Behavioral Finance - Rolf J. Daxhammer - E-Book

Behavioral Finance E-Book

Rolf J. Daxhammer

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  • Herausgeber: UVK
  • Kategorie: Fachliteratur
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Seit über 50 Jahren dominiert die neoklassische Kapitalmarkttheorie unser Verständnis für die Abläufe an Finanzmärkten. Sie hat eine Vielzahl von Theorien und Konzepten (z.B. Portfoliotheorie, Capital Asset Pricing Model oder Value-at-Risk) hervorgebracht und basiert auf der Annahme eines streng rationalen Homo Oeconomicus. Das vorliegende Buch möchte Praktikern die Türe öffnen zu einer neu entstehenden, verhaltenswissenschaftlichen Sicht auf die Finanzmärkte in der ein realitätsnäherer Homo Oeconomicus Humanus an den Märkten agiert. Er setzt bei der Entscheidungsfindung begrenzt rationale Heuristiken ein und lässt sich von emotionalen Einflüssen lenken. Die Autoren schlagen zunächst den Bogen von der neoklassischen Sicht der Finanzmärkte zur Behavioral Finance. Anschließend werden spekulative Blasen, von der Tulpenmanie bis zur Subprime Hypothekenblase, als Anzeichen für begrenzte Rationalität an Finanzmärkten ausführlich vorgestellt. Danach stehen die Heuristiken bei Anlageentscheidungen an Wertpapiermärkten im Vordergrund. Die dadurch ausgelösten Verzerrungen werden entsprechend ihrer Risiko-/Renditeschädlichkeit im Rahmen des RRS-Index® eingeordnet. Abschließend werden Beispiele für die Anwendung der Behavioral-Finance-Erkenntnisse im Wealth Management und Corporate Governance diskutiert und es wird ein Blick auf aktuelle Entwicklungen der Neuro-Finance und Emotional Finance geworfen. In dieser Auflage neu hinzugekommen ist Financial Nudging, einer besonders vielversprechenden Anwendung von Behavioral Finance-Erkenntnissen.

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Informationen und Zusatzmaterial finden Sie unter http://www.uvk-lucius.de/behavioralfinance

Prof. Dr. Rolf J. Daxhammer lehrt an der an der ESB Business School in Reutlingen.

Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Internationale Finanzmärkte, Investmentbanking, Private Wealth Management, Behavioral Finance und Europäische Integration.

Máté Facsar ist als Institutional Sales Representative in der Market Data/Financial Software Industry tätig. Die enge Zusammenarbeit mit zahlreichen Investment Professionals ermöglicht ihm die Anwendung der Behavioral Finance im Asset und Wealth Management zu verfolgen. Nach Ausbildung zum Bankkauffmann folgte ein Studium der internationalen Betriebswirtschaft an der ESB Business School in Reutlingen.

Vorwort zur zweiten, überarbeiteten und erweiterten Auflage

Dass die erste Auflage von „Behavioral Finance“ so viel Interesse aus unterschiedlicher Richtung erregen würde, hatten wir gehofft, aber nicht unbedingt erwartet. Zudem waren wir davon ausgegangen, dass das Thema primär eine akademische Leserschaft, insbesondere Studierende, ansprechen würde. Die vielen Rückmeldungen, die wir erhalten haben und für die wir uns ganz herzlich bedanken möchten, lassen allerdings darauf schließen, dass das Buch auch in Kreisen interessierter Praktiker und politischer Entscheidungsträger Anklang gefunden hat. Die vielen damit verbundenen Hinweise und Vorschläge (aus Vorlesungen, Workshops oder Vortragsveranstaltungen) finden ihren Niederschlag in der Überarbeitung und Erweiterung für diese zweite Auflage.

Die zentrale Neuerung liegt darin, dass wir die Printversion und die E-Book-Version stärker auf unterschiedliche Zielgruppen ausrichten. So haben wir die „Lesbarkeit“ der Printversion für Praktiker und interessierte „Quereinsteiger“ nicht zuletzt dadurch erhöht, dass wir Übungsaufgaben, Exkurse und didaktische Zusammenfassungen den Lesern der Printversion über die buchbegleitende Webpage zugänglich machen. Und anstelle der QR-Codes wird in der Printversion ein „klassisches“ Glossar ans Ende gestellt.

Die E-Book-Version wird noch stärker an den Bedürfnissen von Studierenden und akademisch Interessierten ausgerichtet. Dazu werden weitere Übungsaufgaben angeboten, der Online-Wissens-Check wird um eine dritte Ebene/ Anforderungsstufe ergänzt und zur Vertiefung der Prospect Theory sollen Rechenaufgaben dienen.

Es freut uns auch, dass sich das Gebiet der Behavioral Finance in den letzten fünf Jahren inhaltlich dynamisch weiterentwickelt hat. Deshalb haben wir auch inhaltlich eine ganze Reihe von Ergänzungen vorgenommen. So wurden z.B. im Kapitel 5 weitere Spekulationsblasen analysiert. Völlig neu ist das Kapitel 12 zu Financial Nudging, einer besonders vielversprechenden Anwendung von Behavioral Finance-Erkenntnissen. In Kapitel 13 (vormals 12) wurden die aktuellen Erkenntnisfortschritte der Gehirnforschung berücksichtigt. Und die Literaturliste wurde um aktuelle Aufsätze und Bücher ergänzt.

So hoffen wir, dass „Behavioral Finance“ auch in seiner zweiten Auflage einerseits den Einstieg in die Welt verhaltenswissenschaftlicher Finanzmarktforschung eröffnet; andererseits aber auch genug Vertiefungsmöglichkeiten für diejeningen anbietet, die bereits erste Schritte in die Welt der Behavioral Economics oder Finance getan haben.

Rolf J. Daxhammer, Máté Facsar, Dezember 2016

Vorwort zur ersten Auflage

Seit über 50 Jahren dominiert die neoklassische Kapitalmarkttheorie unser Verständnis für die Abläufe an Finanzmärkten. Sie hat eine Vielzahl von Konzepten und Modellen (z.B. Portfoliotheorie, Capital-Asset-Pricing-Model, Black-Scholes Option Pricing oder Value-at-Risk) hervorgebracht und basiert ganz wesentlich auf der Annahme eines streng rational handelnden Homo Oeconomicus.

Das vorliegende Lehrbuch möchte Studierenden und Praktikern die Türe öffnen zu einer neu entstehenden, verhaltenswissenschaftlichen Sicht auf die Finanzmärkte, in der ein realitätsnäherer Homo Oeconomicus Humanus an den Märkten agiert. Er setzt bei der Entscheidungsfindung begrenzt rationale Heuristiken ein und lässt sich von emotionalen Einflüssen lenken. Dabei geht es nicht darum, das Verhalten des Marktteilnehmers als richtig oder falsch zu werten. Vielmehr soll der Leser einen Eindruck gewinnen, dass unterschiedliche Blickwinkel auf das Geschehen an Finanzmärkten möglich sind. Welcher Blickwinkel in einer spezifischen Konstellation der Realität besser geeignet ist, diese Realität zu erfassen, dürfte für sich schon ein fruchtbares, neues Forschungsgebiet darstellen. Insofern geht es nicht darum, die neoklassische Kapitalmarkttheorie durch Behavioral Finance zu ersetzen, sondern vielmehr darum, sie in diese Richtung zu öffnen und die angestoßene Paradigmenerweiterung durch die Behavioral Finance vorzustellen.

Im Ablauf des Studiums kann das Lehrbuch vorlesungsbegleitend zu einer Behavioral Finance-Veranstaltung im Undergraduate-Bereich im letzten Studienjahr und in der 2. Hälfte eines MBA-Programms eingesetzt werden. Statistische Vorkenntnisse und erste Einblicke in die neoklassische Kapitalmarktheorie sind für die Leser von Vorteil. Der Inhalt ist in zwölf ähnlich lange Kapitel eingeteilt, die z.B. im Wochenrhythmus erarbeitet werden können. Ein Wissens-Check zur Überprüfung der Lernfortschritte steht für die Studierenden als web-basierte Anwendung zur Verfügung. Dozenten erhalten Zugang zu einer begleitenden Vorlesungspräsentation. In vertiefenden Master-Programmen (MSc oder MA) eignet sich das Lehrbuch mit Hinweisen auf weiterführende Literatur als Einstieg in das Thema.

Inhaltlich schlägt das Lehrbuch zunächst den Bogen von der neoklassischen Sicht der Finanzmärkte zur Behavioral Finance. Anschließend werden Spekulationsblasen, von der Tulpenmanie bis zur Subprime-Hypothekenblase, als Anzeichen für begrenzte Rationalität an Finanzmärkten ausführlich vorgestellt. Danach stehen die Heuristiken bei Anlageentscheidungen an Wertpapiermärkten im Vordergrund. Die dadurch ausgelösten Verzerrungen werden entsprechend ihrer Risiko-/Renditeschädlichkeit im Rahmen des RRS-Index® eingeordnet. Abschließend werden Beispiele für die Anwendung der Behavioral-Finance-Erkenntnisse im Wealth Management und Corporate Governance diskutiert, und es wird ein Blick auf aktuelle Entwicklungen der Neuro-Finance und Emotional Finance geworfen.

Anhand der Anwendungsbereiche der Behavioral Finance ist nachvollziehbar, dass der Erkenntnisprozess in vielen Bereichen erst ganz am Anfang steht. Insofern ist das Lehrbuch auch keine Sammlung bewährten, gut „abgehangenen“ Wissens, sondern der hoffentlich spannende Einblick in das Entstehen eines „jungen“, aufregenden Forschungsgebiets, der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung.

Rolf J. Daxhammer, Máté Facsar, Juli 2012

für Gela Daxhammer

sowie für Josef Daxhammer

und Katharina Daxhammer

für Fanny Facsar

und Gábor Facsar

Einleitung

Tausende Business-School-Studierende lernen weltweit, mittels der Portfoliotheorie von Harry Markowitz oder des Capital-Asset-Pricing-Modells von William Sharpe die Risiken von Investments zu bewerten und die erwarteten Renditen zu errechnen. Das schwedische Nobelkomitee zeichnete die zugrunde liegenden wissenschaftlichen Errungenschaften vielfach aus und die Konzepte und Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie finden in der Praxis von Portfoliomanagern und Finanzvorständen breite Anwendung. Worauf basieren diese Modelle? Wie weit sind sie in der Lage, die Wirklichkeit abzubilden? Ist zu erwarten, dass die Marktteilnehmer (primär Anbieter und Nachfrager an den Finanzmärkten) den Konzepten und Modellen folgen und diese in Ihre Finanzentscheidung einbeziehen?

Die Konzepte und Modelle der traditionellen Ökonomie verdeutlichen, was nach wie vor die Mehrheit der Ökonomen annimmt: nämlich die Existenz fundamental effizienter Märkte. Danach können, zumindest systematisch, keine Manien, Paniken oder Crashs am Kapitalmarkt entstehen, denn die Märkte sind effizient und bewirken volkswirtschaftlich die beste, paretoeffiziente Allokation der Ressourcen.

Diese Sichtweise wird mit der Analyse von Spekulationsblasen im zweiten Abschnitt dieses Buches zunehmend in Frage gestellt. Die Finanzkrise ab 2008 als jüngstes Beispiel für spekulative Marktentwicklungen ist ein Exempel für die Existenz fundamental begrenzt rationaler Märkte. So entstanden im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Spekulationsblasen, weil die Marktteilnehmer der „Spekulation“ verfielen und z.B. auch dann noch kauften, als sie schon ahnen konnten, dass die Spekulationsobjekte deutlich überbewertet waren.

Die verhaltenswissenschaftliche Forschung hat in den letzten 30 Jahren zahlreiche Ergebnisse hervorgebracht, wonach wir uns auch bei Finanzentscheidungen anstatt von streng rationalen Beweggründen vielmehr von unseren Emotionen oder vereinfachenden Faustregeln leiten lassen. Daniel Kahneman, einer der bekanntesten Forscher auf dem Gebiet der Behavioral Finance, erhielt den Nobelpreis für seine Erkenntnisse über Entscheidungen unter Unsicherheit. Es zeigte sich mit Hilfe von Kernspintomographen, dass bei Finanzentscheidungen oftmals das Kleinhirn der aktivste Teil des Gehirns ist – dieses ist mit Emotionen verknüpft und verbindet uns evolutionsgeschichtlich z.B. mit den Reptilien. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass unser Gehirn gelegentlich Abkürzungen in Kauf nimmt, um schneller eine Entscheidung fällen zu können.

Die Behavioral Finance basiert auf der Erkenntnis, dass die Markteilnehmer aufgrund psychischer, mentaler und neuronaler Beschränkungen nur zu einem begrenzt rationalen Verhalten gemessen an der Erwartungsnutzentheorie fähig sind. Das Konzept der begrenzten Rationalität, ist zentraler Bestandteil und Ausgangspunkt der Behavioral-Finance-Forschung. Sie widerspricht auch der Annahme, dass die begrenzt rationalen Verhaltensweisen einzelner Individuen aufgrund der Heterogenität der Marktteilnehmer neutralisiert werden und sich folglich nicht im Marktergebnis niederschlagen. Vielmehr erwarten die Befürworter der Behavioral Finance eine Paradigmenerweiterung, welche die ökonomischen Konzepte und Prinzipien der neoklassischen Kapitalmarkttheorie um psychologische, soziologische und neurologische Aspekte ergänzt.

Der erste Abschnitt dieses Buches steht ganz im Zeichen der Verhaltensweisen, die im Rahmen der neoklassischen Theorie von den Marktteilnehmern erwartet werden. Das Studium der Annahmen, auf denen die einzelnen Konzepte und Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie gründen, ist entscheidend, um in den nachfolgenden Abschnitten die tatsächliche Verhaltensweise der Marktteilnehmer einordnen und interpretieren zu können.

Der zweite Abschnitt greift überblickartig die Entwicklung der Behavioral Finance als neue Forschungsrichtung auf, um die Verhaltensweisen der Marktteilnehmer (primär Anbieter und Nachfrager an den Finanzmärkten) deuten und erklären zu können. Im Sinne der angesprochenen Paradigmenerweiterung mehren sich Zweifel, ob alleine mit dem klassischen Theoriegebäude die Verhaltensweisen der Marktteilnehmer erklärt werden können.

Im dritten Abschnitt soll verdeutlicht werden, wie der Marktteilnehmer, in der Person des Anlegers aus der Sicht der Vermögensverwaltung, seine Entscheidung durch die Anwendung von Heuristiken vereinfacht. Zudem wird geklärt, welche zu suboptimalen Entscheidungen führenden Einflüsse im Prozess der Entscheidungsfindung auf den Anleger einwirken können. In diesem Kontext wird das begrenzt rationale Verhalten der Marktteilnehmer aus der Sicht des Wealth Managements (Finanzberatung für vermögende Privatkunden), und, wo es sich anbietet, aus der Perspektive des Private Equity Investitionsprozesses beleuchtet. Hierbei stehen die Phasen der Entscheidungsfindung im Vordergrund. Es wird aufgezeigt, welche Heuristiken die Anleger, aber auch die Anlageberater in den einzelnen Phasen der Entscheidungsfindung anwenden. Die angeführten Erklärungen haben zum Ziel, begrenzt rationales Verhalten durch Erkenntnisse zu belegen, die nach momentanem Stand der Forschung für das beobachtbare Verhalten der Marktteilnehmer verantwortlich sind. Dabei sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Behavioral-Finance-Forschung gerade in diesem Bereich fortlaufenden Weiterentwicklungen unterworfen ist.

Im vierten und letzten Abschnitt steht die Anwendung der Erkenntnisse aus der Behavioral Finance in ausgewählten Themenbereichen im Vordergrund. Das Augenmerk ist hier auf die Anlageberatung im Wealth Management, die strategischen Entscheidungen von Unternehmenslenkern und das Financial Nudging gerichtet. Außerdem soll im vierten Abschnitt ein Ausblick auf künftige Forschungsrichtungen gegebenen werden bzw. neue, noch relativ junge Gebiete wie die Neuro-Finance und die Emotional Finance vorgestellt werden. Diese beiden Forschungsrichtungen haben bisher schon dazu beigetragen, die Ursachen für begrenzt rationale Verhaltensweisen zu erforschen und die bislang unbewusst ablaufenden Prozesse, wie Emotionen, Phantasien und Ängste, in den Mittelpunkt von Finanzmarktentscheidungen zu rücken.

Das Buch ist in insgesamt dreizehn Kapitel aufgeteilt. Die nachfolgenden Informationen geben einen ersten Überblick über die behandelten Themengebiete und die vermittelten Inhalte.

Im ersten Kapitel stehen die Entscheidungstheorien und Konzepte des rationalen Entscheidens im Vordergrund der Betrachtung. Nach Durcharbeiten des Kapitels werden Sie die Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweisen, angefangen von der klassischen Nationalökonomie bis hin zur Emotional Finance, kennenlernen. Im Rahmen des ersten Unterkapitels werden Sie die stark wechselnde Einbindung der Psychologie in die Wirtschaftswissenschaften verfolgen können. Neben der Betrachtung der einzelnen Sichtweisen werden Sie die grundlegenden Entscheidungstheorien und Konzepte der neoklassischen Kapitalmarkttheorie kennenlernen. Hierbei liegt der Fokus auf dem Konzept des Homo Oeconomicus sowie auf den Verhaltensweisen, die auf Basis der neoklassischen Kapitalmarkttheorie postuliert werden. Sie werden beim Studium der Entscheidungstheorien und Konzepte deutliche Abweichungen vom tatsächlichen Verhalten der Marktteilnehmer erkennen, welche zunehmend als ein Anstoß für eine Paradigmenerweiterung durch die Behavioral Finance interpretiert werden können.

Im zweiten Kapitel werden Sie die Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie kennenlernen, die für die Ermittlung der erwarteten Rendite sowie des Risikos von Wertpapieren genutzt werden. Darüber hinaus lernen Sie auf Basis der Fundamentalanalyse sowie der charttechnischen Analyse die Bewertungsansätze finanzwirtschaftlicher Entscheidungen kennen. Sie werden nach Durcharbeiten dieses Kapitels die zunehmende Kritik an den aufgeführten Modellen verstehen und erhalten zudem über die Beschreibung „Schwarzer Schwäne“ einen Einblick in reale Marktgegebenheiten, die sich mit der neoklassischen Kapitalmarkttheorie nur schwer in Einklang bringen lassen.

Das dritte Kapitel steht ganz im Zeichen des Homo Oeconomicus Humanus – dem Markteilnehmer, der die Paradigmenerweiterung in Richtung Behavioral Finance symbolisiert. Sie werden beim Durcharbeiten dieses Kapitels zum einen die Zielsetzung und Entwicklung der Behavioral Finance kennenlernen. Zum anderen werden Sie den Marktteilnehmer als einen begrenzt rational handelnden Investor erleben.

Im vierten Kapitel stehen die Spekulationsblasen als Anzeichen für wiederkehrende und anhaltende Marktanomalien im Fokus der Betrachtung. Sie werden neben der Entstehung und den Ursachen für die Bildung von Spekulationsblasen die unterschiedlichen Phasen und Arten von Spekulationsblasen kennenlernen. Darüber hinaus werden Sie die Rolle des Herdentriebs als Triebfeder von Spekulationsblasen in das Gefüge wiederkehrender Marktanomalien einordnen können. Schließlich werden Sie die bedeutendsten Kapitalmarktanomalien kennenlernen, die teilweise nur kurzfristig andauern, während andere mittel- bis langfristig auf den Kapitalmärkten zu beobachten sind.

Das fünfte Kapitel steht im Zeichen historischer Spekulationsblasen. Nach Durcharbeiten dieses Kapitels werden Sie die wichtigsten Spekulationsblasen in der Geschichte der Finanzmärkte kennen, und Sie verstehen typische Eigenschaften der Kapitalmärkte, die zu Turbulenzen führen können. Sie werden zudem in der Lage sein, die Entwicklung historischer Spekulationsblasen auf Basis des Fünf-Phasen-Modells von Kindleberger/ Minsky zu erklären und dieses auf aktuelle Spekulationsblasen anzuwenden.

Nach Durcharbeiten des sechsten Kapitels kennen Sie die Grundlage des Informationsund Entscheidungsprozesses und Sie verstehen, welche Wahrnehmungsstörungen den Marktteilnehmer an der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen hindern können. Zudem lernen Sie die Grundlage der Entscheidungsfindung aus Sicht der Behavioral Finance kennen: Die Prospect Theory als Alternative zur traditionellen Erwartungsnutzentheorie. Sie werden verstehen, wie zum einen über die S-förmige Wertfunktion die Einstellung des Marktteilnehmers zum Risiko beschrieben wird, zum anderen über die Gewichtungsfunktion objektive Wahrscheinlichkeiten entsprechend subjektiver Ansichten transformiert werden. Diese beiden Ansatzpunkte werden Ihnen die Bewertung von Wertpapieren auf Basis der Prospect Theory verdeutlichen und die kognitiven Begrenzungen der Marktteilnehmer aufzeigen.

Das siebte Kapitel steht im Zeichen des Verhaltens der Marktteilnehmer während der Informationsaufnahme. Sie werden die kognitiven und emotionalen Heuristiken kennenlernen, die in dieser Phase des Informations- und Entscheidungsprozesses die Informationsaufnahme zwar erleichtern, den Marktteilnehmern jedoch die objektive Sichtweise auf den Kapitalmarkt erschweren. Sie werden zudem in diesem und in den Folgekapiteln 8 und 9 die Auswirkung der betrachteten Heuristiken auf die Verhaltensweise des Marktteilnehmers erkennen und die risiko-/renditeschädliche Wirkung jeder einzelnen Heuristik einordnen können.

Das achte Kapitel beschäftigt sich mit der zweiten Prozessstufe im Informations- und Entscheidungsprozess: Die Informationsverarbeitung. Auch in dieser Phase verwenden die Marktteilnehmer bestimmte Heuristiken, die zu begrenzt rationalen Verhaltensweisen führen können. Sie werden in diesem Kapitel die wichtigsten Heuristiken kennenlernen, die die Informationsverarbeitung und -bewertung für den Homo Oeconomicus Humanus erleichtern, aber auch verzerren.

Im neunten Kapitel werden Sie die dritte und letzte Prozessstufe im Informations- und Entscheidungsprozess erkunden. Sie werden die wesentlichen Heuristiken, die während der Investitionsentscheidung zur Anwendung kommen, kennenlernen, und Sie können die begrenzt rationalen Verhaltensweisen des Homo Oeconomicus Humanus nachvollziehen.

Im zehnten Kapitel werden Sie erkennen, in welcher Intensität beratene als auch beratende Marktteilnehmer in ihrer Entscheidungsfindung durch die Anwendung von Heuristiken beeinflusst werden können. Dabei werden Sie Möglichkeiten zur Begrenzung risiko-/renditeschädlichen Verhaltens in Abhängigkeit des Vermögensstandes des Anlegers sowie des Ursprungs der Heuristik identifizieren. Im Weiteren werden in diesem Kapitel für jede einzelne Heuristik Maßnahmen vorgestellt, die zum einen die Erhöhung der Beratungsqualität (im Sinne einer kundengerechten Darstellung von Renditen und Risiken) und zum anderen die Steigerung des Produktabsatzes zum Ziel haben.

Im elften Kapitel stehen begrenzt rationale Verhaltensweisen im Rahmen der Unternehmensführung im Mittelpunkt der Betrachtung. Sie werden die Treiber für begrenzt rationale Verhaltensweisen, wie z.B. die Selbstüberschätzung von Unternehmenslenkern, kennenlernen und können ihre Auswirkungen auf die Entwicklung der Gesamtrentabilität von Unternehmen einordnen. Zudem werden Sie bestimmte unternehmerische Aktivitäten aus der Sichtweise der Behavioral Finance betrachten und erkennen dadurch, wie stark sich psychologische Einflüsse auf Unternehmensentscheidungen auswirken können. Dabei wird neben der Dividendenpolitik und der Erstemission von Aktien auch die Auswirkung unterschiedlicher Entlohnungskonzepte im Rahmen der Corporate Governance betrachtet. Abgerundet wird das Kapitel mit einer Diskussion des „Equity Premium Puzzles“ aus Behavioral Finance Perspektive.

Im zwölften Kapitel wird eine recht neue Anwendung der Behavioral Finance Erkenntnisse vorgestellt. Dabei geht es um die Identifizierung und Darstellung von Ansätzen, wie man aus wirtschaftspolitischer Sicht Menschen zu einem besseren Entscheidungsverhalten bei Finanzprodukten und -dienstleistungen bewegen kann. Hierfür werden sogenannte Nudges bei Krediten, Kreditkarten, Hypotheken, der Altersvorsorge und Aktien/Anleihen erläutert. Der „Libertäre Paternalismus“ bildet hierfür den theoretischen Rahmen und wird daher im Kapitel ausführlich diskutiert.

Im dreizehnten und letzten Kapitel soll ein Ausblick hinsichtlich neuer Forschungsrichtungen innerhalb der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung gegeben werden. Neue Denkanstöße und entsprechend neue Forschungsergebnisse haben jetzt schon die bestehenden Grenzen der Behavioral Finance verschoben. In diesem Sinne führt das Kapitel an die erwähnten Grenzen und stellt anschließend zwei neue Forschungsrichtungen aus der verhaltenswissenschaftlichen Forschung vor. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Neuro-Finance, welche die Zielsetzung verfolgt, die Ursachen für begrenzt rationale Verhaltensweisen auf Basis der Hirnforschung zu ergründen. Darüber hinaus wird die Emotional Finance als neue Forschungsrichtung vorgestellt, in der unbewusst ablaufende, mentale Prozesse erforscht werden.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur zweiten Auflage

Vorwort zur ersten Auflage

Einleitung

Abschnitt I – Der Homo Oeconomicus im Zentrum der Neoklassik

1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens

1.1 Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweisen

1.2 Entscheidungstheorien und Konzepte der Neoklassik

1.2.1 Konzept des Homo Oeconomicus nach Adam Smith

1.2.2 Random Walk Theory nach Louis Bachelier

1.2.3 Erwartungsnutzentheorie von Morgenstern und von Neumann

1.2.4 Informationsverarbeitung nach Bayes

1.2.5 Effizienzmarkthypothese nach Eugene Fama

Zusammenfassung

2 Grenzen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie

2.1 Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie

2.1.1 Portfolio Selection Theory nach Harry Markowitz

2.1.2 Capital-Asset-Pricing-Modell nach William Sharpe

2.1.3 Arbitrage Pricing Theory als Alternative zum CAPM

2.2 Bewertungsansätze als Basis finanzwirtschaftlicher Entscheidungen

2.2.1 Fundamentale Wertpapieranalyse

2.2.2 Charttechnische Analyse

2.3 Alte vs. neue Realität – der Schwarze Schwan

Zusammenfassung

Schlussbetrachtung Abschnitt I

Abschnitt II – Wiederkehrende Spekulationsblasen – ausgelöst vom Homo Oeconomicus Humanus

3 Das Investorenverhalten aus Sicht der Behavioral Finance

3.1 Ausgangspunkt und Zielsetzung der Behavioral Finance

3.1.1 Begriff der Rationalität im Zuge der Paradigmenerweiterung

3.1.2 Abkehr von der Erwartungsnutzentheorie – Begrenzte Rationalität

3.2 Betrachtungswechsel im Rahmen der Behavioral Finance

3.2.1 Vergleich der neoklassischen mit der verhaltensorientierten Ökonomie

3.2.2 Untersuchungsmethoden der Behavioral Finance

3.2.3 Der Investor im Wandel der Zeit

Zusammenfassung

4 Spekulationsblasen als Zeichen für Marktanomalien

4.1 Ursachen für die Entstehung und Verstärkung von Spekulationsblasen

4.1.1 Herdentrieb

4.1.2 Grenzen der Arbitrage

4.2 Anatomie von Spekulationsblasen nach Kindleberger/Minsky

4.3 Detailbetrachtung Spekulationsblasen und Kapitalmarktanomalien

4.3.1 Bedeutung von Spekulationsblasen für Volkswirtschaften

4.3.2 Arten von Spekulationsblasen

4.3.3 Arten von Kapitalmarktanomalien

Zusammenfassung

5 Historische Spekulationsblasen im Überblick

5.1 Markteigenschaften als Auslöser von Spekulationsblasen

5.2 Beispiele für bedeutende Spekulationsblasen

5.2.1 Die Tulpenmanie von 1636

5.2.2 Die John-Law-Spekulationsblase von 1716

5.2.3 Die Südseespekulationsblase von 1720

5.2.4 Der Börsenboom und -crash von 1929

5.2.5 Die Dotcom-Spekulationsblase ab 1997

5.2.6 Die US-Subprime-Kreditkrise ab 2007

5.2.7 Multiple Spekulationsblasen nach der Subprime Kreditkrise (ab 2012)

5.3 Hinweise auf Spekulationsblasen im Private Equity

Zusammenfassung

Schlussbetrachtung Abschnitt II

Abschnitt III – Der Homo Oeconomicus Humanus im Informations- und Entscheidungsprozess

6 Phasen der Entscheidungsfindung

6.1 Der Informations- und Entscheidungsprozess im Überblick

6.1.1 Informationswahrnehmung

6.1.2 Informationsverarbeitung/-bewertung

6.1.3 Investitionsentscheidung

6.2 Basis der Entscheidungsfindung aus Sicht der Behavioral Finance

6.2.1 Entscheidungsfindung auf Basis der Prospect Theory

6.2.2 Merkmale der Bewertungsfunktionen

6.2.3 Bewertung von Wertpapieren auf Basis der Prospect Theory

Zusammenfassung

7 Begrenzte Rationalität bei der Informationswahrnehmung

7.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs

7.1.1 Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeiten (u.a. Verfügbarkeits-heuristik)

7.1.2 Fehleinschätzung von Informationen (u.a. selektive Wahrnehmung)

7.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs – Herdenverhalten

7.3 Einschätzung der Risiko-/Renditeschädlichkeit betrachteter Heuristiken

Zusammenfassung

8 Begrenzte Rationalität bei der Informationsverarbeitung

8.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs

8.1.1 Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeiten (u.a. Ambiguitätsaversion)

8.1.2 Fehleinschätzung von Informationen – Konservatismus

8.1.3 Fehleinschätzung der objektiven Realität (u.a. mentale Buchführung)

8.1.4 Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten (u.a. Selbstüberschätzung)

8.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs – Umkehr der Risikobereitschaft

8.3 Einschätzung der Risiko- /Renditeschädlichkeit betrachteter Heuristiken

Zusammenfassung

9 Begrenzte Rationalität bei der Investitionsentscheidung

9.1 Heuristiken kognitiven Ursprungs

9.1.1 Fehleinschätzung der objektiven Realität – Selektive Entscheidung

9.1.2 Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten (u.a. Selbstattribution)

9.2 Heuristiken emotionalen Ursprungs

9.2.1 Fehleinschätzung der objektiven Realität (u.a. Reueaversion)

9.2.2 Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten (u.a. Reueaversion)

9.3 Einschätzung der Risiko-/Renditeschädlichkeit betrachteter Heuristiken

9.4 Überblick im Informations- und Entscheidungsprozess betrachteter Heuristiken

Zusammenfassung

Schlussbetrachtung Abschnitt III

Abschnitt IV – Anwendungsbereiche und Weiterentwicklung der Behavioral Finance

10 Anwendung der Behavioral Finance in der Anlageberatung

10.1 Überblick über begrenzt rationales Verhalten in der Anlageberatung

10.2 Umgang mit Heuristiken in der Anlageberatung

10.2.1 Heuristiken während der Informationswahrnehmung

10.2.2 Heuristiken während der Informationsverarbeitung/-bewertung

10.2.3 Heuristiken während der Investitionsentscheidung

Zusammenfassung

11 Anwendung der Behavioral Finance in der Unternehmensführung

11.1 Overconfidence bei unternehmerischen Investitionsentscheidungen

11.2 Ausschüttungspolitik aus Sicht der Behavioral Finance

11.3 Initial Public Offerings aus Sicht der Behavioral Finance

11.4 Corporate Governance aus Sicht der Behavioral Finance

11.5 Equity Premium Puzzle

Zusammenfassung

12 Financial Nudging – verhaltenswissenschaftliche Ansätze für bessere Finanzentscheidungen

12.1 Libertärer Paternalismus

12.1.1 Entscheidungsarchitektur

12.1.2 Wahlfreiheit & Paternalismus

12.1.3 Arten und Merkmale des Nudging

12.1.4 Kritik am libertären Paternalismus

12.2 Financial Nudging/Finanzielle Nudgingansätze

12.2.1 Verhaltenswissenschaftliche Grundlagen des Financial Nudging

12.2.2 Kredite

12.2.3 Kreditkarten

12.2.4 Hypotheken

12.2.5 Altersvorsorge

12.2.6 Aktien und Anleihen

Zusammenfassung

13 Weiterentwicklung der Behavioral Finance – Blick in die Zukunft

13.1 Grenzen der Behavioral Finance

13.2 Entstehung der Neuro-Finance/Neuroökonomie

13.2.1 Erforschung des menschlichen Gehirns

13.2.2 Entscheidungsprozesse aus Sicht der Neuro-Finance

13.3 Entstehung der Emotional Finance

13.3.1 Emotionen als Grundlage für Investitionsentscheidungen

13.3.2 Interpretation von Marktbewegungen aus Sicht der Emotional Finance

Zusammenfassung

Schlussbetrachtung Abschnitt IV

Glossar

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Personen- und Sachverzeichnis

Abschnitt I – Der Homo Oeconomicus im Zentrum der Neoklassik

1 Die neoklassische Kapitalmarkttheorie als Grundlage rationalen Verhaltens

Nach Durcharbeiten des Kapitels werden Sie die Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweisen, angefangen von der klassischen Nationalökonomie bis hin zur Emotional Finance, kennenlernen. Im Rahmen des ersten Unterkapitels werden Sie die stark wechselnde Einbindung der Psychologie in die Wirtschaftswissenschaften verfolgen können. Neben der Betrachtung der einzelnen Sichtweisen werden Sie die grundlegenden Entscheidungstheorien und Konzepte der neoklassischen Kapitalmarkttheorie kennenlernen. Hierbei liegt der Fokus auf dem Konzept des Homo Oeconomicus sowie auf den Verhaltensweisen, die auf Basis der neoklassischen Kapitalmarkttheorie postuliert werden. Sie werden beim Studium der Entscheidungstheorien und Konzepte deutliche Abweichungen der Realität vom angenommenen Verhalten der Marktteilnehmer erkennen, welche zunehmend als ein Anstoß für eine Paradigmenerweiterung durch die Behavioral Finance interpretiert werden können.

Auf der Bühne der Investitionsentscheidungen an Finanzmärkten sehen die Befürworter der traditionellen Ökonomie eine Schar von rational agierenden Akteuren; der emotionale Homo Sapiens (oder auch später als Homo Oeconomicus Humanus bezeichnet) kommt in ihrem Bühnenstück nicht vor. Vielmehr verkörpert der Homo Oeconomicus den Marktteilnehmer, der perfekt rationale Entscheidungen trifft, unlimitierte Analysekapazitäten für jegliche Informationsmenge bereithält und seine Präferenzen entsprechend der →Erwartungsnutzentheorie ausrichtet.

Die Anhänger der Behavioral-Finance-Forschung versuchen, das Bühnenstück realistischer zu gestalten und den Homo Oeconomicus durch einen der Wirklichkeit eher entsprechenden Marktteilnehmer zu ersetzen. Richard Thaler, einer der zentralen Protagonisten der Behavioral Finance, hielt den schwelenden Konflikt um den wahren Marktteilnehmer auf einer Konferenz des National Bureau of Economic Research (NBER) mit Robert Barro, Befürworter der traditionellen Sichtweise, wie folgt fest:

„The difference between us is that you assume people are as smart as you are, while I assume people are as dumb as I am.“ (vgl. Thaler zit. nach Robert Bloomfield, 2010, S. 23)

In Anlehnung an das obige Zitat ist es die Zielsetzung der ersten beiden Kapitel dieses Buches, den Leser durch die Debatte über die fundamentalen Annahmen bezüglich der Verhaltensweisen der Marktteilnehmer zu leiten und gleichzeitig mögliche Ansatzpunkte für Anpassungen im Grundgerüst der →neoklassischen Kapitalmarkttheorie vorzuschlagen.

1.1 Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweisen

Die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften (vgl. Abb. 1) sowie ihrer grundlegenden Annahmen wurde von den Sichtweisen einzelner bedeutender Wissenschaftler geprägt. In Abhängigkeit von der vorherrschenden Meinung wurden menschliche Einflüsse auf die Entscheidungsfindung der Marktteilnehmer mit unterschiedlicher Intensität verfolgt. So spielten psychologische Einflüsse im Zeitalter der klassischen Nationalökonomie eine bedeutende Rolle, sie sollten allerdings bis zur Entstehung der Behavioral Finance weitestgehend zurückgedrängt werden. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass sich der theoretische Rahmen rationalen Verhaltens in der Epoche der neoklassischen Kapitalmarkttheorie entwickelte und auch heute noch in den angewendeten Konzepten und Modellen Beachtung findet.

Entwicklung der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung

Abb. 1: Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweisen

Zeitalter der klassischen Nationalökonomie

In der Mitte des 18. Jahrhunderts, im Zeitalter der klassischen Nationalökonomie, begannen Wirtschaftswissenschaftler, die menschlichen Einflüsse auf die Entscheidungsfindung zu analysieren. Diese Anfänge bildeten die Grundlage für die Entstehung der verhaltensorientierten Kapitalmarktforschung. Man versuchte, den ökonomischen Nutzen des Konsums mit psychologischen Ansätzen zu verbinden. Adam Smith prägte seinerzeit die Entwicklung der klassischen Nationalökonomie. Er beschrieb in dem vielbeachteten Aufsatz „The Theory of Moral Sentiments“ von 1759 die psychologischen Prinzipien des individuellen Verhaltens. Sein grundlegendes Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ von 1776 wird heute mit dem Beginn der klassischen Nationalökonomie gleichgesetzt. Smith vertrat die Ansicht, dass die Märkte am besten frei von staatlichen Einflüssen sein sollten und von einer unsichtbaren Hand geleitet werden. Die Selbstregulierung der Marktkräfte sollte quasi automatisch Gleichgewicht und Vollbeschäftigung herbeiführen. Grundlage dieser Denkweise war das menschliche Handeln, welches sich allein aus ökonomischen Motiven und rationalen Überlegungen speist.

Die Psychologie erlebte im 19. Jahrhundert ihren Aufschwung, als die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise in der Psychologie Einzug hielt. So führte Hermann Ebbinghaus experimentelle Methoden in die Psychologie ein und leistete herausragende Beiträge zur Erforschung von Lernen und Gedächtnis. Er zeigte, dass Erinnerungen unterschiedliche Lebenszyklen haben. Einige sind kurzlebig, andere wiederum überdauern Tage oder auch Wochen. Erinnerungen, die Tage und Wochen überdauern, werden schließlich widerstandsfähig gegen Störungen und bleiben damit im Gedächtnis gespeichert.

Mitte des 19. Jahrhunderts folgte dann die weit verbreitete Beobachtung von Tierverhalten auf Basis der Vermutung von Charles Darwin, dass geistige Merkmale von Säugetieren untereinander ähnlich sind.

Zeitalter der neoklassischen Ökonomie

Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die klassische Nationalökonomie von der neoklassischen Ökonomie abgelöst. In der Folge wurde das Bestreben, das Marktverhalten durch die Psychologie zu erklären, weitestgehend zurückgedrängt. Zentrale Annahme der neoklassischen Ökonomie war das Modell des Homo Oeconomicus, das den Marktteilnehmer als ein rationales, nutzenorientiertes und vollständig informiertes Individuum darstellt (vgl. Kap. 1.2.1).

Die professionelle Geldanlage wurde allerdings zunächst nicht unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet, sondern vielmehr als Kunst angesehen. Selbst John M. Keynes sah die Investition in Aktien in erster Linie als Spekulation an und verglich den Aktienmarkt mit einem Schönheitswettbewerb.

„It is not a case of choosing those [faces] that, to the best of one’s judgment, are really the prettiest, nor even those that average opinion genuinely thinks the prettiest. We have reached the third degree where we devote our intelligences to anticipating what average opinion expects the average opinion to be. And there are some, I believe, who practice the fourth, fifth and higher degrees.“ (Keynes, zit. nach Montier, 2007, S. 91)

Der Beginn der Entwicklung der neoklassischen Kapitalmarkttheorie wird in der Regel mit der Doktorarbeit von Louis Bachelier im Jahre 1900 in Verbindung gebracht. Bachelier formulierte erste Erkenntnisse, die sich mit der Art und Weise, wie sich Aktienkurse entwickeln, befassten. Seine Erkenntnis, dass Aktienkursbewegungen mittels stochastischer Prozesse modellierbar sind und die statistische Eigenschaft eines reinen Zufallsprozesses aufweisen, war die Grundlage für die Random Walk Theory (vgl. Kap. 1.2.2); jene Theorie, wonach sich Aktienkurse ohne „Gedächtnis“, d.h. unabhängig von den vorher realisierten Kursen nach oben oder nach unten bewegen (vgl. Gehrig & Zimmermann, 1999. S. 5).

Die meisten der verwendeten Entscheidungstheorien und Konzepte als Grundlage rationalen Verhaltens entwickelten sich zeitlich im Rahmen der Weltwirtschaftskrise 1929. So entwickelte sich die Theorie effizienter Kapitalmärkte, als sich Alfred Cowles in den 1930er-Jahren erstmals systematisch mit der Vorhersagbarkeit von Aktienkursen beschäftigte. Die Hypothese, dass Aktienkurse nach der Random Walk Theory nicht vorhersagbar sind, wurde schließlich von Holbrook Working in den 1940er-Jahren operationalisiert und empirisch überprüft.

Im Jahr 1936 wurde ein weiterer Versuch der Einbindung psychologischer Einflüsse in die Entscheidungsfindung der Marktteilnehmer sichtbar. John M. Keynes1 vertrat in seinem Werk „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ von 1936 den Ansatz, dass die Wirtschaft nicht alleine von rationalen Marktteilnehmern, die wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt ökonomische Vorteile verfolgen, beherrscht wird. Er räumte zwar ein, dass das wirtschaftliche Handeln größtenteils von ökonomischen Motiven bestimmt wird, setzte dem aber entgegen, dass es häufig auch von Instinkten beeinflusst wird. Diese Instinkte, die er als Animal Spirits bezeichnete, seien eine wichtige Ursache für Schwankungen der Konjunktur und für unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Keynes war der Überzeugung, dass kapitalistische Volkswirtschaften, die sich selbst überlassen bleiben, zu Exzessen neigen. Es kommt zu Manien, die wiederum in Ausbrüchen von Panik münden. Er vertrat die Ansicht, dass der Staat eine angemessene Rolle in der Regulierung der Märkte einnehmen sollte. Der Staat sollte Exzessen entgegenwirken, die durch die Animal Spirits hervorgerufen werden.

Zeitalter des Keynesianismus

In der Folgezeit, und insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren, wurde die Allgemeine Theorie von Keynes auch insofern „postkeynesianisiert“, als dass die Animal Spirits fast gänzlich entfernt wurden. Als Resultat entstand eine Theorie, die die Unterschiede zwischen der Allgemeinen Theorie und den Standardaussagen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie soweit einengte, dass kaum noch Raum für instinktives Handeln übrig blieb. Die Neoklassiker der 1960er Jahre waren der Meinung, dass instinktives Handeln aus der Wirtschaftstheorie komplett ausgeblendet werden sollte. Die neoklassische Kapitalmarkttheorie erlebte eine Renaissance (vgl. Shiller 2009 S. 8 ff.).

Basierend auf den Erkenntnissen von Louis Bachelier entwickelte Eugene Fama in den 1960er-Jahren die Effizienzmarkthypothese (vgl. Kap. 1.2.5). Sie beschreibt einen Markt als effizient, wenn die Wertpapierkurse alle vorhandenen Informationen komplett widerspiegeln (vgl. Garz, Günther & Moriabadi, 2002, S. 82).

Die Rationalität von Individuen wurde allerdings gleichzeitig durch die Experimente von Maurice Allais (1953) und Daniel Elsberg (1961) zunehmend in Frage gestellt. Die Experimente verdeutlichten, dass Individuen gegen die zuvor in den 1940er-Jahren von John von Neumann und Oskar Morgenstern entwickelten Axiome (vgl. Kap. 1.2.3) zur Fundierung des Bernoulli-Prinzips rationaler Investoren verstoßen. Diese ersten Ergebnisse aus den Experimenten von Allais und Elsberg gelten als Basis für die verhaltenswissenschaftliche Kapitalmarktforschung.

Im Bereich des kollektiven Rationalverhaltens ist der Beitrag von John Muth hervorzuheben, der die Theorie der rationalen Erwartungen Anfang der 1960er Jahre entwickelt hat. Die Theorie besagt, dass die Marktteilnehmer alle verfügbaren Informationen bei ihrer Erwartungsbildung nutzen und aus ihren Erwartungsfehlern lernen. Erwartungen entstehen, indem Informationen fortwährend aktualisiert und neu interpretiert werden.

Als Meilenstein für die Entwicklung von Modellen in der neoklassischen Kapitalmarkttheorie wurde die von Harry Markowitz 1952 entwickelte Portfoliotheorie gewürdigt (vgl. Kap. 2.1.1). Sie bietet klare Richtlinien für das effiziente Investieren. Kerngedanke der Theorie ist die Entwicklung effizienter Portfolios unter Berücksichtigung der Korrelation der Renditen einzelner Wertpapiere (vgl. Karlen, 2004, S. 13). Die Theorie von Markowitz war jedoch erst der Anfang einer Entwicklung weg von einer rein deskriptiven hin zu einer theoretisch normativen kapitalmarktorientierten Finanzierungslehre.

Aufbauend auf die Portfoliotheorie von Markowitz entwickelten in den 1960er-Jahren William Sharpe, John Lintner und Jan Mossin unabhängig voneinander das Capital-Asset-Pricing-Modell (vgl. Kap. 2.1.2; im Weiteren als CAPM bezeichnet). Hierdurch wurde es möglich, die Effizienz des Kapitalmarktes auf risikoadjustierter Basis zu testen. Wenn auch methodische Schwierigkeiten die Tests erschweren, revolutionierte das CAPM das Portfoliomanagement, da nun die unterschiedlichen Risiken von Investitionen auf einen leicht verständlichen, linearen Zusammenhang zurückgeführt werden konnten (vgl. Garz, Günther & Moriabadi, 2002, S. 17 ff.).

Als Hauptherausforderer des CAPM entwickelte Stephen A. Ross 1976 die Arbitrage Pricing Theory (vgl. Kap. 2.1.3). Sie berücksichtigt im Gegensatz zum CAPM multiple Risikofaktoren systematischer Art und gleicht sich damit mehr der realen Welt an. Entsprechend der Begriffsbezeichnung werden Preisinformationen aus Arbitragemöglichkeiten abgeleitet (vgl. Bank & Gerke, 2005, S. 4 ff.).

Ein weiterer Meilenstein waren die Arbeiten von Franco Modigliani und Merton Miller im Bereich der Theorie der Unternehmensfinanzierung im Jahre 1958. Sie zeigten, dass unter der Annahme eines effizienten und vollkommenen Kapitalmarktes die Finanzierungsstruktur aus Eigen- und Fremdkapital für die Höhe der Kapitalkosten irrelevant ist. Der Grund für die Irrelevanz liegt in den konstanten Gesamtkapitalkosten, die sich unabhängig von der Höhe des →Fremdkapitals in einem vollkommenen und effizienten Markt nicht verändern. Bei einem höheren Verschuldungsgrad steigen zwar die Eigenkapitalkosten an, diese beziehen sich jedoch nur auf einen kleineren Kapitalanteil. Gleichzeitig steigt der Fremdkapitalanteil an, und die gegenüber dem →Eigenkapital niedrigeren und konstanten Fremdkapitalkosten beziehen sich auf einen höheren Kapitalanteil und gleichen dadurch die höheren Eigenkapitalkosten vollständig aus. Die jeweiligen Eigen- und Fremdkapitalkosten sowie deren Anteile verändern sich genau in der Weise, dass sich die Effekte kompensieren und somit in einem effizienten und vollkommenen Markt keinen Einfluss auf die Höhe der Gesamtkapitalkosten haben.

Schließlich erfolgte eine bahnbrechende Innovation im Bereich der Derivatebewertung durch die Entwicklung der Optionspreisformel durch Fischer Black, Myron Scholes und Robert C. Merton Anfang der 1970er Jahre. Die drei Wissenschaftler gründeten ihre Erkenntnisse auf den Forschungsergebnissen von Markowitz, Modigliani und Miller, indem sie ein risikoloses Portfolio bestehend aus Optionen und zugrunde liegenden Aktien konstruierten.

Zeitalter der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung

Ab etwa 1980 entwickelte sich die Verhaltensökonomie als ein Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaften. Diese Richtung, auch als Behavioral Economics bezeichnet, führte maßgeblich dazu, dass naturwissenschaftliche und psychologische Aspekte in die Wirtschafswissenschaften zunehmend eingebaut wurden. Die Verhaltensökonomie untersucht Verhaltensweisen der Marktteilnehmer, die mit dem Konzept des Homo Oeconomicus nicht übereinstimmen – so zum Beispiel die Abkehr von der rationalen Nutzenmaximierung.

Die zunehmende Erforschung emotional und kognitiv bestimmter Verhaltensweisen führte schließlich fast zeitgleich zur Entstehung der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung, zumeist als Behavioral Finance bezeichnet. Diese neue Forschungsrichtung, die vereinzelt in der wissenschaftlichen Literatur auch in der Schreibweise „Behavio(u)ral Finance“ gefunden werden kann, versucht, das Geschehen auf den Finanzmärkten unter Einbezug menschlicher Verhaltensweisen zu erklären (vgl. Kap. 6–9). Es wird untersucht, welche Faktoren zu einer unterschiedlichen Bewertung von Informationen und folglich zu einer unterschiedlichen Entscheidungsfindung bei Marktteilnehmern führen. Mit Hilfe der gewonnenen Erkenntnisse versucht die Behavioral Finance, u.a. Prognosen über das zukünftige Verhalten von Marktteilnehmern zu treffen. Vorreiter und Begründer dieser neuen Forschungsrichtung sind die Psychologen Daniel Kahneman, Vernon L. Smith und der bereits 1996 verstorbene Amos Tversky (vgl. Blechschmidt, 2007, S. 11 ff.).

Bereits um 1960 hatten sich zwei neue Felder der wissenschaftlichen Untersuchung entwickelt, die als dominierende Grundlage der Behavioral Finance gelten. Zum einen begannen Wissenschaftler im Bereich der kognitiven Psychologie, mentale Prozesse zu analysieren, die für das menschliche Verhalten verantwortlich schienen. Zum anderen wurde die Entscheidungsfindung unter Unsicherheit durch die Entwicklung der →Prospect Theory (1979, 1992) als die intellektuelle Grundlage der Behavioral Finance von Amos Tversky und Daniel Kahneman vorangetrieben (vgl. Pompian, 2006, S. 20 ff.). Die beiden Psychologen versuchten mit ihren Experimenten, die vorher nicht erklärbaren Abweichungen vom Idealbild des Homo Oeconomicus einzuordnen.

Ein weiterer bedeutender Wissenschaftler im Bereich der Behavioral Finance ist Richard Thaler. Sein Hauptinteresse lag in der Erforschung von Entscheidungsanomalien, die als systematische Abweichungen vom rationalen Verhalten interpretiert wurden (vgl. Wahren, 2009, S. 45).

Die operante Konditionierung, bei der der Lernprozess durch Versuch und Irrtum bewerkstelligt wird, resultierte aus den Forschungsergebnissen des amerikanischen Psychologen Edward L. Thorndike und bildete eine weitere Grundlage der verhaltenswissenschaftlichen Finanzmarktforschung. Die auf diesen Experimenten beruhende Lernpsychologie entwickelte sich mit der Zeit zum →Behaviorismus. Dieser erlaubte andere Zugänge bei der Erforschung des Gedächtnisses, da menschliches und tierisches Verhalten mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden konnte (vgl. Schriek, 2009, S. 20 ff.).

Zeitalter der Neuroökonomie

Zunehmende Impulse zur Erforschung des tatsächlichen Verhaltens von Marktteilnehmern geben die technologischen Entwicklungen der Hirnforschung. Im Umfeld bildgebender Verfahren können zur Erklärung von Entscheidungsverhalten neuronale Abläufe im Gehirn des Marktteilnehmers herangezogen werden. Die zunehmende Erforschung des menschlichen Entscheidungsverhaltens mittels der Computertomographie führte zur Entwicklung der Neuroökonomie (vgl. Kap. 13.2). Sowohl die Neuroökonomie als auch die spezifische Richtung Neuro-Finance versuchen unter Einbezug der Erkenntnisse der Psychologie, der Behavioral Economics sowie der Behavioral Finance die neuronale Basis für Entscheidungen und menschliches Verhalten zu entschlüsseln. Mittels zahlreicher Spielversuche, wie das Diktator- oder Ultimatumspiel, wurde das Konzept des rationalen Homo Oeconomicus relativiert. Es entstanden vielmehr zahlreiche Facetten eines emotionalen →Homo Oeconomicus Humanus, wie der faire, der vertrauende oder der wertende Homo Oeconomicus (vgl. Elger & Schwarz, 2009, S. 36).

Zeitalter der Emotional Finance

Erste Ansätze zur Erforschung unbewusst ablaufender Prozesse als zentrales Element der Emotional Finance wurden durch die Beschreibung der animal spirits von Keynes sichtbar. Weitergehende Forschungsergebnisse stellten sich jedoch erst ab 2009 mit der Entwicklung der Emotional Finance durch Richard Tuffler und David Tucket ein. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf dem Wirken von Phantasien und Ängsten (vgl. Kap. 13.3). Zielsetzung dieser jüngsten Forschungsrichtung ist die Erforschung der Folgen unbewusst und höchst komplex ablaufender Prozesse, die den Marktteilnehmer zu emotional getriebenen Verhaltensweisen führen. Unbewusst ablaufende Prozesse sollen im Rahmen praktischer Anwendungen ins Bewusstsein gerückt werden, um daraus Strategien für den Umgang mit emotionalen Phänomenen zu entwickeln (vgl. Richard Taffler & David Tuckett „Emotional Finance: The Role of the Unconscious in Financial Decisions“ in Baker/Nofsinger, 2010, S. 95 f.).

Die neoklassische Ökonomie stellt den Marktteilnehmer als ein rationales Individuum dar. Die Behavioural Finance untersucht dagegen das Geschehen auf den Finanzmärkten unter Einbezug menschlicher Verhaltensweisen. Die Neuroökonomie nutzt schließlich Erkenntnisse, um die neuronale Basis von Entscheidungen und von menschlichem Verhalten aufgrund von Abläufen im Gehirn zu entschlüsseln.2

1.2 Entscheidungstheorien und Konzepte der Neoklassik

Die neoklassische Kapitalmarkttheorie entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts aus der alten Finanzmarktlehre, bei der die Rechnungslegung und die →Fundamentalanalyse im Vordergrund standen. In der neoklassischen Kapitalmarkttheorie werden die Prämissen der vollkommenen Rationalität der Marktteilnehmer sowie der vollkommenen Finanzmärkte verarbeitet. Die entwickelten Gleichgewichtstheorien basieren auf rationalen und zugleich risikoaversen Marktteilnehmern. Die Maximierung ihres Endvermögens im Sinne der Erwartungsnutzentheorie stellt deren Hauptanliegen dar (vgl. Karlen, 2004, S. 12 f.). In diesem Sinne verkörpern die Verarbeitung von Informationen nach dem Bayes-Theorem sowie die Entscheidungsfindung im Rahmen der Erwartungsnutzentheorie wichtige Kernelemente der neoklassischen Kapitalmarkttheorie. Neben diesen beiden Theorien wird die neoklassische Kapitalmarkttheorie entscheidend von der Effizienzmarkthypothese geprägt.

Nachfolgend werden die zentralen Entscheidungstheorien und Konzepte als Grundlage rationalen Verhaltens beleuchtet. In diesem Sinne erfolgt die Betrachtung des Konzepts des Homo Oeconomicus nach Smith (vgl. Kap. 1.2.1), die Random-Walk-Theorie von Bachelier (vgl. Kap. 1.2.2), die Erwartungsnutzentheorie von Morgenstern und von Neumann (vgl. Kap. 1.2.3), die Informationsverarbeitung nach Bayes (vgl. Kap. 1.2.4) sowie die Effizienzmarkthypothese von Fama (vgl. Kap. 1.2.5).

1.2.1 Konzept des Homo Oeconomicus nach Adam Smith

Das Konzept des Homo Oeconomicus, des wirtschaftlich rational denkenden und handelnden Menschen, bildet die Grundlage für die in Kapitel 1.1 erwähnte neoklassische Kapitalmarkttheorie. Man kann davon ausgehen, dass der Ursprung dieses Konzepts auf die Denker des 18. Jahrhunderts zur Zeit der klassischen Nationalökonomie zurückgeht. Als deren Begründer gilt Adam Smith, der mit nachfolgendem Zitat das absolute Eigeninteresse als eines von drei grundlegenden Prinzipien des Homo Oeconomicus herausstellte:

„It is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker that we expect our dinner, but from their regard to their own interest.“ (A. Smith, The Wealth of Nations, 1776)

Die Bezeichnung des Homo Oeconomicus mag zwar überspitzt klingen, jedoch lassen die einzelnen Konzepte und Modelle der neoklassischen Kapitalmarkttheorie kaum eine andere Auffassung über die erwartete Verhaltensweise der Marktteilnehmer zu.

Im Grunde impliziert die Betrachtung des Marktteilnehmers als Homo Oeconomicus ein positives Verhaltensmodell (oder Menschenbild) mit dem Ziel, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären und vorherzusagen.

Es handelt sich um ein einfaches menschliches Modell wirtschaftlichen Verhaltens, das bei jeglicher wirtschaftlichen Entscheidung auf drei grundlegenden Prinzipien beruht:

Absolutes Eigeninteresse, wobei die eigenen Ziele und Vorstellungen im Vordergrund des Handelns stehen.

Fähigkeit zu völlig rational begründeten Entscheidungen, die eine optimale Umsetzung der Vorstellungen erlauben, bei der nutzenmaximierendes Verhalten mit knappen Gütern angestrebt wird.

Nutzung vollständiger Informationen, da weder Informationsasymmetrien noch Transaktionskosten existieren.

Aufgrund dieser Vereinfachungen und der extrem hohen Abstraktion der diesen Prinzipien zugrunde liegenden Modelle lässt sich die neoklassische Kapitalmarktheorie sehr elegant durch mathematische Gleichungen darstellen (vgl. Bank & Gerke, 2005, S. 2).

Die ökonomische Analyse des menschlichen Verhaltens wird durch das Konzept des Homo Oeconomicus bedeutend vereinfacht, wobei die wissenschaftlichen Ergebnisse auch quantifiziert werden können. Die Annahme der genannten Prinzipien lässt zu, dass das menschliche Verhalten ebenfalls bewertet/ quantifiziert werden kann (vgl. Pompian, 2006, S. 15).

Neben den Vorteilen dieses Konzepts ist die starke Vernachlässigung der Realität und der Komplexität des einzelnen Menschen als Individuum erkennbar. Aspekte menschlichen Verhaltens, die nicht unmittelbar das Ziel haben, wirtschaftliches Handeln zu erklären, werden kaum beachtet. Ebenso werden nicht-rationale Beweggründe für wirtschaftliches Verhalten ignoriert. So zeigen ehrenamtliche Tätigkeiten, dass die Marktteilnehmer zum Teil weit weniger nur an sich denken als dies vom eigennutzenorientierten Konzept des Homo Oeconomicus angenommen wird. Die unübersichtlich breit gefächerten Wissensgebiete in der Wirtschaftswissenschaft lassen im Weiteren vermuten, dass kein Marktteilnehmer sich über alle Aspekte informieren kann, um dadurch ständig die richtigen wirtschaftlichen Entscheidungen treffen zu können. Trotz dieser starken Vereinfachung der Realität ist das Konzept in Teilbereichen durchaus geeignet, systematisch die Reaktionen auf Veränderungen der Umwelt zu analysieren. Ungeachtet weitreichender Bedenken bzgl. der Annahmen dieses Konzepts ähnelt das Verhalten der Marktteilnehmer ansatzweise dem des Homo Oeconomicus, indem sie ebenfalls systematisch auf Veränderungen in ihrer Umgebung reagieren (vgl. Mazanek, 2006, S. 14 ff.).

Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, inwiefern der Marktteilnehmer sich von den Annahmen des rational agierenden Homo Oeconomicus unterscheidet. Im Kapitel 3.2.3 liegt der Fokus explizit auf den beobachtbaren Unterschieden zum Homo Oeconomicus Humanus, dessen Handlungen zu wiederkehrenden Spekulationsblasen (vgl. Kap. 4) und zu begrenzt rationalen Entscheidungen führen (vgl. Kap. 7 bis 9).

Das Konzept des Homo Oeconomicus ist ein positives Verhaltensmodell (oder Menschenbild) mit dem Ziel, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären und vorherzusagen.

1.2.2 Random Walk Theory nach Louis Bachelier

Die Entwicklung der Random Walk Theory begann, als Louis Bachelier am 19. März 1900 seine Dissertation mit dem Titel „Théorie de la Spéculation“ verteidigte. Bachelier behauptete in seiner Arbeit, dass die an der Pariser Börse des 19. Jahrhunderts notierten Terminkurse für Staatsanleihen einem zufälligen Muster folgten und dem Spekulanten aus diesem Grund keine systematischen Gewinne ermöglichen würden (vgl. Schredelseker, 2002, S. 407 ff.). Zu dieser Zeit spielten die →Fundamentalanalyse und die wachsende Bedeutung der →Chart-Analyse eine zentrale Rolle.

Grundgedanke der Random Walk Theory

Der Grundgedanke der Random Walk Theory basiert auf der Wahrnehmung, dass sich die Wertpapierkurse immer mit der gleichen Wahrscheinlichkeit verändern – analog zu der Wahrscheinlichkeit, die für einen Münzwurf gilt („Kopf“ bzw. „Zahl“). Die Stärke der Kursänderung ist dabei messbar. Die meisten Kursänderungen der Wertpapiere – 68 Prozent – sind nach der Random Walk Theory relativ kleine Bewegungen innerhalb einer „Standardabweichung“ vom Mittelwert. In der Finanzmarkttheorie verdeutlicht die Standardabweichung die Volatilität einer Anlage um ihren Mittelwert.

Die Messung der Renditevolatilität spielt bei der Beurteilung von Risiken eine bedeutende Rolle. Die Standardabweichung wird als die Quadratwurzel der Renditevarianz definiert. Innerhalb plus/minus zwei Standardabweichungen würde man 95 Prozent aller Kursänderungen antreffen und innerhalb von plus/minus drei Standardabweichungen lägen 98 Prozent aller Kursänderungen. Einige wenige Kursänderungen – die verbleibenden 2 Prozent – stellen besonders große Abweichungen dar und sind daher nach der Theorie sehr unwahrscheinlich. In der Praxis kommen diese an sich unwahrscheinlichen Kursveränderungen jedoch öfter vor als von der Theorie postuliert. Zum Beispiel wurden die Marktteilnehmer Ende September 2014 von einer Reihe sukzessiver Kurseinbrüche von mehreren Prozent am Tag überrascht. Innerhalb einer Woche verlor der Deutsche Aktienindex (DAX) 12,5 Prozent seines Wertes – eine Entwicklung, die nach der Normalverteilung keine realistische Wahrscheinlichkeit aufweisen würde (vgl. Kap. 2.3).

Verteilung der Kursbewegungen nach der Normalverteilung

Abb. 2: Anteil der Wertpapierkursänderungen nach Standardabweichungen

Werden die Kursbewegungen aufgereiht, so ergeben diese die Form einer Glockenkurve (vgl. Abb. 2). Die Vielzahl kleiner Kursbewegungen befindet sich in der Mitte, die seltenen großen Kursbewegungen an den beiden Enden der Glockenkurve. Die hier beschriebene Verteilung von Kursbewegungen entspricht der weit bekannten Normalverteilung von Carl Friedrich Gauß – auch Gaußsche Verteilung genannt.

Unabhängig von ihrer umstrittenen Anwendbarkeit auf Wertpapierkurse, da diese sich nicht exakt nach der von der Random Walk Theory postulierten Verteilung entwickeln (vgl. Kap. 2.3), sondern, wie oben erwähnt, zu bestimmten Zeiten gravierende Ausreißer an den äußeren Enden der Glockenkurve anzutreffen sind, gewannen die Erkenntnisse von Carl Friedrich Gauß große Beachtung im Bereich der Finanzmärkte. Die Bedeutung der Glockenkurve ist auch in den Wahrscheinlichkeitsprozessen der Natur (z.B. Intelligenzquotient) derart tief verwurzelt, dass die früheren Zehn-DM-Banknoten der Bundesrepublik Deutschland unter anderem das Abbild von Gauß sowie die Glockenkurve zeigten. (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: Zehn-DM-Banknote mit Glockenkurve

Formal lässt sich ein Random-Walk darstellen als:

P steht für den Preis des Wertpapiers zu den Zeitpunkten t bzw. t+1.

Der Ausdruck εt stellt einen Zufallsterm dar, der auf Basis der getroffenen Annahme die Form des Random-Walk bestimmt.

Die strengste Form des Random-Walk würde sich ergeben, wenn angenommen wird, dass der Zufallsterm εt einer Normalverteilung unterliegt, von der Vergangenheit unabhängig ist und einen Erwartungswert von Null aufweist (vgl. Mandelbrot & Hudson, 2004, S. 9 ff.).

Dies würde bedeuten, dass die „gestrige“ Kursänderung keine Auswirkung auf die „heutige“ hat und die „heutige“ Kursänderung keine Auswirkung auf die „morgige“.

Normalverteilung als Basis der Random Walk Theory

Aufgrund der zentralen Annahme, dass die Kursänderungen und damit auch die Renditen von Wertpapieren mittels der Normalverteilung (vgl. Abb. 4) annähernd beschrieben werden können, ist es wichtig, die Eigenschaften der Normalverteilung zu betrachten, die sich wie folgt auflisten lassen (vgl. Mandelbrot & Hudson, 2004, S. 35 ff.):

Die Fläche unter der Häufigkeitsfunktion beträgt immer 100 Prozent.

Die Höhe der Glockenkurve verdeutlicht die am häufigsten eintreffende Rendite – diese Rendite wird auch als Mittelwert der Renditen bezeichnet.

Die Normalverteilung ist symmetrisch, sieht links wie rechts vom Mittelwert gleich aus.

Die Wahrscheinlichkeit für höhere Renditen nimmt rechts vom Mittelwert immer mehr ab, ebenso wie für niedrigere Renditen links vom Mittelwert.

Die Normalverteilung wird durch den Mittelwert der Rendite μ (Mü) und der Standardabweichung in Form der Volatilität σ (Sigma) beschrieben.

Abb. 4: Beispielhafte Wertpapierentwicklung auf Basis der Normalverteilung

In Abhängigkeit vom Mittelwert und der Standardabweichung kann die Normalverteilung unterschiedliche Formen annehmen, die zugleich die erwartete Rendite und auch die Volatilität angeben (vgl. Abb. 5).

Abb. 5: Ausprägungsformen der Normalverteilung

In Abb. 5 sind drei Verteilungen erkennbar (A, B und C). Die Verteilungen A und B weisen den gleichen Mittelwert auf und befinden sich – gemessen am Mittelwert – am selben Ort. Die Verteilung C hat einen höheren Mittelwert und befindet sich dementsprechend weiter rechts auf der x-Achse.

Hinsichtlich der Volatilität sind die Verteilungen A und C gleich volatil. Die Verteilung B dagegen zeigt eine höhere Volatilität. Dies ist daran erkennbar, dass die Verteilung flacher ist als die beiden anderen. In den Verteilungen A und C liegen weit mehr Wahrscheinlichkeiten nahe am Mittelwert, während bei der Verteilung B mehr Wahrscheinlichkeiten an extremeren Werten liegen. Je flacher also eine Verteilung ist, desto höher liegt - gemessen als Standardabweichung - das Risiko.

Bereits mit diesem grundlegenden Konzept der neoklassischen Kapitalmarkttheorie zeigt sich eines der Hauptprobleme dieser wirtschaftswissenschaftlichen Stoßrichtung; nämlich, dass die Schlussfolgerungen aus empirischen Tests ggf. nicht valide sind, da sich die getroffenen Annahmen von vornherein als falsifizierbar erweisen (vgl. Beispiel 1.1).

Beispiel 1.1: Fehlende Validität empirischer Tests

Die nachfolgende Abbildung des deutschen Aktienindexes (DAX), verdeutlicht im Zeitraum von 2001 bis 2016 extreme Kursentwicklungen, die nicht den Annahmen der Random Walk Theory entsprechen (vgl. Kap. 2.3).

So läuft ein Anleger Gefahr, erhebliche Verluste zu erleiden, wenn er unter der Annahme der Random Walk Theory auf moderate Kursschwankungen innerhalb einer Standardabweichung setzt. Starke Kursschwankungen treten durch unerwartete Ereignisse auf und führen dazu, dass die Häufigkeit von Kursbewegungen, die an den äußeren Rändern der Dichtefunktion zu finden sind, häufiger auftreten, als dies nach Annahme der Random Walk Theory zu erwarten wäre. So können allerdings neben erheblichen Verlusten auch enorme Gewinne verbucht werden, wenn der Anleger entsprechend Glück hat.

Extreme Kursbewegungen zwischen 2001 und 2016 am Beispiel des DAX

Abb. 6: Kursentwicklung DAX 2000–2016 (Performanceindex); FactSet

Biographie von Louis Bachelier

Louis Jean-Baptiste Alphonse Bachelier wurde am 11. März 1870 in der französischen Hafenstadt Le Havre geboren.

Mit 22 Jahren begann er das Mathematikstudium an der Sorbonne. Sein Doktorvater war Henri Poincaré, bei dem Bachelier im Jahr 1900 mit der Arbeit „Théorie de la Spéculation“promovierte, worin er einen probabilistischen Zugang zu den Bewegungen der Aktienkurse suchte.

Bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges finanzierte Bachelier seinen Unterhalt durch Stipendien und als Dozent an der Sorbonne. Nach dem Krieg hatte er eine Lehrstuhlvertretung in Besançon, danach in Rennes. Ab 1927 hatte er die Professur in Besançon inne. Der damals renommierte Paul Lévy von der École Polytechnique warf ihm, ohne seine Arbeit gelesen zu haben, schwere Fehler vor, was Bacheliers Berufung an die Universität Dijon vereitelte. Seine Arbeit wurde von den Wirtschaftswissenschaftlern seiner Zeit so gut wie nicht wahrgenommen. Erst nach seinem Tod wurde die Bedeutung seiner Theorie erkannt. Bachelier gilt als Begründer der Finanzmathematik und als einer der Wegbereiter der Theorie der stochastischen Prozesse im Bereich der Finanzmärkte. Er starb am 26. April 1946 in St-Servan-sur-Mer, Frankreich (vgl. Mandelbrot & Hudson, 2004, S. 47 ff.).

1.2.3 Erwartungsnutzentheorie von Morgenstern und von Neumann

Die neoklassische Kapitalmarkttheorie beschreibt einen Marktteilnehmer als „rational“, wenn er realistische Erwartungen formuliert und diese entsprechend der Erwartungsnutzentheorie umsetzt. Im Gegensatz zu dieser Sichtweise kann es in der Realität geschehen, dass ein verhaltensorientierter Marktteilnehmer unrealistische Erwartungen hegt und auf die Beachtung der nachfolgend erläuterten Erwartungsnutzentheorie verzichtet.

Die Erwartungsnutzentheorie hat die Zielsetzung, rationales Verhalten unter Berücksichtigung von Risiken (Unsicherheit) zu analysieren (vgl. Bank & Gerke, 2005, S. 35 ff.). Dabei steht ein Entscheidungsträger im Mittelpunkt, der zwischen verschiedenen Handlungen wählen muss, deren Ergebnisse/Konsequenzen jedoch ungewiss sind. Die Erwartungsnutzentheorie bildet gemeinsam mit dem Bayes-Theorem (siehe Unterkapitel 1.2.4) der Informationsverarbeitung die Grundlage für die Effizienzmarkthypothese. Bei der Erwartungsnutzentheorie sind zwei Ausprägungen zu unterscheiden:

Objektive Erwartungsnutzentheorie

von Morgenstern/von Neumann (1947) – die Verteilungsfunktion möglicher Konsequenzen ist bekannt.

Subjektive Erwartungsnutzentheorie

von Savage (1954) – die Verteilungsfunktion der Konsequenzen ist unbekannt; der Entscheidungsträger muss in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit der Konsequenzen durch subjektive Schätzung festlegen.

Im Zentrum dieses Unterkapitels steht die objektive Erwartungsnutzentheorie von Morgenstern/von Neumann. Für die beiden Wissenschaftler war die Erwartungsnutzentheorie ein normativer Ansatz, bei dem die Entscheidungsfindung rational agierender Individuen dargestellt werden sollte (vgl. Forbes, 2009, S. 28). Die Theorie wird durch bestimmte Axiome verankert, die jedoch bei Betrachtung der tatsächlichen Verhaltensweise der Marktteilnehmer in der Realität oft verletzt werden. Im Rahmen der →Behavioral Finance wurde als Alternative zur hier aufgeführten normativen Theorie die Prospect Theory (vgl. Kap. 6.2) als deskriptive Theorie entwickelt. Diese von den Psychologen Kahneman und Tversky entwickelte Theorie nimmt an, dass die Marktteilnehmer ihre Ergebnisse relativ zu einem Referenzpunkt beurteilen, anstatt ihr Endvermögen zu betrachten. Daher können die Ergebnisse je nach Referenzpunkt als positive (Gewinne) oder negative Entwicklungen (Verluste) angesehen werden.

Grundgedanke der objektiven Erwartungsnutzentheorie

Zentrales Element der von Morgenstern und von Neumann entwickelten Theorie ist eine Nutzenfunktion u, über deren Erwartungswert Präferenzen abgebildet werden können. Bei der Berechnung des erwarteten Nutzens EU spielt die Ermittlung des Erwartungswerts eine besondere Rolle.

Formal lässt sich die Nutzenfunktion wie folgt darstellen:

Der Term u(ai) stellt den Nutzen der Ausprägung des Zustandes i der Alternative a dar. pi ist die entsprechende Eintrittswahrscheinlichkeit für das Auftreten dieser Ausprägung.

Die Summe der Eintrittswahrscheinlichkeiten beträgt dabei 1.

Nun ergeben sich zwei Alternativen a und b. Sofern a einen höheren Erwartungsnutzen aufweist als b, wird die Alternative a der Alternative b vorgezogen, d.h. a > b, wenn EU(a) > EU(b).

Der Erwartungsnutzen einer Alternative ist dementsprechend die entscheidende Grundlage einer rationalen Entscheidung, wobei ein rationaler Marktteilnehmer sich für die Alternative entscheidet, welche den höchsten Erwartungsnutzen aufweist (vgl. Kottke, 2005, S. 8).

Axiome für rationales Verhalten

Damit die jeweiligen Präferenzaussagen (Alternative a gegenüber Alternative b) rationales Verhalten nach sich ziehen können, müssen die Präferenzen drei entscheidende Axiome erfüllen. Die Forschungserkenntnisse der Behavioral Finance zeigen jedoch, dass diese Axiome unter realen Bedingungen nicht immer erfüllt werden.

Vollständige Ordnung

Das Axiom „Vollständige Ordnung“ besteht aus zwei Teilaxiomen – Vollständigkeit und Transitivität. Beide Eigenschaften müssen innerhalb des Axioms „vollständige Ordnung“ erfüllt sein.

Vollständigkeit bedeutet, dass alle Alternativen bei einer Entscheidung berücksichtigt werden. Für jede Alternative muss dementsprechend gelten, dass a > b oder b > a ist. Transitivität ist die Eigenschaft, die dann vorliegt, wenn alle Alternativen die Bedingung erfüllen, dass wenn a > b und b > c, dann ist auch a > c.

Die Verletzung dieses Axiomes und damit die Abkehr von der rationalen Verhaltensweise des Marktteilnehmers kann durch diverse →Biases (= Faustregeln bzw. Verzerrungen) aus der Behavioral Finance erklärt werden. Diese reduzieren zwar den Komplexitätsgrad der Entscheidung, liefern aber auch verzerrte oder unpräzise Ergebnisse, da sie die Entscheidungsalternativen einschränken.

So kann die Bandbreite der Alternativen eingeschränkt werden, wenn der Marktteilnehmer dem Home Bias unterliegt. In diesem Fall werden inländische Anlagen ausländischen bevorzugt, da mit inländischen eine höhere Sicherheit assoziiert wird.

Stetigkeit

Kann sich nun im Rahmen der Behavioral Finance ein Markteilnehmer eine Alternative eher vorstellen als eine andere, so wird diese mit einer höheren Wahrscheinlichkeit belegt, als Alternativen, die dem Marktteilenehmer weniger bekannt sind. Dieses als →Verfügbarkeitsheuristik (Availability Bias) bekannte Phänomen kann zu einer Verzerrung der subjektiven Wahrnehmung der objektiven Eintrittswahrscheinlichkeit der besagten Alternative führen.

Unabhängigkeit

Das Axiom „Unabhängigkeit“ formuliert die Bedingung, dass eine ursprüngliche Präferenz zwischen zwei Alternativen nicht verändert wird, wenn weitere Entscheidungsmöglichkeiten ins Spiel gebracht werden. Geht man von a > b aus und werden die beiden Alternativen durch die Alternative c ergänzt, dann erfüllt sich das Unabhängigkeitsaxiom, wenn für alle Wahrscheinlichkeiten p [p∈0,l] gilt:

p * a + (1-p) * c > p * b + (1-p) * c

Eine weitere Eigenschaft des Unabhängigkeitsaxioms ist die Substitutionsmöglichkeit einer Alternative durch eine andere, wenn der Entscheider gegenüber den beiden Alternativen indifferent ist. Die Substitution darf jedoch keine Auswirkung auf die Präferenz des Entscheiders haben.

Betrachtet man nun die Entscheidungsfindung unter psychologischen Aspekten, so wird ersichtlich, dass der Marktteilnehmer bei der Wahl zwischen zwei Alternativen auch emotionales Unbehagen verspüren kann. Diese Situation entsteht, wenn die nicht gewählte Alternative oder eine zusätzlich wählbare Alternative (in diesem Fall Alternative c) Eigenschaften besitzt, die im Gegensatz zu den vorhandenen Wertvorstellungen und Entscheidungen des Investors stehen. In diesem Fall entsteht nach der →Theorie der kognitiven Dissonanz (vgl. Kap. 6.1.3) von Leon Festinger ein emotionales Ungleichgewicht, welches durch die Verdrängung negativer Informationen zu einer Anlageentscheidung und Hervorhebung positiver Informationen abgebaut werden kann. Der Marktteilnehmer fängt an, durch →selektive Wahrnehmung (vgl. Kap. 7.1.2) den Umfang der zur Verfügung stehenden Informationen zu begrenzen. Ist eine Entscheidung bereits getroffen, wird versucht, durch →selektive Entscheidung (vgl. Kap. 9.1.1) die Fortführung der Anlageentscheidung zu gewährleisten.

Zielsetzung der Erwartungsnutzentheorie ist, rationales Verhalten unter Unsicherheit zu analysieren. Zentraler Gegenstand der Betrachtung ist das Treffen von Entscheidungen, ohne dass deren Ergebnisse/Konsequenzen bekannt sind.

Biographien von Morgenstern und von Neumann

Oskar Morgenstern wurde am 24. Januar 1902 in Görlitz geboren. 1925 promovierte er an der Universität Wien in Politischen Wissenschaften. Kurz darauf erhielt er ein Stipendium der Rockefeller Foundation. 1929 kehrte er aus den USA nach Wien zurück und nahm eine Professur an der Universität Wien an. Während seiner Tätigkeit an der Universität gehörte er zum so genannten „Österreichischen Kreis“, eine Gruppe von österreichischen Wirtschaftswissenschaftlern. 1938 emigrierte er in die USA und wurde Professor an der Princeton University, wo er mit von Neumann die Spieltheorie entwickelte.

Neben der Spieltheorie entwickelten sie auch die Erwartungsnutzentheorie als eine Methode, um Entscheidungen unter Unsicherheit zu bewerten.

Morgenstern wurde von der New York University zum Distinguished Professor of Game Theory and Mathematical Economics ernannt. Er starb am 26. Juli 1977 in Princeton.

John von Neumann wurde am 28. Dezember 1903 in Budapest geboren. Seine hohe Intelligenz zeigte sich schon im Kindesalter, indem er als Sechsjähriger blitzartig achtstellige Zahlen im Kopf dividieren konnte.

Nach dem Abitur besuchte er verschiedene Universitäten in Europa, sein Diplom machte er an der ETH Zürich. Daneben studierte er Mathematik und erwarb 1926 den Doktorgrad an der Universität Budapest. 1928 habilitierte er sich an der Universität Berlin mit der Arbeit Allgemeine Eigenwerttheorie symmetrischer Funktionaloperatoren.

1933 wurde er Professor für Mathematik am neugegründeten Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey. 1933 wurde von Neumann Mitherausgeber der Annals of Mathematics und 1935 der Compositio Mathematica. Zusammen mit Oskar Morgenstern (1902–1977) schrieb er 1944 The Theory of Games and Economic Behavior, womit er zum Begründer der Spieltheorie wurde. Außerdem schrieb er ein Buch über Quantenmechanik und beteiligte sich an der Entwicklung der axiomatischen Mengentheorie.

Im 2. Weltkrieg war von Neumann Berater der US-Armee. Ab 1943 arbeitete er am Manhattan-Projekt in Los Alamos zur Entwicklung von Atombomben.

John von Neumann erhielt für seine wissenschaftlichen Verdienste zahlreiche Ehrungen, darunter das Medal of Merit, das Medal for Freedom und den Albert Einstein Commemorative Award. Darüber hinaus wurde das John von Neumann Institute for Computing in Jülich nach ihm benannt. John von Neumann starb am 8. Februar 1957 in Washington D.C.

1.2.4 Informationsverarbeitung nach Bayes

Das von Thomas Bayes erarbeitete und nach seinem Tod von Richard Price im Jahre 1763 veröffentlichte Theorem ist eine weitere wesentliche Grundannahme rationalen Verhaltens.

Grundgedanke der Informationsverarbeitung nach Bayes

Wie in der Erwartungsnutzentheorie sind auch im Bayes-Theorem die verschiedenen Entscheidungsalternativen und deren – a priori – Eintrittswahrscheinlichkeiten bekannt. Kommt es zur Veränderung der Informationslage, so sollten sich die ursprünglichen Eintrittswahrscheinlichkeiten – a posteriori – an die neue Informationslage anpassen. Wird jedoch die notwendige Anpassung nicht vorgenommen, sind die Entscheider nicht in der Lage, die optimale (rationale) Entscheidung zu treffen.

Die bedingten Wahrscheinlichkeiten p(yj | Si) erhalten in diesem Zusammenhang die Bezeichnung likelihoods. Für den Eintritt des Zustandes si und der Information yj wird die bedingte Wahrscheinlichkeit p(si | yj) dadurch ermittelt, dass das entsprechende likelihood mit der A-priori-Wahrscheinlichkeit multipliziert wird und schließlich durch die entsprechende Gesamtwahrscheinlichkeit dividiert wird. Die Division erfolgt für den Fall, dass ein Signal yj empfangen wird (vgl. Kottke, 2005, S. 11 ff.).

Das Bayes-Theorem verdeutlicht, wie sich die Wahrscheinlichkeitseinschätzung eines Marktteilnehmers verändern sollte, wenn neue Informationen empfangen werden. Dabei erfolgt die Anpassung von A-priori-Wahrscheinlichkeiten zu A-posteriori-Wahrscheinlichkeiten.

Im nachfolgenden Beispiel soll verdeutlicht werden, inwiefern Marktteilnehmer ihre ursprüngliche Einschätzung hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung einer Aktie aufgrund von Analysteneinschätzungen verändern sollten. Nach dem Bayes-Theorem wäre zu erwarten, dass die Marktteilnehmer die zukünftige Entwicklung ihrer Aktie aufgrund zusätzlicher Information neu bewerten.

Auf den Kapitalmärkten ergibt sich bei Beobachtung der Marktteilnehmer ein differenziertes Bild. Nach Untersuchungen von Jürgen Bernhard (1993) wird ersichtlich, dass z.B. Analysten ihre Einschätzungen den gegebenen Informationen nicht zeitnah anpassen. Daher werden Handlungsempfehlungen erst mit Verzögerung an die neuen Informationen angepasst, wodurch Marktteilnehmer eine Überrendite erwirtschaften können, sofern sie diesen Zeithorizont ausnutzen. Bernhard bezeichnete diesen Zusammenhang als Gewinnankündigungsdrift (vgl. Kap. 4.4.3) und führte aus, dass ein Wertpapier bei positiven Meldungen weitere Gewinne und bei negativen Meldungen weitere Verluste erfahren kann. Die Ursache für diese Kursentwicklung kann darin gesehen werden, dass die zuvor kommunizierten Analysteneinschätzungen aufgrund der neuen Information schrittweise angepasst werden.