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Die Deutsche Bundeswehr, zugleich eine Parlamentsarmee, stellt mit ihren Soldaten und Soldatinnen eine einzigartige Berufsgruppe dar. Tauchen Sie in eine militärische Welt ein, die faszinieren und versöhnen und trotz aller Widrigkeiten ohne irgendeinen Schusswechsel auskommen und überraschenderweise unterhaltsam sein kann. Seine Texte sind humorvoll und besinnlich. Sie spiegeln diese Zeit in Worten wieder.
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Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Beim Barras
Erzählungen eines Personalfeldwebels
Olav Garz
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über die Adresse
http://dnb.ddb.de abrufbar.
Über den Autor
Olav Garz wurde 1963 in Gelsenkirchen geboren. Er hat von 1982 – 1994 als „Zwölfender“ (zwölf Jahre), bei der Deutschen Bundeswehr auf den verschiedensten Führungsebenen im Fachbereich „S1“, sprich im Personalwesen, mit- und zugearbeitet. Er war an unzähligen Bundeswehr-Standorten in ganz Deutschland abkommandiert und trug zuletzt den Dienstgrad eines Oberfeldwebels. Kurz, als Zeitsoldat in der Teilstreitkraft Heer gedient. Dabei blieb ihm nichts fremd oder verborgen. OG ist Träger des Ehrenkreuzes der Bundeswehr in Bronze, verheiratet und wohnt mit seiner Familie im Taunus.
© 2023 -Verlag, Altheim
Buchcover: Germencreative
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Belin.
Mit kameradschaftlichem Dank
an Herrn Hauptmann a.D.
Heinz-Dieter Rahlmann,
ehemaliger S1-Offizier (Personalchef),
beim Flugabwehrregiment 7 in
Borken/Westfalen,
1982
Zum aller ersten Mal in meinem Leben,
bekam ich Vertrauen ausgesprochen.
Zitat
„Ich will der erste Diener
meines Staates sein“.
Friedrich der Große,
König von Preußen,
Philosoph und bekannter Feldherr
des 18.Jahrhunderts
(„der alte Fritz“)
Geboren am 24.Januar 1712 in Berlin,
gestorben am 17.August 1786 in Potsdam
Vorwort
Was ist eine Marotte?
Wenn man dafür in schlauen Büchern nachschlagen wollte, bekommt man häufig folgende Antwort: Marotte ist das französische Diminutiv – sprich eine Verkleinerung, eine Verniedlichung – des Namens Marie und ursprünglich für eine auf einem Stab angebrachte Puppe im Puppentheater. Im übertragenen Sinn wurde später umgangssprachlich aus Marotte eine Schrulle oder eine seltsame Angewohnheit.
Eine von vielen möglichen, komischen Angewohnheiten von Menschen oder geübte Praxis habe ich bei der Bundeswehr kennenlernen dürfen.
„Fünf Minuten vor der Zeit ist des Soldaten Pünktlichkeit.“
Darüber könnte man sich amüsieren oder sie übersehen, aber so einfach ist es dann doch nicht.
Je niedriger der Dienstgrad, um so überpünktlicher hat der Soldat an einem vereinbarten Ort zu warten. Das kann sogar ein älterer Oberst – silbernes Eichenlaub und drei silberne Sterne – sein, wenn er zum Beispiel mit einem jüngeren General – goldenes Eichenlaub und ein goldener Stern – verabredet sein sollte. Das Lebensalter, der Erfahrungsgrad, familiäre Verhältnisse, die Erziehung, Orden und andere Auszeichnungen tun hier nichts zur Sache. Der Dienstgrad und die Zeitvorstellung des Dienstgrad-Höheren schlagen hier alle sachlichen Argumente.
Wie kann eine pünktliche Pünktlichkeit gelingen? Er oder sie stellt schlicht die eigene Armbanduhr vor. Für jeden Vorgesetzten, den der Soldat über sich stehen hat, berechnet er ein fünfminütiges, früheres Erscheinen seiner eigenen Person. Abgesehen davon, dass in der Summe durchaus eine halbe Stunde oder mehr dabei herauskommen könnte, sollte der gemeine Soldat über diesen Unsinn erst gar nicht nachdenken. Und nicht vergessen, auch die Wanduhr im eigenen Dienstzimmer vorzustellen.
Wichtig ist, dass er, der Soldat, unbeschadet, sprich, Dienstgrad-pünktlich am vereinbarten Standort stehen kann, und zwar, bevor sein eigener Vorgesetzter um die Ecke kommen möchte. Kurzum: Diese Marotte treibt dem militärischen Alltag niemand mehr aus; sie wird bestehen bleiben und weitergetragen. Welche Vorgesetzten jüngerer Generationen X, Y, Z warten schon gerne?
Ein ziviler Beginn
Mike Krüger, der bekannte Knittel-Barde aus Quickborn (das ist eine Stadt im Kreis Pinneberg in Schleswig-Holstein), hatte sich auf der Langspielplatte mit dem Titel „Mein Gott, Walther“ seine eigenen Gedanken gemacht, wie es wäre, ein Bundeswehrsoldat sein zu dürfen. Die Idee, der Text, die Melodie, kurz, der Song war geboren und trug den Titel: „Ich bin Bundeswehr-Soldat“. Entstanden war eine Persiflage über das Leben eines Soldaten, der den Sinn des Dienstes der Bundeswehr nicht erkennen, besser gesagt, nicht verstehen kann oder will.
Ein Auszug dieses Liedes, die fünfte Strophe, gibt dazu einen tieferen Einblick:
„Denn ich bin Bundeswehr-Soldat, ’n toller Typ
Und ich hab’ mein Vaterland so furchtbar lieb
Wollte nie in meinem Leben ’was andres sein
Und außerdem fiel mir auch gar nichts Bess’res ein.“
Das Komische daran ist, Herr Krüger hat wirklich bei der Bundeswehr gedient: als Obergefreiter bei dem Marinefliegergeschwader 1 (Kürzel: MFG1), in Kropp/Jagel in Schleswig. Man kann es ihm nachsehen, die Bundeswehr auf die Schippe genommen haben zu wollen. Wer beim Bund war, darf auch davon erzählen.
Für viele andere war die Zeit der Wehrpflicht eine tendenziell entbehrende, kräftezehrende Angelegenheit. Ebenso konnte diesem Dienst auf Zeit so manches Mal eine gewisse psychische Anspannung nicht abgesprochen werden. Eventuell konnte der eine oder andere Wehrpflichtige im Nachhinein auch den Eindruck für sich persönlich gewinnen, seine Zeit dort vertan zu haben. Und hiermit ist nicht der frühere, übliche und allgemeine Sportdienst gemeint.
Ab hier möchte ich die Angelegenheit sorgfältiger betrachten. Ich selbst bin vor 30 Jahren aus dem aktiven Dienst ausgeschieden und möchte von Geschehnissen, Biographien und Schicksalen erzählen.
Zuvor hatte man Soldaten mittels Prämien angeworben. „Zum Barras müssen“ (Militärdienst leisten) könnte daher auf de Barras zurückgehen. Allerdings ist der Ausdruck in Frankreich selbst unbekannt. Eine andere Erklärung leitet den Ausdruck aus dem Jiddischen ab: Dort bezeichnet „baras“ eine Art Fladenbrot, welches als Verpflegung der Soldaten diente.
Nach einer weiterführenden Interpretation wäre das Militär dann der Ort, an dem man sein Brot verdient. Heute wird der Ausdruck vor allem im Bayerischen, Pfälzischen, Ruhrdeutschen, Schwäbischen, Alemannischen sowie in Österreich verwendet, also in Gebieten, die seinerzeit Soldaten für die kaiserlich französische Grande Armee, stellten.
Ein Blick in die Gegenwart, im Rahmen dessen ich einen Moment lang dienstlich werden muss: Die Wehrpflicht wurde durch den Wehrdienst oder im Falle des §1 des Kriegsdienstverweigerungsgesetzes vom 28. Februar 1983 durch den Zivildienst erfüllt. Die Dauer des Grundwehrdienstes und des Zivildienstes betrug seit dem 1. Januar 2011 sechs Monate. In der Spitze, 1962, waren es gar 18 Monate. Zum 1. Juli 2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Mein Geburtsjahrgang, 1963, Babyboomer und zugleich Kriegsenkel-Generation, durfte noch 15 Monate Grundwehrdienst leisten.
Um der Geschichte der Wehrpflicht bei der Bundeswehr gerecht zu werden, um diese wichtige Angelegenheit rund zu machen, sei hier noch ergänzt, dass die allgemeine Wehrpflicht, also die erste gesetzmäßige Einberufung, am 1. April 1957 für Wehrpflichtige erfolgte. Sie galt für alle Männer, die nach dem 30. Juni 1937 geboren wurden. Das waren die Kinder, die Jungen, die heranwachsenden Männer der sogenannten Kriegsgeneration. Sie waren erst acht Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Nur zwölf Jahre später wurden sie bereits eingezogen, trotz aller schmerzhaften und persönlich belasteten Erinnerungen.
Liebe Leserinnen und Leser, liebe ehemalige, altgediente Reservisten oder aktive Soldatinnen und Soldaten, liebe Wehrdienstverweigerer und Zivildienstleistende, liebe Pazifisten, liebe Uniformträger anderer staatlichen und hoheitlichen Einrichtungen, liebe Jungbewerberinnen und Jungbewerber für den Beruf des Soldaten, ich wünsche Ihnen allen eine gute Unterhaltung bei den nun folgenden Erzählungen. Ich gebe zu, dass das eine oder andere Erzählte Grund zum Nachdenken geben könnte; das Leben ist mitunter hässlich. Zum Ausgleich hierfür sei ebenfalls von heiteren Erlebnissen und kuriosen Szenen aus dem Erfahrungsschatz eines bereits seit vielen Jahren ausgemusterten, ehemaligen Oberfeldwebel der Reserve berichtet, der seine gesamte Dienstzeit im Personalwesen (S1-Stabsdienst) abgeleistet hat. An der Quelle saß der Knabe …
Beim Umblättern der einzelnen Seiten bekommen Sie keine Blasen an Ihren Fingern. Es ist schließlich kein 25 Kilometer langer und nächtlicher Orientierungsmarsch während der Grundausbildung, mit 25 Kilogramm Sturmgepäck auf Ihrem Rücken, sondern eine unterhaltsame Reise durch unser schönes Deutschland mit seinen überraschenderweise, teilweise ausgeschrieben ansehnlichen, militärischen Einrichtungen.
Zitat
„Jedem das seine“
Friedrich der Große
(„der alte Fritz“)
Der Prozess
Die Stimmung war am Nullpunkt. Der Morgenkaffee wollte nicht schmecken. Die Uhr zeigte fünf nach Acht an und der Dienstbote, der die Post brachte, kam wie gewöhnlich erst um 9 Uhr in diesem Dezernat an. Alle schauten auf die große Büro-Uhr. Jetzt war es sieben Minuten nach Acht. Sie lief nicht schneller.
Wer in der letzten Woche Aktenzeichen XY…ungelöst mit Eduard Zimmermann im Live-Fernsehen gesehen und bei dieser Ausstrahlung alle furchtbaren Fälle mitverfolgt hatte, wusste Bescheid. Es graute zwar allen vor dieser Akte, dieser verdammten Akte, die erst nach neun Uhr diese Verwaltungsabteilung – innerhalb einer Dienststelle der Bundeswehr, auf Amtsebene wirkend und für die Bearbeitung der Personalakten von länger dienenden Unteroffizieren Verantwortung zeichnete – erreichen sollte; dennoch faszinierte sie alle Beteiligten, obwohl aktuell Wartezeit bestand. Auch ekelte es im Allgemeinen an, jenes Verbrechen bereits im Vorfeld in allen seinen Details lesen zu müssen. Eine Leseliste – wer bekam sie als erstes, wer als letztes – war trotz aller Bedenken bereits letzte Woche geschrieben worden.
Die Drähte liefen heiß. Der Vorgesetzte dieses Soldaten, die nächsthöheren Vorgesetzten, sie alle blieben ratlos zurück. Jener Soldat, der mit einer kriminellen Tat in Verbindung gebracht werden musste, war bereits verhört und belastende Schriftstücke niedergeschrieben worden. Selbstverständlich galt für ihn die Unschuldsvermutung, wie für jeden anderen zivilen Bürger auch. Die Kriminalpolizei hatte ihn gleich nach der letzten Tat, direkt nach seiner Verhaftung, noch vor Ort, dazu verhören können. Der zuständige Staatsanwalt, aus dem Raum München, zog gleich alle Ermittlungen an sich. All das verhieß nichts Gutes. Das einzig Positive, das hinaus gesendet werden konnte, war, dass sich der bald ehemalige Soldat, kooperativ zeigen wollte. Das Truppendienstgericht, das später über seine unehrenhafte Entlassung aus dem Dienst verhandeln sollte, war noch das Geringste, was ihm beim Nachgang, der Aufbereitung dieses Verbrechens, drohte.
Als erstes bekam sie der Geschäftsstellen-Feldwebel von diesem Dezernat in die Hände, vom internen Postboten dieses Hauses, „aber nur gegen Unterschrift!“, seinerseits, persönlich übergeben. Zu Lesen bekam er sie aber trotzdem nicht gleich. Seine Aufgabe war es, sie vom jeglichen Verpackungspapier und Kordeln zu öffnen, um sie dann mit einem Eingangsstempel versehen zu können. Stets auf dem Deckblatt einer jeden Personalmappe. Sollte so ein oberes Blatt fehlen, dann auf dem ersten Blatt einer Akte – so die Anweisung gemäß den Statuten dieses Hauses.
Die Anweisung vom Dezernatsleiter, letzte Woche Freitagnachmittag, klang bedrohlich und einschüchternd zugleich: „Herr Stärk, sobald Sie diese Personalakte am Montag registriert haben, kommt sie sofort zu mir!“
Der Satz saß. Es war unumstößlich. Ein wenig zitterten Ralph Stärk die Hände. Dabei hatte er noch keinen Eingangsstempel in seiner rechten Hand.
Womit die Angehörigen dieser Abteilung nicht rechnen konnten: es existierte bereits eine angedachte Lese-Liste, außerhalb dieser Diensträume. Die war nun nicht mehr auf dieses einzelne Dezernat beschränkt, nein, diese besondere, ominöse Liste, hatte einen Raum und Flur übergreifenden Dezernats-Charakter bekommen.
Denn kaum war der Leiter dieser Verwaltungseinrichtung, der Chef vom Amt, der Herr Oberst, am späten Montagmorgen an seinem Arbeitsplatz angelangt, griff er gleich zum Hörer, um wiederum den Herrn Dezernatsleiter, den Chef jener Abteilung, den Herrn Oberstleutnant, zu bitten, ihm sofort und genau diese Akte per Boten – ein Soldat mit einem Mannschaftsdienstgrad, hier war es ein Herr Gefreiter – persönlich und von Hand zu Hand zustellen zu lassen. Der Herr Oberstleutnant erschrak fast zu Tode. So etwas war ihm bisweilen nicht widerfahren, in dieser gerade noch halb-halben militärischen Verwaltung. Ihm blieb nichts anderes übrig. Den vorherigen – seinen eigenen – Befehl an seinem Vorzimmer- und Geschäftsstellenfeldwebel, von letzter Woche Freitag, musste er gleich widerrufen. Wohl war ihm nicht dabei.
Keine zwei Minuten später klingelte das Diensttelefon, ebenfalls beim Leiter dieses Dezernates, um den nächsten Befehl entgegenzunehmen. Nun war der Stellvertreter des Herrn Oberst am Apparat. Sein Dienstgrad entsprach gleichfalls dem eines Oberstleutnant. Gleicher Dienstgrad, aber: Im militärischen sticht, nach wie vor oben unten, und so hatte wiederum dieser Oberstleutnant Oberhand. Ferner trug dieser vorgesetzte Stabsoffizier einen Dienstgrad-Zusatz in seiner eigenen Personalakte und beim Unterschriften leisten. Dieser Mann war für den späteren, gehobenen Dienst im Generalstabsdienst (i.G.) vorgesehen: Er konnte sich betont Hoffnung machen, später einmal ein General zu werden. So hatte der Herr Oberstleutnant i.G. das Recht, den Untergebenen Oberstleutnant mit Nachnamen anzusprechen. Gelebte militärische Praxis.
„Herr Tegutte, sobald der Herr Oberst die Akte bekommen hat, machen Sie mir Meldung!“
Man konnte nun denken, dass der Herr Oberstleutnant, der Herr Dezernatsleiter, diese dienstliche Anweisung nach hinten legen würde, sie fürs erste ignorieren wollte – zumindest für eine Stunde Lesezeit. Eines war sicher: die Ermittlungen, die schlichte Darstellung von Fakten, die hoheitliche und amtliche Registrierung dieses Soldaten, fiel in sein Dezernat. Jahrelang wurde von dort genau diese Personalakte geführt. Aber nichts von alledem geschah. Er wies seinen Vorzimmer- und Geschäftsstellen-Feldwebel korrekt an, wie er selbst korrekt angewiesen worden war.
Herr Tegutte antwortete zackig und bestimmt: „Jawohl Herr Oberstleutnant!“
Wenngleich ihm das halb-zivile Amt vieles militärisches Gehabe abgewöhnt hatte, so wollte und konnte er dennoch die Angewohnheit, kurze, knackige Antworten zu geben, beibehalten. Dann ging er hinüber in das Geschäftszimmer seines Dezernates.
„Herr Stärk, sobald die Akte da ist, Sie sie vorschriftsmäßig bearbeitet, in die Kladde ordnungsgemäß eingetragen und mit einem Eingangsstempel versehen haben, packen Sie sie wieder ein und beauftragen den Herrn Gefreiten Kalbus damit, sie sofort zum Herrn Oberst zu tragen! Verstanden?“
„Jawohl, Herr Oberstleutnant!“.
Die Aufgabenstellung von Herrn Kalbus, den Laufburschen zu mimen, gab es offiziell nicht.
Diesen zwar kurzen, dafür aussagekräftigen Wortwechsel hatten alle mitbekommen. Die Türen waren hier immer – verantwortungsleicht – für alle offenstehend. Nur nicht die Tür des Chefs; die blieb stets geschlossen. Dort fanden jeweils schwere und wiederum verantwortungsvolle, interne Gespräche statt.
Stimmen aus dem Hintergrund, aus den anderen Dienstbüros, waren klar und im Tonfall enttäuschend hörbar:
„Das wird wohl nichts, ich dachte, ich könnte sie Mittwoch lesen!“.
„Und ich habe geglaubt, dass ich sie bereits Donnerstagnachmittag in meinen Händen halten könnte!“.
Der Botendienst war es dann, pünktlich um 9 Uhr, dem die Hände ebenfalls bei der Übergabe dieser ganz besonderen Post-Sendung stark anfingen zu zittern. Diese Akte, diese Mappe, unterschied sich optisch nicht von all den anderen; ihre Aura, ihre Geschichte glaubte man mit jedem Blick, mit jeder Berührung des Deckels zu spüren. Obwohl er kein großer Fernseh-Zuschauer war, hatte er es längst durch den Flurfunk mitbekommen. „Heute trage ich wichtige Post aus!“.
Alle starrten ihn an. Nach knapper, emotionsloser Begrüßung – den Umständen entsprechend – übergab der Postmann die Mappe.
Gleich danach war das Dienstzimmer überfüllt. Jeder Soldat, alle Zivilangestellten taten so, als sie, genau in diesem Moment, etwas Wichtiges im Geschäftszimmer zu erledigen hätten. Der eine kramte im Vorratsschrank nach einem neuen Radiergummi; dem anderen fehlte, ganz plötzlich, ein Lineal. Wieder andere durchsuchten ihr leeres Postfach. Einer gab als Entschuldigung an, sein Telefon wäre gestört, gleich käme ein wichtiger Anruf aus der Truppe und die Schreibdame gab laut zu Protokoll, das sie heute Morgen leider vergessen hätte, die Zimmerpflanze zu gießen. Sie wolle es gerade nachholen. „Ausgerechnet jetzt“, kommentierte Stärk trocken.
Keiner wollte diesen Moment versäumen; alle wollten dabei sein. Wenigstens von oben anschauen, von der Seite betrachten. „Wie viele Seiten sie wohl hat“, ging es leise durch die Runde. Der Chef hatte den Aufruhr bereits mitbekommen. Als er ins Zimmer eintrat, wurde es still. Der Feldwebel schritt zur Tat, einem Henker nicht unähnlich, der die Guillotine vorbereitet.
Der Druck, der auf ihm lastete, die erste Berührung dieses einmaligen Vorfalles – in diesem Moment fiel ihm alles doppelt schwer. Das Verpackungsmaterial war von ihm entfernt und die rot-weiße Kordel durchschnitten worden. Die Kladde daneben liegend, mit Bleistift hatte er sich die laufende Nummer im Posteingangsbuch längst notiert und wusste sie auswendig: 1377/12.1988. Der Eingangsstempel, gut in der Hand liegend und korrekt auf den heutigen Tag eingestellt, schnellte mit Krach und Getöse auf das Deckblatt dieses Sündenbuches.
Zum Kladden-Eintrag kam es danach nicht mehr. Herr Stärk, der Feldwebel, der gelernte Personal-Fachmann, der gewiefte Soldat, traute seinen Augen nicht. Er rief und das für alle Anwesenden, gut hörbar aus:
„Mappe wurde vertauscht!“.
Vor ihm lag offen und nun auch für alle anderen ebenfalls einsehbar, die Anklageschrift über einen Soldaten, der einem anderen Soldaten an einem Kameradschaftsabend eine Flasche Bier über den Schädel gezogen haben sollte. Motiv: Eifersucht.
Anschließend wurde die Telefonleiter, wie es sich gehörte, von unten nach oben, streng militärisch und der Vorschrift entsprechend nach eingehalten und alle darüber informiert. Alarm vorerst abgeblasen.
Eine Frage der Hygiene
Wenn ein Soldat befördert wird, obwohl er noch keinen einzigen Fuß in irgendeine Kaserne der Bundeswehr gesetzt hat, spricht man in der Unteroffiziers-Laufbahn von einem Obergefreiten UA. Das Kürzel „UA“ steht dabei für Unteroffiziersanwärter. Für die gleiche Angelegenheit innerhalb der Offizierslaufbahn bekommt ein, im Vorfeld betrachtet, besonders förderungswürdiger Bewerber, ein Offiziersanwärter in spe, den Dienstgrad Gefreiter OA verliehen. „OA“ steht hier für Offiziersanwärter. Den Dienstgrad Obergefreiter OA sieht die Offiziers-Laufbahn nicht vor – warum auch immer.
Der höhere Dienstgrad kann somit bereits erworben worden sein, wenn das Einstellungsgespräch für den freiwilligen Eintritt in die Armee beim Kreiswehrsatzamt oder bei einer Offiziersschule auf eine Weise erfolgreich und beeindruckend absolviert wurde, dass dieser höhere Dienstgrad, gleich zum Einstieg, als gerechtfertigt angesehen wurde.
Durch die eingereichten Unterlagen des Bewerbers, der Bewerberin, kann ein zuständiger Offizier oder ein verantwortungsbewusster Unteroffizier des Kreiswehrersatzamtes vor Ort, die für die Einstellung eines Bewerbers zuständig sind, zu der Meinung kommen, dass hier ein wertvoller Mann oder eine wertvolle Frau vor ihnen steht, der oder die der Bundeswehr, mit Blick auf die Zukunft, dienlich sein kann, idealerweise später einmal mit weiteren, höheren und wichtigen Aufgaben betraut werden könnte. Ein höherer Schulabschluss, eine abgeschlossene Berufsausbildung, besondere Talente und Fähigkeiten tragen in der Summe dazu bei, nicht mit dem allerniedrigsten Dienstgrad – als Kanonier, Jäger, Panzerschütze, Panzergrenadier, Pionier, Matrose, Funker, Flieger, Sanitätssoldat oder als Schütze – den Schlagbaum am Einberufungstag, das große und breite Kasernentor passieren zu müssen.
Der erste Eindruck bei Einstellungsgesprächen gilt nicht nur in der zivilen Welt als Richtschnur. Auch kann ein möglicher Naseneffekt nicht verneint werden. Willkürliche Sympathiepunkte können nicht ausgeschlossen werden.
Gelegentlich kommt es vor, dass Soldaten bei der Einkleidung nicht nackt auf den Schultern zurückbleiben, so wie die anderen 99 Prozent einer größeren Rekrutenschar. Das Aufsehen ist groß, den meisten fallen die Augen aus den Höhlen, wenn sie diese Prozedur mitbekommen. Mit Bewunderung schauen sie dann auf die Schulterklappen, verzieren gleich mit Karrierebeginn zwei schräge Balken (Obergefreiter) und ein etwas kürzerer, gerader Balken (UA), die rechte und die linke Schulter. Der Respekt aller Beteiligten ist ihnen sicher.