht reagiere. »Ich habe dich hier noch nie gesehen. Hast du dich verlaufen?« So sehe ich also für ihn aus und beim Du ist er auch schon. »Hallo? Ich habe dich etwas gefragt. Sprechen kannst du doch, das hast du ja schon unter Beweis gestellt.«

»Mich? Ja, öhm, nein«, stolpere ich über meine eigenen Worte. Ich bringe ihn zum Lächeln. Ein süßes, charmantes Lächeln.

»Was denn nun? Hast dich verlaufen oder nicht?«, schmunzelt er.

»Ich bin unterwegs zu Gate dreizehn. Heute ist mein erster Tag. Ich geh dann mal weiter, bin spät dran.«

Der Gang ist nicht besonders breit und der junge Mann macht auch nicht viel Platz. Ich muss mich quer zu ihm stellen, um quetsche mich an ihm vorbei.

»Ich bin Alexander.«

»Und ich Frau Engel«, höre ich mich prompt sagen und kann nicht fassen, dass ich das wirklich gesagt habe. Er sieht mich an, als hätte ich plötzlich Corona oder eine andere ansteckende Krankheit.

Okay, kein Essen in der Mensa mit Alexander, überlege ich verstört und bin verwundert, wie mich dieser Mann so schnell verunsichern konnte. Ich gehe ohne ein weiteres Wort weiter und stehe schließlich vor Gate 13. Ich klopfe an, doch nichts geschieht. Ich versuche es nochmal. Wieder Fehlanzeige. Ich blicke auf meine Uhr und stelle fest, dass ich über zwei Stunden zu spät dran bin. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass ich heute eine Leiche finden würde. Plötzlich höre ich eine melodische Stimme vom anderen Ende des Gangs.

»Mit mir möchtest du nicht reden. Jetzt ist mir klar warum«, höre ich Alexander. Er ist noch da?! »Du scheinst dich ja prächtig mit Türen unterhalten zu können.« Er ist immer noch beim Du. Aber viel schlimmer ist die Tatsache, dass ich ein Selbstgespräch geführt habe, obwohl ich mir das schon lange abgewöhnen wollte.

Aber für dich bin ich immer noch Frau Engel! Dieses Mal höre ich meine Stimme nicht. Gott sei Dank!

»Wie geht die Tür auf?«, frage ich stattdessen.

Alexander sagt nichts und schenkt mir als Ersatz ein neckisches Grinsen. Fieser Kerl! Ich überlege und als ich die Erleuchtung habe, zeige ich ihm meinen Daumen. Dann schmunzle ich, weil das die Lösung ist. Als Antwort erhalte ich einen Daumen nach oben von Alexander, anschließend verschwindet er hinter einer der anderen Glastüren. So bei Gate 7 oder 8, schätze ich.

Professor Meusburger

Die Tür öffnet sich automatisch und zischt dabei wie eine Schleuse aus einem Science-Fiction-Film.

Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Vielleicht ein modern eingerichtetes Büro mit einem beeindruckenden Schreibtisch, hinter dem Georg Meusburger, mein neuer Chef, sitzen würde. Oder ein Labor mit einer sündhaft teuren, technischen Ausstattung, wie die an der Universität, nur viel besser.

Vielleicht haben mir auch die ersten Eindrücke des Anwesens, der Sportwagen, Lu, Eva und der teure Anzug von Alexander, eine außergewöhnliche Vorstellung meines zukünftigen Arbeitsplatzes suggeriert.

 Aber Moment mal, außergewöhnlich ist es hier. Ich habe noch nie zuvor ein solches Chaos gesehen.

Selbst das aus allen Nähten platzende Archiv an der Uni, ist im Vergleich hierzu superordentlich.

Meine Augen huschen reflexartig hin und her, verzweifelt auf der Suche nach einem Ruhepunkt.

Regale, bis zur Decke voll mit Papier, Büchern, Ordnern, sind als Raumteiler aufgestellt und lassen schmale Gassen entstehen. Dazwischen kann man sich bewegen, wenn man keine Angst hat, von einem fünf Kilo Wälzer erschlagen zu werden, der bedrohlich weit aus der obersten Regalreihe ragt.

Hier und da steht ein kleiner dreibeiniger Tisch, der entweder überquillt mit Landkarten, auf denen mit einer unleserlichen Handschrift etwas Wildes gekritzelt ist, oder mit aufgeschlagenen Büchern.

Die Tür zischt hinter mir zurück ins Schloss und ich wage es, ein paar Schritte tiefer in das Gate 13 einzudringen. Ich bin nicht abergläubisch, aber irgendwie macht mich die 13 nervös.

Über mir, in drei Metern Höhe, hängt eine Glühbirne ohne Schirm an der Decke. Die einzige Beleuchtung, die ich ausmachen kann. Ich hebe meinen Fuß, um über ein paar am Boden verstreute Aktennotizen zu steigen.

»Herr Meusburger sind sie hier?«, frage ich in die ausgefüllte Leere hinein. Der Raum ist viel größer, als ich bisher angenommen habe. Die Bücherregale sind nicht nur Raumteiler, sondern entpuppen sich nach kurzer Zeit als ein verwinkeltes Labyrinth.

Ich entdecke noch mehr russische Kronleuchter und biege an Abzweigungen ab, die überall vor mir aus dem Nichts auftauchen. Hoffentlich finde ich hier wieder hinaus, um mich zum Mittagessen mit Lu zu treffen. Die wird Augen machen, wenn ich ihr von Gate 13 erzähle.

»Von was?«

Ich erschrecke zu Tode, quietsche und hechte einen halben Meter zu einem Bücherregal. Mein Gott, ich bekomme einen abartigen Schreck. Hinter mir steht plötzlich ein grauhaariger, kleiner Mann.

Er sieht aus, wie man sich einen verrückten Professor vorstellt. Auf den zweiten Blick ist er gar nicht so winzig. Tatsächlich ist er genauso groß wie ich. Er tritt so nahe an ich heran, bis ich ihn riechen kann. Der Geruch kommt mir bekannt vor, aber mir fällt nicht ein, woher ich ihn kenne.

Ich schaue in sein argwöhnisches Gesicht und habe den dringenden Verdacht, dass ich schon wieder laut gedacht habe. Ich studiere seine knorrige Nase, die struppigen Haare und die zusammengekniffenen Augen, von denen trotz der Skepsis, die seine ganze Erscheinung ausstrahlt, eine vertraute Wärme ausgeht. Und dann erinnere ich mich plötzlich, nach was er riecht.

Nach Papier.

Er duftet wie ein Buch. Kein altes, Vermodertes, sondern wie ein Neues, Ungelesenes.

Angenehm, frisch und spannend.

»Sind sie Professor Meusburger?«

Er bewegt seine Oberlippe vor und zurück, dann öffnet sich sein Mund, um etwas zu sagen: »Ich habe doch schon notiert, dass wir keine Putzfrau benötigen. Was bilden die sich nur ein? Sieht es hier etwa aus, als müsste man sauber machen?« Er spricht kratzig. Und er redet nicht mit mir, sondern mit jemandem, der nicht anwesend ist oder mit sich selbst.

Der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber wenn er Georg Meusburger ist, dann ist er mein Professor und Chef.

Ich wage einen weiteren Versuch, das herauszufinden.

»Ich bin Emma Engel, studiere Psychologie und ich suche Professor Meusburger. Bin ich hier richtig?«, frage ich und hoffe inständig, dass Eva sich getäuscht hat. »Sind Sie Professor Meusburger?«

»Emma Engel? Psychologin?«, grübelt er und sieht mich von oben bis unten an.

»Ihr Aussehen ist gewiss nicht der Grund, weshalb sie sich diesem Studium verschrieben haben. Sie sind zu hübsch für eine angehende Psychologin. Ich nehme an, sie haben andere Komplexe.«

Wie bitte? Ich glaube, mich verhört zu haben. Was hat das damit zu tun und außerdem, apropos hübsch. Was ist dann mit Dr. Luise Kleist und Alexander? Die sehen im Vergleich zu mir perfekt aus. Als ich sein verzögertes Lächeln auf seinen schmalen Lippen sehe, registriere ich, dass er einen Scherz gemacht hat.

»Danke«, sage ich. »Ich würde das Kompliment bezüglich des Aussehens gerne zurückgeben, aber Sie werden mir das sicher nicht glauben«, purzeln die Worte unüberlegt über meine Lippen.

Was habe ich da gesagt? Das war´s. Ich habe den ersten Eindruck vermasselt.

Doch dann erschrecke ich wieder, weil der eigentümliche Mann so herzhaft lacht. Sein Kopf wird knallrot und er schnappt so heftig nach Luft, dass ich mir schon Sorgen mache, ihn reanimieren oder schlimmer noch, Mund zu Mund beatmen zu müssen.

Zum Glück beruhigt er sich wieder von seinem Lachkrampf und sieht mich mit tränennassen Augen an.

»Den ersten Test haben Sie bestanden, Emma.«

Der erste Test? Ich wusste gar nicht, dass ich Prüfungen zu bestehen habe.

»Ehrlich zu sein? Meinen Sie das? Das ist doch eine Tugend. Oder etwa nicht?«

»Genau, genau, aber sagen Sie das mal ihren Vorgängern.«

Meinen Vorgängern? In diesem Moment wird mir klar, dass er Georg Meusburger ist, doch ob ich darüber glücklich sein soll, steht noch in den Sternen.

Von meiner anfänglichen Euphorie, diesen Job und Möglichkeit, meine Masterarbeit zu schreiben, erhalten zu haben, ist in diesem Moment nicht mehr viel übrig.

Er zuckt mit den Schultern und sagt: »Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihrem Arbeitsplatz.«

Ich schiebe alle Vorurteile zur Seite und folge seinem vertrauten Papierduft bis ans Ende der Regale, wo er mich aufgespürt hat. Vier weitere Male biegen wir ab.

Der Raum erreicht Dimensionen, die mich an das Gewölbe einer riesigen Bibliothek erinnern. Wir gehen einige Stufen hinab in einen Bereich des Labyrinths, in dem sich die Bücherregale lichten und einem langen massiven Eichentisch Platz machen, der wie eine mittelalterliche Tafel den halben Raum für sich einnimmt.

Stehlampen mit grünen Schirmen aus Glas dienen als Beleuchtung und betonten die Bibliotheksatmosphäre. Der Tisch ist aufgeräumt. Ich sehe drei Laptops, davor ein paar Bücher und dahinter viele Kirchenfenster mit bunten, schönen Glasmalereien darauf, die nur spärlich Licht Einlass gewähren.

Daher die zusätzlichen Lampen, verstehe ich. Wir sind an der Außenmauer angelangt, Gate 13 endet hier und ich bin nicht die einzige Mitarbeiterin von Georg Meusburger. Das ist beruhigend.

Bestimmung

Viktor sitzt an dem langen Eichentisch in Gate 13 und versucht sich vergebens auf die Zahlenkolonnen zu konzentrieren, die vor ihm auf dem Monitor wie ein Sprühregen niederprasseln. Anfertigen von Analysen und die Entwicklung von theoretischen Konzepten gehören nicht zu seinen Stärken.

Sein erstaunliches Talent ist gänzlich anders angelegt. Es stellt sich ein warmes, heimeliges Gefühl in seiner Magengegend ein. In den nächsten Tagen wird das jahrelange Warten endlich ein Ende haben. Aber Emmas und seine gemeinsame Bestimmung muss geheim bleiben. Solange bis ihre Metamorphose abgeschlossen ist. Nur noch wenige Tage. Sein Smartphone vibriert und robbt auf dem Schreibtisch davon, als wäre es eine große schwarze Raupe. Eine verschlüsselte Nachricht kommt an.

Viktor arbeitet für Gate 13, für Georg Meusburger, aber diese Mitteilung erhält er nicht von seinem direkten Vorgesetzten. Sie kommt von einer anderen Person innerhalb der Mauern des Instituts und Viktors Loyalität ihr gegenüber ist unbeugsam. Viktor decodiert die Nachricht und liest sie leise in Gedanken: Emma ist im Institut. Auf dem Weg zu Gate 13. Sie wird in Kürze eintreffen.Ich zähle auf Sie, Viktor.

In diesem Moment betritt Meusburger mit Emma Engel den Raum.

Xmemorie

Georg Meusburger brummt: »Karla! Viktor! Ich will euch Emma Engel zeigen.«

Zeigen?!

Ich glaube, mich verhört zu haben. Was bin ich? Ein neues Inventar? Ein Möbelstück? Mich vorzustellen, wäre eine angemessene Bezeichnung. Umso mehr bin ich anschließend darüber erstaunt, dass Georg Meusburger tatsächlich den richtigen Ausdruck gewählt hat, denn ich stehe wie angewurzelt vor dem monströsen Tisch und die beiden Kollegen heften ihre Blicke an mir fest. Ich fühle mich wie ein Insekt unter einem Vergrößerungsglas.

Ich versuche, das zu ignorieren, und mache mir nun selbst ein Bild von meinen neuen Kollegen. Karla sieht aus wie eine Fledermaus Mensch Kombination. Sie hat ihren Körper in düstere, gruftige Kleidung gehüllt und ihre Haare reichen ihr bis zum Kinn, sind dick und pechschwarz. Sie hat ein ovales Gesicht, mit durchdringenden, dunklen Augen und ist hübsch, was zu großen Teilen an ihren dichten Wimpern liegt. Mir gefallen auch ihre reine, marmorgleiche Haut und der süße, geschwungene Mund. Karla ist eine gutaussehende, junge Frau, daran besteht gar kein Zweifel und jung passt auch ganz gut. Ich schätze sie auf Anfang zwanzig. Vermutlich macht sie auch ihren Master, so wie ich.

Ich lächle sie lieb an und bin sehr froh, als ich ebenfalls einen Ansatz eines verschmitzten Lächelns auf ihren geschwungenen Lippen sehe. Sie ist bestimmt glücklich, dass sie weibliche Gesellschaft bekommt, bei den schrägen Männern in Gate 13. Womit ich auch schon bei Viktor wäre.

Seine Eltern müssen hellseherische Fähigkeiten gehabt oder in eine Glaskugel geschaut haben, als sie seinen Namen auswählten. Viktor? Slawische, transsilvanische oder transsibirische Abstammung vermute ich und frage mich gleichzeitig, ob es so Letzteres überhaupt gibt.

Er ist, selbst hinter dem Monitor sitzend, größer als ich. Sein Gesicht ist wuchtig, blass und sein Körper muskulös und athletisch. Seine Augen sind enge Schlitze und während er mich betrachtet, habe ich das Gefühl, von stahlblauen Speerspitzen durchbohrt zu werden. Als ich versuche, auch ihn lieb anzulächeln, verzieht er keine Miene. Viktors bloße Anwesenheit lässt meine Knie erzittern. Ich blicke auf seine Hände, die riesig sind und habe plötzlich eine Heidenangst davor, dass er mir mit diesen Pranken wehtun könnte. Ein Schauer läuft meine Wirbelsäule hinab. Ich greife an den Schutzengel an meiner Brust, denke an etwas Positives und mein innerer Schutzschild fährt hoch.

»Ihr drei lernt euch später besser kennen. Dann werden Sie auch in die Spezialgebiete von Karla und Viktor eingewiesen«, sagt Georg Meusburger. Um ehrlich zu sein, will ich von Viktor in überhaupt nichts eingewiesen werden.

»Kommen Sie! Emma, kommen Sie! Wir gehen in mein Büro. Ich werde Ihnen einiges erläutern, was Sie wissen müssen.« Wie ein eingeschüchtertes Schulmädchen folge ich dem Professor. Die Tür zu seinem Büro befindet sich keine fünf Meter hinter dem Eichentisch und wird bewacht von je zwei mächtigen Bücherregalen zur Linken und zur Rechten.

Ich sehe mich noch einmal um. Karlas und mein Blick treffen sich und sie nickt mir aufmunternd zu. Wärme strömt von ihr zu mir und ich fühle mich sofort etwas besser. Ich glaube, sie mag mich vom ersten Moment an und das, obwohl ich noch nicht einmal weiß, ob sie überhaupt meine Sprache spricht. Viktor ertappe ich dabei, wie er mir hinterher sieht. Das macht ihn aber weder sympathischer, noch verliere ich vor ihm meine Angst, die instinktiv und ganz tief aus meinem Innern zu kommen scheint.

»Kommen Sie nur, kommen Sie nur, Emma. Ich beiße nicht«, höre ich die angeraute Stimme Meusburgers. Er steht in der geöffneten Tür und winkt mich zu sich. Zögernd, mit langsamen Schritten, befehle ich meinen Körper in sein Büro. Das Sonnenlicht kriecht durch zwei farbige Kirchenfenster und malt ein atemberaubend schönes Mosaik auf das Parkett und den Schreibtisch, den zwei grinsende Totenschädel an jedem Tischbein zieren.

Mein Chef setzt sich hinter seinen antiken Schreibtisch in einen braunen, vom Alter gezeichneten, Ledersessel. Mit einem belanglosen Wink gibt er mir zu verstehen, in dem nicht weniger alten, aber wesentlich unbequemeren Stuhl davor Platz zu nehmen.

»Frau Engel«, fängt er mit aufgesetzt geheimnisumwitterter Stimme an. »Es gibt hier bei TREECSS wenige, aber dafür außerordentlich ernst zu nehmende Prinzipien. Es ist meine Pflicht, Sie über die Inhalte und die Konsequenzen bei Zuwiderhandlung aufzuklären. Mit der Unterzeichnung des Vertrages haben Sie diesen ja bereits zugestimmt.« Er tippt mit seinem Zeigefinger dreimal auf ein Dokument, das auf dem Schreibtisch liegt. Es handelt sich um die zweite Ausführung meines Arbeitsvertrags. »Die Regeln sind einfach und kristallklar«, fährt Meusburger fort.

 Ich sehe unbewusst auf die zwei Kirchenfenster und bekomme ein komisches Gefühl in meiner Magengegend.

»Loyalität, Aufrichtigkeit, Tradition«, sagt Georg Meusburger. »Sei loyal in all deinem Handeln. Spreche mit keiner fremden Seele über deine Taten oder die des Instituts. Sei ehrlich in all deinen Gedanken. Sage nie die Unwahrheit. Sei ein Teil der alten Tradition. Lass uns alle an deinem einzigartigen Wesen teilhaben.«

Er macht eine Pause.

»LOYALITÄT«, er schließt seine Hand. »AUFRICHTIGKEIT«, sagt er mit geöffneter Hand. »TRADITION«, seine Finger werden wieder zur Faust.

Die Worte klingen wie ein Gebet und die drei Prinzipien wie der Vater, der Sohn und der Heilige Geist in meinen Ohren nach. Ich bekomme eine Gänsehaut.

»Ich verstehe jetzt, warum Sie vorhin von einem Test gesprochen haben. Ehrlichkeit ist eins der drei Prinzipien«, überlege ich laut. Mein Chef nickt anerkennend. Irgendwie tut dieses unausgesprochene Lob gut. »Sie sprachen auch von anderen Tests. Gibt es da noch Weitere?« Er sieht jetzt wieder ganz aus wie ein verwirrter Professor und kratzt sich am Schädel, bevor er spricht.

»Durchaus, durchaus. Jeder hier im Institut ist begabt. Begnadet auf eine ganz besondere, einzigartige Art und Weise. Das gehört sozusagen zum Stammbaum unserer Familie.« Ich erinnere mich nicht daran, in den Bewerbungsunterlagen etwas Derartiges gelesen zu haben und weiß nicht, wovon er spricht oder wen er mit Familie meint. Tatsächlich wusste ich bis vor wenigen Wochen noch nicht einmal von der Existenz dieses Instituts. Ich habe schon von Kommilitonen auf der Uni gehört, dass große und einflussreiche Firmen die Studenten noch vor ihrem Abschluss anheuern. Oft bekommen Psychologen Jobs in Personalabteilungen in der Industrie oder in Beratungsunternehmen. Gute Nachwuchskräfte sind gefragt und der Markt um junges Blut ist heiß umkämpft. Aber das trifft auf die wirklich guten Studenten zu, zu denen ich mich nie zählen durfte.

Ich war sehr erstaunt, als ich einen vorgefertigten Vertrag und das Angebot in meinem Briefkasten fand. TREECSS liegt in der Nähe Freiburgs und interessant klang die Aufgabe auch. Forschung, Projektmanagement und Feldversuche. Auslandsaufenthalte nicht ausgeschlossen. Und zudem besteht die Möglichkeit, meinen Master parallel zur Arbeit abzuschließen.

Plötzlich höre ich Meusburger weitersprechen.

»Wir beobachten unsere Kandidaten lange, wirklich lange, bevor sie selbst überhaupt auf den Gedanken kommen, sich bei uns zu melden. Emma, sagen Sie mir, warum haben Sie den Vertrag unterschrieben?«

»Weil ich glaube, das Richtige zu tun. Und weil ich stolz bin und mich geehrt fühle, so wie die Besten auf der Uni angesprochen zu werden«, sage ich aufrichtig. Weil ich auf der Suche nach meiner Seelenaufgabe bin, füge ich in Gedanken hinzu, und ein Gefühl mir sagt, dass ich sie hier finden werde.

»Ihr Notendurchschnitt ist beschissen. Weit unter dem Durchschnitt.«

»Das wussten Sie, nehme ich an, bevor Sie mir einen Vertrag zugeschickt haben«, erwidere ich trotzig.

»Richtig. Emma, selbst wenn Sie die Schlechteste wären, dann würden wir Sie trotzdem in unserer Familie aufnehmen wollen.«

Ich atme tief durch. Er spricht schon wieder von Familie. Als Adoptivkind wird mir bei diesem Gedanken ganz warm ums Herz.

»Emma, die Tests werden nur das bestätigen, was wir schon lange vermuten. Ihre besonderen Fähigkeiten sind für uns von allerhöchstem Wert. Sie sind für uns von allerhöchstem Wert. Sie werden hier nicht nur einen guten Master hinlegen und eine Arbeit finden, die Sie erfüllen wird, Sie werden auch endlich das Gefühl haben, angekommen zu sein.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, flüstere ich und ich habe Mühe die Tränen, die mein Gesicht überfluten wollen, zurückzuhalten. Dieser Mann und seine Worte bewegen mein Inneres und ich habe dafür keine Erklärung und keinen Schutzschild, den ich hochfahren könnte, um meine Gefühle zu verbergen.

»Sie haben kein Zuhause. Die Menschen finden sie seltsam. Sie haben in Ihrer Kindheit viel Schlimmes erlebt.« Ich streiche eine Strähne über die Narbe in meinem Gesicht. »Emma, Sie sind eine nette Person, hübsch dazu. Warum glauben Sie, haben Sie nie Anschluss gefunden?«

»Meine Adoptivmutter hat mich geliebt und ich habe seit einem Jahr einen festen Freund. Wir wohnen zusammen. Es gibt Menschen, denen ich etwas bedeute«, sage ich zu meiner Verteidigung.

Meusburger runzelt seine Stirn.