Ben und Lasse - Agenten außer Rand und Band - Harry Voß - E-Book

Ben und Lasse - Agenten außer Rand und Band E-Book

Harry Voß

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Beschreibung

Der neue Schulleiter an Bens Schule ist entsetzt: Mitten am Vormittag wird eins der kostbaren Gemälde der Bilderausstellung gestohlen, die seit einer Woche leihweise in der Schule hängt. Ist etwa einer der Lehrer ein Dieb? Oder der Hausmeister? Oder die Schulsekretärin? Als Ben und Lasse die Ermittlungen aufnehmen, machen sie eine furchtbare Entdeckung. Und schon sind sie mitten drin in einem gefährlichen Fall für Benjamin Baumann und seinen naseweisen Bruder Lasse.

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Harry Voß

Ben & LasseAgenten außer Rand und Band

Harry Voß, Jahrgang 1969, ist seit 1995 als Kinderreferent hauptamtlich für den Bibellesebund e.V. tätig. Auf seinen Lesetouren und bei Kinderbibelwochen, Kinderfreizeiten und Bibelactionpartys ist er als Gitarre spielender Geschichtenerzähler unterwegs.

Nach dem Megaseller Schlunz hat Harry Voß mit Ben & Lasse eine neue Buchreihe für Kinder ab 8 Jahren begonnen.

Mit seiner Familie lebt Harry Voß in Gummersbach.

Impressum

© 2017 Verlag Bibellesebund Marienheide

und SCM Verlag in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen

2. Auflage 2017

© 2019 der eBook-Ausgabe

Bibellesebund Verlag, Marienheide

https://shop.bibellesebund.de/

 

Coverillustration: Georg Design, Münster (www.georg-design.de)

Covergestaltung: Luba Siemens, Marienheide

ISBN 978-3-95568-313-9

 

Hinweise des Verlags

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des Textes kommen.

Noch mehr eBooks des Bibellesebundes finden Sie auf

https://ebooks.bibellesebund.de

Inhalt

Titel

Impressum

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1

Eine Kunstausstellung! Wen, bitte, soll das interessieren? Ich habe keine Ahnung von Kunst. Und ich habe auch nicht wirklich Lust, mir fünfhundert Jahre alte Gemälde anzuschauen. Aber ich weiß, dass die Erwachsenen, besonders die Lehrer unserer Schule, große Fans davon sind. Darum wünschen sie sich natürlich, uns Schülern würde das auch gefallen. Ich könnte nie Lehrer werden, wenn man dafür alte Gemälde schön finden muss. Tja. Ich werde aber sowieso nicht Lehrer, das weiß ich jetzt schon. Wenn ich groß bin, werde ich Polizist und fange Schmuggler, Einbrecher und andere Ganoven. Denn im Beobachten, Befragen und Kombinieren bin ich sehr gut. Wie mein Papa übrigens. Der ist nämlich schon Polizist.

Heute gibt es zur Eröffnung der Bilder-Ausstellung eine Einführung von unserem neuen Rektor. In der dritten Stunde müssen wir alle in die Turnhalle kommen. Mit „alle“ meine ich wirklich alle. Alle Schüler unserer Schule von der fünften bis zur zehnten Klasse strömen in die Turnhalle. Und nicht nur die. Um die Kunstausstellung besonders wichtig erscheinen zu lassen, sind obendrein auch noch alle Schüler der Grundschule eingeladen. Schon witzig, wie die Kleinen zu uns stoßen: Während wir Großen wie die Wilden in die Halle gestürzt sind und uns auf den aufgestellten Stühlen verteilt haben, kommen die Grundschüler ganz ordentlich Klasse für Klasse hereinspaziert. Immer zwei und zwei aufgereiht. Ja, so bin ich früher auch ganz brav hinter meiner Lehrerin her gewatschelt. Damals, als ich noch klein war. Jetzt bin ich bereits elf Jahre und gehe in die fünfte Klasse. Da gelten andere Regeln. Logisch.

Schon höre ich ein Geschrei aus der Erstklässler-Meute: „Hallo Ben! Ich seh dich! Hallo, hier bin ich!“

Mir ist sofort klar, wer mich da gerufen hat: mein kleiner Bruder Lasse, der im ersten Schuljahr ist. Er hält mit dem Jungen neben sich Händchen, wie es die Lehrerin angeordnet hat. Mit der freien Hand winkt er wie ein Verrückter. Und er hört nicht auf zu brüllen: „Das wird super hier, Ben! Jetzt bin ich mit euch zusammen in derselben Halle! Klasse, was? Leider kann ich nicht neben dir sitzen! Wir müssen alle zusammen bleiben, hat Frau Aust gesagt!“

Einige von denen, die in meiner Nähe sitzen, kichern laut. Ich schaue beschämt vor mich auf den Boden und tue so, als hätte ich diese Rufe nicht gehört. Mein kleiner Bruder kann super peinlich sein.

Aber dann höre ich einen anderen Jungen ebenfalls laut rufen: „Sina! Komm hier her! Hier habe ich einen Platz für dich frei gehalten!“ Vorne vor der ersten Reihe steht Jonathan aus meiner Klasse. Er hat an der Ecke einen Stuhl zur Seite geschoben und winkt mit beiden Armen: „Komm hier her, Sina!“ Eine erwachsene Frau, die hinter Lasses Schulklasse hergeht, schiebt ein Mädchen im Rollstuhl. Die Frau lächelt und gibt mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie Jonathan entdeckt hat. Sie schiebt das Mädchen im Rollstuhl an die Stelle, an der Jonathan den Stuhl beiseitegeschoben hat. Das Mädchen strahlt Jonathan an. Jonathan hilft der Frau, den Rollstuhl in die richtige Position zu bringen, und zieht die Bremse an den Reifen fest. Dann lächelt er das Mädchen an, sagt ihr etwas, das ich nicht verstehe, klopft ihr kurz auf die Schulter und läuft zurück auf seinen Platz in der fünften Reihe. „Wer ist das?“, frage ich Felix, der neben mir sitzt.

„Die Schwester von Jonathan“, weiß Felix. „Sie kann nicht laufen und kann auch ihre Hände nicht so gut benutzen. Aber mehr weiß ich auch nicht.“

Ich nicke und schaue wieder betreten auf meinen Schoß. Ein bisschen schäme ich mich dafür, dass mir mein Bruder so peinlich ist. Jonathan hat eine Schwester im Rollstuhl und er schämt sich kein bisschen. Vielleicht sollte ich mal wieder netter zu Lasse sein.

Die Veranstaltung beginnt. Herr Hohmann, unser neuer Schuldirektor, geht ans Mikrofon und hebt seine Hand. Tatsächlich wird es sofort einigermaßen leise hier in der überfüllten Turnhalle. Ich glaube, die meisten an unserer Schule sind ganz zufrieden mit ihm. Unser eigentlicher Schulleiter, Herr Schöller, ist für längere Zeit unterwegs, hat man uns erklärt. Kur oder Auszeit oder so was. Als Herr Hohmann vor ein paar Wochen hier angefangen hat, hat er gleich eine große Party für die ganze Schule gegeben. Alle haben Brötchen mit Schokokuss bekommen, und er hat angeordnet, dass an diesem Tag kein Lehrer Hausaufgaben aufgeben durfte. Da war allen klar: Dieser Mann steht auf unserer Seite.

„Heute ist ein großer Tag“, beginnt er feierlich seine Rede. „Denn wir dürfen in dieser Woche eine der bedeutendsten Kunstausstellungen Deutschlands in unserer Schule präsentieren.“ Er schwärmt von dem berühmten Maler, dessen Kunstwerke wir hier bewundern dürfen, von seinen gemalten Predigten, in denen er all die wichtigen Dinge dargestellt hat, die er von der Botschaft der Bibel verstanden hat. Gerade das Bild „Christus am Kreuz“, meint er, bringe das ganz besonders zum Ausdruck.

Die Lehrerinnen und Lehrer in der ersten Reihe nicken zustimmend. Besonders unser Kunstlehrer, Herr Hartmann, kommt aus dem Nicken gar nicht mehr raus. Wenn er weiter so heftig nickt, fürchte ich, dass ihm gleich der Kopf von seinem Hals abbricht und über den Boden kullert.

„Diese Ausstellung ist nicht nur wichtig für die Schülerinnen und Schüler unserer Schule“, erklärt Herr Hohmann mit kräftiger Stimme, „sondern für alle Kinder in unserer Stadt. Darum bin ich sehr froh, dass sich auch die Schülerinnen und Schüler der Grundschule bereit erklärt haben, die bedeutenden Gemälde zu bewundern.“

Ich seufze leise. Mir ist es eindeutig zu anstrengend, dieser langen Rede zuzuhören. Aufmerksam werde ich erst wieder, als Herr Hohmann erzählt, wie viel diese Gemälde wert sind: „Das Bild ‚Venus mit Amor als Honigdieb‘ ist das wertvollste Stück unserer Ausstellung. Lange Zeit wusste niemand, wo sich dieses Gemälde befindet. Vor etwa einhundert Jahren wurde es bei einem Kunstsammler in Frankfurt entdeckt. Seitdem ist es immer wieder an verschiedene Personen oder auch Museen weiterverkauft worden. Zuletzt wurde es im Jahr 2013 für mehr als zwei Millionen Euro in London versteigert.“

„Boooah!“, machen gleich ein paar Schüler, die noch zugehört haben.

„Ich bin besonders stolz darauf“, fährt Herr Hohmann fort, „euch dieses Bild als wirkliches Original in unserer Ausstellung für zwei Wochen zeigen zu dürfen. Der heutige Besitzer, Herr Ferdinand von und zu Liechtenfels, hat unserer Schule freundlicherweise das Gemälde zur Verfügung gestellt.“

Die Lehrer klatschen Beifall.

„Das haben wir unter anderem der Vermittlung von unserem Landesschulminister, Herrn Hofenseher, zu verdanken, der ein persönlicher Freund von Herrn von und zu Liechtenfels ist. Er hat ihm sein Ehrenwort gegeben, alles dafür zu tun, dass dem kostbaren Bild kein Schaden zugefügt wird. Das Schulministerium hat sich darum obendrein mit einer nicht unbeträchtlichen Summe an einer extra Versicherung beteiligt“, betont Herr Hohmann. „Selbstverständlich hängt das millionenschwere Bild hinter Panzerglas, das mit Alarm gesichert ist. Der Verlust dieses Kunstschatzes wäre für uns als Schule überhaupt nicht zu verkraften.“

In der ersten Reihe schnellt ein Erstklässler-Ärmchen nach oben und meldet sich aufgeregt. Herr Hohmann bemerkt das und schaut freundlich in die erste Reihe: „Ja, mein Kind? Was möchtest du sagen?“

„Sie brauchen keine Angst zu haben, dass das Bild gestohlen wird!“, höre ich einen Jungen laut und fröhlich quaken, und sofort ist mir klar, dass es sich um keinen anderen handelt als um meinen vorlauten Bruder Lasse. „Mein Bruder und ich sind Agenten! Wir schnappen jeden Dieb oder Schmuggler! Auf uns können Sie sich verlassen!“

Herr Hohmann zieht seinen Mund zu einer Schnute zusammen, seine Augen blitzen. Ich kann erkennen, dass er sich sehr bemühen muss, um nicht laut loszulachen. „Wie alt ist denn dein Bruder?“

„Der ist schon richtig groß! Der ist schon elf! Aber zusammen sind wir die besten Agenten dieser Stadt!“

„Ach, wirklich?“ Herr Hohmann lacht so laut auf, als hätte jemand den Witz des Jahrhunderts erzählt. „Wie heißt du, Junge?“, fragt er, als er sich wieder beruhigt hat.

„Lasse! Lasse Baumann!“

Herr Hohmann verlässt sein Rednerpult, geht auf die erste Reihe zu und schüttelt ihm die Hand. „Du gefällst mir, Lasse Baumann. Mutig, entschlossen und voller Tatendrang, um die Welt vom Bösen zu befreien. Solche Burschen wie dich sollte es öfter geben!“ Er geht wieder zurück an das Mikrofon und hebt seine Hand als Zeichen, dass die Schüler wieder ruhig sein sollen.

„Damit euer Interesse an unserer bedeutenden Ausstellung noch mehr gesteigert wird“, fährt Herr Hohmann fort, „fordere ich euch hiermit zu einem tollen Malwettbewerb auf!“ Herr Hartmann und ein paar andere Lehrer nicken wieder heftig. Gleich macht es in irgendeinem Hals knack. Wetten? „Schaut euch die Bilder in der Ausstellung an. Besonders das bedeutende Werk ‚Christus am Kreuz‘. Und dann malt etwas zu dem Thema: ‚Was habe ich von der Botschaft der Bibel verstanden?‘ Oder: ‚Was ist mein persönlicher Glaube?‘ Auch diejenigen unter euch, die nicht so sehr mit der Bibel vertraut sind, können sicher etwas dazu malen, woran sie glauben.“

Oha. Malen gehört nun wirklich nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Und wenn ich an die Benotung meiner bisherigen Kunstwerke denke, dann habe ich sowieso keine Chance, bei dem Wettbewerb zu gewinnen. „Der Gewinner bekommt eine Prämie von einhundert Euro, die uns freundlicherweise eine Bank unserer Stadt gestiftet hat“, kündigt Herr Hohmann an. Ein Raunen geht durch die Reihen und alle klatschen. Auch ich. Hundert Euro – das lohnt sich. „Außerdem wird die ganze Klasse des Wettbewerb-Gewinners zu einem großen Eisessen zu mir nach Hause eingeladen“, setzt er noch eins drauf. Na schön. Unter diesen Umständen könnte ich vielleicht doch langsam mal anfangen, meine Fähigkeiten im Malen zu entdecken.

Am nächsten Tag in der zweiten Stunde gehen wir zusammen mit Frau Pohl durch die Ausstellung. Ich glaube, die Lehrer haben sich einen Plan erstellt, wann welche Klasse sich mal ganz alleine die Bilder anschauen darf. Denn jetzt sind wir die einzigen hier. Außer den beiden schwarz gekleideten Männern, die hier seit gestern jeden Vormittag vor der Eingangstür der Schule und manchmal auch in der Ausstellungshalle auf und ab gehen. Offensichtlich bewachen sie die Kunstwerke. „Security“ steht auf einem Schildchen an ihrer Jacke. „Sicherheitsdienst“, heißt das. Also fast so was wie Polizei. Nur mit dem Unterschied, dass die vordem Diebstahl arbeiten müssen. Die Polizei nachher. Ob Lasse ihnen schon erklärt hat, dass er ein Kollege von ihnen ist, weil er auch aufpasst, dass die Bilder nicht wegkommen?

Alle Schüler meiner Klasse rennen natürlich sofort zu dem Gemälde hinter Glas.

„Iiih, eine nackte Frau!“, brüllt Torben, als er davor steht. Einige andere kichern und zeigen verschämt auf das große Gemälde hinter der Glasscheibe. Es ist auf eine Holzplatte gemalt und zeigt eine nackte Frau und einen kleinen nackten Jungen, die vor einem Baum stehen. Auf einem Schild unter dem Bild steht: „Venus mit Amor als Honigdieb“.

„Und das ist zwei Millionen Euro wert?“, wundert sich Torben. „Was soll daran so besonders sein?“

„Versuch du doch mal, eine nackte Frau zu malen“, belehrt ihn Bea. „Da wirst du sehen, dass das gar nicht so einfach ist!“

Torben rümpft die Nase. „Nee, danke.“

„Und wieso malt man so was?“, will Jonathan wissen.

„Weil das so in der Bibel steht!“, erklärt Bea altklug.

Frau Pohl lacht. „Nein. Das steht ganz bestimmt nicht in der Bibel. Venus und Amor sind Götter, die die Römer vor einigen Jahrtausenden verehrt haben. Wenn du willst, kannst du Herrn Hartmann später mal danach fragen. Ich kenne mich damit nicht so gut aus.“

„Aber Herr Hohmann hat doch gesagt, hier hängen Bilder, die was mit der Bibel zu tun haben“, erinnert sich Sarah.

„Hier sind ja auch noch mehr Bilder.“ Frau Pohl zeigt auf ein Bild an der Wand gegenüber. „Schaut mal. Dort ist auf jeden Fall etwas aus der Bibel gemalt. Seht ihr?“

„Das ist Jesus am Kreuz!“, weiß Leonie. „Das hab ich mal als Film gesehen! Die haben da richtig Nägel in seine Hände geschlagen! Das fand ich voll eklig!“

Auf dem Bild ist riesengroß Jesus gemalt, wie er am Kreuz hängt und stirbt. Rechts neben ihm stehen drei Männer. Links neben dem Kreuz steht noch ein Mann. Nackt. Mit rotem Umhang. Als ich näher hinschaue, erkenne ich, dass dieser linke Mann mit den Füßen auf zwei Zombies steht. Oder Drachen oder Knochenskeletten. Sieht zumindest sehr unheimlich aus. Der sterbende Jesus am Kreuz hat eine blutende Wunde am Bauch, das kenne ich schon aus anderen Bildern von der Kreuzigung. Auf diesem Gemälde ist aber etwas sehr Merkwürdiges gemalt: Aus der Wunde am Bauch von Jesus spritzt ein Blutstrahl im hohen Bogen quer durch das Bild wie aus einem Springbrunnen. Und dieser Strahl trifft genau den mittleren der drei Männer, die rechts neben dem Kreuz stehen. Aber der scheint das gar nicht zu merken. Wirklich ein sehr seltsames Bild.

2

Im Kunstunterricht in der sechsten Stunde ist das reinste Chaos ausgebrochen. Alle rennen kreuz und quer durch den Raum, um sich Pinsel, Farbe, Wasser und andere Materialien für ihre Bilder zu holen. Jeder will das schönste Bild malen. Jeder will als erstes mit seinem Plastikbecher am Wasserhahn sein. Schon rutscht Mandy auf der Pfütze vor dem Waschbecken aus und fliegt mit einem lauten Platsch auf den Boden. Das Wasser in ihrem Becher verteilt sich in einem Umkreis von zwei Metern und schwappt dabei über die Schuhe von Sondra, die gerade mit vollem Becher auf ihren Platz gehen will. Sondra schreit laut auf vor Schreck und lässt ihren Becher fallen. Natürlich auf Mandy, die noch auf dem Bauch vor ihr liegt. „AAAAAH!“, quiekt Mandy, die nun nicht nur auf dem Bauch, sondern auch auf dem Kopf und dem Rücken nass ist.

„Was ist denn hier los?“, brüllt Herr Hartmann, der bisher auf seinem Stuhl hinter dem Lehrerpult gesessen und die Tageszeitung gelesen hat.

„Die spinnen hier alle!“, heult Mandy.

Herr Hartmann springt von seinem Stuhl auf und stößt mit Torben zusammen, der ebenfalls gerade dabei ist, einen Wasserbecher zu seinem Platz zu tragen. Es platscht und beide haben einen riesigen Wasserfleck vor dem Bauch. „Pass doch auf!“, schimpft Herr Hartmann.

„Ich war zuerst hier!“, beschwert sich Torben und geht mit dem verbliebenen Wasser einfach weiter, als sei nichts passiert.

Ich sitze vor meinem Zeichenblock und kämpfe seit mehreren Minuten mit dem Papier. Egal, auf welcher Seite ich versuche, es von dem Papprand zu lösen – an einer Stelle reißt es immer ein. Mittlerweile versuche ich es schon mit dem dritten Blatt. Vorsichtig gehe ich mit dem Finger unter das oberste Blatt Papier, trenne es sorgfältig Stück für Stück von dem Rand. Endlich. Schadfrei von der einen Seite gelöst. Die andere Seite ist immer ganz einfach zu reißen. Einfach wie bei einem gewöhnlichen Block abreißen. Ich ziehe beherzt, das Blatt reißt genau in der Mitte in zwei Teile. Das gibt es einfach nicht.

„Was machst du denn da?“, fragt mich Sofie im Vorbeigehen.

„Nichts“, stöhne ich. „Ich versuche einfach, ein Blatt aus diesem blöden Zeichenblock zu trennen, aber es reißt immer ein.“

„Ist doch ganz einfach“, sagt Sofie, nimmt das oberste Blatt aus meinem Zeichenblock, zieht links, zieht rechts – und das Blatt ist ohne einen Riss aus dem Block gelöst. „Wie hast du das gemacht?“, frage ich erstaunt. „Ist doch ganz einfach“, wiederholt sie und geht weiter. Ich schüttle den Kopf. Sofie hat magische Hände. Anders kann ich mir das nicht erklären.

„Kannst du mir ein Blatt ausleihen?“, fragt mich Mandy, die klatschnass vor meinem Tisch steht. Aus ihren Haaren fallen Tropfen auf mein frisches, neues Blatt ohne Riss.

„Da liegen welche“, sage ich und bedecke mit meinen Armen das Blatt, um es vor Mandys Tropfen zu schützen. Mit meinem Kopf zeige ich auf den leeren Stuhl neben mir mit den verunglückten Blättern. „Die sind allerdings eingerissen.“

„Das ist mir egal“, sagt Mandy und nimmt eins der Blätter. „Bei mir reißen die normalerweise noch mehr ein.“

Das beruhigt mich etwas. Ich nehme einen Pinsel und überlege, was ich malen soll. „Was habe ich von der Botschaft der Bibel verstanden?“, war das Thema. Oder: „Was ist mein persönlicher Glaube?“

Ich gehe sonntags in den Kindergottesdienst. Dort beten wir, reden über Gott und hören Geschichten aus der Bibel. Was davon habe ich verstanden? Hm. Gott hat die Welt gemacht. Das habe ich verstanden. Jesus war ein guter Mensch, der andere gesund gemacht hat. Das weiß ich auch noch. Aber ist das die Botschaft der Bibel? Was genau ist überhaupt die Botschaft der Bibel? Dass Gott alle Menschen liebt? Dass wir an ihn glauben sollen? Tja. So genau habe ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht. Oder was ist mein persönlicher Glaube? Die Frage kapiere ich nicht. Was soll denn mein persönlicher Glaube sein?

Felix, der neben mir sitzt, malt schon fleißig ein Rennauto. Er malt nicht mit Wasserfarben, sondern mit Filzstiften. Dürfen wir das? Und was, bitte, hat ein Rennauto mit der Bibel zu tun?

Neben Felix sitzt Marvin. Er hat mit blauer Wasserfarbe eine fette Wolke auf sein Blatt gepinselt. Darauf malt er eine Frau, einen Mann und drei Kinder, die fröhlich auf der Wolke tanzen. „Wie wär’s“, sagt Marvin zu Felix, ohne von seinem Blatt aufzuschauen, „wir klauen das wertvolle Bild und verkaufen es für eine Million Euro.“

„Au ja“, grinst Felix. „Und von dem Geld kaufe ich mir einen Ferrari!“

„Und ich mir ein Luftgewehr.“ Marvin grinst und malt weiter. Marvin ist mir ein bisschen unheimlich. Er wohnt in der Straße mit den hohen Häusern, wo es ständig Prügeleien gibt und wo immer wieder die Polizei kommen muss. Ihn kann ich mir wirklich gut mit einem Luftgewehr vorstellen. Wenn ich groß bin und als Polizist arbeite, sollte er aufpassen, dass er nicht als Verbrecher arbeitet. Sonst fange ich ihn und sperre ihn ein.

„Bist du bescheuert?“, höre ich Anna plötzlich in der letzten Reihe laut schimpfen. „Wieso legst du dein Pausenbrot auf mein Blatt?“

„Soll ich es etwa auf mein Blatt legen?“, blafft Torben, der neben ihr sitzt, zurück. „Das gibt doch Fettflecken!“

„Ach ja! Und jetzt habe ich Fettflecken auf meinem Blatt!“

„Ach Quatsch! Man sieht doch gar nichts!“

Herr Hartmann schaut von seiner Zeitung hoch: „Torben, pack dein Pausenbrot weg!“

„Ich hab aber Hunger!“, verteidigt er sich.

Herr Hartmann schüttelt den Kopf und vertieft sich wieder in seine Zeitung.

Schon wieder steht Mandy vor meinem Tisch: „Kannst du mir Deckweiß leihen?“

Sie meint die Tube mit der dicken weißen Farbe, die eigentlich in jedem Farbkasten liegt.

„Warum hast du selbst keins?“, frage ich zurück.

„Schon leer.“

„Und warum fragst du dann ausgerechnet mich?“

„Weil ich gesehen habe, dass dein Deckweiß noch aussieht wie neu.“

„Das ist auch neu.“

„Kann ich es jetzt haben? Bitte?“

Ich hole die Tube aus dem Wasserfarbkasten und gebe sie ihr. „Aber nicht alles verbrauchen.“

„Klar.“ Damit schwirrt sie ab, bleibt aber beim Tisch von Jonathan stehen: „Süüüüß!“

Die Tischnachbarn von Jonathan drehen sich sofort um und schauen auf sein Gemälde. „Du kannst aber toll malen“, findet Christina.

„Kannst du mir auch so ein schönes Bild malen?“, fragt Sarah.

„Was soll das sein?“, erkundigt sich Bea.

„Das da bin ich“, Jonathan zeigt mit dem Pinsel auf eine der beiden Figuren auf seinem Blatt, „und das andere ist meine Schwester.“

Ich stehe von meinem Platz auf, gehe auch zu Jonathans Tisch und staune. Der Kerl kann wirklich gut malen! Ein Junge und ein Mädchen tanzen auf einer Blumenwiese. Die Sonne scheint und das ganze Bild sieht hell und fröhlich aus. Wenn Jonathan so weiter macht, hängen seine Bilder in fünfhundert Jahren auch in einem Museum und sind mehrere Millionen Euro wert.

„Und was hat das mit der Bibel zu tun?“, fragt Bea weiter.

Sarah beugt sich über das Blatt: „Ich dachte, deine Schwester sitzt im Rollstuhl! Oder hast du noch mehr Schwestern?“

„Nein, ich habe nur die eine Schwester. Sina. Ja, sie sitzt im Rollstuhl. Mit der Bibel hat das wohl nichts zu tun. Aber wir sollten ja auch malen, woran wir glauben. Und ich glaube, dass meine Schwester eines Tages wieder laufen kann. Oder … wenn das mit dem Himmel stimmt, wie es Herr Jung manchmal in Reli erzählt … dann glaube ich, dass Sina spätestens da wieder laufen kann und dass wir zusammen rumtoben können.“

Deborah, die inzwischen auch an Jonathans Tisch steht, sagt: „Ja, das glaube ich auch. Im Himmel ist alles Schlimme weg.“

„Du kannst voll schön malen“, lobt ihn Sarah. „Bestimmt gewinnst du den Wettbewerb.“

„Oh super“, freut sich Mandy, „dann brauche ich mich nicht mehr anzustrengen und wir bekommen trotzdem als ganze Klasse das Eis von Herrn Hohmann!“

Es klingelt. Die Kunst-Stunde ist zu Ende und ich habe noch nicht mal angefangen, etwas zu malen. Ganz toll.

„Wie ich sehe, sind noch nicht alle mit ihrem Bild fertig geworden“, stellt Herr Hartmann fest, während wir schon laut und hektisch unsere Sachen einpacken. „Da der Abgabetermin für den Malwettbewerb aber am Donnerstag ist, bitte ich euch, die Bilder zu Hause zu Ende zu malen und spätestens übermorgen abzugeben.“

Auch das noch! Hausaufgaben in Kunst! Das hatten wir noch nie!

Mandy drückt mir eine zusammengeknautschte, ausgepresste kleine Tube in die Hand: „Hier, dein Deckweiß. Wie versprochen bekommst du es wieder zurück.“

Mir klappt der Mund auf: „Die Tube ist ja leer!“

„Nein, nicht ganz. Wenn man ganz dolle drückt, kommt noch was raus.“

„Was hast du damit gemalt?“

„Eine große, weiße Wolke.“

Ich kann nicht glauben, was ich da höre. „Du hast mit meinem Deckweiß eine große, weiße Wolke auf ein weißes Blatt Papier gemalt?“

„Ja klar! Eine Wolke ist doch weiß!“

„Aber das Papier ist doch auch weiß!“

„Ja, weiß ich doch!“

„Dann hättest du das Blatt doch an der Stelle einfach weiß lassen können!“

Mandy rollt mit den Augen. „Wir sollten ein Bild malen und nicht ein Bild weiß lassen! Aber keine Sorge. Das Bild ist sowieso nichts geworden. Ich habe andauernd übergemalt. Ich habe das Bild weggeworfen. Zu Hause male ich ein neues.“

Damit schwirrt sie ab. Ich fasse es nicht. Beim nächsten Mal verstecke ich meine Deckweiß-Tube in der Schultasche, dann muss ich sie nicht mehr ausleihen!

3

Zu Hause quatscht mir Lasse beim Mittagessen ununterbrochen die Ohren voll, was er Tolles zu Papier gebracht hat: Er hat die Arche Noah gemalt. Mit allen Tieren, die er zeichnen kann: Elefanten, Giraffen und jede Menge Schafe. „Und ich habe den Tyrannosaurus Rex gemalt und den Stegosaurus“, erzählt er. „Die dürfen natürlich nicht fehlen. Dinos sind am coolsten.“

„Ich glaube nicht, dass Dinosaurier mit auf der Arche waren“, gebe ich zu bedenken.

„Alle Tiere waren auf der Arche“, belehrt mich Lasse. „Also auch Dinos. Dinos sind meine Lieblingstiere!“

„Aber Dinos waren doch schon längst ausgestorben, als Noah und die Tiere auf der Arche waren“, sage ich.

„Das weißt du doch gar nicht! Du warst nicht dabei! Nicht wahr, Mama?“

Mama schmunzelt und wuschelt mit einer Hand über Lasses Kopf. „Du kannst ruhig deine Dinos in die Arche malen.“ Sie schaut mich an. „Und was hast du gemalt, Ben?“ „Noch gar nichts. Ich weiß nicht, was ich malen soll. Ich finde das Thema viel zu schwer. Einfach nur eine Geschichte aus der Bibel aufzumalen, finde ich doof.“

„Was?“, platzt es aus Lasse heraus. „Du findest mein Bild doof?“

„Nein. Nicht dein Bild. Aber es geht ja nicht darum, nur eine Geschichte zu malen. Wir sollen doch malen, was wir von der Botschaft der Bibel verstanden haben. Oder was wir glauben. Und ich weiß nicht, was ich glaube.“

Lasse hebt seine Gabel in die Luft. „Frau Aust hat gesagt, wir können ruhig eine Geschichte aus der Bibel malen. Unsere Lieblingsgeschichte.“

„Ja. In der ersten Klasse geht das ja auch noch. In der fünften muss man sich schon ein bisschen mehr anstrengen.“

„Ich strenge mich an!“, protestiert Lasse wieder.

Ich rolle mit den Augen und esse weiter, ohne darauf einzugehen.

Mama stützt den Kopf auf ihre Faust und denkt nach. Dann fragt sie mich: „Was würdest du sagen, ist dir an deinem Glauben an Gott am wichtigsten?“

Puh. Habe ich darüber jemals nachgedacht? „Ich weiß auch nicht“, brumme ich vor mich hin. „Vielleicht, dass Gott immer da ist und man mit ihm reden kann?“

„Okay. Was noch?“

„Hm. Dass Gott die Welt gemacht hat?“

Lasse platzt dazwischen: „Und dass er die Dinos gemacht hat!“ Er nickt ganz schlau.

Mama überhört den Kommentar von Lasse und fragt mich weiter: „Und wie könnte man das malen?“

„Dass Gott die Welt gemacht hat?“

„Ja. Und dass er immer bei dir ist und mit du mit ihm reden kannst.“

„Keine Ahnung. Man kann Gott ja nicht malen. Soll ich denn malen, wie ich in der Kirche sitze und bete?“

„Du betest ja nicht nur in der Kirche. Du betest ja auch zu Hause. In deinem Zimmer. Oder auch in der Schule oder wo du gerade bist.“

„Ich will mich aber nicht selbst malen.“ Dann schaue ich Mama an. „Was ist denn für dich die Botschaft der Bibel?“

„Das Wichtigste ist für mich auch, dass Gott mich gemacht hat und dass er mich lieb hat. Jesus ist für meinen Glauben auch ganz wichtig. Jesus hat uns gezeigt und erklärt, wie Gott ist. Jesus hat gesagt, dass Gott der Freund von jedem Menschen sein will. Und indem Jesus am Kreuz gestorben ist, ist es überhaupt möglich geworden, dass wir Freunde von Gott werden können. Und als Jesus wieder auferstanden ist, hat er gezeigt, dass auch wir einmal wie er nach unserem Tod weiterleben können. Bei Gott im Himmel. Bei Jesus. Das ist für mich die wichtigste Botschaft in der Bibel.“

Ich muss an das Bild von Jonathan denken. „Stimmt es, dass dann die, die jetzt im Rollstuhl sitzen, wieder laufen können?“

„Ja. So steht es in der Bibel. Im neuen Himmel, den Gott schaffen wird, wird es kein Leid mehr geben. Gott wird alle Tränen abwischen.“

Tränen abwischen. Das klingt gut. Mir ist manchmal zum Heulen zumute, obwohl ich gar keinen Grund dazu habe. Manchmal sind es Kleinigkeiten, die mich so ärgern, dass ich am liebsten heulen würde. Hausaufgaben, die ich nicht kapiere. Andere in der Klasse, die etwas Gemeines zu mir sagen oder über mich lachen, wenn mir was Peinliches passiert. Wenn ich was Doofes geträumt habe. Wenn ich vor irgendetwas Angst habe. Alles Dinge, bei denen eine Stimme in mir sagt: „Jetzt bitte mal eine Runde heulen!“ Ich mach das dann natürlich nicht, weil ich keine Heulsuse sein will. Aber wenn mir alles zu viel ist oder wenn ich ausgeschimpft werde oder Mama und Papa sich streiten, dann wünsche ich mir, an einem Ort zu sein, wo es all das Schlimme nicht gibt. Ob der Himmel so ein Ort ist?

„Da braucht Gott aber ein großes Taschentuch“, fällt Lasse ein, „wenn er alle Tränen abwischen wird!“

Mama lacht. „Ja, das glaube ich auch. Aber ich denke, das Taschentuch von Gott wird groß genug sein.“

Vielleicht male ich das. Ein großes Taschentuch, das ein Gesicht voller Tränen abwischt. Obwohl … dann könnten die anderen denken, ich wäre der mit den Tränen. Und dann halten sie mich für einen Waschlappen. Ich seh schon: Das mit dem Malwettbewerb wird richtig schwer.

4

Wie zu erwarten sprechen wir am nächsten Tag in Religion über das Bild „Christus am Kreuz“, das wir gestern schon in der Ausstellung gesehen haben. Herr Jung, der unser Religionslehrer ist, zeigt uns das Bild über Beamer an der Wand. Wir sollen sagen, was wir erkennen und was das wohl alles bedeuten könnte. Die Schüler zählen auf, was mir auch schon aufgefallen ist: Jesus am Kreuz, die drei Männer auf der einen Seite, der nackte Mann auf der anderen Seite, die Monster unter den Füßen von dem Nackten, der Blutstrahl.