Ben und Lasse - Agenten ohne heiße Spur - Harry Voß - E-Book

Ben und Lasse - Agenten ohne heiße Spur E-Book

Harry Voß

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Beschreibung

Das kann ja heiter werden: Bens Klasse fährt auf Klassenfahrt und als Betreuungsperson ist Bens Mutter dabei – mit Lasse, Bens kleinem Bruder. Da ist Chaos vorprogrammiert! Denn zu allem Überfluss entdecken Ben, Lasse und einige andere Kinder beim Spielen im Wald einen merkwürdigen Lieferwagen. Neugierig, wie sie sind, schauen sie sich die geladene Fracht an und befinden sich schon mitten in einem turbulenten Abenteuer. Ohne die Kinder zu bemerken, kehren die Fahrer zurück und setzen ihren Weg fort – mit einem Lastwagen voller Schmuggelware und vier unfreiwilligen Fahrgästen. Wie sollen Ben und seine Freunde hier nur wieder raus kommen?

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Seitenzahl: 205

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Harry Voß

Ben & LasseAgenten ohne heiße Spur

Harry Voß, Jahrgang 1969, ist seit 1995 als Kinderreferent hauptamtlich für den Bibellesebund e.V. tätig. Auf seinen Lesetouren und bei Kinderbibelwochen, Kinderfreizeiten und Bibelactionpartys ist er als Gitarre spielender Geschichtenerzähler unterwegs.

Nach dem Megaseller Schlunz hat Harry Voß mit Ben & Lasse eine neue Buchreihe für Kinder ab 8 Jahren begonnen.

Mit seiner Familie lebt Harry Voß in Gummersbach.

Impressum

© 2017 Verlag Bibellesebund Marienheide

und SCM Verlag in der SCM Verlagsgruppe GmbH

2. Auflage 2018

© 2019 der eBook-Ausgabe

Bibellesebund Verlag, Marienheide

https://shop.bibellesebund.de/

 

Coverillustration: Georg Design, Münster (www.georg-design.de)

Covergestaltung: Gisela Auth, Gummersbach

ISBN 978-3-95568-312-2

 

Hinweise des Verlags

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des Textes kommen.

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ebooks.bibellesebund.de

Inhalt

Titel

Impressum

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1

Ich hasse Klassenfahrten. Drei Tage und zwei Nächte mit einem Haufen von Fünftklässlern in irgendeine Jugendherberge fahren, in der es stinkt und in der die Betten quietschen. Die anderen im Zimmer schnarchen und pupsen die ganze Nacht, man kann nicht in Ruhe aufs Klo gehen und zum Frühstück gibt es nur Käse, Wurst und ekelhafte gelbe Marmelade. Was, bitte, soll ich da?

Herr Jung, unser Klassenlehrer, hat gesagt, das ist ganz wichtig. Es stärkt unsere Klassengemeinschaft und wir erleben schöne Dinge. Toll. Unsere Klassengemeinschaft können wir auch zu Hause stärken, indem wir statt Mathe und Englisch zu machen, lieber mal zusammen einen Film gucken, Computer zocken oder von mir aus auch irgendwas Nettes draußen auf dem Schulhof spielen. Und schöne Dinge kann ich auch zu Hause erleben. Aber Herr Jung bleibt dabei: Wir fahren am kommenden Mittwoch in ein heruntergekommenes Backsteinhaus, das hat er uns schon ganz stolz auf Bildern gezeigt. Das Haus liegt irgendwo mitten im Wald, wo es noch nicht mal eine Stadt gibt, in der man ein bisschen in den Läden nach DVDs oder Computerspielen stöbern könnte. „Natur erleben“, nennt Herr Jung das. Sollte ich jemals Lehrer werden, dann würde ich mich vorher erkundigen, was Schüler wirklich wollen. Wollen Kinder Natur erleben? Nein. Wollen sie Computer spielen und Filme gucken? Ja.

Zum Glück werde ich kein Lehrer. Ich werde niemals mit wild gewordenen Schülern in ein einsames Haus fahren und das als „Naturerlebnis“ anpreisen. Ich weiß nämlich schon, was ich einmal werden will, wenn ich groß bin: Ich werde Polizist. Mein Vater ist auch Polizist. Und ich bin jetzt schon geübt darin, Verbrechen aufzuklären. Als ich im Winter mal in der Schule aufs Klo musste, war in der Zelle, in die ich sonst immer gehe, die Klobrille kaputt und fette Fußspuren von verdreckten Winterschuhen waren oben drauf. Ich bin also zur Nachbarzelle gegangen. Dabei habe ich Torben aus unserer Klasse breit grinsend am Waschbecken stehen sehen. Ich hab sofort zu seinen Schuhen geschaut und mit einem Blick erfasst, dass diese fetten Winterstiefel zu den Spuren auf der Klobrille passen könnten. „Heb mal deine Schuhe hoch“, habe ich ihn aufgefordert. Er hat das auch ganz brav gemacht und immer noch gegrinst. Und siehe da: Dieses Profil unter den Schuhen hat gepasst. „Du warst das!“, hab ich gesagt. Torben hat frech gelacht und ist rausgegangen. Kurz darauf kam eine Durchsage in der ganzen Schule: Der Schuldirektor hat gesagt, bei einer der Toiletten sei die Klobrille zerbrochen. Jemand sei darauf gestiegen. So was sei eine Sauerei und der Schuldige solle sich sofort melden. Und wer etwas gesehen hätte, solle das bei der Schulleitung melden. Da hab ich sofort zu Torben geschaut. Und er hat nicht mehr gegrinst. In der Pause ist er auf mich zugekommen: „Du hast doch nichts gesehen, oder?“ – „Gesehen nicht, aber ich hab kombiniert“, habe ich geantwortet. Ich habe ihm versprochen, ihn nicht zu verpetzen. Aber ich hab ihn gewarnt, er soll vorsichtig sein, denn ich krieg alles raus. Seitdem hat er einigermaßen Respekt vor mir. Na gut, ich gebe zu, ein schlimmes Verbrechen ist das nicht gewesen. Kein Mord oder so. Aber ich weiß, ich trage meinen Titel zu Recht: Ich bin Agent Benjamin Baumann. Und wenn ich mal Polizist bin, dann haben die Verbrecher nichts mehr zu lachen. Nicht nur die Klobrillen-Zerbrecher, sondern auch die Diebe, Mörder und anderen Halunken.

„Es gibt da noch ein Problem“, sagt Herr Jung heute, am Freitag, kurz vor dem ersehnten Wochenende, als wir wieder über die Klassenfahrt sprechen. „Frau Specht, die Mutter von Leonie, ist krank geworden. Sie wollte als weibliche Begleitperson mitkommen. Sie hat mich gestern angerufen und gesagt, dass sie bis nächste Woche nicht wieder gesund genug ist, um mitzufahren. Wir brauchen aber auch eine Frau, die uns begleitet. Das ist von der Schulleitung so vorgesehen. Darum fragt bitte mal zu Hause nach, ob eine der Mütter sich kurzfristig überlegen könnte mitzukommen. Sie müsste auch nichts dafür bezahlen.“

Um ein Haar hätte ich laut losgelacht. Was soll denn das für ein Anreiz für Mütter sein? Sie brauchen nichts zu bezahlen? Ha! Das wäre ja auch noch schöner! Er hätte noch eine Belohnung für die Mutter ankündigen müssen, die es wagt, mit unserer Klasse für drei Tage wegzufahren! Stattdessen muss sie „nichts bezahlen“! Wie gnädig! Ein bisschen wächst in mir die Hoffnung, dass die Klassenfahrt vielleicht ausfällt, wenn sich niemand findet.

„Ich will nicht, dass die Klassenfahrt ausfällt!“, ruft Christina. „Ich hab mich schon so darauf gefreut!“

„Ich auch!“, pflichtet Hilko ihr bei. Auch die anderen murren und maulen.

„Das wollen wir alle nicht“, beruhigt Herr Jung die Klasse. „Dann fragt doch bitte eure Mütter übers Wochenende, ob sie nicht ein paar Tage mit unserer Klasse verbringen möchten.“

Ich muss mich sehr zurückhalten, um nicht laut durch die Klasse zu rufen: „Es stimmt nicht, dass alle wegfahren wollen! Ich zum Beispiel bleibe gerne hier!“ Aber so langsam überfällt mich der Verdacht, dass ich der einzige bin, der nicht so gern auf Klassenfahrten fährt.

„Meine Mutter kann sowieso nicht“, stöhnt Christina. „Die muss arbeiten.“

„Meine auch nicht“, klagt Deborah, „ich habe noch fünf Geschwister zu Hause, auf die sie aufpassen muss.“

Fünf Minuten später hat Beatrix, unsere Klassensprecherin, eine Liste angefertigt, in der alle Namen unserer Klasse untereinander geschrieben stehen. Sie gibt die Liste durch die Reihen. Jeder soll ein Kreuzchen hinter seinen Namen setzen, wenn er meint, dass seine Mutter vielleicht Zeit und Lust hätte. Als die Stunde zu Ende und die Liste wieder bei Bea ist, hat niemand ein Kreuzchen gemacht. Ein gutes Zeichen, finde ich.

Zu Hause beim Mittagessen ist Mama bereits informiert. Beas Mutter ist gleichzeitig die Elternpflegschafts… bla, bla … also die Klassensprecherin der Eltern sozusagen. Und die hat schon eine Mail an alle Eltern geschrieben. Sie selbst kann auch nicht, schreibt sie, weil sie berufstätig ist und so schnell keinen Urlaub bekommt. Aber bestimmt kann doch eine der anderen Mütter, und sicher wollen doch alle, dass die Klassenfahrt stattfindet, weil es doch so sehr die Klassengemeinschaft stärkt und man so schöne Dinge erleben kann.

„Das wäre ja wirklich schade, wenn das ausfallen würde“, fasst Mama ihren Bericht über die Mail zusammen. „Was ist denn mit der Mutter von Hilko? Die ist doch immer froh, wenn sie mal von zu Hause weg kommt.“

„Keine Ahnung.“ Ich habe nicht wirklich Lust, mir über andere Mütter Gedanken zu machen. Wenn die Klassenfahrt ausfällt, können wir ja nächste Woche stattdessen einen Film gucken und Spiele auf dem Schulhof spielen.

Da schaltet sich mein kleiner Bruder Lasse ein: „Mama, du kannst doch mitfahren!“

Mama lächelt. „Und wer soll so lange auf dich aufpassen?“

„Papa!“

„Und während er auf der Arbeit ist?“

„Da pass ich auf mich selbst auf!“ Lasse grinst übers ganze Gesicht.

Hab ich schon erzählt, dass ich einen kleinen Bruder habe? ­Lasse. Sechs Jahre, erste Klasse. An sich ganz lieb und lustig, aber manchmal etwas vorlaut und nervig. Wie kleine Brüder nun mal so sind. Ich bin schon elf Jahre und gehe in die fünfte Klasse. Ich hab das leichte Leben der Grundschule schon hinter mir. In der weiterführenden Schule fängt der Ernst des Lebens an. Das weiß Lasse natürlich noch nicht. Innerlich muss ich lachen, wenn ich mir vorstelle, wie sich mein Bruder hier zu Hause selbst versorgt: Gummibärchen-Suppe kochen, das ganze Wohnzimmer mit Legosteinen auslegen und die komplette DVD-Box „Biene Maja“ hintereinanderweg anschauen. Und dabei sind die Backen vollgestopft mit Eis und Schokolade. Lustig. Wie gesagt: Innerlich lache ich. Äußerlich natürlich nicht. Ich hoffe stark, dass Mama diese Idee nicht ernsthaft weiterverfolgt. Was gibt es Peinlicheres, als wenn die eigene Mutter mit auf Klassenfahrt fährt? Am Ende macht sie morgens noch mein Bett und achtet beim Essen darauf, dass ich genug Salat esse und brav meinen Teller leer mache. Nein, danke.

Mama lacht und wuschelt Lasse mit der Hand über den Kopf. „Das könnte dir so passen.“

Lasse streckt seine Gabel in die Luft: „Ich hab eine noch bessere Idee: Ich komme mit!“

Fast verschlucke ich mich, als ich das höre. Ja, wirklich. Lasses Ideen werden immer besser! Die einzige Steigerung der Peinlichkeit, dass die eigene Mutter mit auf Klassenfahrt fährt, wäre die, dass auch noch mein kleiner Erstklässler-Bruder mitkommt! Dagegen sind gelbe Marmeladenmatsche und quietschende Betten ja überhaupt nichts!

Lasse wendet sich an mich: „Ben, würde dir das auch gefallen, wenn ich mitkäme?“

„Ja, klar, Lasse. Ich würde vor Glück Purzelbäume schlagen.“

„Wirklich?“, strahlt Lasse. „Ich auch!“ Er klopft Mama auf den Unterarm. „Siehst du, Mama, Ben würde das auch gefallen! Der ganzen Klasse von Ben würde das gut gefallen! Und ich möchte sooo gerne mal die großen Kinder in Bens Klasse kennenlernen! Und ich möchte auch die Klassengemeinschaft stärken! Und ich möchte schöne Dinge erleben! Ja, darf ich mitfahren? Jaaaa?“ Er klimpert mit den Augen und schiebt seine Unterlippe so weit nach vorne, dass man ein Glas darauf abstellen könnte. „Bitte, bitte.“

Wieder lacht Mama. „Du kleiner Quatschkopf. Du musst doch selbst zur Schule. Da kannst du doch nicht einfach ein paar Tage fehlen.“

„Klar kann ich das! Ich kann doch schon alles lesen und schreiben! Und rechnen kann ich schon bis mindestens zehn. Viel mehr muss man im ersten Schuljahr nicht können, hab ich recht? Also, eigentlich geh ich ja sowieso nur in die Schule, damit Frau Aust sich nicht langweilt. Die anderen reden so wenig im Unterricht – wenn ich mich nicht andauernd melden und Geschichten von zu Hause erzählen würde, würden wir nur herumsitzen und aufgemalte Äpfel im Rechenbuch zählen.“

Jetzt werde ich doch ein bisschen hellhörig. „Was erzählst du denn für Geschichten von zu Hause?“, frage ich.

„Ach, was wir alles so Lustiges erleben. Wie du, Ben, zum Beispiel letzte Woche im Bad ausgerutscht bist und beim Hinfallen noch den Handtuchhalter mit runtergerissen hast. Das war voll witzig! Alle Kinder in meiner Klasse haben sich halb tot gelacht, als ich das erzählt habe!“

Mir klappt der Mund auf. „Das erzählst du im Unterricht???“

„Ja, ich erzähle noch mehr. Wir haben es immer total lustig bei uns. Natürlich nur wegen mir, weil ich die Geschichten erzähle. Und wegen dir, weil du die Hauptperson in meinen Geschichten bist! Die anderen wollen dich unbedingt mal kennenlernen, haben sie gesagt!“

„Ich glaube, du spinnst! Ich verbiete dir, den anderen zu erzählen, wie mir blöde Sachen passieren!“

„Ach, ich erzähl ja nicht nur die blöden Sachen. Ich hab auch erzählt, dass wir beide Agenten sind und Verbrecher jagen. Und dass du mir zu Weihnachten diese tolle Anstecknadel gebastelt hast! Ich hab die Brosche herumgehen lassen und alle Kinder haben gestaunt, als sie sie gesehen haben!“

„Was hast du??!!“ Ich stelle mir gerade vor, wie jedes Kind in Lasses Klasse dieses peinliche Teil aus Goldpapier in seinen verschwitzten Erstklässler-Händchen hält. Dieses Ding hab ich mal aus lauter Not, weil ich wirklich nicht wusste, was ich meinem Bruder zu Weihnachten schenken sollte, fünf Minuten vor der Bescherung gebastelt. Einfach ein paar Glitzersteinchen auf ein Goldpapier-Ei geklebt und „Agent Lasse Baumann“ drauf geschrieben. Lasse hat sich tierisch gefreut. Aber wenn ich gewusst hätte, dass er das überall herumzeigt und dabei erklärt, dass ich es gebastelt habe, dann hätte ich mir mehr Mühe gegeben. Wenn am Ende sogar die Lehrerin dieses Ding in die Hand bekommen und dabei gehört hat, dass ich schon in der fünften Klasse bin, dann wird sie sich fragen: Wie kann einer in die fünfte Klasse gehen und immer noch so ausschneiden wie im Kindergarten? Oh Mann. Dieser Junge blamiert mich sogar, wenn ich nicht dabei bin. Wenn der jetzt auch noch mit auf Klassenfahrt kommt, dann kann ich mich in der ganzen Schule nicht mehr blicken lassen.

2

Am Montag hat sich noch immer keine Mutter gefunden, die mitkommen kann.

„Bis spätestens heute Nachmittag muss ich wissen, ob wir eine weibliche Begleitung haben“, sagt Herr Jung. „Sonst rufe ich in der Jugendherberge an und sage Bescheid, dass wir nicht kommen.“

Bea springt auf: „Nein, bitte nicht!“ Sie schaut einmal kurz durch die Klasse und zeigt dann mit ausgetrecktem Arm auf mich. „Was ist mit dir, Ben? Geht deine Mutter auch arbeiten?“

„Nein“, antworte ich. „Aber ich habe noch einen kleinen Bruder, auf den muss sie aufpassen.“

„Wie klein ist der?“, fragt Julian. „Ein Baby?“

Julian treffe ich jeden Morgen, wenn ich mit Lasse zusammen zur Schule gehe. Auf meinem Weg zur Schule komme ich an der Grundschule vorbei. Darum gehen wir die meiste Zeit des Weges gemeinsam. Und Julian geht auch denselben Weg.

„Du kennst doch meinen Bruder Lasse!“, gebe ich etwas fassungslos zurück. „Du siehst ihn jeden Morgen! Er geht in die erste Klasse!“

„Ach, der!“ Er nickt und versinkt wieder in seinem Reich der Träume.

„Ist das der mit der obercoolen Anstecknadel“, ruft Tobias laut, „mit der Aufschrift: ‚Agent Lasse Baumann‘?“

Gleich versinke ich im Erdboden. „Ja, der ist das.“

„Ach, der!“, fällt es jetzt auch Jonathan ein. „Als wir neulich alle nach dem Probe-Feueralarm auf dem Schulhof standen und unser Schulleiter uns einen Vortrag über richtiges Verhalten bei Katas­trophen halten wollte – da kam dieser Trupp mit Kindergartenkindern im Gänsemarsch an unserem Schulhof vorbei. Und einer hat seine Arme hochgerissen und ganz laut gebrüllt: ‚Hallo, Ben! Hallo Ben! Da, seht ihr? Das ist mein Bruder Ben! Der, der sich gerade die Hände vors Gesicht hält!‘ 400 Schüler haben zuerst ihn, dann dich angestarrt. Ist dieser Junge dein Bruder Lasse?“

Ich muss mir wieder die Hände vors Gesicht halten. „Es waren keine Kindergartenkinder, sondern Erstklässler“, hauche ich. „Aber sonst war alles genau so, wie du es erzählt hast. Ja, das ist mein Bruder Lasse.“

„Der ist cool“, lacht Jonathan.

„Ich find den süß“, flötet Sarah.

„Ich auch!“, rufen noch ein paar Mädchen.

„Bring ihn doch mit“, gackert Christina.

„So weit kommt’s noch“, brumme ich.

Herr Jung schaltet sich ein: „Wenn er in seiner Klasse ein paar Tage Schulbefreiung bekommt, kann er von mir aus gerne mitfahren. Wenn wir damit unsere Klassenfahrt retten können, würde ich dem zustimmen.“ Er geht ein paar Schritte auf mich zu. „Sofern deine Mutter das erlaubt.“

Sofern ICH das erlaube, hätte ich am liebsten erwidert. Aber mich fragt ja hier keiner. Ich merke, wie mir der Schweiß ausbricht.

„Oh ja, das wäre süß!“, ruft Sarah wieder und faltet ihre Hände neben ihrer Wange, als hätte ihr gerade jemand einen riesengroßen Teddybären geschenkt.

„Dein Bruder ist echt cool!“, bestätigt Mimi.

Hab ich schon mal gesagt, dass ich Klassenfahrten hasse? Hab ich auch schon mal gesagt, dass ich es peinlich finde, wenn die eigene Mutter mit auf Klassenfahrt kommt? Und hab ich obendrein schon mal bemerkt, dass es so ziemlich das Schlimmste ist, was einem elfjährigen Geheimagenten passieren kann, wenn neben der Mutter auch noch der sechsjährige Bruder mit auf Klassenfahrt kommt?

Lasse empfängt mich schon an der Haustür, als ich mittags nach Hause komme. „Frau Aust hat gesagt, sie macht eine Ausnahme! Eigentlich geht das ja nicht, denn da könnte ja jeder kommen, aber weil du sonst nicht auf Klassenfahrt mitfahren kannst und weil du vor Glück Purzelbäume schlägst, wenn ich mitkomme – darum hat sie es erlaubt. Klasse, was?“

„Ganz klasse, Lasse.“ Ich dränge mich an ihm vorbei zur Haustür rein. Hab ich Fieber oder ist es die Aussicht auf eine Klassenfahrt mit Lasse im Gepäck, die mir am ganzen Körper den Schweiß ausbrechen lässt?

Mama erklärt beim Mittagessen: Sie hat schon mit Papa gesprochen und er ist einverstanden. Sie hat auch mit Frau Aust gesprochen und ihr die Situation erklärt. Die hat ihr gesagt, dass Lasse so ein aufgeweckter Junge sei und so gut im Unterricht mitmache, dass es gar nicht schlimm ist, wenn er in so einem Ausnahmefall mal für drei Tage fehle. Mama wird nachher mit Herrn Jung telefonieren. Und dann ist die Klassenfahrt gerettet. Danke, Leute. Ganz rücksichtsvoll.

„Oh Mann, ich freu mich schon!“ Lasse hüpft wie ein Frosch um den Esstisch.

Mama schaut mich von der Seite an, legt ihren Kopf schief und lächelt: „Oder findest du das doof?“

Prima gemacht. Ganz toll eingefädelt! Zuerst sprecht ihr alles ab – mit den Lehrern, mit Papa, mit Lasse – und wenn alles geklärt ist, wird zu allerletzt derjenige gefragt, um dessen Klassenfahrt es überhaupt geht! Was soll ich denn jetzt noch antworten? Ich bin so sauer, ich würde am liebsten irgendwas durch das Zimmer werfen. Mein Kinn zittert. Ich kneife meine Augen zu. Ich muss feste schlucken. Dann sage ich: „Nein, alles in Ordnung.“ Und bevor ich hier vor meinem kleinen Bruder anfange zu heulen, stampfe ich wütend in mein Zimmer und knalle die Tür zu.

So sind Erwachsene. Zumindest ist es das, was ich bis jetzt über sie herausgefunden habe. Sie sind so besorgt um ihre Kinder. Aber wenn es darum geht, für die Schule oder sonst irgendwo eine Situation zu retten, dann tun sie alles dafür, damit alle glücklich und zufrieden sind. Und dann fragen sie überhaupt nicht mehr, ob es den Kindern gut damit geht. Dann gehen sie davon aus, dass die Kinder sowieso alles in Ordnung finden, was die Erwachsenen beschließen. Alle Kinder lieben Klassenfahrten. Logisch. Also fahren wir doch mal eben alle zusammen weg. Alle Kinder mögen es, wenn die Mutter mitfährt. Und bestimmt mögen es alle Kinder, wenn die kleinen Brüder mitkommen. Also muss man gar nicht fragen. Nö. Einfach planen. Und am Schluss dann noch kurz: „Nicht wahr, das ist doch in Ordnung so für dich?“ Nee, Leute. Nicht mit mir.

Bald darauf klopft es an meiner Zimmertür. Ich sitze mit verschränkten Armen auf meinem Schreibtischstuhl und schaue aus dem Fenster.

Mama kommt rein.

Lasse steht hinter ihr: „Was hat Ben? Mama, was hat Ben?“

„Geh in dein Zimmer, Lasse“, sagt Mama leise und schiebt ihn ein bisschen zurück. „Ich muss mal mit ihm reden.“

„Was hat Ben, Mama?“

„Geh jetzt.“ Mama schließt die Tür vor seiner Nase. Lasse ist draußen.

Ich schaue immer noch zum Fenster raus.

Mama steht neben mir und hat ihre Hände vor dem Schoß aufeinander gelegt. „Ich wollte euch doch nur helfen“, sagt sie vorsichtig.

„Danke für die Hilfe“, brumme ich.

„Wenn sich bis heute Nachmittag keine Mutter gefunden hätte, dann wäre eure Klassenfahrt ausgefallen. Alle anderen scheinen überhaupt nicht zu können. Dass Lasse mitkommt, ist eine Notlösung. Aber ich dachte, es ist besser, als dass es ausfällt, oder?“

Ich antworte lieber nicht.

Mama seufzt. Dann sagt sie: „Es ist ja nicht so, dass es mir zu Hause langweilig wäre und ich unbedingt mit auf eure Klassenfahrt kommen wollte. Ich habe hier genug zu tun. Aber alle freuen sich schon so. Und da dachte ich, ich tu euch den Gefallen. Wa­rum bist du denn plötzlich so ärgerlich darüber?“

Weil ich als Letztes gefragt werde, denke ich. Weil Mütter und Brüder auf einer Klassenfahrt peinlich sind. Aber ich sage nichts.

„Eine andere Mutter scheint sich ja nicht zu finden“, fährt Mama fort. Sie beugt sich leicht nach vorne und versucht, mir ins Gesicht zu sehen. „Oder wäre dir lieber gewesen, die Klassenfahrt fällt aus?“

Das war das richtige Stichwort. Ich merke, wie sich Wasser in meinen Augen sammelt. Jetzt nicht heulen, denke ich. Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen und schaue noch angestrengter nach draußen.

Mama scheint das aufzufallen: „Möchtest du denn gar nicht auf die Klassenfahrt?“

Mein Kinn zittert. Meine Nase läuft ein bisschen. Aber sonst hab ich mich im Griff.

„Ist denn irgendwas passiert? Habt ihr Streit?“

Ich schüttle den Kopf. Nein, das ist es wirklich nicht. Streit haben wir nicht.

„Hast du Angst?“

Ich will schon wieder den Kopf schütteln, aber dann muss ich doch erst mal darüber nachdenken. Hab ich Angst? Ich wüsste nicht wovor. Aber irgendwie fühlt sich das Wort Angst richtig an. Das passt jetzt zu mir. Also zucke ich mit den Schultern.

„Denkst du, dass du mit den anderen nicht zurechtkommst?“, tastet sich Mama weiter vor.

Ich schüttle wieder den Kopf.

„Hast du Angst vor Heimweh?“

Puh. Heimweh ist ein krasses Wort. Wenn Lasse und ich in den Ferien bei Oma schlafen, denke ich nachts stundenlang an Mama und Papa, bevor ich einschlafe. So lange, bis es wehtut. Weh im Bauch. Weh im Herzen. Weh im Kopf. Aber ich weine nicht. Ich will nicht, dass Oma sich Sorgen macht. Als wir in der Grundschule schon mal für eine Nacht in so eine blöde Jugendherberge gefahren sind, hab ich auch ganz lange im Bett wach gelegen und es hat wehgetan. Aber ich habe erst geweint, als ich mir sicher war, dass alle anderen geschlafen haben. Ich denke nie so viel an Mama und Papa, wie wenn ich woanders schlafe. Ist das Heimweh? Wieder zucke ich mit den Schultern.

„Ach, Ben.“ Mama geht in die Hocke und dreht den Schreibtischstuhl so, dass sie mein Gesicht sehen kann. „Warum sagst du das denn nicht?“ Sie macht ein sorgenvolles Gesicht. „Freust du dich denn nicht, wenn ihr mal ein paar Tage rauskommt und ein paar Abenteuer woanders erlebt?“

Richtig geraten, Mama. Ich schüttle den Kopf. Ich ziehe die Nase hoch.

„Aber warum denn nicht?“

Warum, warum? Ich weiß es doch selbst nicht! Wie soll man einer Mama erklären, warum man nicht weg will? Ist es so schlimm, wenn einer lieber zu Hause ist, wo er sich auskennt? Als ich den Mund öffne, um was zu sagen, merke ich, dass er voller Rotz und Schleim ist. Ich muss erst mal schlucken und räuspern. Dann versuche ich es: „Ich will einfach nicht. Ich kenn mich da nicht aus. Ich weiß nicht, was da kommt. Ich weiß nicht, ob es mir da gefällt. Ich hab Angst, dass die anderen die ganze Zeit fröhlich sind und ich immer nur nach Hause will. Ich will nicht mit den anderen in einem Zimmer schlafen. Beim letzten Mal wollte ich schlafen und die anderen haben noch ganz lange gequatscht. Dann war ich am nächsten Tag müde und schlecht gelaunt, aber niemand hat das bemerkt. Ich hatte Bauchschmerzen und wollte immer nur ins Bett. Aber wir haben immer irgendwas unternommen.“ Ich atme einmal tief ein und aus. Jetzt ist es raus. Der Hals ist wieder frei. Ich wische mir einen feuchten Streifen von der Wange.

„Aber du hast doch nachher erzählt, dass es schön war?“

„Ja, es war ja auch schön.“

Klar, dass Erwachsene das nicht kapieren. Es war schön, aber zwischendurch war es auch schwer. Beides. Das scheinen Erwachsene nicht zu kennen.

Mama streicht mir über den Arm. „Ach, du armer Kerl. Das wusste ich gar nicht.“ Sie schaut mich noch mal mit ihrem lieben Mama-Lächeln an. „Soll ich denn lieber wieder absagen?“

„Nein.“ Ich ziehe die Nase hoch und schüttle den Kopf. So langsam geht es mir wieder besser. „Die anderen freuen sich ja so. Und ich krieg es schon irgendwie hin. Es wird bestimmt schön.“ Ich schaue Mama an und versuche zu lächeln. „Und es stärkt ja auch die Klassengemeinschaft und wir erleben schöne Dinge.“

Mama lacht. „Genau.“ Dann zieht sie die Augenbrauen hoch. „Und was ist mit Lasse? Ist es denn in Ordnung, wenn er mitkommt?“

Ich seufze. „Geht ja wohl nicht anders. Aber ich fand auch doof, dass ihr mich nie gefragt habt, ob ich damit einverstanden bin. Mit Papa hast du gesprochen, mit Herrn Jung, mit Lasses Lehrerin – aber nicht mit mir.“

„Das stimmt. Da hast du recht. Das war ziemlich dumm von uns.“ Mama presst schuldbewusst ihre Lippen zusammen. „Ich hab gedacht, du freust dich richtig doll auf die Klassenfahrt. Da­rum wollte ich dir und der ganzen Klasse helfen. Aber ich hätte dich natürlich zuerst fragen müssen.“ Sie zieht wieder die Augenbrauen hoch. „Das tut mir leid.“

Das tut gut, wenn Erwachsene sich entschuldigen. Jetzt kann ich auch Mama wieder anschauen, ohne dass mir die Tränen kommen. „Aber wehe, Lasse schläft mit mir in einem Zimmer!“