Beherzt - Anna Maurer - E-Book

Beherzt E-Book

Anna Maurer

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Beschreibung

Kindheit in den 1950er-Jahren, österreichische Provinz: eine Welt, wo das Leben in vorgezeichneten Bahnen verläuft. Früh zieht es Klara Berger, die Protagonistin, hinaus aus der Enge ihrer Herkunft, mit der Heirat meint sie, ihr Traumleben gefunden zu haben. Durch Zufall macht sie erste Erfahrungen mit Psychotherapie und Spiritualität – und dann ist nichts mehr, wie es war. Es beginnt ein innerer Entwicklungsweg, der sie in ein völlig neues Leben hineinkatapultiert. Beherzt geht sie ihren Weg, dessen einziger Kompass die tiefe Sehnsucht nach einem authentischen, sinnerfüllten Leben ist. Die eindrucksvolle, mit großer Ehrlichkeit und Kraft erzählte Lebensgeschichte einer Frau, die die Angst hinter sich lässt und dafür Glück, Zufriedenheit und wahre Liebesfähigkeit findet. Ein Buch voller Mut, Zuversicht und Lebensweisheit.

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Seitenzahl: 372

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Über das Buch

Eine „Liebesbeziehung“ mit dem Leben

Kindheit in den 1950er-Jahren, österreichische Provinz: eine Welt, in der das Leben in vorgezeichneten Bahnen verläuft. Früh zieht es Klara Berger hinaus aus der Enge ihrer Herkunft, mit der Heirat meint sie, ihr Traumleben gefunden zu haben.

Durch Zufall macht sie erste Erfahrungen mit Psychotherapie und Spiritualität – und dann ist nichts mehr, wie es war. Es beginnt ein innerer Entwicklungsweg, der sie in ein völlig neues Leben hineinkatapultiert. Beherzt geht sie ihren Weg, dessen einziger Kompass die tiefe Sehnsucht nach einem authentischen, sinnerfüllten Leben ist.

Gendergerechte Sprache ist mir ein Anliegen. Daher verwende ich abwechselnd die männliche und weibliche Form und betrachte beides als gleichwertig und austauschbar.

Hinweis: Etliche existenzielle, psychotherapeutische und transpersonale Erklärungen beruhen auf Seminaraufzeichnungen und Arbeiten von Sylvester Walch. Dankenswerterweise wurden sie für diesen Roman ohne detaillierte Quellenangaben freigegeben. Die entsprechenden Bücher und Inhalte von Sylvester Walch finden sich im Literaturverzeichnis und auf seiner Website www.walchnet.de.

Dieses Buch zu schreiben, war für mich ein langer Prozess, im Zuge dessen ich mich immer mit Menschen ausgetauscht habe. Ich möchte mich für die vielen Gespräche, für die Beratung und Unterstützung besonders bei drei Menschen bedanken: Angela Fischlmayr, Karin Demuth und Mathilde Fischer.

Vielen Dank auch an meine Schwester Lisl, die mir ihre Kindheitserinnerungen zur Verfügung gestellt hat.

Mein besonderer Dank gebührt meinem langjährigen Lehrer Sylvester Walch, der meine Entwicklung gefördert und über viele Jahre begleitet hat.

Anna Maurer

In dem Augenblick, in dem man sich endgültig einer Aufgabe verschreibt, bewegt sich die Vorsehung auch. Alle möglichen Dinge, die sonst nie geschehen wären, geschehen, um einem zu helfen. Ein ganzer Strom von Ereignissen wird in Gang gesetzt durch die Entscheidung und sorgt zu den eigenen Gunsten für zahlreiche unvorhergesehene Zufälle, Begegnungen und materielle Hilfen, die sich kein Mensch vorher je so erträumt haben könnte …

Was immer Du kannst, beginne es.

Johann Wolfgang von Goethe

Seit 35 Jahren wohne ich mitten im Zentrum von Wien. Hier bin ich zu Hause, in diesem stattlichen Altbau mit den Stuckverzierungen im Treppenhaus und dem Ausblick auf die kleine Gasse mit den imposanten Bürgerhäusern aus der Gründerzeit. Wenn ich die Tür zu meiner Wohnung öffne, tue ich das mit einem weiten, freien Gefühl in der Brust. Jedes Möbelstück, jedes Bild, jeder Teppich, jede Vase und jeder Kratzer im Parkettboden meiner Wohnung erzählt mir eine Geschichte aus meinem siebzigjährigen Leben.

Gerade ist es besonders behaglich in meinem Wohnzimmer. Die Nachmittagssonne schickt schräge Strahlen durchs Fenster, auf meinem Couchtisch liegt der dicke Papierstapel mit meinen Notizen und auf der Couch die kuschelige Wolldecke. Diese Notizen waren während der vergangenen Wochen mein ständiger Begleiter. Aus einem spontanen Impuls heraus habe ich begonnen, die Geschichte meines Lebens niederzuschreiben. Zuerst nur einzelne Episoden, dann sind viele Gedanken und Erinnerungen dazugekommen, glückliche und schmerzhafte. Gleich werde ich mich wieder darin vertiefen, weiterschreiben, streichen und ergänzen.

Eine WhatsApp-Nachricht leuchtet auf meinem Telefon auf: „Eben angekommen. Bin in dreißig Minuten da.“ Meine Schwester Rosi kommt früher als erwartet. Sie wohnt in der Nähe von München im Herzen einer kleinen Stadt an einem See. So wollte sie das immer schon: mittendrin im Trubel und – das Allerwichtigste – mit mehreren Cafés zur Auswahl. Wo immer sie hinkommt, sucht sie sich zuallererst ein nettes Kaffeehaus, das sind vermutlich ihre Wiener Wurzeln. Als sie hier zur Schule ging und studierte, war sie täglich mindestens einmal im Kaffeehaus, und so hält sie es auch dort.

Rosi wird übers Wochenende bleiben. Sie wohnt bei mir, wie immer, wenn sie nach Wien kommt. Das sind die raren Gelegenheiten, wo wir Zeit füreinander haben, wo nur wir beide die Köpfe zusammenstecken und niemand sonst aus unserer großen Familie dabei ist. Es klingelt, sie ist da. Wir umarmen einander herzlich, Rosi stellt ihren Koffer im Gästezimmer ab, und dann mache ich erst einmal zwei Flaschen Bier in der Küche auf. Händereibend kommt Rosi zu mir in die Küche. „Ah, ein Bierchen – genau das Richtige jetzt“, freut sie sich. Wir mustern einander. „Gut siehst du aus“, sagt sie schließlich. „Du aber auch“, gebe ich zurück. Kaum zu glauben, dass nun auch Rosi die Sechzig schon deutlich überschritten hat. Sie sieht so jugendlich-frisch aus mit den dunklen, schulterlangen Haaren und den großen, lebhaften Augen in dem schmalen Gesicht.

Während ich noch schnell in der Küche ein paar Dinge wegräume, schlendert Rosi mit dem Glas in der Hand ins Wohnzimmer. Sie sieht mein Manuskript auf dem Tisch liegen, nimmt es in die Hand und fängt an zu blättern – ohne mich erst lange zu fragen. Ich schmunzle. So war es immer schon – für Privatsphäre war bei sieben Geschwistern einfach kein Platz. Vor ein paar Jahren hätte ich Rosis Verhalten wahrscheinlich noch als übergriffig empfunden, doch in den letzten Monaten habe ich mich so intensiv mit meinem Leben auseinandergesetzt, dass ich deuten kann, was es ist: ein Ergebnis unserer jahrzehntelangen Vertrautheit.

„Was hast du denn da geschrieben?“, fragt Rosi neugierig.

„Über mein Leben“, lautet meine lapidare Antwort.

„Und – komm ich auch vor?“, bohrt Rosi weiter.

„Erwähnt wirst du schon, wie alle anderen Schwestern auch“, versuche ich erst abzuwiegeln.

„So, so, ist das alles?“

„Ja schon, was hast du gedacht?“

„Wenn du willst, dass ich es lese, dann will ich auch meine Kommentare dazu abgeben“, meint Rosi unverblümt und bestimmt, wie es eben ihre Art ist.

Ich denke kurz nach. Will ich, dass Rosi dieses Manuskript meines Lebens liest, bevor ich es fertiggestellt habe? Doch dann stimme ich schulterzuckend zu. „Okay, dann versuchen wir es einfach.“ Damit beginnt ein langer, unvergesslicher Abend. Ich fange an zu lesen.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Lebe dein Leben!

1.

Unsere Mutter erzählte oft, dass der Tag, an dem ich geboren wurde, einer der heißesten Julitage im Jahr 1950 war. Die Luft flimmerte vor Hitze, alle stöhnten, dennoch musste die Arbeit auf dem Feld getan werden. „Für uns Bauern gibt’s keine Ferien“, sagte Vater oft, und so waren er und sein Bruder auch an diesem Tag unermüdlich im Einsatz, um auf unserem Bauernhof die Ernte einzubringen. Mehrere Flaschen mit kaltem Tee standen unter einem Baum am Rand des Feldes, und sie griffen regelmäßig danach, um den brennenden Durst zu löschen.

Meine Mutter saß im Haus in der geräumigen Küche. Sie schälte einen Berg Kartoffeln, als die Wehen einsetzten. „Die mach’ ich jetzt noch fertig“, dachte sie, doch als sie aufstehen wollte, war da ein plötzlicher heftiger Schmerz, der sie aufschreien und in die Knie gehen ließ. Meine Großmutter eilte in die Küche. Sie brummte nur ungehalten: „Ganz ruhig, so schnell kommt das Kinderl nicht. Ich lauf’ zum Winkler Franz, dass er dich mit seinem Rettungsauto ins Krankenhaus nach Wien bringt.“ Franz Winkler war einer unserer Nachbarn, dessen Auto in unserem Ort ganz offiziell als Krankenwagen im Einsatz war. Wenig später fuhr er mit seinem schon etwas in die Jahre gekommenen Wagen vor, und meine Mutter stieg stöhnend vor Schmerzen ein.

Es war eine unkomplizierte Geburt. Um halb vier Uhr morgens des nächsten Tages während eines heftigen Gewitters tat ich meinen ersten Schrei. Mein Vater war stundenlang durch Haus und Hof geschritten und hatte unseren Knecht Franz und Großmutter und unsere gute Küchenseele mit sinnlosen Aufträgen herumgescheucht. Endlich läutete das Telefon. Damals konnte man von Wien nicht direkt in unser Dorf telefonieren, und das Telefonamt war nur zwischen sechs Uhr in der Früh und neunzehn Uhr am Abend besetzt. Wir gehörten zu den wenigen Familien im Ort, die ein eigenes Telefon besaßen. Die Post-beamtin beglückwünschte meinen Vater: „Herr Berger, gratuliere, Sie sind vor ein paar Stunden Vater geworden!“ Er bestürmte sie mit den Worten: „Ist’s ein Bub?“

„Ein Mäderl ist es“, flötete sie, „und die Hebamme sagt, es ist gesund und munter.“

Der ersehnte Stammhalter war es also noch nicht, aber es war ja noch Zeit. „Das nächste Mal wird’s bestimmt ein Bub“, tröstete ihn auch mein Großvater.

„Bereits eineinhalb Jahre später bist dann du gekommen …“, wende ich mich an Rosi, die aufmerksam zugehört hat.

„Dass du so genau Bescheid weißt über deine Geburt“, wundert sich Rosi. „Schade, ich habe Mutter nie danach gefragt, wie es war, als ich geboren worden bin. Nun kann es mir keiner mehr erzählen. Jedenfalls war es im Winter. Auffallend ist es ja, dass alle Kinder nach dir im Winter zur Welt gekommen sind. Das war wohl Familienplanung, damit nicht wieder mitten unter der Ernte so etwas passiert.“ Rosi verzieht ihre Mundwinkel zu einem zweideutigen Lächeln und sagt: „Ich hätte ja auch ein Bub werden sollen. Aber ich war immer gern ein Mädchen und später eine Frau. Als Bub hätte ich die Landwirtschaft übernehmen müssen, kein begehrenswertes Ziel für mich. Stell dir vor, ich wäre tatsächlich ein Bub geworden – unsere Familie würde ganz anders aussehen. Dann wären wir wahrscheinlich nur drei oder vier Kinder und nicht sieben geworden“, meint sie nachdenklich.

Und so setzte sich die Reihe der Mädchen fort. Nach Rosi kam Martha, dann Katharina, danach Johanna und zuletzt Veronika. Mutter erzählte, als sie das sechste Mädchen zur Welt gebracht hatte, hätte ihr die Hebamme in ihrer bekannt rauen, aber herzlichen Art das Kind mit den Worten gereicht: „Es is scho wieda a Madl! Soll ma s’ glei datränken?“ Darauf unsere Mutter: „Nein, gem S’ ma s’ her!“ Und zum Kind gewandt: „Du kannst doch nichts dafür, dass du ein Mäderl bist!“ Sie nahm Veronika in den Arm, und die lächelte sie an. Mutter bemerkte gerührt, dass sie beim Lächeln ein Grübchen in der Wange hatte. So liebte sie auch noch ihre sechste Tochter von Herzen und hoffte trotzdem inständig auf einen Sohn.

Als schon niemand mehr daran glaubte, kam Sebastian zur Welt. Mein Vater war überglücklich. Unsere Mutter hatte nie so viele Kinder haben wollen, höchstens ein oder zwei. Und sie hatte auch nie einen Bauern heiraten wollen. Als junge Frau hatte sie einige Monate in Zürich verbracht, wo sie das Leben der „Herrschaften“ kennengelernt hatte. Wie oft hatte sie uns von dem gutbürgerlichen Leben erzählt und davon, wie vornehm dort alles war! Hier hatte sie sich am richtigen Ort gefühlt. In der Obhut zweier älterer Damen hatte sie ein wenig Französisch gelernt und unter der Regie von Maximilian Schell, dem großen Schauspieler und Regisseur, eine kleine Nebenrolle als Wienerin gespielt.

Einmal hatte Maximilian Schell sie nach Hause begleitet, gerade als der erste Schnee fiel. Eine Schneeflocke in seiner Hand betrachtend, hatte er zu ihr gesagt: „So weiß wie diese Schneeflocke soll die Seele eines Mädchens sein.“ Das hatte sie sehr beeindruckt. Eine Handleserin hatte ihr damals sieben Kinder prophezeit. Anscheinend kann man seinem Schicksal nicht entkommen.

„Das von der Handleserin habe ich nicht gewusst. Ob das stimmt?“, wirft Rosi ein. „Erinnerst du dich, dass Mutter immer wissen wollte, welches Stück das damals war?“ Ich nicke. „Nachdem ich einige Jahre als Filmjournalistin gearbeitet habe, bin ich eines Tages Maximilian Schell begegnet. Ich habe die Gelegenheit genutzt und ihn gefragt, ob er sich an unsere Mutter erinnern könne. Sie war damals 17 Jahre alt gewesen, er hatte in Zürich ein Wiener Mädchen gesucht, das eine kleine Rolle in dem von ihm inszenierten Stück spielen sollte, und dafür unsere Mutter ausgewählt. Schell hat sich sofort erinnert und auch gleich gewusst, um welches Stück es sich gehandelt hat. Ich war beeindruckt.“

„Das hast du mir noch gar nicht erzählt!“

„Kann schon sein, aber lies weiter!“

Die erste Begegnung unserer Eltern war filmreif. Beide fuhren mit dem Fahrrad auf einem schmalen Feldweg in unserer Gegend aufeinander zu, und jeder wartete vergeblich darauf, dass der andere ausweichen würde. Es kam unweigerlich zum Zusammenstoß.

Dazu hat Rosi ihre eigene Theorie: „Klar, er ist Steinbock, sie Widder, da gibt keiner nach. Ich finde, sie hat recht gehabt, er hätte ausweichen sollen – so eine schöne Frau! Sicherlich ist er ihr ganz bewusst reingefahren, um mit ihr in Kontakt zu kommen. Ansonsten wären sie höflich aneinander vorbeigefahren, und sie hätten einander nie kennengelernt.“

Etwas später, im Sommer 1949, verliebten sie sich ineinander, und im Jänner wurde geheiratet, denn ich war schon unterwegs. All die Pläne meiner Mutter spielten ab diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr. Ein anderer Lebensabschnitt hatte begonnen für sie.

„Sie war wohl ganz schön verliebt in ihn gewesen“, kommentiert Rosi. „Vater hat mir einmal ganz stolz erzählt, dass sie ihm sogar sein Motorrad mit Speiseöl geputzt hat, damit es besonders glänzt. Also grad Mutter, die ja auch nicht wirklich gerne gearbeitet hat. Ausgerechnet in einer Bauernfamilie ist sie ‚gelandet‘. Sie hat sich doch geschworen, sie würde nie einen Bauern heiraten. Vater hat ihr alles Mögliche versprochen, sonst wäre sie diese Verbindung vermutlich nicht eingegangen. Sie wollte raus aus diesem Milieu, in dem sie auch selber aufgewachsen ist …“ Rosi und ich, wir können das beide nachvollziehen. „Ich muss sagen, ich wäre auch lieber in einem anderen Haus aufgewachsen … Eine Diplomatenfamile wäre mir recht gewesen, viel reisen, die Eltern studiert und mit vielen geistigen Interessen“, träumt Rosi laut vor sich hin. Kurz hängen wir beide unseren Erinnerungen nach, dann vertiefen wir uns wieder in meine Aufzeichnungen.

Unsere Eltern liebten einander anfangs sicherlich. Unser Vater hatte schließlich auch sehr nette Seiten. Er hatte unserer Mutter versprochen, sie zu verwöhnen. Sie würde nicht viel arbeiten müssen, es würde ihr immer gut gehen. Doch jetzt, wo sie da war, hätte sie sich das Leben doch anders vorgestellt, eben ein bisschen luxuriöser. Das Haus wurde bald zu klein für die wachsende Familie. Immer öfter beklagte sich Mutter, dass sie hier zu ärmlich wohnen müsse. „Du hast mir vor der Ehe anderes versprochen“, hielt sie unserem Vater immer wieder vor.

1960 wurde das alte ebenerdige Haus abgerissen, nur die zwei vorderen Zimmer mit der klassizistischen Fassade blieben stehen. Ein neues, einstöckiges Haus entstand, mit großzügigen Räumen. Nun hatten wir endlich auch ein Wohnzimmer. Das Familienleben spielte sich dennoch nach wie vor in der großen Küche ab. Hier nahmen wir unsere Mahlzeiten ein, hier las der Vater am Abend die Zeitung, die Mutter hörte Radio, während wir Kinder Hausaufgaben machten, miteinander spielten oder lasen. Wenn wir zu laut wurden, scheuchte uns Vater in unsere Zimmer. „Kann ich nicht einmal in Ruhe die Zeitung lesen!“ Aber Ruhe war in so einer großen Familie ein seltener Zustand.

„Ich erinnere mich auch noch an den alten Ofen in der Küche, als wir kleine Kinder waren. Er war das Zentrum damals, der Ofen. Er hat nicht nur die Küche gewärmt, er hat auch eine gute Atmosphäre in unserer Wohnküche geschaffen, auf ihm ist das Essen zubereitet worden. Der gute alte Ofen … Schade, dass es so was nicht mehr gibt“, bedauert Rosi. „Wir waren schon eine sehr traditionelle Familie, aber für einen Bauern war unser Vater außergewöhnlich, wenn man ihn mit vielen anderen Bauern vergleicht. Er war gesellig und hat gerne Führungsrollen übernommen.“ Rosi sieht nachdenklich auf ihre Hände: „Im Vergleich zu manch anderen im Ort sind wir richtig mondän aufgewachsen. Wien war ja auch in der Nähe. Weißt du noch, wie Vater uns bei seinen Erledigungen in die ‚Großstadt‘ mitgenommen und uns die Sehenswürdigkeiten erklärt hat? Trotz seiner bäuerlichen Vorlieben war er sowohl kunst- als auch filminteressiert, wenn auch alles eingeschränkt konservativ. „Ja, so war er“, stimme ich Rosi zu, „politisch aktiv, interessiert und gleichzeitig zutiefst in den herrschenden Konventionen verhaftet.“

Wir hatten ein großes Kinderzimmer für die jüngeren Schwestern im ersten Stock neben dem Elternschlafzimmer, um die Ecke ein Kabinett, das für Sebastian vorgesehen war. Wir drei älteren Mädchen waren privilegiert, wir durften im Erdgeschoss schlafen, etwas weiter weg von den Eltern. Außerdem wurde unser Zimmer neu eingerichtet, inklusive einer modernen Spiegelkommode, auf die wir sehr stolz waren. Jeden Abend vor dem Zu-Bett-Gehen wünschte Vater jeder von uns Gute Nacht, und wir Kinder antworteten im Chor: „Schlof guat, Vata!“

„Die Spielgelkommode war so schick!“, erinnert sich Rosi und fährt fort: „Neben der Küche war das Arbeitszimmer von Vater, das wir kaum zu betreten gewagt haben. Es war für uns wie ein Heiligtum, es gehörte nur Vater. Und er war so ordentlich.“

„Ja, sein Schreibtisch war immer aufgeräumt.“

„Wenn ich da an meinen Schreibtisch denke, ich bin da eine richtige Chaotin dagegen. Er kannte jeden seiner Stifte. Wenn jemand sich von ihm mal heimlich etwas ‚ausgeliehen‘ hatte, dann gab es sofort Ärger.“ Rosi hebt entschuldigend die Hände: „Jetzt habe ich dich schon wieder unterbrochen.“

Unser Haus war großzügig gebaut, alle Zimmer waren geräumig. Wir hatten eine große Speisekammer und sogar eine Veranda – der reine Luxus! Im Obergeschoss gab es eine Terrasse, die kaum genutzt wurde. Sie war der ideale Ort, an dem wir uns in Jugendjahren zum „heimlichen“ Rauchen trafen. Im Hof befanden sich die Stallungen.

Vater hatte einen großen Stall für die Kühe gebaut. Als jedoch der Milchpreis verfiel, stellte er auf Mastschweine um. Bis zu 120 Schweine drängten sich damals in unserem Stall. Selbst einen Teil des Hofes funktionierte Vater zum Freiluftstall um, damit die Schweine einen größeren Auslauf hatten. Ausmisten und Ställe Reinigen, das war eine der meistgehassten Aufgaben von uns Kindern. Wir verabscheuten den Gestank des dampfenden heißen Mists.

Regelmäßig schlachtete unser Vater ein Schwein, um die Familie mit Fleisch zu versorgen. Auch beim Schlachten mussten wir zu unserem Leidwesen häufig mit anpacken. Doch es faszinierte uns, mit welcher Hingabe und Freude unser Vater diese Arbeit verrichtete. Er holte aus dem geschlachteten, hängenden Schwein die Innereien heraus, voller Konzentration und Sorgfalt. Er produzierte Würste, die wir später mit Senf und Kren genüsslich verspeisten. Weniger begeistert waren wir von der Blutwurst, der Blunzen und der Blunzensuppe. Das Schlimmste waren der unmittelbar nach dem Schlachten gereichte Blutsterz und das Stichfleisch. So gab es bei uns oft vom Schwein zu essen. Nur freitags standen Zwetschkenknödel oder Krautfleckerl, Buchteln mit Vanillesauce oder gebackener Kabeljau auf dem Speiseplan …

„… oder auch Linsen mit Knödeln“, wirft Rosi ein. „Das haben wir damals gehasst, heute liebe ich dieses Gericht und mache es auch öfter. Die Zwetschkenknödel waren köstlich! Unsere Mutter konnte wirklich besonders gut kochen. Das hat sogar unser Vater zugegeben.“

„Obwohl sonst wenig Lob über seine Lippen kam …“

„Was das Schlachten anbelangt: Ich habe ihm gerne beim Ausnehmen der Innereien zugeschaut“, meint Rosi. „Er hätte auch Chirurg werden können. Mit welcher Sorgfalt und Liebe er das gemacht hat … Es war fast meditativ, ihm dabei zuzusehen.“

Ich nicke. Ich erinnere mich noch gut daran, mit welcher Freude er die Würste gemacht hat, Metzger wäre auch ein Beruf gewesen für ihn. Seine Würste schmeckten fantastisch. „Da waren noch keine Antibiotika und so viel Gift enthalten wie heute. Er war eindeutig der praktische Typ“, stellt Rosi fest. „Wenn ich heute über den Weihnachtsmarkt schlendere und an so einer Wurst nicht vorbeigehen kann, ohne sie zu kaufen, dann sage ich mir: Das war die Kultur meiner Kindheit.“

„Dann hat Vater in den Sechzigerjahren ja auch noch die Buschenschank eröffnet, weil wir doch den großen Keller, guten Wein und das Selbstgeschlachtete hatten“, erinnere ich Rosi. „Die Mutter hat in der Küche das Essen vorbereitet, und wir haben die Gäste bedient, die im Hof an den langen Holztischen gesessen sind – und bei schlechtem Wetter im Keller.“

„Und Immer wieder sind Freunde von uns auf ein Glas Wein vorbeigekommen, vor allem die Burschen, die gerne im Mäderlhaus vorbeigeschaut haben“, grinst Rosi.

„Möglicherweise haben wir bei dem einen oder anderen vergessen abzukassieren …“ Ich zwinkere ihr verschwörerisch zu. „Jedenfalls hat Vater irgendwann gemeint, dass sich das Geschäft mit dem Heurigen nicht mehr lohnen würde, und den Betrieb wieder eingestellt. „Ja, das Bedienen hat uns Spaß gemacht“, lacht Rosi. „Eindeutig die angenehmste Arbeit, die wir machen mussten. Endlich eine Tätigkeit, bei der man schön gekleidet sein konnte, bei der man nicht schmutzig wurde! Und das Gesellige, das haben wir alle vom Vater geerbt, unsere Mutter war ja da eher etwas zurückhaltend. Nur, so lustig wie unser Vater war keine von uns, am ehesten noch Katharina.“ Sie bedeutet mir weiterzulesen.

2.

Uns Schwestern verband eine tiefe Liebe. Natürlich hatten wir auch heftige Auseinandersetzungen und Kämpfe, die lautstark und nicht selten mit körperlichem Einsatz ausgetragen wurden. Wir besprachen unsere Erlebnisse miteinander, wir vertrauten einander unsere tiefsten Geheimnisse an, wurden wider Erwarten verraten und verleumdet. Wir waren verfeindet und wieder verbündet, kämpften und schlugen einander, schimpften übereinander, lachten und weinten zusammen. Ständig redeten wir miteinander und übereinander. Vertrautheit und hintergangen zu werden, das gehörte unter uns Schwestern zusammen. Ebenso wie Unterstützung und Konkurrenz, Wettkampf und Teamgeist. Alles durfte bei uns ausgelebt werden. Nur selten mischten sich die Eltern ein.

Ich lernte früh mich durchzusetzen, denn meine Vorrangstellung als Älteste wollte ich mir von niemandem streitig machen lassen, schon gar nicht von Rosi. Sie war ja nur eineinhalb Jahre jünger und forderte mich ständig heraus. Wir waren so gegensätzlich wie Geschwister nur sein können – Schneeweißchen und Rosenrot. Ich war blond, Rosi war dunkelhaarig. Ich war verträumt, sie packte an. Ich war sensibel, sie war resolut. Ich war bedacht, sie war schnell. Ich war schüchtern, sie war laut. Ich war ruhig, sie war wild. Ich war die Langstreckenläuferin, und sie war die Sprinterin.

Rosi seufzt: „Ich muss wirklich eine große Herausforderung für dich gewesen sein. Ich habe manchmal ein schlechtes Gewissen gehabt, dass ich so mit dir umgegangen bin, später, als ich schon längst erwachsen war, und vor allem in der Zeit, in der wir uns ausgesprochen schlecht verstanden haben.“ Sie hält kurz inne. „Aber heute weiß ich, dass ich kein schlechtes Gewissen zu haben brauche, weil ich das Recht hatte, so zu sein, wie ich war und wie ich bin. Ich war und bin einfach die Wildere und du die Ruhigere. Ich habe mich manchmal als die Hauptfigur in Der Widerspenstigen Zähmung gesehen. Und als Kind habe ich mich tatsächlich mit Rosenrot identifiziert, während du für mich Schneeweißchen warst. Das war mein Lieblingsmärchen damals. Ich war einfach die Mutige und Draufgängerische und du die Zarte und Weibliche.“

Während Rosi das erzählt, fällt mir noch folgende Szene ein und ich kritzle schnell ein paar Notizen in mein Heft: Ich war in der ersten Klasse Volksschule und machte mit Vater Rechenaufgaben. Er forderte mich auf, sie ohne Hilfe meiner Finger im Kopf zu lösen. Rosi war auch dabei, sie saß unter dem Tisch. Sie aber rechnete mit den Fingern und rief immer wieder blitzschnell das Ergebnis von unten hervor.

Rosi trinkt genießerisch von ihrem Bier und sieht mir zu. „Ist dir noch was eingefallen?“

„Ja, kleinen Moment noch. Wenn ich so mit dir rede, kommen immer wieder Episoden aus unserer Kindheit hoch. Eine davon beschreibe ich jetzt gleich.“

Wenn Rosi und ich um die Wette liefen und sie merkte, dass sie nicht gewinnen konnte, blieb sie einfach stehen und sagte: „Ich spiel nicht mehr mit.“ Als ich sie viel später einmal daran erinnerte, meinte sie nur: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du einmal schneller warst als ich.“

Das Gefühl, zu langsam zu sein, bei allem zu lange überlegen zu müssen, prägte mich für mein ganzes Leben. Viele Jahre lang erschienen mir die anderen schneller und klüger als ich. Irgendwann wusste ich: Ich bin ausdauernd, ich weiß, was ich will, und lasse mich nicht so leicht aus dem Konzept bringen. Auch wenn mich andere überholen, bleibe ich beharrlich an meinem Vorhaben dran. „Die Durchzieherin“ – so nannten mich meine Geschwister schon in jungen Jahren.

Rosi bestätigt mir das auch heute wieder: „Ja das bist du – ich bin das nicht. Ich weiß vor lauter Ideen oft gar nicht, wo ich beginnen soll. Ich arbeite oft an mehreren Projekten gleichzeitig, die ich natürlich nicht alle zu Ende bringen kann. Oder ich fange etwas mit Begeisterung an und hör wieder auf, wenn es etwas Neues, Interessantes gibt. Na ja, ein bisschen was habe ich ja auch fertiggebracht – mit zeitlichem Druck von außen. Ohne Druck geht gar nichts bei mir.“

„So haben wir eben alle unsere Strategien entwickelt, um uns behaupten und etwas durchsetzen zu können“, sinniere ich. „Die Kindheit ist wohl immer eine Art Überlebenstraining.“

„Aber das Leben auf einem großen Bauernhof hat trotz strenger Erziehungsregeln auch viel Freiraum für uns bedeutet“, erwidert Rosi.

„Das Einzige, was man bei uns zu Hause nicht durfte, war, eine Schwäche zuzugeben. Dann war man verkauft und verraten, verspottet und verloren. Dass das nicht unproblematisch war, habe ich erst viel später verstanden.“ Rosi nickt. „Ja, eine Schwäche zu zeigen, das war niemals gut. Unser Vater hätte das nicht verstanden, und unsere Mutter hätte uns dafür lächerlich gemacht – so gutherzig sie sonst war. Auch sie hat nur Stärke gezeigt. Sie war ja auch eine starke Frau und unser Vater ein selbstbewusster Mann, der wusste, was er wollte, und der keine Angst kannte. Das hat uns Sicherheit gegeben: Er hat immer einen Weg gewusst.“ Ich nehme meine Ausdrucke wieder zur Hand und lese weiter.

Innerhalb der Familie war man nie allein. Hatte man sich mit einer Schwester zerstritten, was oft genug der Fall war, gab es ja noch andere Schwestern, die für einen da waren. Obwohl unsere Mutter sehr fürsorglich war, wusste sie auch, dass ihre Kraft und ihre Zeit nicht für alle reichten. So war sie immer vor allem für diejenigen da, die ihre Unterstützung, ob emotional oder finanziell, gerade am meisten brauchten. Mutter handelte nach einer höheren Gerechtigkeit. Als Kind fand ich diese Haltung oft ungerecht und wünschte mir, dass sie ihre Fürsorge auf uns alle gleichmäßig verteilt hätte. Heute denke ich: Wie hätte sie das schaffen sollen? Jedes Kind gleich zu behandeln, war ohnehin eine Illusion – auch wenn wir genau das von ihr forderten.

Mutter wollte uns immer jeden Wunsch erfüllen. Dass das finanziell oft nicht möglich war, tat ihr sehr weh. Sie verausgabte sich in vielerlei Hinsicht, um uns glücklich zu machen. Als wir Kinder trotz ihrer Liebe auch unsere Krisen und Probleme hatten, enttäuschte sie das sehr.

„Sie hat viel Geld für uns ausgegeben“, murmelt Rosi nachdenklich. „Als der Zahnarzt in Wien zu ihr gesagt hat: ‚Am besten wären Goldplomben für ihre Kinder‘, da hat sie doch tatsächlich für jede von uns Goldplomben in Auftrag gegeben, ohne das mit unserem Vater zu besprechen. Als Vater dann Monate später die Kontoauszüge gesehen hat, war das ein Streit, den ich bis heute noch in Erinnerung habe. Für sie hat immer nur gegolten: Nur das Beste für die Kinder.“

Rosi schüttelt in Erinnerung daran den Kopf: „Und weißt du eigentlich, dass Mutter zu mir immer wieder gesagt hat: ‚Um dich brauch ich mich nicht zu kümmern. Du schaffst das alles alleine.‘“

„Das zeugt doch von großem Vertrauen in dich“, werfe ich ein.

„Stimmt, und das hat mir auch gefallen, obwohl sie mich etwas weniger finanziell unterstützt hat, weil sie gemeint hat, dass ich das nicht so nötig hätte. Sie hatte ja immer derjenigen Geld gegeben oder was Neues gekauft, von der sie angenommen hat, dass sie das für ihr ‚Glück‘ grad brauchen würde.“

Ich beschließe, das erst einmal so stehen zu lassen.

Als Mutter eines Tages wieder einmal alles zu viel wurde, sie an allem und jedem etwas auszusetzen hatte und jammerte, dass ihre Kinder ihr nie auch nur eine Minute Zeit ließen, warf Rosi vorwurfsvoll ein: „Warum habt ihr dann so viele Kinder in die Welt gesetzt?“ Wir anderen Kinder hielten den Atem an, und auch meine Mutter zog hörbar die Luft ein. Dann holte sie Vater zu Hilfe. Der beantwortete die Frage so: „Setzt euch einmal alle nebeneinander! Bei wem hätten wir aufhören sollen? Von welcher von euch hättet ihr gerne, dass sie nicht da ist?“ – Damit war das Thema schnell erledigt, und Rosi schlug schuldbewusst die Augen nieder.

Rosi schmunzelt, als ich ihr diese Stelle vorlese. „Interessant, dass du dich daran noch so gut erinnerst. Ich habe damals noch zu Mutter gesagt: ‚Zwei Kinder wären doch genug gewesen: die Klara, sie hätte Bäuerin werden können und die Landwirtschaft bekommen, und ich, mich hättet ihr studieren lassen können.‘ Mein größter Wunsch war es immer, zu studieren. Praktische Arbeit hat mich nie interessiert, und Landwirtschaft schon gar nicht. Ich wollte immer nur lesen, etwas Neues lernen, verreisen, die Welt kennenlernen, Sprachen lernen, mit klugen Menschen zusammen sein, spannende Diskussionen führen …“ Rosi blickt versonnen in ihr Glas, dann richtet sie sich auf. „Wie geht es weiter?“

Bei so vielen Kindern war es fast ein Naturgesetz, dass jedes das Gefühl hatte, zu kurz zu kommen. Obwohl Mutter sich so sehr bemühte, schien uns das oft zu wenig zu sein. Wir beobachteten eifersüchtig, ob die anderen Schwestern nicht bevorzugt wurden. Wenn eine von uns etwas bekam, kam sofort die Frage: „Warum hat sie jetzt schon wieder etwas bekommen? Und was krieg’ ich?“ Wir waren – zumindest in den Augen unserer Eltern – gierige und schier unersättliche „Gfraster“.

Im Nachhinein kann ich heute verstehen, dass eine Mutter mit so vielen Kindern nicht allen gerecht werden kann. Ich erinnere mich sogar, dass sie einmal meinen Geburtstag vergessen hat. In gewisser Weise war es verständlich, weil mein Geburtstag in den Hochsommer fällt, wo es auf dem Bauernhof besonders viel Arbeit gibt. An meinem Geburtstag waren alle mit der Ernte beschäftigt. Man vergaß mich, niemand gratulierte mir. Tief enttäuscht und gekränkt verbrachte ich den ganzen Tag in der Hoffnung, irgendjemand würde sich darauf besinnen. Ich malte mir aus, wie es allen von Herzen leidtun würde. Dann wäre ich wieder versöhnt und glücklich. Aber die Stunden vergingen, die heiße Julisonne brannte vom Himmel, es herrschte hektische Stimmung, es gab Probleme mit dem Mähdrescher, die schweren Getreidewägen mussten ins Lagerhaus gefahren werden. Der Einsatz jedes Einzelnen wurde gebraucht. In der Küche brutzelte das Essen, das meine Mutter dann aufs Feld bringen würde. Es wurde von allen, die bei der Ernte mithalfen, im Schatten eines Baumes verzehrt. Der schöne Tag sollte zur Gänze genützt werden. Als die Sonne sich senkte, kehrten alle nach Hause zurück, müde, verschwitzt und staubig. Das Tagwerk war getan, langsam kehrte wieder Ruhe ein.

Von dieser Ernte hing ein Großteil unseres Einkommens ab. Und doch, ich war sieben, es war mein Geburtstag, und meine Familie hatte ihn vergessen. Ich hatte mir keine Geschenke, keine Geburtstagstorte, keine besondere Aufmerksamkeit erwartet, nur dass man mir gratulieren und an mich denken würde. Am Abend, nachdem ich bereits einen ganzen Tag gelitten hatte, fiel es meiner Mutter ein: „Klara, wie haben wir nur deinen Geburtstag vergessen können! Kinder, Vater, kommt alle her, jetzt lassen wir die Klara richtig hochleben!“

Dieses Erlebnis machte mir bewusst, dass es bei so vielen Kindern für jedes Einzelne nicht viel Aufmerksamkeit geben konnte. Ich fasste einen Entschluss: Im nächsten Jahr würde ich selbst dafür Sorge tragen, dass das nicht mehr passieren würde. In unserer Küche hing ein Kalender, in den wichtige Termine eingetragen wurden. Und da schrieb ich hinein: Klara hat in fünf Tagen Geburtstag, Klara hat in vier Tagen Geburtstag! So lernte ich, auf die Erfüllung meiner Wünsche und Sehnsüchte nicht tatenlos zu warten. Das half mir auch später in meinem Leben sehr.

3.

Obwohl ich oft nicht gesehen wurde, war es dennoch schön, in einer großen Familie aufzuwachsen, in der Vielfalt Platz hatte und vieles ausgelebt werden durfte. Ich lernte früh, mich vertrauensvoll auf Menschen einzulassen, auch wenn ich befürchten musste, dass Schwächen gegen mich ausgespielt werden könnten. Und ich lernte schnell, mich durch Kritik oder Rückschläge nicht von meinem Weg abbringen zu lassen.

An dieser Stelle blicke ich zu Rosi. Sie lächelt. „Heute find ich es auch schön, so viele Schwestern zu haben, aber damals habe ich es nicht gut gefunden. Mir war das peinlich, in einer Familie mit so vielen Kindern zu leben, und den Spruch von Vater habe ich ziemlich doof gefunden: ‚Wir sind reich – kinderreich.‘ Ich wäre lieber wirklich reich gewesen. Mir war es peinlich, das Kind von Bauern zu sein. Ich wollte in einer gebildeten Familie leben. Was sollte ich nach den Ferien in der Schule erzählen? Alle anderen waren in den Ferien in Kärnten, in Italien, auf den Inseln in – damals noch – Jugoslawien gewesen, nur ich habe nichts zu erzählen gehabt.“

„Nun, immerhin war unser Vater dann Bürgermeister. Das hat dir bestimmt gefallen, oder?“

„Ich war damals erst acht Jahre alt, an die Wahl erinnere ich mich nicht so gut“, sagt Rosi. „Als er dann Bürgermeister war und jedes Jahr am 1. Mai vor unserem Haus der Maibaum aufgestellt worden ist, hat mir das tatsächlich sehr gefallen“, erzählt sie. „Nun waren wir plötzlich die Töchter des Bürgermeisters.“

Im Jahre 1960, als ich zehn Jahre alt war, kandidierte unser Vater als Bürgermeister. Ein großes Ziel, denn noch nie zuvor hatte die konservative Partei in unserem Ort den Bürgermeister gestellt. Weil ich es als Schmach und persönliche Niederlage empfunden hätte, wenn Vater dieses Ziel nicht erreicht hätte, schien mir Beten das Einzige zu sein, was ich dafür tun konnte. Meine Gebete wurden erhört beziehungsweise hatte ihm wohl vielmehr seine Beliebtheit im Ort zum Sieg verholfen. Der Vater einer Schulkollegin war der Gegenkandidat gewesen. Wie es ihr damit erging, dass ihr Vater in der Wahl unterlegen war, daran dachte ich in meinem Hochgefühl des Triumphs keine Sekunde.

Trotz der strengen Regeln, die wir nun als Kinder des Bürgermeisters einzuhalten hatten, war ich sehr stolz. Mein Vater war ein engagierter Politiker, alle Menschen aus dem Ort wandten sich mit ihren Fragen und Nöten an ihn. Er fühlte sich für alle und alles zuständig, und die Bewohnerinnen des Ortes liebten ihn dafür. Es imponierte mir, wie selbstbewusst und selbstverständlich unser Vater seine Meinung vertrat. Er war ein Mann, der zu wissen schien, was es zu tun gab und wo es langging. Im Grunde genommen orientierte er sich an den Grundwerten seiner Partei und an denen der katholischen Kirche, und er vertrat sie voller Zivilcourage.

Vater genoss es, unter Menschen zu sein, und er brachte oft Besucher mit zu uns nach Hause. So war bei uns immer etwas los. Dass sich zwanzig oder mehr Menschen bei uns zum Mittagessen um den großen Küchentisch versammelten, war ganz normal. Egal, ob Beamte von der Landesregierung oder Handwerker, wer auch immer bei uns zu tun hatte, wurde herzlich zum Essen eingeladen. Manchmal geschah es, dass für uns Kinder, besonders für die, die später von der Schule nach Hause kamen, nichts mehr vom Mittagessen übrig war. Dann musste ein Schmalzbrot genügen.

„Ich habe das so gern gehabt, wenn Leute bei uns waren“, erinnert sich Rosi. „Erstens war Vater dann immer gut drauf, und zweitens habe ich gerne den Gesprächen der Erwachsenen zugehört. Manchmal gab es tatsächlich nichts Warmes mehr zu essen für uns, aber da war ja noch immer der Kühlschrank, und der war immer randvoll mit allem, was geschmeckt hat.“

„Ja, in unserer Familie wurde immer gern gut und viel gegessen. In dieser Hinsicht war unsere Mutter ganz und gar ‚italienische Mama‘“, schmunzle ich und lese weiter.

Meine Mutter kochte und wusch ab, kochte und wusch ab. Auch wenn ihr die viele Arbeit oft über den Kopf wuchs, besaß sie – ähnlich wie mein Vater – das Talent, sich das Leben angenehm zu gestalten. Sie liebte nämlich gesellschaftliches Zusammensein und Spaß, Feste und Feierlichkeiten.

Unter vielen Menschen präsentierte sich Vater immer vergnügt und gut gelaunt. Leidenschaftlich gerne unterhielt er andere, stundenlang konnte er Witze erzählen und er freute sich, wenn er alle zum Lachen brachte. Das ging mitunter auf Kosten der Mutter, denn auf ihre Bedürfnisse nahm er keine Rücksicht. Oft wurden wir um unseren lustigen Vater beneidet. Die anderen im Dorf dachten, bei uns zu Hause sei es immer locker und unbeschwert. „Wenn ihr wüsstet“, antworteten wir dann, aber man glaubte uns nicht.

Vater war außerdem ein begeisterter Musiker mit absolutem Gehör. Alle Kinder mussten Klavier spielen lernen – koste es, was es wolle. Einmal pro Woche reiste eine Klavierlehrerin aus Wien an. Wir Mädchen übten eher lustlos, doch Vater empfand dabei solche Freude, wenn er uns am Klavier klimpern hörte, dass er seine Geige holte und ungebeten mitspielte. Auch hier gewann sein Perfektionssinn rasch die Oberhand, und so manches Mal holte er das Metronom, damit wir im Takt blieben. So wurde aus dem spontanen Musizieren schnell wieder eine Übungsstunde.

Ein regelmäßiger Besucher war der Klavierstimmer aus Wien. Wenn er den Flügel komplett auseinandernahm, putzte und alle Tasten und Saiten stimmte, sahen wir Kinder ihm bewundernd zu. Unser Flügel stammte aus Mutters Elternhaus – angeblich hatte darauf schon Friedrich Gulda, der berühmte Pianist, gespielt. Er war öfters in den Ferien auf Sommerfrische im Nachbarort gewesen, wo unsere Großeltern als Einzige ein Klavier besessen hatten.

Vater kaufte auch noch ein Harmonium, eine Ziehharmonika für Rosi, eine Geige für Katharina und später eine Gitarre für Veronika. Nichts war ihm zu teuer, wenn es um die Musik ging. Schon als zehnjähriger Bub hatte er Flügelhorn spielen gelernt und wurde noch im gleichen Jahr Mitglied der Ortsmusikkapelle. Es wäre nicht Vater gewesen, hätte er nicht auch hier die „erste Geige“ spielen wollen. Bereits mit 33 Jahren übernahm er die Leitung der Kapelle, die er dann zwanzig Jahre innehatte. Gemeinsam zu musizieren und das Beisammensein mit den Musikanten bereiteten ihm große Freude. Er legte großen Wert auf die bestmögliche Spielweise.

„Ach ja, die Musikkapelle … Da war ich auch dabei. Ich habe die Tschinelle gespielt, Martha die große und Katharina die kleine Trommel“, entsinnt sich Rosi. „Wir haben mindestens einmal pro Woche am Abend im Wirtshaus mit der ganzen Kapelle geprobt. Da haben wir dann ein Kracherl oder einen Almdudler bekommen, was uns der Vater sonst nie erlaubt hat.“

„Und ihr habt euch immer wieder und wieder eine Flasche bestellt, um auszukosten, was euch sonst vorenthalten worden ist“, ergänze ich.

„Dass wir dringend auf die Toilette gehen hätten müssen, hatten wir uns aber während der Probe nicht zu fragen getraut. Wir haben bis zur Pause warten müssen. So groß war unsere Angst vor dem Vater, dass wir nicht einmal verlangt haben, was wir dringend benötigt hätten. Und das ist nur ein Beispiel. Das zieht sich durch das ganze Leben mit ihm zusammen durch. Na ja, immerhin, die Ziehharmonika habe ich heute noch. Was kommt in deinen Aufzeichnungen als Nächstes?“

Die Ehe unserer Eltern wurde mit der Zeit immer schwieriger. Mutter hatte sich in der bäuerlichen Umgebung nie wirklich heimisch gefühlt. Immer öfter kam es zu Streit und Kritik. Mutter provozierte Vater, er wurde aufbrausend und brüllte, und sie stellte sich dann als Opfer dar. Sie war tatsächlich mit den vielen Kindern oft überfordert, und Vater spielte dann den Richter, wenn er von der Feldarbeit nach Hause kam. Wir kassierten so manche Ohrfeige und hatten als Strafe stundenlang am Boden zu knien.

Welche unterschiedlichen Rollen Vater und Mutter in der Familie einnahmen, wurde besonders deutlich, wenn Vater abends zur Gemeinderatssitzung musste. Kaum hatte er die Haustür hinter sich zugeschlagen, rief Mutter uns Kinder zu sich: „Kinder, heute machen wir es uns gemütlich.“ Verbotenerweise wurden dann Sardinen, Wurst und andere Köstlichkeiten gekauft. Bei unserem Nachbarn, dem Besitzer eines kleinen Lebensmittelgeschäftes, konnten wir zu jeder Tagesund Nachtzeit einkaufen gehen, ein Anruf genügte. Wir saßen dann mit Mutter am Küchentisch, plauderten und lachten und beschwerten uns über unseren strengen Vater. Bei ihm durfte nur gegessen werden, was Haus und Garten hergaben – alles vom Schwein und von den Hühnern, Äpfel und Birnen. Für die Jause in der Schule gab es ein Schmalzbrot und einen Apfel und zur Nachmittagsjause wieder ein Schmalzbrot und einen Apfel. Butter stand nicht zur Diskussion, die hätten wir ja kaufen müssen.

Als ich diese Stelle vorlese, erinnert mich Rosi an ein kleines Geheimnis aus jener Zeit: „Damals hat es noch die mit Butter beschmierte Semmel gegeben, die mit ungarischer Salami und einem dünn geschnittenen sauren Gurkerl belegt war und die man beim Fleischer hat kaufen können. Das war mit Liebe gemacht – so etwas gibt es ja heute gar nicht mehr. Die habe ich mir oft nach der Schule heimlich gekauft. Das hätte ich dem Vater nie erzählen dürfen. Die Mutter hat es gewusst, denn ich habe dann ihr gutes Mittagessen verschmäht. Diese Salamisemmel war für mich das Beste damals.“

Irgendwann in den 60er-Jahren kaufte Vater einen Fernseher – für unser Familienleben eine großartige Neuerung. Es war uns Kindern verboten fernzusehen, nur ab und zu bekamen wir die Erlaubnis dazu. Doch wenn Vater am Montagabend in der Gemeinderatssitzung war, schauten wir heimlich aufregende Serien, eine davon hieß Mit Schirm, Charme und Melone. Wir liebten die beiden Hauptdarsteller über alles, und der Fernseher wurde zu einem Fenster in eine aufregende, fremde Welt.

Dann gab es noch die amerikanische Serie Bezaubernde Jeannie. Jeannie besaß magische Kräfte und konnte durch Zaubertricks – das Blinzeln ihrer Augen – ihren „Meister“ immer wieder in Schwierigkeiten bringen. Und wenn Vater beim Fernsehen die Wohnzimmertür nicht geschlossen hatte, dann konnten wir vom Vorraum aus mit ihm den Film im Hauptabendprogramm anschauen, ohne dass er es merkte. Wir saßen alle auf der Treppe und schauten über einen großen Spiegel im Flur direkt auf den Fernseher.

Feste wurden bei uns feierlich begangen. Weihnachten war der Höhepunkt für uns Kinder. Das Haus war auf Hochglanz poliert und weihnachtlich dekoriert. Am Nachmittag putzten sich alle Familienmitglieder fein heraus, wir Mädchen alle in identischen Kleidern, das war so üblich damals. Rosi und ich spielten vierhändig am Klavier, Geschwister und Eltern hörten zu, danach wurde mit Inbrunst und Ausdauer gebetet. Andächtig und feierlich sprachen unsere Eltern mit uns die Gebete, für jedes verstorbene Familienmitglied eines – ein langer Vorspann zur Bescherung und eine harte Geduldsprobe für uns Kinder!

Jedes Jahr luden unsere Eltern außerdem alleinstehende Menschen ohne familiären Anschluss zu uns zum Feiern ein. Der unverheiratete Wallner Hans verbrachte den Weihnachtsabend regelmäßig bei uns, und auch Fräulein Gerti, Pfarrersköchin beim Dechant Holzer, nahm bei solchen Anlässen oft in unserem Wohnzimmer Platz.

An einem solchen Tag nahm sich der Vater viel Zeit für uns. Wie sehr wir das genossen! Entspannt und gut gelaunt spielte er mit uns den ganzen Abend Gesellschaftsspiele. Wir sangen gemeinsam Weihnachtslieder, und der Vater begleitete uns auf der Geige. Um Mitternacht gingen wir dann in die Mette, wo die Dorfbewohner einander trafen und „Gesegnete Weihnachten“ wünschten.

Als älteste Schwester leitete ich meine jüngeren Geschwister immer wieder zu allerlei Aktivitäten an. Zu Weihnachten studierte ich mit ihnen Krippenspiele ein. Die Koordination war jedoch nicht so einfach. Rosi spielte nur mit, wenn sie die Maria sein durfte, denn in dieser Rolle konnte sie sich einen wunderschönen mitternachtsblauen Bettüberwurf über Kopf und Schultern legen. So schlüpfte ich jedes Jahr in die Rolle des Josef, und die Jüngeren spielten die Hirten. Martha wollte vor Publikum nicht auftreten und wirkte aus dem Hintergrund.

„Ich weiß heute noch genau, wie es damals war“, unterbricht mich Rosi. „Ich war nur bereit, die Maria zu spielen. Sie war die interessanteste Rolle mit dem schönsten Umhang. Du hast mir diese Rolle immer gegeben, weil du gewusst hast, dass ich sonst alles durcheinandergebracht hätte. Schließlich warst du ja auf die gute Mitarbeit von allen Schwestern angewiesen. Hätte ich nicht mitgemacht, dann hätten sich vielleicht auch andere angeschlossen, und das Weihnachtsspiel wäre gescheitert.“

„Und ich wollte doch unbedingt, dass wir unser Krippenspiel aufführen. Da habe ich dir halt deinen Willen gelassen. Aber zurück zu unserer religiösen Erziehung.“

Der sonntägliche Kirchenbesuch während des Jahres war vor allem für meinen Vater besonders wichtig. Und wehe, wenn wir während der Sonntagsmesse nicht aufmerksam waren! Eines Sonntags flüsterte mir meine beste Freundin Friedl während der Messe zu: „Wir sitzen heute so, dass uns dein Vater nicht sehen kann. Wir können sicher ein wenig tratschen.“ Vater bemerkte es sofort, ganz so, als hätte er die ganze Messe über nichts anderes zu tun, als uns mit Argusaugen zu beobachten. Er holte mich aus der Kirchenbank, und ich musste zur Strafe die verbleibende Zeit vor dem Altar bei der Kommunionsbank zubringen. Es fühlte sich an wie am Pranger. Anschließend verpasste er mir vor dem Kirchentor Ohrfeigen, in aller Öffentlichkeit. Ich schämte mich sehr. Zu Mittag bekam ich, die Übeltäterin, kein Sonntagsschnitzel, sondern nur Salat. Das war nicht ganz so schlimm, weil Mutter immer einen Weg fand, uns heimlich doch noch ein Stück Fleisch zukommen zu lassen. Schrecklich war jedoch die verheerende Stimmung. Ich fühlte mich, als hätte ich ein schweres Verbrechen begangen.

„Warum war ihm das wohl so wichtig?“, fragt Rosi kopfschüttelnd. „Wenn ihm bewusst gewesen wäre, wie sehr ihm das geschadet hat, uns so zu behandeln! Schaden insofern, als wir ihn deswegen gemieden haben, wo es nur gegangen ist. Er hätte sicherlich auch gerne unsere Liebe gespürt.“

„Ich glaube, er hat keine Zeit und Muße gehabt, darüber nachzudenken, was Kindererziehung bedeutet“, entgegne ich.

„Ja, und durch seine eigene harte Kindheit und später die Erlebnisse im Krieg ist er ein ‚Disziplinjäger‘ geworden.“