Behind the salt line - Veronica More - E-Book

Behind the salt line E-Book

Veronica More

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Beschreibung

Sie findet die wahre Liebe. Doch er ist bereits tot. Hope hat eine außergewöhnliche Fähigkeit. Seit ihrem sechsten Lebensjahr sieht sie Geister. Aufgrund dieser besonderen Gabe führt sie jedoch ein zurückgezogenes Leben als Außenseiterin, bis sie Liam kennenlernt. Der eingebildete, anhängliche Geist versucht mit allen Mitteln, ihr Herz zu erobern, und konfrontiert sie mit lang verloren geglaubten Gefühlen. Doch das Schicksal stellt die junge Liebe auf eine harte Probe. Als Hope einen folgenschweren Entschluss fasst, muss Liam die schwierigste Entscheidung seines Daseins treffen. Denn nicht nur ihre Liebe, sondern auch Hopes Leben stehen auf dem Spiel … Eine außergewöhnliche Liebesgeschichte zwischen Leben und Tod. Mitreißend, emotionsgeladen und tief berührend.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Über die Autorin:

Veronica More ist in München geboren und aufgewachsen. Nach vielen turbulenten Jahren kehrte sie der Großstadt den Rücken zu und erfüllte sich mit ihrer Familie den Traum vom einsamen Haus am Waldrand. Wenn sie nicht gerade schreibt oder unzählige Bücher verschlingt, powert sie sich am liebsten am Schlagzeug aus oder verbringt ihre Freizeit mit ihrer Familie und den Hunden in der Natur.

www.veronicamore.de

VERONICA MORE

BEHIND THE SALT LINE

ROMAN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 by Veronica More

Deutsche Erstausgabe April 2021

Lektorat/Korrektorat: Cara Rogaschewski

Buchcoverdesign: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de unter Verwendung Stockfotografien von Razvan Ionut

Dragomirescu / Shutterstock sowie Violin / Depositphotos und dlyastokiv / Adobe Stock

Verlag & Druck: tredition GmbH

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN: 978-3-347-27976-6

ISBN: 978-3-347-27977-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Handlungen und Personen dieses Werkes sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Für meine Familie,die mit ihrer Liebe und Zuversichtjeden Tag meines Lebens erhellt.

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Themen. Deshalb findet ihr auf Seite 339 eine Triggerwarnung. Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Kapitel 1

»Liebes, würdest du bitte Mrs. Hopper nach hinten bringen?«

Während ihre Grandma sich wieder in den Anmelde-Unterlagen vertiefte, krempelte Hope die Ärmel hoch und schob den Neuankömmling ins Arbeitszimmer, dessen Tür hinter einem schweren, weinroten Samtvorhang versteckt war. Dort öffnete sie vorsichtig den Holzdeckel und betrachtete ihre neue Kundin.

Mrs. Hopper war blass, was auch kein Wunder war. Das hatten tote Menschen so an sich. Trotzdem sah die alte Dame friedlich aus, fast als würde sie schlafen.

»Lass mich dir kurz helfen«, sagte Grandpa Mike, der gerade aus dem Büro kam und langsam auf sie zuhumpelte. Seine Arthrose wurde von Tag zu Tag schlimmer. Das Alter hatte eben viele Tücken.

Gemeinsam hoben sie Mrs. Hopper aus dem Transportsarg und legten sie behutsam auf den Arbeitstisch.

»Danke, Grandpa.« Hope lächelte. »Den Rest schaff ich allein. Und wenn du im Büro Hilfe brauchst, sag Bescheid, okay?«

Ihr Großvater nickte und ein liebevolles Lächeln zog sich über sein altes Gesicht. »Ich sag‘s ja immer: Wenn wir dich nicht hätten …« Damit verschwand er durch die Seitentür in das Büro.

Hope wandte sich wieder dem Leichnam der alten Dame zu. Sie trug ein verblichenes, fliederfarbenes Nachthemd und ihre Haare waren von der Anstrengung des Sterbens platt und zerzaust.

»Na, dann wollen wir mal, Mrs. Hopper«, sagte Hope, zog sich ihren alten Arbeitskittel und ein Paar schwarze Einmalhandschuhe an. Aus einer Schublade kramte sie ihr Handy, zusammen mit den Bluetoothkopfhörern hervor. Für diese Arbeit brauchte sie Motivationsmusik und kurz darauf ertönte »Like it or not« von Willa J.

Nachdem sie Wasser und Seife bereitgestellt hatte, entkleidete sie den Leichnam und wusch mit einem großen, weichen Schwamm den leblosen Körper im Takt der Musik. Für einen Moment keimte die Hoffnung in ihr auf, heute einmal in Ruhe arbeiten zu können.

»Das darf doch nicht wahr sein! Hast du denn überhaupt keinen Respekt?«, schallte es in diesem Moment empört durch den Raum.

Schwer seufzend zog sich Hope die Handschuhe aus, bevor sie ihre Kopfhörer abnahm.

»Hallo, Mrs. Hopper. Schön, Sie kennenzulernen.«

»Ich kann wohl nicht behaupten, dass die Freude auch meinerseits ist. Schließlich liege ich hier völlig entblößt auf einem Metalltisch und meine Haare sind eine einzige Katastrophe.«

Genervt pustete sich Hope ein paar ihrer rotblonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. Warum waren Tote immer so anstrengend?

»So ist das nun mal, wenn man stirbt, Mrs. Hopper. Wenn Sie mich jetzt weiterarbeiten lassen, verspreche ich Ihnen, dass Sie bei Ihrer Beerdigung hervorragend aussehen werden«, wandte sie sich auffordernd an die alte Dame, doch diese rührte sich nicht vom Fleck.

Schockiert starrte sie die junge Frau an. »Du kannst mich sehen?«

»Ja, kann ich«, antwortete Hope und zuckte die Schultern. »Ist eine besondere Gabe. Darf ich jetzt bitte weiterarbeiten?«

Mrs. Hopper betrachtete einen Moment ihren leblosen Körper, schwebte dann quer durch das Zimmer und nahm auf dem Arbeitshocker aus schwarzem Leder Platz. Einen Augenblick später hallte ihr lautes Schluchzen durch den Raum.

Hope schloss die Augen und stöhnte. Damit war klar, dass es heute wieder länger dauern würde. Es gab Tage, da verfluchte sie ihre außergewöhnliche Fähigkeit.

Mit sechs Jahren hatte sie ihren ersten Geist gesehen. Anfangs war sie völlig verängstigt gewesen. Ihre Eltern hatten sogar verschiedene Experten kontaktiert. Doch als Hope eines Tages anfing, in den Sitzungen Nachrichten von verstorbenen Angehörigen an ihre Therapeuten weiterzuleiten, wollte schnell niemand mehr mit ihr arbeiten. Zu Beginn hatte Hope nicht verstanden, warum die Geister sie nicht in Ruhe ließen, aber bald stellte sich heraus, dass sie nur Hilfe suchten. Viele Seelen waren nach ihrem Tod so verwirrt, dass Hope ihnen zeigen musste, wohin sie gehen sollten. Sie sozusagen ins Licht führen. Andere wollten noch dringend eine Nachricht an ihre Hinterbliebenen loswerden, was nicht immer leicht war.

Nachdem sie die angsterfüllten Blicke der Menschen nicht mehr länger ertragen konnte, war sie auf anonyme Briefe umgestiegen. Das schien die beste Lösung für beide Parteien zu sein, die Geister waren zufrieden und hatten endlich die Möglichkeit weiterzuziehen.

Mrs. Hopper zählte mit ihrem Verhalten eher zu den verwirrten Seelen, die ihren Tod erst begreifen mussten.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte Hope den Geist der alten Dame mitfühlend. »Es tut mir sehr leid, dass Sie von uns gegangen sind. Ich kann verstehen, dass Sie das alles erst mal verarbeiten müssen.«

Die leicht durchsichtige Gestalt schniefte laut. »Kindchen, ich bin froh, dass ich diese Welt endlich verlassen kann. Schließlich sehe ich nun bald meinen geliebten Mann wieder.« Angewidert rümpfte sie die Nase. »Aber du wirst mir doch nicht allen Ernstes dieses Ding da anziehen.«

Mit einem ihrer dünnen, knochigen Zeigefinger deutete sie auf einen Kleidersack, der etwas abseits an der Tür eines kleinen Holzschrankes hing. Der geöffnete Reißverschluss gab den Blick auf einen eleganten, flaschengrünen Hosenanzug frei.

Das konnte doch jetzt nicht ihr Ernst sein. Ein Kleidungsdrama?

»Mrs. Hopper, denken Sie nicht, dass Sie ein wenig übertreiben? Sie sind schließlich tot und werden in ein paar Tagen begraben. Niemanden interessiert es, was Sie tragen.«

»Schätzchen, wenn du mal so weit bist, kannst du das gern selbst entscheiden. Ich jedenfalls will in meinem schönen, weinroten Kleid beerdigt werden. Das habe ich an unserer Goldenen Hochzeit getragen. Damals in Wien.« Bei der Erinnerung daran strahlten die Augen der alten Dame und sie blickte verträumt aus dem Fenster.

»Und wie stellen Sie sich vor, dass ich das machen soll, Mrs. Hopper?« Verärgert über diese pingelige Zeitgenossin verschränkte Hope die Arme vor der Brust. Das Ganze war mal wieder ein Job, der ihrem Ruf als Freak absolut gerecht werden würde. Sollte sie sich das Kleid doch selbst holen.

»Ach, dir wird ganz bestimmt etwas einfallen.« Mrs. Hopper setzte sich direkt auf den Rand des Metalltisches und reckte trotzig das Kinn in die Höhe. »Ich jedenfalls werde hier erst weggehen, wenn ich das rote Kleid anhabe.«

Nicht zu fassen. Jetzt wurde sie auch noch von diesem nervtötenden Geist erpresst.

Hope schnaubte und verdrehte missmutig die Augen. Sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. »Schon gut. Ich tue, was ich kann.«

Hätten sich die Angehörigen von Mrs. Hopper nicht an ein anderes Bestattungsinstitut wenden können? Verärgert riss Hope ein paar neue Einmalhandschuhe aus der Packung, um den Leichnam endlich fertig zu waschen, als ihre Grandma den Vorhang zum Empfangsbereich zur Seite schob und den Kopf hereinstreckte.

»Alles in Ordnung hier hinten?«

»Jaja, ist nur wieder etwas schwierig.«

Ihre Großmutter lächelte mitfühlend. »Oje. Schon wieder eine verwirrte Seele? Kann ich dir irgendwie helfen, Liebes?«

»Nein, ich glaube, das sollte ich allein machen. Mein Ruf ist eh schon ruiniert.«

Kaum hatte sie ausgesprochen, zog ihre Grandma sie fest in die Arme. »Ach Hope, nimm‘s nicht so schwer. Du musst das so sehen: Für diese Seelen bist du der letzte Mensch, mit dem sie sprechen können. Nur du kannst ihnen ihren letzten Wunsch erfüllen. Das ist eine wirklich großartige Fähigkeit.«

Hope ließ den Kopf auf die weiche Schulter ihrer Großmutter sinken und seufzte schwer. Im Grunde hatte sie recht. Eigentlich war es ein gutes Gefühl, den Verstorbenen zu helfen, damit sie das irdische Leben in Frieden hinter sich lassen konnten. Trotzdem war es oft anstrengend.

Wenigstens hatte Hope die seelische Unterstützung ihrer Großeltern. Zwei Menschen, die ihre besondere Gabe von Anfang an niemals infrage gestellt und ihr immer geglaubt hatten. Sie waren die einzig Lebenden, mit denen sie über ihre Erlebnisse mit den Verstorbenen sprechen konnte. Selbst ihre Eltern waren insgeheim überzeugt gewesen, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte. In ihrer Kindheit hatte sie zu viele imaginäre Begleiter gehabt. Nach dem Autounfall vor fünf Jahren, bei dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren, änderte sich alles für Hope. Sie war es, die die beiden ins Licht schicken musste, und der Abschied brach ihr das Herz. In den nachfolgenden Monaten hatte sie sich immer mehr zurückgezogen, die Lebenden gemieden und nur noch mit ihren Großeltern oder den Geistern gesprochen.

»Was hat Mrs. Hopper denn für einen Wunsch?«, fragte ihre Grandma sanft und ihre tiefe, weiche Stimme holte Hope zurück ins Hier und Jetzt.

»Los, sag es ihr. Sie versteht mich bestimmt. Sei mir nicht böse, Kindchen, aber du bist einfach noch zu jung.«

Hope ignorierte den schnippischen Kommentar der alten Geisterlady und löste sich langsam von ihrer Großmutter. »Sie möchte in einem bestimmten Kleid beerdigt werden.«

»Na, wenn das alles ist. Das kann ich gern für dich übernehmen«, meinte diese und strich ihr liebevoll über den Kopf. »Mrs. Hoppers Tochter ist eine nette Frau, die wegen des Todes ihrer Mutter ziemlich durcheinander ist. Ich denke, da kann ich sicher etwas tun.«

»Danke, Grandma.« Hope atmete tief durch, bevor sie sich widerwillig an ihre geisterhafte Kundin wandte. »Wo ist denn das Kleid genau?«

Die alte Dame lächelte triumphierend. »In meinem Haus natürlich. Erster Stock, zweite Tür rechts, in dem antiken Holzschrank. Der war ein Hochzeitsgeschenk von einem sehr guten Freund.«

Aus einer der Schubladen kramte Hope einen Zettel hervor, notierte die erhaltene Antwort und reichte ihn ihrer Großmutter.

»In Ordnung. Ich kümmere mich gleich darum«, erwiderte diese beruhigend. »Und, Liebes … mach für heute Schluss. Grandpa und ich schaffen das schon«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Bist du sicher? Seine Arthrose scheint heute wieder besonders stark zu sein.« Auf keinen Fall wollte Hope die beiden im Stich lassen. Lieber ertrug sie dafür Mrs. Hoppers nervige Anwesenheit.

»Ja, ich bin mir sicher. Also, mach dir einen schönen Abend. Geh doch mal wieder unter Menschen. Du bist so eine liebenswerte, hübsche junge Frau. Wie willst du denn jemals einen Mann finden, wenn du immer nur allein zu Hause sitzt?«

»Ach, Grandma. Ich weiß, dass du es nur gut meinst, aber ich will gar keinen Typen kennenlernen. Mein Leben ist so schon kompliziert genug.«

Als Hope kurz darauf ihre schwarze Strickjacke angezogen und das Handy in der Tasche verstaut hatte, wandte sie sich ein letztes Mal um. »Ich hoffe, sie sind jetzt zufrieden, Mrs. Hopper. Wir sehen uns dann morgen wieder.«

»Ich bin erst zufrieden, wenn ich mein Kleid anhabe.«

Kopfschüttelnd verließ Hope das Bestattungsinstitut und trat durch die schwere Eingangstür hinaus auf die Straße. Sie schnappte nach Luft, als ihr die stehende Hitze des Sommerabends entgegenschlug.

Das Institut war stets gut klimatisiert. Ein bisschen wie in einem Kühlschrank. Anders würde der Verwesungsprozess der Leichen viel schneller einsetzen und der Geruch wäre nicht auszuhalten.

Erneut holte Hope ihre Kopfhörer aus der Jackentasche und verknüpfte sie mit dem Handy. Gerade wollte sie sie aufsetzen, da spürte sie einen eisigen Luftstoß auf der Haut.

»Hey, du willst uns doch nicht etwa ausknipsen, oder?«

Bei der ihr wohlbekannten, dunklen Stimme zuckte sie mit den Mundwinkeln und ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

»Klar, wieso nicht?«, antwortete sie grinsend, als zwei Geister vor ihr auftauchten und laut schimpfend um sie herumschwebten.

Trudy und Jim waren seit über vier Jahren ihre stetigen Begleiter. Bei den beiden handelte es sich um sogenannte unruhige Seelen, die die Welt der Lebenden nicht verließen. Hope hatte sie entdeckt, als die zwei im Bestattungsinstitut alle Frischlinge mit Horrorgeschichten über das Leben danach erschreckt hatten. Dass Geister noch blasser werden konnten, als sie ohnehin schon waren, war ihr bis dahin fremd gewesen. Auch wenn es ab und zu lustig war, ihre Spielchen zu beobachten, hatte sie Mitleid mit den armen Seelen gehabt und sich Trudy und Jim eines Abends vorgeknöpft.

Seit diesem Tag kamen die beiden immer wieder zu ihr und versorgten sie mit aktuellen News aus der Geisterwelt und dem neuesten Klatsch und Tratsch der Lebenden. In den letzten Jahren waren ihr die zwei quirligen Gestalten ans Herz gewachsen und es entstand eine enge Freundschaft zwischen den dreien.

»War doch nur ein Witz«, besänftigte Hope die wild umherschimpfenden Erscheinungen. »Erzählt mir lieber, was es Neues gibt.«

Abrupt blieb Trudy in der Luft stehen, woraufhin Jim ungebremst gegen sie krachte.

»Autsch! Du Trampel! Hast du keine Augen im Kopf?«, schimpfte die Geisterfrau und zupfte sich ihre langen, blonden Locken zurecht.

»Wer macht denn bitte ohne Grund eine Vollbremsung?«, zeterte Jim zurück. »Typisch Frau«, fügte er abfällig hinzu.

Die Geisterblondine stemmte die Hände in die Hüfte. »Ach ja? Ich sage nur: Typisch Mann. Blind wie ein Fisch.«

»Schluss damit. Wollt ihr mir jetzt was erzählen, oder nicht?«, unterbrach Hope die zwei Streithähne.

Von Anfang an hatten sich die beiden gezankt, trotzdem waren sie ein Herz und eine Seele, wenn es darauf ankam. Na ja, eher nur eine Seele.

Nach einem weiteren giftigen Blick zu Jim wandte sich Trudy an Hope. »Es gibt tatsächlich was Neues. Meine Schwester will heiraten!«

»Na, das ist doch schön für sie. Ihr solltet euch nur das Spuken auf der Hochzeit verkneifen«, antwortete Hope, während sie zügig die Straße entlangspazierte. So gern sie Trudy und Jim auch mochte, nach der anstrengenden Mrs. Hopper wünschte sie sich nichts mehr als eine erfrischende Dusche und ihre Couch.

»Trudy hat aber was gegen den Bräutigam.« Bei diesen Worten flog Jim einmal um seine Geisterfreundin herum, die daraufhin wild mit den Armen in der Luft herumwedelte, als würde sie eine lästige Fliege verscheuchen.

»Der ist ja auch zum Kotzen«, sagte sie angewidert. »Ständig schaut er anderen Frauen hinterher. Und meine Schwester merkt das nicht mal! Der ist doch zum Fremdgehen geboren!« Sogar im Sonnenlicht erkannte Hope die leichte Rötung in Trudys verärgertem Gesicht.

»Ach, Mädels«, winkte Jim ab. »Ihr versteht das einfach nicht. Männer sind nicht für Monogamie gemacht. Wir müssen die Welt vor dem Aussterben retten und deshalb unsere Spermien verbreiten.«

Trudy holte aus und schlug ihm kräftig gegen die Schulter. »Du blöder Macho.«

»Ich weiß nicht, Jim«, mischte sich Hope ein. »Vielleicht war das vor Millionen von Jahren so. Heute ist die Welt doch eher überbevölkert. Solltet ihr Männer euch da nicht lieber einen Knoten in eure Lieblinge machen?«

Trudy brach in schallendes Gelächter aus. Auch Hope konnte sich nicht mehr zurückhalten und prustete ebenfalls los.

Jim verzog das Gesicht und sah die beiden beleidigt an. »Ach, ihr habt doch keine Ahnung.«

Den Rest des Weges war er auffällig ruhig. So konnten Trudy und Hope ungestört über den unerwünschten Verlobten herziehen. Jim würde sich schon wieder beruhigen. Es war keine Seltenheit, dass einer der beiden Geister den Beleidigten mimte.

An der Wohnungstür angekommen, verabschiedete sich Hope von ihren Freunden. Wie der Blitz sausten sie durch die Wand des Mehrfamilienhauses davon. Als sie die Tür hinter sich schloss, lehnte Hope sich für einen Moment mit dem Rücken dagegen und nahm einen tiefen Atemzug. Endlich Ruhe für heute. Mit Schwung kickte sie ihre schwarzen Boots von den Füßen und hängte die Strickjacke an den metallenen Garderobenständer. Dann schleppte sie sich in die Küche, holte das Salz aus dem Schrank und machte sich daran, alle Fenster und Türen zu kontrollieren.

Jeden Tag wieder dankte sie im Stillen der Serie Supernatural. Erst durch die Winchester-Brüder hatte sie von dem Trick mit dem Salz erfahren. Natürlich hatte sie den Tipp gleich ausprobiert und siehe da, es funktionierte. Seitdem war Hopes Wohnung ihre persönliche Ruhe-Oase, zu der kein Geist mehr Zugang hatte.

Nachdem sie sicher war, dass sie das Salz überall an den richtigen Stellen verteilt hatte, schaltete sie Musik an und zog sich erschöpft die verschwitzten Klamotten aus. In ihrem winzigen Badezimmer stellte sich Hope unter die kühle Dusche. Eine ganze Weile ließ sie das Wasser über ihren Körper laufen. Erst, als ihre Haut schon schrumpelig war, trocknete sie sich ab und betrachtete ihr Spiegelbild.

Im Grunde hatte Grandma recht. Mit den großen graublauen Augen und den hellbraunen Sommersprossen, die sich über ihre Stupsnase und die weich geschwungenen Wangenknochen verteilten, sah Hope genauso aus wie ihre Mutter. Sie hätte bestimmt kein Problem, jemanden kennenzulernen.

Und wenn schon. Schnell griff sie nach einem kleinen Handtuch und rubbelte damit durch ihre schulterlangen Haare. Es war vollkommen egal, wie sie aussah. Niemand wollte mit einem Freak wie ihr zusammen sein. Ihre ungewöhnliche Gabe würde immer nur viele Fragen aufwerfen und auf diesen Beziehungsstress konnte sie gut verzichten.

Mit sechzehn Jahren hatte sie es einmal versucht. Tom war ein Klassenkamerad gewesen und hatte schon eine ganze Weile Interesse an ihr gezeigt. Er war ihre erste große Liebe gewesen. Doch als er sie eines Tages dabei überrascht hatte, wie sie mitten auf der Straße mit der Luft diskutierte, hatte er sie sitzen lassen. Auch Hopes Erklärungsversuche hatten nicht geholfen. Wer glaubte einem schon, dass man sich mit seinen Geisterfreunden unterhielt. Toms Blick damals würde sie niemals vergessen. Schockiert und abwertend zugleich. Als hätte er nie etwas für sie empfunden.

Nein, das brauchte sie nicht noch einmal. Da blieb sie lieber allein. Außerdem hatte Hope genug mit all den hilfesuchenden Seelen um sich herum zu tun. Bei diesem Gedanken fiel ihr Mrs. Hopper wieder ein und sie schüttelte sich. Um die alte Lady würde sie sich morgen kümmern.

Im Vorbeigehen schnappte sich Hope ein lockeres, graues Sweat-Kleid, schlüpfte hinein und ließ sich erschöpft auf ihre Couch plumpsen. Für heute hatte sie definitiv genug von Geistern.

Kapitel 2

Liam vergrub die Hände in den Taschen seiner schwarzen Jeans, während er weiter die Hauptstraße entlang schlenderte. Die Sonne war fast untergegangen und die großen geschwungenen Straßenlaternen würden jeden Moment anspringen, um ihr goldenes Licht zu verbreiten.

Der Abend war immer Liams Lieblingszeit gewesen, selbst vor seinem Tod. Wie ein feiner Schleier breitete sich die Dunkelheit über der Stadt aus und die Hitze des Tages verblasste, um der angenehmen Kühle der Nacht Platz zu machen. Die Menschen krochen aus ihren Wohnungen, tummelten sich in den Cafés und Bars, die die ganze Straße mit ihrer Musik beschallten. Gläser klirrten, der Duft von Alkohol erfüllte die Luft und die Stimmen der lachenden Gäste hallten durch die Gassen. Manchmal kam es Liam so vor, als würden alle zusammen eine große Party feiern.

Die lauten Schläge der Kirchenglocken ließen ihn aufhorchen und er hob den Blick zur Turmuhr. Gleich zehn Uhr. Er musste sich beeilen, wenn er sie heute sehen wollte. Vorbei an den vielen Tischen und Stühlen, die auf dem Bürgersteig vor jedem Laden aufgebaut waren, bahnte sich Liam seinen Weg durch die Menge. Wie gewohnt bog er an der nächsten Kreuzung links ab und steuerte zielstrebig auf ein blassgelbes, vierstöckiges Haus zu. Ein schmaler Durchgang führte ihn in einen kleinen gepflasterten Hinterhof, in dem einige Fenster mit Blumenkästen dekoriert waren. Unter den winzigen Balkonen mit ihren geschwungenen Metallgittern blieb er stehen, drückte sich mit den Füßen ab und schwebte hinauf bis zum vierten Stock. Genau in dem Moment, als Liam sich auf das Balkongitter sinken ließ, hörte er das dumpfe Plopp eines Sektkorkens. Das nannte er Timing. Mit einem triumphierenden Lächeln trat er näher an die Scheibe der Balkontür heran.

In einem hellen, modernen Wohnzimmer mit dunklem Laminatboden hatten es sich drei junge Frauen auf großen, pinken Sitzkissen bequem gemacht, die im Kreis um einen runden Glastisch auf dem Boden lagen. Außer ihren Handys waren auf dem Tisch vier Sektgläser verteilt. Ihr ausgelassenes Gelächter war trotz der basslastigen Musik durch die geschlossene Balkontür zu hören.

Erwartungsvoll ließ er seinen Blick über die Gesichter schweifen und runzelte dann die Stirn. Wo war Jenny? Doch genau in diesem Moment öffnete sich die Tür zum Wohnzimmer und eine schlanke Frau mit langen, schwarzen Haaren trat herein. Liam seufzte zufrieden. Er hatte schon befürchtet, heute nicht auf seine Kosten zu kommen.

In den Händen hielt Jenny die Sektflasche, deren Öffnen er eben gehört hatte. Mit begeisterten Rufen griffen die Freundinnen nach ihren Gläsern und hoben sie in die Höhe. Eine ganze Weile wurde gelacht und getratscht. Plötzlich stand Jenny auf und öffnete die Balkontür. Sofort drangen die klaren Stimmen der Frauen nach draußen. Nur wenige Zentimeter trennten Liam jetzt von der hübschen Schwarzhaarigen, doch ihr Blick glitt, wie immer, einfach durch ihn hindurch.

»Puh, ganz schön heiß hier drin«, sagte sie und fächelte sich mit der Hand Luft zu.

»Ja, am liebsten würde ich gar nichts anziehen heute Abend«, entgegnete Mary, eine kleine vollschlanke Blondine.

Tina, die ihre langen Beine im Schneidersitz verschränkt hatte, warf kichernd ein: »Überleg‘s dir. Da würden die Typen sicher Schlange stehen.«

Schlagartig schoss Mary die Röte ins Gesicht und sie nippte verlegen an ihrem Glas. Lachend schaltete sich Naomi ein, die sich ihr kurzes, knallrotes Haar zurechtzupfte. »Vielleicht wäre das ja eher was für dich, Tina. Wir wissen doch alle, dass du die größte Bitch von uns bist.«

Tina zuckte nur die Schultern und grinste frech. »Ich genieße und schweige, Mädels.«

Daraufhin brachen alle in schallendes Gelächter aus und hoben gemeinsam ihre Gläser.

»Auf uns!«, riefen sie im Chor und kicherten.

Die ganze Zeit über beobachtete Liam amüsiert die lockere Runde. Jeden Freitagabend trafen sich die Freundinnen in Jennys Wohnung, um dann zusammen um die Häuser zu ziehen. Vor ein paar Monaten hatte er die Gruppe zufällig getroffen und sich den heißen Ladys sofort angeschlossen. Seitdem war er jedes Wochenende hier zu finden, um sich sein Geisterleben ein wenig zu versüßen.

Nach einer Weile sah Jenny auf ihre Armbanduhr. »Wir sollten langsam los, Mädels. Ich zieh mich noch schnell um. Bin gleich wieder da.« Mit diesen Worten verschwand sie aus dem Wohnzimmer.

Endlich. Liam hatte schon Angst gehabt, sie würden die Wohnung heute gar nicht mehr verlassen. Ein Fenster weiter ging das Licht an und er schwebte eilig hinüber. Genau im richtigen Moment, denn Jenny zog gerade ihr Top über den Kopf aus. Oh ja, das war der beste Teil der Wochenendvorbereitung.

***

Eine knappe Stunde später saßen die Freundinnen an einem der vielen Tische im Piña Colada, einer karibisch dekorierten Bar an der Hauptstraße. Die riesigen Lautsprecher, die in den Ecken aufgehängt waren, beschallten den Innen- und Außenbereich mit lateinamerikanischen Sommerhits. Anstelle von Sekt tranken die jungen Frauen jetzt fruchtige, mit bunten Schirmchen geschmückte Cocktails.

Liam hielt sich gerne hier auf, denn die ausladende Strand-Dekoration ermöglichte es ihm, auf einer Palme oberhalb der Tische Platz zu nehmen. So hatte er alles im Blick und brauchte sich nicht durch die Menge zu kämpfen. Früher wäre er mitten im Partygetümmel zu finden gewesen, meistens mit mehr Alkohol im Blut, als er vertragen konnte, und mehr als einer heißen Frau in den Armen. Doch seit seinem Tod hatte sich einiges geändert.

Er hasste es, wenn die Leute direkt durch ihn hindurchgingen. Jedes Mal hatte er das Gefühl, als würde ihm diese fremde Person wortwörtlich in die Seele greifen. Nein, darauf konnte er verzichten. Da saß er lieber hier oben auf der Palme und schwebte über den Dingen.

Gegen ein Uhr morgens erreichte die Party ihren Höhepunkt und Liam beobachtete amüsiert, wie die grottenschlechten Anmachsprüche der aufgepumpten Männer von Stunde zu Stunde besser bei den Frauen ankamen, was allein dem steigenden Alkoholpegel zuzuschreiben war. Genau das hatte er früher an den Wochenenden ebenfalls ausgenutzt, wobei man ihn selbst tagsüber selten nüchtern angetroffen hatte. Anders wäre sein Leben nur schwer zu ertragen gewesen. Er hatte niemals zu den Glückspilzen gehört, für die das Schicksal jede Menge Spaß und Erfolg parat hielt.

Ein helles Lachen riss Liam aus seinen deprimierenden Gedanken und er suchte mit den Augen die Menge ab. Auf einem Barhocker direkt an der Theke erspähte er Jenny. Vor ihr ein muskulöser Latinotyp, der ihr etwas ins Ohr flüsterte, das ihr zu gefallen schien. Liam schnaubte belustigt. Dieser alte Trick, seiner Flirtpartnerin beim Sprechen so nah zu kommen und dabei zufällig mit den Lippen ihre Haut zu berühren, funktionierte zu dieser späten Stunde so gut wie immer.

Bei dem Gedanken seufzte Liam frustriert. Das war eines der wenigen Dinge, die ihn an seinem momentanen Zustand störten. Es war ihm nicht möglich, etwas anzufassen. Jedes Mal, wenn er es versuchte, glitt seine Hand durch den Gegenstand hindurch. Sogar nach dem Tod wollte ihm das Schicksal nichts gönnen.

Erneut blickte er hinunter zur Theke, an der Jenny und ihr neuer Verehrer einen Shot tranken. Jetzt hatte der Typ sie gleich so weit. Kaum hatte Liam den Gedanken zu Ende gedacht, sahen sich die beiden tief in die Augen und standen auf. Die junge Frau winkte ihren Freundinnen zu und verließ die Bar im Arm ihrer neuen Eroberung.

Das würde sich Liam nicht entgehen lassen. Zügig schwebte er über die Menge hinweg auf die Straße. Ein kurzer Blick nach links und rechts, da hatte er das frische Paar schon entdeckt. Wie erwartet waren sie auf dem Weg zu Jennys Wohnung. Dieser schmierige Kerl war so berechenbar. Damit konnte er sich gleich im Anschluss an den ganzen Spaß wieder aus dem Staub machen. Jetzt, da Liam darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass das so gesehen eine echt miese Nummer war, doch genauso hatte er es zigmal abgezogen. Er zuckte die Schultern. Im Grunde waren die Frauen selbst schuld. Wer sich auf so einen Schleimer einließ, konnte nichts anderes erwarten. Ob Jenny das auch klar war, würde Liam heute Nacht herausfinden.

Allein die Hauptstraße entlang dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Immer wieder blieb das frisch gefundene Paar stehen und knutschte, als gäbe es kein Morgen. Liam legte den Kopf in den Nacken und seufzte ungeduldig. Er dachte darüber nach, schon einmal vorauszufliegen und in der Wohnung auf die beiden zu warten, da zogen die Stimmen zweier streitender Geister auf der gegenüberliegenden Straßenseite seine Aufmerksamkeit auf sich.

Neugierig sah er zu ihnen hinüber. Gleichgesinnte traf Liam nicht oft, was daran lag, dass die meisten Verstorbenen den Weg ins Licht wählten und nicht wie er planlos durch die Welt der Lebenden spukten. Unauffällig schwebte er auf Höhe der Straßenlaternen und näherte sich den schimmernden Gestalten. Jenny und ihren Lover holte er bei deren lahmen Tempo auch später noch rechtzeitig ein.

»Jim! Wie kannst du nur so über sie reden?«, fragte die blonde Geisterfrau empört.

Der schlaksige, männliche Geist neben ihr hob nur lässig die Schultern. »Wieso? Ich hab doch nur gesagt, dass sie es dringend mal wieder nötig hätte. Mal ehrlich, immer selbst Hand anlegen ist auf Dauer nicht gesund. Schau dich zum Beispiel an, Trudy.«

Daraufhin traf ihn ein heftiger Schlag auf den Oberarm. »Du bist echt ein Arsch. Das kann sie doch wohl selbst entscheiden. Und wenn sie es so will, dann ist es eben so. Übrigens lege ich lieber selbst Hand an, als dass ich einen Vollhonk wie dich in mein Bett lasse, der sowieso keine Ahnung davon hat, was Frauen wirklich wollen.«

Jim schnaubte abfällig und fuhr sich betont lässig durch seine schwarzen, nach hinten gegelten Haare. »Jede Frau würde sich glücklich schätzen, mich im Bett zu haben. Hat sich noch nie eine beschwert.«

»Die zwei armen Mädels waren ja auch blind«, konterte die Blondine frech. »Jedenfalls mache ich mir Sorgen um sie«, fügte sie schnell hinzu, bevor ihr Begleiter weitersprechen konnte. »Bald ist ihr Geburtstag und bis auf uns hat sie nun mal keine Freunde. Sie kann wirklich froh sein, dass sie als Lebende mit Geistern sprechen kann, sonst wäre sie mit ihren Großeltern völlig allein.«

Liam horchte auf. Eine Frau, die mit Toten reden konnte? Ein wenig abseits sank er auf den Bürgersteig und flog auf die beiden Gestalten zu.

»Hi«, fing er an und zog damit sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Jim verzog das Gesicht zu einem begeisterten Lächeln. »Hey. Endlich mal wieder ein Gleichgesinnter. Wer bist du, Kumpel?«

»Liam«, stellte er sich kurz vor.

»Ich bin Jim und meine anstrengende Freundin hier ist Trudy.« Ohne sie eines Blickes zu würdigen, deutete er lässig neben sich.

Die Geisterblondine verengte die Augen zu Schlitzen und fuhr ihn wütend an, »Erstens bin ich nicht deine Freundin, sondern nur eine Freundin, wenn überhaupt, und zweitens kann ich mich selbst vorstellen.«

Liam hob die Augenbrauen. Er wusste nicht recht, wie er mit der Dynamik zwischen den beiden umgehen sollte.

»Sorry«, versuchte er es daher freundlich. »Ich hab euer Gespräch gerade mitbekommen.«

»Ja und?«, antwortete Trudy augenblicklich und beäugte ihn misstrauisch.

»Ihr sagtet etwas von jemandem, der mit Geistern sprechen kann. Meint ihr das ernst?«

Jim sauste einmal um die nächste Straßenlaterne, flitzte zu ihnen zurück und grinste. »Klar, sie kann uns sogar sehen. Und heiß ist sie auch noch.«

»Jim!«, fauchte Trudy und wandte sich wieder Liam zu. »Sie ist unsere Freundin und hilft verlorenen Seelen.«

Seine Neugier war geweckt. Seit über vier Jahren führte er nun dieses Geisterdasein und noch nie hatte er erlebt, dass Menschen tatsächlich mit Geistern in Kontakt treten konnten. Alle medial veranlagten Leute, die er bisher abgeklappert hatte, waren Scharlatane gewesen. Doch diese beiden Seelen schienen es ernst zu meinen. Liam musste diese Frau unbedingt kennenlernen.

»Wo kann ich sie finden?«, erkundigte er sich aufgeregt.

»Warum?«, kam es schlagartig von der Blondine, die ihn weiterhin misstrauisch betrachtete. »Brauchst du etwa Hilfe?«

»Äh … nein.« Er biss sich auf die Unterlippe. Diese Geisterfrau verhielt sich wie ein Pitbull, der sein Frauchen beschützte. Er musste geschickter vorgehen, um eine Antwort zu erhalten. »Also … nicht ich brauche Hilfe, sondern … ein Freund von mir. Er möchte ins Licht, weiß aber nicht, wie.« Ratlos hob Liam die Schultern. »Und ich kann ihm leider auch nicht sagen, wo‘s langgeht.«

»Hey, Trudy«, mischte sich Jim auf einmal in das Gespräch ein. »Entspann dich mal. Liam braucht Hilfe. Das ist doch Hopes Job, oder?«

Die Geisterfrau verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine Schnute, wie ein trotziges Kind. Schließlich verdrehte sie seufzend die Augen und nickte widerwillig.

»Na, also«, setzte Jim zufrieden fort und wandte sich wieder an Liam. »Du findest sie am besten im Crossroads, dem Bestattungsinstitut ihrer Großeltern. Etwas außerhalb der Stadt. Richte ihr einen Gruß von uns aus, vielleicht bevorzugt sie dich dann.« Er zwinkerte ihm zu und stieß ihn dabei freundschaftlich mit der Schulter an.

»Ok, danke … dann … geh ich jetzt zu meinem Freund und überbring ihm die gute Nachricht.« Zum Abschied hob er die Hand und flog eilig davon.

Gedankenverloren ließ sich Liam auf der Dachterrasse eines fünfstöckigen Firmengebäudes nieder und betrachtete die flimmernden Lichter der Stadt.

Dieses Geisterpärchen war ihm suspekt, aber wenigstens hatte er am Ende die gewünschte Auskunft erhalten. Sollten die beiden tatsächlich die Wahrheit gesagt haben, würde die Begegnung mit dieser geistersehenden Frau sicher spannend werden. Und wenn sie so heiß war, wie Jim behauptet hatte, konnte das auch nicht schaden.

Kapitel 3

»Mistwetter«, schimpfte Hope und zog sich die tropfnasse Kapuze ihrer schwarzen Jacke vom Kopf. Den ganzen Weg zum Bestattungsinstitut war sie durch den strömenden Regen gelaufen.

Hope hasste dieses Wetter. Natürlich war ihr klar, dass die Natur den Regen brauchte, aber für ihre Haare war er eine einzige Katastrophe. Sobald sie nur ein wenig Feuchtigkeit abbekamen, verwandelte sie sich innerhalb kürzester Zeit in einen Pudel. Darauf konnte sie gern verzichten. Bei diesem Wetter verirrten sich nicht einmal ihre Geisterfreunde nach draußen. Sie meinten, es fühlte sich an, als schlängelten sich hunderte kleiner glitschiger Schlangen durch ihre Körper, wenn die dicken Regentropfen durch sie hindurchglitten.

Schimpfend knöpfte sie ihren durchnässten Mantel auf, ließ ihn über die Schultern gleiten und schüttelte ihn unter dem Vordach des Eingangsbereiches kräftig aus.

»Hör auf zu meckern, Kindchen, und komm endlich herein. Ich muss dir was zeigen.«

Bei dem Klang von Mrs. Hoppers aufdringlicher Stimme fuhr Hope zusammen und ließ daraufhin genervt die Schultern hängen. Den ganzen Morgen hatte sie die alte Dame erfolgreich aus ihren Gedanken verbannt. Hoffentlich hatte ihre Grandma das Kleid für die Beerdigung bereits besorgt, sonst würde das ein langer anstrengender Arbeitstag werden.

In diesem Moment steckte die blasse Gestalt erneut den Kopf durch die geschlossene Tür. »Wo bleibst du denn?«, fragte sie ungeduldig und bedachte Hope mit einem auffordernden Blick.

»Ich komm ja schon, Mrs. Hopper«, antwortete sie seufzend und setzte ein gezwungenes Lächeln auf, als sie den Eingangsbereich betrat und ihre Jacke an die Garderobe hängte. »Was gibt es denn so Wichtiges, das keine Sekunde länger warten kann?«

Bei dem entrüsteten Blick der alten Geisterlady rechnete Hope mit einer Standpauke über ihren patzigen Tonfall, doch Mrs. Hopper schnaubte nur, reckte das Kinn in die Höhe und flog durch den Vorhang ins Hinterzimmer. Bevor sie der Erscheinung folgen konnte, schwang die Tür zur Garage auf und ihr Großvater humpelte heraus.

»Guten Morgen«, begrüße er sie lächelnd. »Wie geht‘s dir heute?«

»Morgen, Grandpa«, erwiderte Hope und drückte ihm liebevoll einen Kuss auf die Wange. »Ganz gut und dir? Kein gutes Wetter für deine Arthrose, oder?«

Er bedachte sie mit einem warmherzigen Blick. »Ach, das ist schon in Ordnung. Es gibt immer wieder schlechtere Tage. So ist das eben, wenn man alt wird.«

»Wo ist Grandma?«, erkundigte sich Hope. »Weißt du zufällig, ob sie wegen des Kleides schon bei den Hoppers war?«

Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Leider nein. Als ich gestern Abend nach Hause kam, hat sie schon geschlafen.« Ächzend sank er auf den Bürostuhl im Empfangsbereich. »Sie müsste eigentlich im Zeremonienzimmer sein, wollte noch das Blumenarrangement umstellen. Meine Anordnung hat ihr mal wieder nicht gefallen.« Ihr Großvater zwinkerte amüsiert und Hope lächelte.

»Dann geh ich sie mal suchen«, verabschiedete sie sich. »Vielleicht braucht sie Hilfe.« Damit schob sie den schweren Vorhang zur Seite und öffnete die Tür zum Hinterzimmer, wo ihr augenblicklich eine schrille Stimme entgegenschlug.

»Wenn jemand zu dir sagt, er möchte dir etwas zeigen, dann meint er sofort. Merk dir das, Schätzchen.« Die Arme vor der Brust verschränkt, saß Mrs. Hopper auf einem der Holzstühle und hatte die Stirn in Falten gelegt.

»Entschuldigung, ich hatte noch etwas mit meinem Großvater zu besprechen. Und da es bei Ihnen wahrscheinlich nicht um Leben und Tod geht …« Empört zog die alte Lady die Augenbrauen hoch und schnappte nach Luft, doch Hope ließ sie nicht zu Wort kommen. »Was wollten sie mir denn nun zeigen, Mrs. Hopper?«

Nachdem sich die aufgebrachte Erscheinung wieder beruhigt hatte, räusperte sie sich und schwebte zu einem dunkel glänzenden Holzsarg, der im hinteren Teil des Raumes auf einem rollbaren Metallgestell stand.

»Wärst du so freundlich?« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf die Öffnung des Sarges.

Vorsichtig klappte Hope die obere Hälfte des Deckels hoch. Zum Vorschein kam der Leichnam der alten Dame. Die Hände friedlich auf dem Bauch gefaltet, ruhte ihr Körper auf dem cremeweißen Seidenkissen. Die dezente Schminke verlieh der Toten eine gesunde Gesichtsfarbe und das lange, weinrote Kleid mit den Rüschenärmeln lag in fließenden Wellen über ihrem Oberkörper.

Hope lächelte. Da hatte Grandma ihr mal wieder die ganze Arbeit abgenommen. Dafür würde sie später die gefüllten Pralinen besorgen, die sie so gerne mochte.