Bei den Partisanen in Athen - Rudolf Bilgeri - E-Book

Bei den Partisanen in Athen E-Book

Rudolf Bilgeri

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Beschreibung

Athen, August 1944: Deutsche Besatzer und griechische Kollaborateure unterdrücken den Widerstand einheimischer Partisaninnen und Partisanen mit brutaler Gewalt und Deportationen, diese antworten mit Anschlägen und Überfällen. Der Wehrmachtssoldat Rudolf Bilgeri will vor allem eines – den Krieg überleben und seine Familie wiedersehen. Er zieht die »verhasste Uniform« aus, desertiert mit einigen Kameraden und schließt sich mit Hilfe der Dolmetscherin Dina der griechischen Volksbefreiungsarmee ELAS an, die in den armen Athener Stadtteilen viel Rückhalt unter der geschundenen Bevölkerung hat. Einige Monate später beginnt Bilgeri in Ägypten, seine Flucht aus der Wehrmacht niederzuschreiben. Er schuf eine außergewöhnliche Quelle über die Schlussphase der deutschen Herrschaft in Griechenland, die Tragik des Partisanenkampfes, über Kriegsgefangenschaft und Heimkehr. Ergänzt wird das reich illustrierte Tagebuch durch Beiträge des Herausgebers und der Herausgeberin sowie des Historikers Iason Chandrinos. Im Nachwort teilt Reinhold Bilgeri Erinnerungen an seinen Vater Rudolf.

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Seitenzahl: 204

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Rudolf Bilgeri

Bei den Partisanen in AthenTagebuch eines Deserteurs der Wehrmacht

Herausgegeben von Peter Pirker und Ingrid Böhler

Gedruckt mit Unterstützung durch die Abteilung Kultur des Amtes der Tiroler

Landesregierung, den Zukunftsfonds sowie das Vizerektorat für Forschung der

Universität Innsbruck. Gefördert durch das Land Vorarlberg.

Anmerkung des Verlags:

In der vorliegenden Publikation wurden orthografische Korrekturen in der Textedition der Tagebuchblätter

von Rudolf Bilgeri vorgenommen, die alte Rechtschreibung wurde jedoch für die

Tagebucheinträge beibehalten.

© 2023 Universitätsverlag Wagner in der Studienverlag Ges.m.b.H.,

Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.uvw.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7030-6621-4

Layout und Satz: Universitätsverlag Wagner / Karin Berner

Umschlag: Universitätsverlag Wagner / Eisele Grafik ∙ Design, München

Umschlagabbildung: Imperial War Museum, NA 19622

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.uvw.at.

Inhalt

Vorwort

Peter Pirker, Ingrid BöhlerFlaschenpost eines Deserteurs.Zur Einleitung

Rudolf BilgeriTagebuchblätter

Athen

Auf der Flucht!

In die Gefangenschaft

Hinter Stacheldraht

Heimkehr

Iason Chandrinos„Ewig in Bewegung und Aufruhr“: Athen in der Besatzungszeit 1941–1944

Reinhold BilgeriVater war ein stiller Mann.Ein Nachwort

Anhang

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Autorin und Autoren

Deutsche Heereskarte 1943 (Quelle: ÖNB).

Vorwort

Anfang September 1944 desertierte Rudolf Bilgeri (1907–1992) aus der deutschen Wehrmacht und schloss sich den Partisan*innen in Athen an. Die Tagebuchblätter, in denen er sein widerständiges und waghalsiges Unternehmen sowie die Kriegsgefangenschaft in Ägypten schildert, lagen 75 Jahre im Schoß seiner Familie in Hohenems, solange sie lebte, verwahrt von seiner Ehefrau Ilse (1912–2012). Im November 2019 begann am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck ein Forschungsprojekt, das sich mit der Geschichte der abtrünnigen Soldaten im Zweiten Weltkrieg aus Tirol und Vorarlberg befasste. Das Projekt wurde im Auftrag und mit Förderung der Tiroler und der Vorarlberger Landesregierungen sowie der Stadt Innsbruck durchgeführt.

Gleich zu Beginn erzeugten einige Medienberichte Aufmerksamkeit für das Projekt und erstaunlich viele Menschen meldeten sich, um von Großvätern, Vätern und Onkeln zu berichten, die im Zweiten Weltkrieg aus der deutschen Armee geflohen waren, auch von Großmüttern, Müttern und Tanten, die Deserteuren geholfen hatten. Lange Zeit waren Wehrmachtsdeserteure als „Verräter“ und „Feiglinge“ verfemt. Bei der Bereitschaft, diese Familiengeschichten zu teilen, handelte es sich wohl um einen positiven Effekt der Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure, die der österreichische Nationalrat 2009 durchgeführt hatte. Unter den Angehörigen von Deserteuren, die sich meldeten, war Richard Bilgeri, ein Sohn von Rudolf Bilgeri. Bei einem Gespräch im September 2020 in Hohenems zeigte er das kunstvoll gestaltete Tagebuch seines Vaters, außerdem ein Poesiealbum und zwei Fotoalben, die Ablichtungen der Familie seit den 1930er-Jahren, Bilder vom Soldatendienst in Saloniki und Athen, von der Kriegsgefangenschaft bei der britischen Armee in Ägypten und von der Zeit nach der Heimkehr im Jänner 1947 enthielten.

Bereits die erste Durchsicht der Aufzeichnungen Bilgeris offenbarte, dass es sich um eine besondere historische Quelle handelte. Sie dokumentieren eine ungewöhnliche Kriegsbiografie – die Desertion eines katholischen Wehrmachtssoldaten zu den kommunistischen Stadtpartisan*innen in Athen. Mit Richard Bilgeris Einverständnis wurden die Tagebuchblätter seines Vaters zunächst im Rahmen einer Lehrveranstaltung an der Universität Innsbruck verwendet, um Studierende der Geschichte mit der Transkription, der äußeren und inneren Quellenkritik, also einer Überprüfung auf Authentizität, Kohärenz, Stimmigkeit von Zeit- und Ortsangaben und der Einschätzung der Bedeutung der Quelle und ihrer wissenschaftlichen Erkenntnischancen zu befassen. Diese Arbeit haben Lena Fohrer, Michael Ganahl, Eva Haslinger, Hannah Schrott und Sebastian Staudacher mit viel Engagement durchgeführt und damit einen wesentlichen Beitrag zu dieser Publikation geleistet. Dafür möchten wir ihnen herzlich danken.

Das Buch beginnt mit einer Einleitung des Herausgebers und der Herausgeberin, die das Tagebuch vor dem Hintergrund der starken Beteiligung von Österreichern am Überfall der deutschen Wehrmacht auf Griechenland und an der vierjährigen Besatzung mit ihrem vielfältigen Gewaltregime betrachtet und den Verfasser Rudolf Bilgeri vorstellt. Die Textedition der Tagebuchblätter ist mit Faksimiles des Originals versehen. Sie kann auch direkt angesteuert werden. An manchen Stellen haben wir in Endnoten Erläuterungen hinzugefügt. Im Anschluss bietet der Historiker Iason Chandrinos Einblicke in die Situation der Bevölkerung von Athen während der deutschen Herrschaft und in den Widerstand, der gegen sie geleistet wurde. Er nimmt dabei auf Ereignisse Bezug, die Rudolf Bilgeri in seinem Tagebuch schildert. Den Schlusspunkt setzt die persönliche Erinnerung Reinhold Bilgeris an seinen Vater.

Wir bedanken uns sehr herzlich bei der Familie Bilgeri, besonders bei Richard, Wolfram und Reinhold, bei Hagen Fleischer, Iason Chandrinos, Uli Nachbaur, Brigitte Haidler, Miro Kuzmanovic, Elena Messner, Sylvia Eller, Arnulf Häfele, Evi Genetti und Chiara Genetti.

Peter Pirker und Ingrid Böhler,Innsbruck, Dezember 2022

Peter Pirker, Ingrid Böhler

Flaschenpost eines Deserteurs. Zur Einleitung

„Unsere Gebirgsjäger auf dem höchsten Berg Griechenlands!“ Mit dieser Schlagzeile trumpften die „Innsbrucker Nachrichten“ am 21. Mai 1941 am Titelblatt auf. Eine Fotografie zeigte von einem Schneesturm umwehte Tiroler und Vorarlberger Wehrmachtssoldaten, die am Gipfel des Olymp symbolträchtig die Reichskriegsflagge mit dem Hakenkreuz hissen. Unter ihnen der NSDAPKreisleiter von Innsbruck, Max Primbs, engster Vertrauter des Gauleiters von Tirol-Vorarlberg Franz Hofer. Primbs hatte am Überfall der Wehrmacht auf Griechenland am 6. April 1941 teilgenommen und – so liest man – den Auftrag bekommen, als „Führer eines Spähtrupps“ den Olymp zu erklimmen und für das Deutsche Reich in Besitz zu nehmen. Bald nachdem das Foto geschossen war, war der Krieg für Primbs vorbei. Zurück in Tirol machte er sich mithilfe dieser Eroberungsgeschichte daran, für sich den Ruhm eines kühnen Frontkämpfers einzustreichen. Landauf, landab berichtete er bei „feierlichen Appellen“ in den Dörfern, zu denen „sämtliche männliche Einwohner einschließlich der Jugend von zehn Jahren aufwärts“ gerufen wurden, voller Pathos von seinen und den Heldentaten der Tiroler und Vorarlberger Gebirgsjäger im fernen Griechenland. Er sei „unendlich glücklich und dem Schicksal dafür dankbar […], daß er beim Kampf im Südosten dabei sein konnte“.1 Die „Innsbrucker Nachrichten“ erläuterten, dass sich die Tiroler und Vorarlberger Soldaten bei der Niederschlagung des Widerstands der griechischen und britischen Armeen so hervorgetan hatten, dass ihnen die Ehre zuteilgeworden war, die Siegesparade der Wehrmacht in Athen anzuführen.2

Dieses Buch dreht sich um einen Mann, einen Gebirgsjäger, der „beim Kampf im Südosten“ zwar dabei, aber weder glücklich darüber noch dankbar dafür gewesen ist. Rudolf Bilgeri hatte den triumphalen deutschen Feldzug gegen Griechenland im Zweiten Weltkrieg nicht miterlebt, als Hitler seinem Verbündeten, dem italienischen Diktator Mussolini, zu Hilfe kommen musste, nachdem dieser 1940 Hellas erfolglos angegriffen hatte, vor einer Niederlage stand und damit an der Südostflanke auch den längst geplanten deutschen Angriff auf die Sowjetunion gefährdete. Aber das Chaos, den Hunger, die Verelendung, die Repressionen und den inneren Zwist, die Hitler und Mussolini der griechischen Bevölkerung aufgrund der kriegerischen Zerstörungen, Besatzung, maßlosen Ausbeutung und mit einer unfähigen Kollaborationsregierung bescherten, schon.3 Und als im August 1944 der Rückzug der Wehrmacht angesichts des Durchbruchs der Roten Armee in Rumänien, der Überlegenheit der britischen Marine im Mittelmeer und der Stärke der griechischen und jugoslawischen Partisanenarmeen so unausweichlich wie ungewiss in der Durchführung wurde, spürte Bilgeri die große Gefahr, nicht mehr lebend nach Hause zu kommen.4

Der aus Hohenems in Vorarlberg stammende 38-jährige Hauptschullehrer, Ehemann und Vater zweier Kinder war seit Mitte 1943 bei Nachrichtendienststellen der Wehrmacht zunächst in Saloniki, dann in Athen als technischer Zeichner von Schaltplänen für das Kommunikationssystem der deutschen Verteidigungsanlagen an der Küste eingesetzt, die die Landungen der Alliierten verhindern sollten. Seine Einheit trug die Bezeichnung Festungs-Nachrichten-Stab 23, mit Sitz in Vyronas, einer Vorstadtgemeinde von Athen. Es handelte sich um eine kleine technische Truppe mit vier Offizieren, sieben Unteroffizieren, zwanzig Mannschaftssoldaten, zwei Angestellten und drei „Hilfswilligen“, also russischen Soldaten, die in der Sowjetunion rekrutiert worden waren.5 Fotografien zeigen Bilgeri, wie er im Hafen von Saloniki und bei Besuchen der antiken Sehenswürdigkeiten in Athen posiert – er verhielt sich in dieser Hinsicht wie die meisten deutschen Soldaten auch. Kampfeinsätze hatte er bislang nicht erlebt, nun aber befürchtete er, auf dem Rückzug oder in der Heimat dafür herangezogen zu werden. Im August 1944 fasste er gemeinsam mit seinem Freund Toni Müller und einem weiteren Kameraden den Entschluss, der Wehrmacht den Rücken zu kehren und zu den Partisan*innen überzulaufen. Die drei Soldaten waren bereit, „Fahnenflucht“ zu begehen, ein Delikt, auf das in der Wehrmacht grundsätzlich die Todesstrafe stand, insbesondere wenn sie ins Ausland, zum Feind oder zu Partisan*innen führte. Am 3. September 1944, einem Sonntag, verschwanden sie aus dem stattlichen Gebäude ihrer Dienststelle in Vyronas und vertrauten sich einer Partisanengruppe der ELAS an, wie der bewaffnete Arm der großen griechischen Volksbefreiungsbewegung EAM hieß.6 Sie brachten den Partisan*innen auch Waffen und Munition, die sie ihrer Einheit entwendet hatten. Am selben Tag entledigte sich Bilgeri der „verhaßten Uniform“ (S. 70) und schlüpfte in Zivilkleider, die ihm von der ELAS zur Verfügung gestellt wurden. Die Deserteure bewerkstelligten ihre Verwandlung von Soldaten der Besatzungsmacht zu Schützlingen der Partisan*innen mit Hilfe der jungen griechischen Dolmetscherin Dina, die in Bilgeris Nachrichtendienststelle beschäftigt und zugleich eine der vielen jungen Aktivist*innen der ELAS war.7

Rudolf Bilgeri als Gefreiter der Wehrmacht in der „verhaßten Uniform“, 1943/44.

Mit den Szenen der Vorbereitung und der Flucht beginnen die „Tagebuchblätter“, wie Rudolf Bilgeri seine Aufzeichnungen betitelte, die er während der Gefangenschaft bei der britischen Armee zwischen Dezember 1944 und Dezember 1946 in Ägypten verfasste. Sehr wahrscheinlich beruhte die Niederschrift auf Notizen, die bereits in Athen entstanden waren. Anfang 1947 schloss er die Chronik der geglückten Desertion unter der Akropolis, des zermürbenden Wartens in Zeltlagern in der Wüste und der ersehnten Rückkehr zur Familie ab. Er schrieb sie für seine Frau Ilse und seine beiden Kinder Wolfram und Roswitha, wie die liebevolle Widmung vor dem kunstvoll ausgeführten Monogramm zu Beginn der Aufzeichnungen verrät. Und doch liest sich die Erzählung wie für ein breites Publikum geschrieben. Familiäre Gefühle verpackte Bilgeri in zwei romantische Gedichte, die er seinem Bericht voranstellte. Im Text selbst sind sie kaum mehr spürbar. Er schildert die Ereignisse spannend und lebendig, aber in einem nüchternen, stellenweise distanzierten Ton. Die Erzählung ist klar strukturiert, die Handlung in knappe, aber recht präzise Informationen über die militärischen, politischen, sozialen und topografischen Gegebenheiten eingebettet. An mehreren Stellen illustrierte der Autor seinen Bericht mit gekonnten Federzeichnungen der Schauplätze.

Über die eigene Herkunft und Geschichte des Autors erfahren wir in den Tagebuchblättern wenig, abgesehen davon, dass er den Nationalsozialismus gründlich ablehnte und diese Gegnerschaft von einem starken katholischen Glauben und konservativen Werten geprägt war. Hier findet sich vielleicht ein Grund für den bisweilen kühl, manchmal sogar abschätzig wirkenden Blick auf einige der Partisan*innen und Helfer*innen. Denn Zuflucht und Hilfe fand der Katholik gerade bei den linken Aktivist*innen der ELAS – die oft der kommunistischen Partei KKE angehörten – sowie bei dem meist bitterarmen und wenig gebildeten Proletariat in den Elendsquartieren der Vorstädte Athens. Wiewohl er jedes Essen, jedes Getränk, jede Unterkunft, jedes Kleidungsstück, das ihm und den anderen Deserteuren gereicht wurde, protokollierte und Dankbarkeit für die erfahrene Hilfe, Bewusstsein für die Gefahr, der sich die Helfer*innen aussetzten, zeigt und obwohl er sich als Angehöriger der ELAS bezeichnet, macht er aus seinen Vorbehalten keinen Hehl. Manchmal verschafft er seinem Unmut und seinem Unverständnis gehörig Luft. Neben Erschrecken über gewaltsames Vorgehen gegen politische Gegner und Kollaborateure, Frustration über fehlende Informationen und einem negativen Grundgefühl des Ausgeliefertseins rührte die Distanz wohl auch von einer antikommunistischen Haltung her, die mehr seiner christlichsozialen, wertkonservativen Herkunftsgesellschaft entstammte als der „antibolschewistischen“ Propaganda der Nationalsozialisten.

Zugleich werden bei großer Wertschätzung für die griechische Kultur und Dankbarkeit für die erlebte Gastfreundschaft an manchen Stellen Überlegenheitsdünkel deutlich – die unter deutschen Soldaten generell gegenüber der als „orientalisch“ wahrgenommenen Athener Bevölkerung verbreitet waren8 – und man wünscht sich als Leser*in mehr Empathie für die unter der deutschen Besatzung und ihren griechischen Kollaborateuren leidenden Menschen. Aber der Schock über den plötzlichen Verlust einer vergleichsweise luxuriösen Unterkunft und der regelmäßigen Verpflegung – die Wehrmacht beutete das Land zur Versorgung der eigenen Soldaten und Polizisten skrupellos aus – kommt in der Distanzierung ebenso zum Ausdruck wie der Statusverlust des Besatzungssoldaten gegenüber der Zivilbevölkerung. Denn die Desertion stellte das bisherige Verhältnis zwischen Besatzer und Besetzten auf den Kopf: Plötzlich war der Vertreter der deutschen Herrschaft – auch wenn er nicht den harten, sondern den sanften Typ repräsentierte – von den Besetzten abhängig, sein Leben in ihrer Hand. Er wohnte nicht mehr im feinen Stabsgebäude, sondern in Elendsquartieren, er schlief nicht mehr im Bett, sondern auf dem harten Boden, er aß unregelmäßig, oft wenig und schlecht, wusch sich selten, war verlaust und musste ständig flüchten, sich vor deutschen und griechischen Polizisten hüten und verstecken. Und es war stets ungewiss, was der nächste Tag brachte. Er teilte nun das tägliche Los eines großen Teils der Bevölkerung von Athen – Unsicherheit, Armut, Ungewissheit, Todesgefahr.

Man kann die Ambivalenz gegenüber den Partisan*innen und die klare Orientierung auf das eigene Überleben auch als Zeichen einer Zeit ohne klare Konturen, als Reaktion auf eine durch fünf Jahre italienische und deutsche Herrschaft tief zerrüttete, in sich bekämpfende Gruppen zerfallene, weitgehend rechtlose und terrorisierte Gesellschaft lesen, die statt auf Befreiung auf einen weiteren Konflikt zusteuerte. „In den letzten Monaten der Besatzung“, schreibt der Historiker Mark Mazower, „löste sich der Mittelweg in der griechischen Politik auf: Zwei bewaffnete Lager standen sich gegenüber, am dramatischsten war die Zuspitzung in Athen. Das waren die Ursprünge der bitteren Fehden und Straßenkämpfe, die nach der Befreiung in einen Bürgerkrieg mündeten.“9

Bilgeris Schrift fehlt fast durchwegs jener Erinnerungspathos, der die Ereignisse und Akteure im langen Nachhinein in ein besseres Licht taucht und nach Legitimation sucht. Ihre Stärke entspringt der zeitlichen Nähe zum Erlebten und dieses machte wenig Hoffnung auf ein gutes Ende der deutschen Besatzung. Die Beteiligung der linken Befreiungsbewegung EAM an der heimgekehrten Exil-Regierung der nationalen Einheit unter Premier Georgios Papandreou scheiterte bald. Die britische Armee stellte sich im bereits aufziehenden Kalten Krieg aus antikommunistischen Ressentiments und geopolitischen Erwägungen gegen die Linke und unterstützte militärisch und politisch die rechten und monarchistischen Kräfte sowie die Sicherheitsbataillone, die unter anderem Namen weiter existierten, obwohl sie mit den Deutschen kollaboriert hatten. Für die Deserteure bedeuteten die erbitterten Konfrontationen zwischen ELAS, Kollaborateuren, Regierung und britischer Armee, die sich im Oktober abzuzeichnen begannen, also wenige Wochen, nachdem sie sich von ihrer Einheit abgesetzt hatten, den Verlust jeder Sicherheit bei ihrer bisherigen Schutzmacht. Sie mussten die Partisan*innen verlassen und in Athen nach eigenen Auswegen suchen. Letztlich blieb ihnen keine andere Wahl, als sich in britische Kriegsgefangenschaft zu begeben, ein Los, das sie freilich auch deshalb für ungerecht hielten, weil sie als Gegner des Nationalsozialismus nun genauso für Jahre hinter Stacheldraht landeten wie verbissene Nationalsozialisten. In den Wüstencamps der britischen Armee waren sie mit Gewalt und Propaganda unverbesserlicher Nazis konfrontiert – auch diese Erfahrung ergab ein pervertiertes Bild von Befreiung, das keinen Jubel auslöste.

Die Tagebuchblätter Bilgeris sind auch in ihrem Umfang ein äußerst rares Zeugnis der Kooperation eines Wehrmachtssoldaten mit dem antifaschistischen Widerstand in Athen und darüber hinaus der Selbstorganisation von antinazistischen, Österreich-patriotischen Kriegsgefangenen in Ägypten.10 Bereits recht gut dokumentiert sind Desertionen von Wehrmachtssoldaten aus der Strafdivision 999 und ihre Beteiligung am militanten Kampf der ELAS in mehreren Hundertschaften auf dem Festland nördlich von Athen, auf der Peloponnes und den Inseln. Auf der Peloponnes gründeten im Juli 1944 etwa achtzig Überläufer den „Verband deutscher Antifaschisten“, einen Monat später folgte die Gründung des „Antifaschistischen Komitees deutscher Soldaten Freies Deutschland“ in Zentralgriechenland. Bei diesen Deserteuren und „Soldaten im Widerstand“11 handelte es sich um vorbestrafte und verurteilte Männer, die als wehrunwürdig galten und daher eigentlich vom Dienst in der Wehrmacht ausgeschlossen waren. Erst nach den horrenden Verlusten an der Ostfront entschloss sich die Wehrmacht, auch Wehrunwürdige einzuziehen. Unter ihnen befanden sich viele Sozialisten und Kommunisten – manche aus Österreich stammend –, die zuvor in politischer Haft gewesen waren. Der deutsche Politikwissenschafter Wolfgang Abendroth lief auf der Insel Limnos von der 999er zur ELAS über und musste sich schließlich wie Bilgeri in die britische Kriegsgefangenschaft begeben, wo er sich in den Wüstenlagern in Ägypten um den Aufbau von Programmen in politischer Bildung für Gefangene bemühte.12

Bilgeris Schrift ist nicht bloß im Kontext der Geschichte der Überläufer in Griechenland eine besondere Quelle. Mehr noch gilt dies für den Kontext der Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung zum griechischen Schauplatz der deutschen Aggression in Europa speziell für Österreich. Denn Bilgeri benannte die Hungersnot, die Besatzungsgewalt, die Massaker an Zivilist*innen, die willkürlichen Razzien und Verschleppungen in Athen. Auch wenn dies „nur“ in einem privaten Bericht an seine Familie geschah, vermittelte er damit Einsichten in die Realität dieses Krieges zu einer Zeit, in der dies kaum jemand tat. Wie aus der Familie berichtet wird, sprach Rudolf Bilgeri nicht über seine Erlebnisse in Athen. Bei Nachfragen seiner heranwachsenden Kinder verwies er sie auf das Tagebuch. Die eingebundenen Tagebuchblätter wurden zu einer Art Flaschenpost zunächst für die Familie, nun – 75 Jahre später – erreicht sie mit deren Zustimmung und Hilfe eine gänzlich veränderte Öffentlichkeit. Sie bietet uns den unverstellten Blick eines Zeitzeugen auf Krieg, Besatzung und Widerstand in Athen.

Blinder Fleck Griechenland

Die Erinnerung an die NS-Herrschaft in Griechenland liegt in Österreich weitgehend brach, in Gestalt des Ausschnitts von der Eroberung durch die Gebirgsjäger ist sie vielmehr lange Zeit ein Metier nostalgisch-verklärender Darstellungen von Kriegsveteranen geblieben. Der Waldheim-Skandal in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre führte zu keiner tieferen Beschäftigung, sobald klar wurde, dass der 1986 gewählte Bundespräsident kein Direkttäter in der griechischen Katastrophe gewesen war, sondern nur ein „ordentlicher“ Schreibtischtäter und Mitmacher wie viele andere auch.13 In den Regimentern der 5. und 6. Gebirgsdivision, die am 6. April 1941 vom verbündeten Bulgarien aus in das Land einfielen, befanden sich zahlreiche Vorarlberger, Tiroler, Salzburger und Kärntner Soldaten. Sie versorgten sich aus dem Land, das heißt, sie plünderten („requirierten“) von Beginn an. Die Praxis des direkten und indirekten Mundraubes durch die deutsch-österreichischen Besatzer endete erst mit ihrem Abzug im Oktober 1944.14 Die Waffentaten und Gewaltmärsche am Festland und auf Kreta wurden nicht nur – wie eingangs geschildert – von den Nationalsozialisten verklärt; nach dem Krieg taten die Kameradschaftsbünde der Gebirgsjäger über Jahrzehnte hinweg nicht viel anderes, wenn sie an die vollbrachten Leistungen „im Südostfeldzug“ erinnerten, gestützt auf Erlebnisberichte in Veteranen-Zeitschriften und ein in vielen Auflagen erschienenes „Gedenkbuch“ des ehemaligen Gebirgsjäger-Offiziers und Oberst des Bundesheeres Karl Ruef.15 Die 5. und die 6. Gebirgsdivision blieben nur wenige Monate in Griechenland. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion wurden sie aus dem Südosten in den Nordosten Europas verlegt, an die finnisch-russische Front bei Murmansk.

Die Bekämpfung der griechischen Widerstandsbewegungen, die im Herbst 1941 in Form der linken EAM und der mit ihr konkurrierenden rechten EDES politische Gestalt annahmen, sich im Frühjahr 1942 bewaffneten und 1943 mit alliierter Unterstützung bereits große Teile Nordgriechenlands kontrollierten, übernahmen andere: Unter dem Oberbefehl des aus Österreich stammenden Generaloberst Alexander Löhr agierten etwa die 1. Gebirgsjägerdivision (in der sich neben Bayern neuerlich viele Österreicher befanden) und weitere Divisionen des Heeres und der Waffen-SS. Unter dem Kommando des österreichischen Höheren SS- und Polizeiführers Walter Schimana bzw. seines Stellvertreters Walter Blume standen Einheiten der Ordnungspolizei, weiters das Polizei-Gebirgsjäger-Regiment 18 mit Polizei-Bataillonen aus Innsbruck und Salzburg sowie die griechischen Sicherheitsbataillone („Evzonen“) und andere Kollaborationsverbände. Daneben war unter dem Kommando eines weiteren Österreichers, Roman Loos, die Geheime Feldpolizei in die Unterdrückung und Zersetzung des Widerstands durch Spione und V-Leute involviert. Auch in diesen Polizeieinheiten begingen Tiroler Besatzungsverbrechen, etwa der Kitzbüheler Skirennläufer Ferdinand Friedensbacher, der auf Kreta einen vermuteten Widerstandskämpfer mit Genickschüssen exekutierte.16

Erst im Zuge der Debatte um die Kriegsvergangenheit von Kurt Waldheim entstand 1986 hierzulande ansatzweise Wissen darüber, dass Wehrmacht und SS in Griechenland schwere Besatzungsverbrechen begangen hatten. Waldheim hatte als Nachrichtenoffizier ab 1942 im Stab von Löhr gearbeitet, ihm unterstand das Referat „Griechische Widerstandsbewegung“, später war er im Generalstab in Athen tätig, dann wieder in der Abteilung für Feindaufklärung bei Löhr. Er schrieb Berichte über den Fortschritt bei der „Bandenbekämpfung“, durchgeführt von den erwähnten Einheiten. Sie kaschierten, dass bei diesen Aktionen nicht bloß Partisan*innen, sondern auch wahllos und willkürlich festgenommene Zivilist*innen zur Abschreckung, Terrorisierung und kollektiven Vergeltung erschossen, Dörfer geplündert und gebrandschatzt wurden. Es handelte sich nicht, wie später oft rechtfertigend behauptet wurde, um Erscheinungen eines Partisanenkriegs, das Vorgehen war von „Rachelust“ geprägt.17 Waldheim und andere Stabsoffiziere schirmten sich von der Wahrheit durch sprachliche Methoden der Verkürzung und Verdrehung ab, damals und später. Mit Ausflüchten – indem sie auf Befehle, Gehorsam, kriegsnotwendige Maßnahmen oder Gesetzlosigkeit und Verschlagenheit der Partisan*innen verwiesen – verdrängten die meisten Veteranen von Wehrmacht- und Polizeitruppen das kriminelle Geschehen, an dem sie mitgewirkt hatten: Mehr als tausend zerstörte und geplünderte Dörfer, mehr als 50.000 zur „Sühne“ erschossene, erhängte oder anders ermordete Zivilist*innen sprechen jedoch eine deutliche Sprache.18

Hinzu kamen etwa 12.000 Griech*innen, die bei willkürlichen Razzien festgenommen, in das Konzentrationslager Chaidari in Athen oder andere Gefangenenlager verschleppt und von dort in das Deutsche Reich zur Zwangsarbeit deportiert wurden. Der größte Teil landete in Bayern und Österreich, manche in Arbeitslagern, auf Kraftwerksbaustellen und bei Unternehmen in Vorarlberg, etwa in Rudolf Bilgeris Heimatgemeinde Hohenems. Dort wurden 1942 beispielsweise 25 Griechen zur Arbeit in einer Ziegelei herangezogen. In der Chronik der Gendarmerie Hohenems wurde zu den Fremd- bzw. Zwangsarbeiter*innen am 15. August 1942 festgehalten: „[…] öfters kommt es vor, daß sie aus nichtigen Gründen die Arbeit verweigern oder Krankheit vorgeben wollen, um sich der Arbeit zu entziehen. Solche Arbeitsunwilligen werden in Arbeitserziehungslager überstellt oder in gelinderen Fällen vorübergehend 1–2 Tage in Arrest interniert.“19 Auch unter den Häftlingen des Arbeitserziehungslagers der Gestapo in Innsbruck-Reichenau befanden sich griechische Deportierte.20 Fast 1.300 Häftlinge griechischer Nationalität zählte die SS im KZ Mauthausen und seinen vierzig Außenlagern. Mehr als fünfhundert von ihnen wurden von ihr ermordet oder starben an den Haftbedingungen. Aber auch die Deportierten leisteten Widerstand: Fast fünfzig griechischen Zwangsarbeitern gelang zwischen 1942 und 1944 die Flucht aus Vorarlberg in die Schweiz.21

Kaum ein Soldat oder Polizist vermochte nach der Rückkehr in die Heimat über Repressalien und Terror zu sprechen, schon gar nicht in der Öffentlichkeit, denn es war klar: Es handelte sich um Kriegsverbrechen, die von Gerichten zu ahnden waren, was allerdings kaum geschah. In den seltenen Fällen, wo es zu Gerichtsverfahren kam, endeten sie ohne Verurteilung, wie 1970 am Innsbrucker Landesgericht im Fall des freigesprochenen Ferdinand Friedensbacher, des oben erwähnten Siegers des ersten Hahnenkammrennens. Eines der größten von Soldaten der 1. Gebirgsdivision verübten Massaker mit 317 toten Männern, Frauen und Kindern betraf das westgriechische Dorf Kommeno. Bei Ermittlungen der österreichischen und deutschen Polizei in den Jahren 1969 bis 1971 wurden sämtliche noch lebende Veteranen der Täter-Einheit befragt, doch zu einer Anklage kam es nicht. Ähnlich verhielt es sich im Falle der Massenverbrechen von Distomo, Kalavryta und an vielen anderen Orten.22 Zeugenschaft gab es – mitten in der Gesellschaft. Der Osttiroler Chronist Johannes E. Trojer suchte in den 1980er-Jahren das Gespräch mit ehemaligen Gebirgsjägern aus seinem Heimatdorf Außervillgraten, um von ihren Kriegserlebnissen zu erfahren. Der Bauer Johann Bachlechner berichtete ihm über Kreta und der Heimatforscher fasste zusammen:

„war mit 32 jahren bei seiner barraseinheit der älteste. auf kreta gesehen, wie der stellvertr. kompanieleutnant der eigenen einheit von einer anhöhe hinunter pur aus übermut zuerst ein schwein erschoß, das unten vor einem haus sich bewegte, und dann die frau, die auf das hin flehend mit wehrenden armen aus dem haus gelaufen kam. sah ebenso, wie 14–15 kreter zuerst ihr eigenes grab schaufeln mußten und dann hinuntergeschossen wurden.“23

Selbst ein kritischer Geist wie Trojer vermied es in den 1990er-Jahren, solche und ähnliche juristisch noch relevante Erzählungen seiner Gesprächs- und Interviewpartner zu publizieren. In dieser Zeit trafen sich in Bayern und Tirol ehemalige Angehörige des Polizei-Gebirgsjäger-Regiments 18 nach wie vor regelmäßig zu „Kameradschaftstreffen“, etwa im Tiroler Ehrwald. Der Bericht des Südtirolers Luis Raffeiner, mit dem er im hohen Alter über seine Erlebnisse an der Ostfront und die Verbrechen seiner Einheit Zeugnis ablegte, erschien erst fünfzehn Jahre später und blieb eine Ausnahme. Er trug den Titel „Wir waren keine Menschen mehr“.24