Der Schlunz und der unsichtbare Wächter - Harry Voß - E-Book

Der Schlunz und der unsichtbare Wächter E-Book

Harry Voß

0,0

Beschreibung

Klasse: Lukas und der Schlunz nehmen mit der ganzen Familie an einer Freizeit teil, die auf einer geheimnisvollen Burg stattfindet. Da gibt es natürlich jede Menge zu erleben: Ein verschollener Geheimgang soll von der Burg bis runter ins Dorf zur alten Kirche führen. Und in der Kirche wurden neulich etliche der goldenen Geräte gestohlen. Ob die Kinder dem ""unsichtbaren Wächter"" auf die Spur kommen, der nachts durch die Flure spuken soll? Lukas ist bei all den Abenteuern nicht ganz wohl. Ein Detektiv hat ihm erzählt, ein neuer Killer sei beauftragt worden, den Schlunz ums Leben zu bringen. Wer könnte das sein? Und wann schlägt er zu? Schlunz kümmert sich darum wenig. Er will lieber weiter nach seiner Vergangenheit forschen. Dazu fahren er und Lukas zusammen mit Tim in die Stadt, aus der der silberne Audi stammt. Und da machen sie eine überraschende Entdeckung ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 280

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Harry Voß

Der SchlunzBand 5

Der Schlunzundder unsichtbare Wächter

Zum Autor vom „Schlunz“

Harry Voß wurde 1969 in Dillenburg geboren (auf der Landkarte zwischen Gießen und Siegen) und ist in dem schönen hessischen Dorf Eibelshausen aufgewachsen. Als Kind ist er dort zum Kindergottesdienst und zur Jungschar gegangen und hat durch die Bibellese-Zeitschrift „Guter Start“ das Bibellesen kennengelernt. Das hat ihm so gut gefallen, dass er als Jugendlicher selbst in Jungschar und Kindergottesdienst mitgearbeitet hat. Weil er die Arbeit mit den Kindern so klasse fand, besonders Kinderbibelwochen und Jungscharfreizeiten, wollte er das auch beruflich machen. Sein Traumberuf: Kindermissionar. Darum hat er in Darmstadt Religionspädagogik studiert. Und jetzt ist sein Traum wahr geworden: Harry ist Kindermissionar beim Bibellesebund. Er führt in Gemeinden Kinderbibelwochen durch, fährt mit Kindern auf Freizeiten und hat zehn Jahre lang sogar die Kinder-Bibellese-Zeitschrift „Guter Start“ als verantwortlicher Redakteur geleitet.

2007 hatte er das Vergnügen, sein erstes Buch schreiben zu dürfen: „Der Schlunz“. Das war eine klasse Sache, aber jetzt spuken ihm schon wieder neue Ideen im Kopf herum. Harry spielt für sein Leben gern Theater, mag Peter Pan und Mary Poppins und möchte am liebsten für immer ein kleiner Junge bleiben.

Mit seiner Frau Iris und seinen Kindern Elisa und Josia lebt er in Gummersbach, geht dort zur evangelischen Kirchengemeinde und arbeitet ehrenamtlich in der CVJM-Jungschar mit.

Impressum

© 2009 by Verlag Bibellesebund Marienheide

SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten

© 2019 der E-Book-Ausgabe

Bibellesebund Verlag, Marienheide

https://shop.bibellesebund.de/

 

Autor: Harry Voß

Coverillustration: Daniel Fernández Adasme

Covergestaltung: Julia Plentz

ISBN 978-3-95568-306-1

 

Hinweise des Verlags

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des Textes kommen.

Noch mehr eBooks des Bibellesebundes finden Sie auf

https://ebooks.bibellesebund.de

Inhalt

Titel

Impressum

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

1

Obwohl es in dem kleinen Raum dunkel und verraucht war, nahm die Frau ihre Sonnenbrille nicht ab, als sie sich auf den Holzstuhl vor dem Schreibtisch setzte.

Der Mann in dem Sessel auf der anderen Seite des großen Schreibtischs lächelte finster. Dichter Qualm umgab sein Gesicht und jedes Mal, wenn er einen weiteren Zug aus seiner dicken Zigarre nahm und den Rauch langsam von sich blies, formte sich der Qualm zu neuen, gespenstischen Wolken. Mit seiner freien Hand trommelte er leise auf der großen dunklen Holzplatte seines alten italienischen Schreibtisches.

»Ich habe viel bezahlt, damit Sie ihn töten«, begann die Frau das Gespräch. »Und der Mann, von dem Sie sagten, er sei am besten dafür geeignet, sitzt im Gefängnis.«

Der Mann blies neuen Qualm in den Raum. »Das bedaure ich sehr«, sagte er und lächelte weiter. »Sie können mir glauben, ich bin schon dabei, alles dafür vorzubereiten, ihn da wieder rauszuholen.«

»Wie soll das denn gehen?« Die Stimme der Frau blieb kalt. »Wollen Sie ins Gefängnis einbrechen und ihn herausschmuggeln?«

Der Mann lächelte und nahm einen langen Zug von seiner Zigarre. Die Glut an ihrem Ende leuchtete hell auf und spiegelte sich in seinen dunklen Augen wider. »Vertrauen Sie mir«, sagte er. »Ich schaff das schon. Ich hab überall meine Freunde. Auch bei den Beamten im Gefängnis. Das wissen Sie doch. Bald wird mein bester Mann wieder frei sein.«

»Wie lange wird das noch dauern?«

Der Mann zuckte kurz mit einer Augenbraue. »Nicht mehr lange.«

»Ich kann nicht mehr warten. Der Junge wird mir gefährlich. Neulich ist er mir mit dem Fahrrad gefolgt. Ich konnte ihn gerade noch abhängen.«

Das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes wurde zu einem breiten Grinsen. »Der Junge ist klug.«

»Ja, leider.« Die Frau lächelte nicht. »Viel zu klug. Ich muss ihn loswerden, bevor er mich gefunden hat. Ich weiß, dass er schon Nachforschungen anstellt. Er und der andere Junge. Wenn sie mich finden oder sogar das Haus, dann ist alles aus. Dann wird er sich wieder erinnern.« Sie beugte sich leicht nach vorne und redete leiser. »Das darf auf keinen Fall passieren.«

»Ich hab schon verstanden.« Die trommelnden Finger auf der Tischplatte stoppten. Der Mann nahm noch einen Zug von seiner Zigarre und blies den Rauch über den Schreibtisch. Langsam schien die Wolke auch das Gesicht der Frau einhüllen zu wollen. »In Niederkirchen, sagten Sie, lebt er jetzt?«

»Ja. Niederkirchen. Bei einer Familie mit dem Namen Schmidtsteiner.« Sie schob ein Foto über den Schreibtisch. »So sieht er aus. Der mit den zerzausten Haaren ist es. Der andere auf dem Bild heißt Lukas.«

Der Mann nickte. »Wie konnte der Junge überhaupt so weit kommen?«

»Das ist mir selbst ein Rätsel. Er muss gelaufen und gelaufen sein. Tag und Nacht. Ich hatte ihn ja längst für tot gehalten, auch wenn man ihn nach dem Unfall nicht gefunden hat. Ich dachte, er ist irgendwo im Wald vor Hunger oder vor Kälte gestorben. Aber er ist lebendiger, als mir lieb ist.« Sie rückte auf dem Stuhl leicht nach vorne und fasste sich kurz mit zwei Fingern an den Rand der Sonnenbrille. Unter ihrem eleganten Kopftuch schaute eine dunkle Haarsträhne heraus. »Und Sie haben mir zugesagt, Sie wollten den Kerl beseitigen. Es sollte aussehen wie ein Unfall. Stattdessen hat sich Ihr bester Mann von zwei Kindern überwältigen und ins Gefängnis bringen lassen.«

Der Mann nickte lange. Dann lächelte er wieder. »Sie sind eben klug, die beiden Jungs.«

»Klug und gefährlich«, sagte sie scharf. »Aber jetzt will ich, dass Sie handeln. Und zwar sofort. Ich kann nicht warten, bis Ihr bester Mann aus dem Gefängnis frei ist. Ich will mir endlich sicher sein, dass alles aus und vorbei ist. Und ich gewonnen habe. Und ich denke, ich habe Ihnen genug Geld dafür gegeben, dass Sie meinen Auftrag ausführen können.«

Der Mann lächelte weiter. »Ja. Das haben Sie.« Er schnippte die Asche am Ende seiner Zigarre in einen großen Aschenbecher aus Bleikristall und legte seine Zigarre dort ab. »Ich kann Ihnen Folgendes anbieten: In Niederkirchen wohnt jemand, der mir gern mal einen Gefallen tut. Eigentlich ist er spezialisiert auf Tankstellenüberfälle, Autoknacken und Einbrüche in Wohnungen. Er ist ein Meister darin, sich nach der Tat unsichtbar zu machen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er grinste und faltete seine Hände auf der Tischplatte. »Für das entsprechende Geld wäre er sicher auch gern mal bereit, einen Auftrag der besonderen Art anzunehmen.«

»Das ist mir egal, solange ich davon ausgehen kann, dass er gut und schnell arbeitet.«

Der Mann lehnte sich in seinem Sessel zurück und grinste weiter. »Er ist gut.«

»Wehe, wenn nicht.« Die Frau erhob sich und ging zur Tür.

Der Mann lachte leise mit rauer Stimme. »Sie sehen besonders bezaubernd aus, wenn Sie meinen, mir drohen zu können.«

Ohne ein weiteres Wort verließ die Frau den dunklen Raum.

2

»Frau Rosenbaum ist da!«

Lukas zuckte vor Schreck zusammen, als er Mama unten im Flur rufen hörte. Er war gerade dabei den Schlunz zu suchen, der sich hier irgendwo in der Wohnung versteckt hatte. Eigentlich hatten sie ja draußen Verstecken spielen wollen, aber im Moment regnete es so stark, dass sie lieber im Haus spielten.

»Wir kommen gleich!«, rief Lukas zurück. Nur noch schnell den Schlunz finden, dann konnten sie auch zu Frau Rosenbaum kommen. Was wollte die überhaupt hier? Wollte sie den Schlunz mitnehmen? Immer, wenn sie kam, hatte Lukas ein ungutes Gefühl im Bauch. Frau Rosenbaum war die Leiterin vom Jugendamt. Als sie das erste Mal aufgetaucht war, damals im April, als sie den Schlunz gerade erst im Wald gefunden hatten, da wollte sie ihnen erklären, dass der Schlunz eigentlich nicht bei den Schmidtsteiners wohnen konnte. Er sollte ins Kinderheim. Schließlich hatte er keine Eltern, zumindest wusste er nicht, wo seine Eltern waren. Als er im Wald gesessen hatte, war er total verdreckt gewesen und konnte sich an nichts mehr erinnern. Weder an seinen Namen noch an seine Familie. Seitdem versuchte die Polizei, eine Spur zu seinen Eltern zu finden. Ein Kinderpsychologe bemühte sich, Schlunz’ Erinnerung zurückzugewinnen. Und Frau Rosenbaum war dafür zuständig, dass es dem Schlunz gut ging.

»Lukas, Schlunz! Wo seid ihr?«, rief Mama noch einmal.

»Ja, gleich!« Lukas rannte in Neles Zimmer. Nele, Lukas’ Schwester, versteckte sich fast immer in ihrem eigenen Kleiderschrank. Die war ganz leicht zu finden. Als er jetzt die Schranktür öffnete, saß sie aber nicht darin. Komisch.

Bald hatte Lukas in den oberen Zimmern alle Ecken durchsucht.

Langsam ging er die Treppe nach unten.

»Da bist du ja endlich«, sagte Mama. »Wo ist der Schlunz?«

Frau Rosenbaum saß bereits im Wohnzimmer und hielt ihre Aktentasche auf dem Schoß. »Guten Tag, Lukas«, sagte sie und zog ihre Mundwinkel zu einem faltenreichen Lächeln nach hinten.

»Guten Tag«, sagte Lukas.

Mama rief aus der Küche: »Warum habt ihr sämtliche Körbe aus der Spülmaschine rausgezogen? Weißt du eigentlich, wie schwer die da wieder reingehen?«

»Das war ich nicht«, sagte Lukas, aber plötzlich hatte er einen Verdacht. Schnell ging er auf die Spülmaschine zu und öffnete die Klapptür. Ein zusammengefaltetes Bündel Mensch füllte den gesamten Innenraum aus. »Na endlich«, kam es mit gequetschter Stimme von Nele aus der Spülmaschine. »Ich dachte schon, ich müsste hier drin ersticken!«

»Nele!«, rief Mama entsetzt. »Das darf ja wohl nicht wahr sein!« Sie wollte Nele mit einem Ruck aus der Spülmaschine ziehen, aber Nele war so zwischen den Düsen oben und unten eingeklemmt, dass sie sich mehrmals drehen und wenden musste, bevor sie über die Tür nach draußen rollte. »Ja, spinnst du denn?«, schimpfte Mama laut. »Du machst ja alles kaputt da drin! Habt ihr denn sonst keinen Platz zum Spielen? Also, das gibt’s ja wohl nicht!« Sie schimpfte immer weiter, während Nele sich langsam zu ihrer wirklichen Größe auseinanderfaltete.

»Na, Lukas«, sagte sie stolz, ohne auf Mama zu achten, »das war schwer versteckt, was?«

»Und wo ist der Schlunz?«, fragte Lukas.

»Ganz in der Nähe.«

Lukas öffnete alle Schranktüren in der Küche und fand Schlunz zusammengekauert im Vorratsschrank. Er hatte versucht, sich mit Nudelpäckchen und Ananasdosen so zu bedecken, dass er nicht zu sehen war. Aber so ein großer Schlunz in so einem kleinen Schrank war nicht zu übersehen. Lukas und Nele lachten laut los, als sie den Schlunz da so liegen sahen.

»Gewonnen!«, rief Schlunz und stimmte in das Riesengelächter der Kinder ein.

Mama bückte sich und sah in den Schrank hinein. »Auch das noch, also da fehlen einem ja die Worte. Seid ihr denn völlig durchgedreht? Wollt ihr den Schrank kaputt machen?« Sie überschlug sich förmlich im Schimpfen und bekam einen hochroten Kopf dabei. Während Schlunz sich aus dem Schrank gleiten ließ, kullerten mehrere Dosen und Päckchen über den Küchenboden. Da stand Frau Rosenbaum in der Küchentür. »Ach du meine Güte«, hauchte sie, als sie den Schlunz inmitten der Vorräte liegen sah.

Mama schüttelte den Kopf und hatte sich noch nicht abgeregt. »Nun sehen Sie sich das an, Frau Rosenbaum. So geht das den ganzen Tag. Es wird Zeit, dass das Wetter wieder besser wird und die Kinder draußen spielen können. Hier drinnen finden sie ja anscheinend nichts Vernünftiges mehr. Das ist zum Aus-der-Haut-Fahren!«

Frau Rosenbaum schüttelte auch den Kopf, aber Lukas hatte den Eindruck, sie grinste ein wenig dabei, so als würden ihr die Dummheiten vom Schlunz gefallen. Aber das sagte sie natürlich nicht.

»Zuerst räumt ihr hier auf«, befahl Mama, »und zwar tipptopp! Danach kommt ihr zu Frau Rosenbaum ins Wohnzimmer! Ende der Durchsage!« Und damit schob sie Frau Rosenbaum vor sich her zur Küche hinaus und knallte die Tür zu.

Als Lukas und Schlunz kurze Zeit später im Wohnzimmer ankamen, schien Frau Rosenbaum schon wieder im Aufbruch zu sein. Sie zog gerade ihre Jeansjacke über ihren grünen Wollpullover und fingerte ihren blonden Pferdeschwanz aus dem Kragen heraus. Mit ihrer Frisur und der Kleidung hatte es immer den Anschein, als wollte sie noch wie 17 aussehen. Aber die Falten in ihrem Gesicht verrieten, dass sie schon über 40 sein musste. Noch älter als Mama und Papa.

»Da seid ihr ja«, begrüßte sie die Kinder. »Ich hab eine gute Nachricht für euch. Der Pflegeantrag ist endlich fertig bearbeitet. Lukas, deine Eltern sind jetzt offiziell die Pflegeeltern vom Schlunz.«

Schlunz und Lukas strahlten und sprangen auf der Stelle. »Na super!«, rief Schlunz. »Heißt das, ich kann jetzt für immer bei Lukas wohnen bleiben?«

»Für immer nicht«, sagte Frau Rosenbaum. »Aber zumindest so lange, bis wir deine wirklichen Eltern gefunden haben.«

»Ach so, ja«, sagte Schlunz, aber sein Strahlen verschwand sofort. »Hab ich vergessen.«

Frau Rosenbaum zog die Augenbrauen hoch. »Du willst doch deine Eltern wiederfinden. Oder?«

Schlunz nickte, aber er sagte nichts. »Was hast du?« Frau Rosenbaum machte ein besorgtes Gesicht.

»Nichts«, sagte Schlunz leise.

»Du gehst doch weiter zum Kinderpsychologen, oder?«

Schlunz nickte, sah aber Frau Rosenbaum nicht an.

»Und wir haben doch jetzt schon jede Menge über dich und deine Vergangenheit herausgefunden. Nicht wahr?« Sie versuchte, Schlunz so anzuschauen, dass sie seinen Blick auffangen konnte. Aber Schlunz schaute zu Boden. Frau Rosenbaum blickte zu Mama, die sich inzwischen wieder beruhigt hatte, und redete mit ihr weiter. »Was war das noch alles gleich? Er ist etwa so alt wie Lukas. Er hat in etwa den gleichen Bildungsstand wie Lukas.« Damit meinte sie, dass der Schultest vor den Sommerferien ergeben hatte, dass der Schlunz ungefähr so schlau war wie ein Viertklässler. Seitdem ging er mit Lukas in eine Klasse. Und seit dem neuen Schuljahr eben in die fünfte Klasse.

»Er hatte in irgendeiner Form einen Unfall«, fasste Frau Rosenbaum weiter zusammen. »Aber was für einen, das wissen wir noch nicht.«

»Na ja«, sagte Mama weiter, »und dann all das, was wir im Urlaub herausgefunden haben. Als wir in Frankfurt am Flughafen waren, hat er Panik bekommen und laut nach Marius gerufen. Aber was das zu bedeuten hatte, konnte er uns noch nicht sagen.« Sie schaute Schlunz an. »Oder, Schlunz? Weißt du jetzt was?«

Schlunz zuckte mit den Schultern und setzte sich stumm auf das Sofa neben Mama.

»Und dann der Audi«, begann Lukas. Aber sofort erschrak er und presste schnell seinen Mund zu. Schlunz schaute ihn streng an und gab ihm ein Zeichen mit der Hand. »Lukas!«, zischte er dabei leise.

Lukas hatte ihm versprochen, nicht mit Mama und Papa darüber zu reden. Und mit Frau Rosenbaum schon mal gar nicht. Schon kurz nachdem der Schlunz bei den Schmidtsteiners eingezogen war, hatten sie immer wieder einen silbernen Audi TT Roadster mit heruntergeklapptem Dach gesehen. Eine Frau saß darin und beobachtete den Schlunz. Eine Frau mit Sonnenbrille und Kopftuch. Neulich hatten sie den Audi fast erwischt, als die Frau gerade ein Foto von Schlunz am Stadtweiher knipste. Sie waren ihr mit den Fahrrädern gefolgt, aber dann war sie ihnen doch entkommen. Eines war klar: Schlunz war in Lebensgefahr.

»Was denn für ein Audi?«, fragte Frau Rosenbaum nach.

Schlunz schaute verstohlen zu Mama, sagte aber nichts.

Mama rückte ein Stück näher zum Schlunz und legte ihre Hand auf seine Schulter. »Meinst du den Audi, der dich in Köln fast überfahren hätte?«

Schlunz nickte. Und damit war die Situation gerettet. Daran hatte Lukas gar nicht mehr gedacht. Einmal hatten Mama und Papa den Audi ja auch gesehen. Als er im Urlaub plötzlich aufgetaucht war und den Schlunz fast überfahren hätte. Dass dieser Audi ganz oft am Straßenrand parkte und die Frau darin den Schlunz beobachtete, hatten Mama und Papa noch nicht mitbekommen. Und dass das Nummernschild mit DA wie Darmstadt begann, wussten sie erst recht nicht. Das hatte Lukas bei der letzten Verfolgungsjagd in der Stadt erkannt.

»Ja, das war eine schlimme Sache«, sagte Mama. »Überhaupt, dass im Urlaub dieser Mann mehrfach versucht hat, dich zu töten. Das war schrecklich. Zum Glück sitzt dieser Kerl jetzt im Gefängnis.«

»Ja«, sagte Schlunz leise. Und Lukas spürte, dass er bei diesem Gedanken wieder Angst bekam. Der Killer aus dem Urlaub saß zwar im Gefängnis – aber bedeutete das wirklich, dass der Schlunz in Sicherheit war? Oder würde bald ein neuer auftauchen und seinen Freund bedrohen?

»Jedenfalls kann der Schlunz jetzt mit gutem Gewissen bei euch wohnen«, sagte Frau Rosenbaum. »Ihr müsst den Schlunz schützen wie euer eigenes Kind, wie euren eigenen Bruder.«

»Das machen wir sowieso«, sagte Lukas und versuchte Schlunz anzulächeln. Schlunz sah Lukas an und schien ebenfalls so etwas wie ein Lächeln zu versuchen. Aber sein Blick blieb leer. In seinen Gedanken schien er wieder ganz woanders zu sein. In einer fernen Welt. Vielleicht in seiner Vergangenheit. Aber woran genau er dachte, wenn er so verklärt schaute, hatte er bisher noch nie erzählt. Und das machte auch Lukas immer wieder sehr traurig.

3

Als Frau Rosenbaum gegangen war, fuhren Lukas und Schlunz mit ihren Fahrrädern zu Tim Hansen. Das war einer der Jugendlichen, die ihnen neulich beim Gemeindefest geholfen hatten, das Fest so zu gestalten, dass sich auch die Kinder so richtig wohlfühlten. Als Schlunz Tim zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er ihn mit Marius angesprochen. Und bis heute blieb er bei seiner Meinung, Tim müsste Marius sein, egal, wie sehr Tim das bestritt. Jetzt wollte Schlunz das ein für alle Mal klären. Wo war Tim zum Beispiel, als Schlunz den Unfall hatte? Schlunz meinte, das ließe sich ganz schnell herausfinden. Immerhin hielt er sich für einen überaus schlauen Detektiv.

Tim war zu Hause und freute sich über den unangemeldeten Besuch.

»Das ist meine Mutter«, sagte Tim, als er die beiden Jungen mit ins Wohnzimmer nahm. Schlunz und Lukas sagten höflich: »Guten Tag«, und gaben Frau Hansen die Hand, blieben aber in der Nähe der Zimmertür stehen.

»Mama«, sagte Tim, »kannst du bestätigen, dass ich Tim heiße und nicht Marius?«

»Das kann ich bestätigen«, sagte Frau Hansen vergnügt. »So heißt er schon seit 19 Jahren.«

»Und so lange wohnt er auch schon hier bei Ihnen?«, fragte Schlunz.

»Richtig«, sagte Frau Hansen.

Lukas ergriff das Wort: »Und nicht zwischendurch vielleicht mal in Darmstadt?«

»In Darmstadt?« Frau Hansen schüttelte den Kopf. »Nein, da waren wir nie. Warum wollt ihr das wissen?«

»Tim sieht jemandem sehr ähnlich, den wir suchen«, sagte Lukas. »Und der heißt Marius.«

»Tja«, sagte Frau Hansen. »Ich fürchte, da werden wir euch nicht helfen können.«

Schlunz schaute Tim an und grinste vielsagend. »Du bist es, Marius«, sagte er leise. »Du kannst dich verstellen, so viel du willst.«

Es polterte auf der Treppe. Jemand kam heruntergelaufen und betrat das Wohnzimmer. Noch ein Jugendlicher. Jünger als Tim. Aber genauso schlank und sportlich. Er trug Sportklamotten und Turnschuhe. Über seiner Schulter hatte er eine Sporttasche hängen.

»Ich bin dann mal weg«, rief er kurz ins Wohnzimmer rein.

»Das ist Falk«, sagte Tim schnell, bevor der Sportler wieder draußen war, »mein Bruder.«

»Hallo Falk«, sagte Schlunz.

»Hallo«, sagte Falk und blieb nun doch stehen. »Und wer seid ihr?« Er nickte mit seinem Kinn kurz in Richtung Lukas. »Dich kenn ich ja. Du bist einer von den Schmidtsteiners.« Dann schaute er wieder zu Schlunz. »Aber dich kenn ich nicht.«

»Ich bin der Schlunz.«

»Der Schlunz«, wiederholte er nachdenklich, aber dann schien er sich zu erinnern. »Ach, der Verrückte aus dem Wald?«

»Der Verrückte?« Schlunz tat empört, grinste aber breit. »Ich bin nicht verrückter als du.«

Falk lachte und ließ dabei seine Sporttasche von seiner Schulter sinken. »Du kennst mich doch gar nicht«, sagte er.

»Ich kann ja mal einen Test machen«, sagte Schlunz und runzelte die Stirn, »ob du schlau oder verrückt bist.«

»Da bin ich aber mal gespannt.« Falk legte seine Sporttasche ab.

»Ich stelle dir eine schwierige Frage und keiner darf vorsagen.« Schlunz zeigte mit beiden Händen auf Tim. »Wie heißt dieser Mensch?«

Einen Augenblick schien Falk zu zweifeln, ob der Schlunz nicht vielleicht doch verrückt wäre. Dann lächelte er überlegen und antwortete: »Das ist doch eine ganz einfache Frage. Das ist Marius. Weiß doch jeder.«

Schlunz und Lukas klappten gleichzeitig ihren Mund bis zum Anschlag auf. Auch Frau Hansen riss ihre Augen auf. Tim schaute streng seinen Bruder an und ermahnte ihn: »Falk!«

»Was denn?«, fragte Falk unschuldig.

»Du verunsicherst die Jungen«, sagte Tim immer noch streng.

Da öffnete Falk plötzlich erschrocken seinen Mund, atmete hörbar ein und sagte: »Oh, hab ich gerade Marius gesagt? Oh, Entschuldigung. Ich meinte natürlich, er heißt ... äh, worauf hatten wir uns noch geeinigt? Ach, ja, richtig. Tim. Er heißt Tim.«

Lukas und Schlunz hatten immer noch die Münder offen. »Geeinigt?«, fragte Schlunz atemlos.

»Hör auf damit«, sagte Tim zu Falk. Zu Schlunz sagte er: »Er macht Quatsch. Er will euch reinlegen. Natürlich weiß er, dass ich Tim heiße.«

»Natürlich weiß ich das«, sagte Falk schnell und griff nach seiner Sporttasche. »Ich wollte sowieso gerade gehen. Sonst sage ich noch mehr Dinge, die in diesem Hause verboten sind. Tschüs.« Und damit verschwand er aus dem Wohnzimmer, trampelte den Rest der Treppe nach unten und donnerte die Haustür zu.

Frau Hansen lachte. »Typisch Falk«, sagte sie. »Immer zu Späßen aufgelegt.«

Schlunz und Lukas blieben ernst.

»Hört nicht auf ihn«, sagte Tim und er schien genervt zu sein. »Der macht Blödsinn.«

»Wie kommt er dann ausgerechnet auf den Namen Marius?«, fragte Schlunz.

»Ich hab ihm erzählt, dass du mich andauernd mit Marius ansprichst. Das hat er ausgenutzt.«

»Zeig mir deinen Ausweis.«

Tim verschwand aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit seinem Ausweis zurück. »Tim Hansen« stand darauf. Und das war sein Foto. Keine Frage.

»Wo warst du dieses ganze Jahr?«, fragte Schlunz.

»Ich hab Zivildienst gemacht. In Kassel. Von Januar bis jetzt. Eigentlich muss ich bis Ende September dort bleiben, aber ich hab mir noch Urlaub bis zum Schluss aufgehoben. Darum bin ich jetzt schon fertig.«

»Und letztes Jahr?«

»Da hab ich Abitur gemacht.«

»Das ganze Jahr?«

»Im Frühling. Im Juni hab ich mein Zeugnis bekommen.«

»Und danach?«

»Danach bin ich ein bisschen herumgereist. Mit Freunden. Wir waren in Kanada, haben Freunde in den USA besucht, manchmal war ich hier in Deutschland unterwegs. Immer wieder hab ich auch ein bisschen Geld verdient.«

»Das klingt aber sehr ungenau«, sagte Schlunz.

»Was heißt das?«, fragte Tim.

»Hier ein bisschen, da ein bisschen. Genauso gut könntest du auch bei mir gewesen sein. Zum Beispiel zu dem Zeitpunkt, als ich mein Gedächtnis verloren hab.«

Tim schimpfte vor sich hin. »Ich hab nichts mit dir zu tun«, sagte er ärgerlich. »Kapier das endlich. Und jetzt reicht es mir.« Er ging zur Tür hinaus. Schlunz ging hinterher und hielt ihn am Arm fest, gerade als er die Treppe nach oben gehen wollte. »Bitte«, sagte Schlunz leise und in seinem Gesicht lag Verzweiflung. »Für mich ist das ganz schlimm, dass ich mich an nichts erinnere. Und immer dann, wenn eine Erinnerung hochkommt, bekomme ich noch mehr Angst. Da sind Dinge, die ich nicht wissen will. Da ist was passiert, das mir Angst macht. Immer, wenn ich mich erinnern soll, hab ich Angst. Nur wenn ich an dich denke, dann hab ich keine Angst. Wenn ich mich an dich erinnere, dann spüre ich, dass das was Gutes ist. Das einzig Gute in meiner ganzen, schwachen Erinnerung. Verstehst du jetzt, dass ich mir das nicht so schnell wegnehmen lassen will?«

Tim war stehen geblieben. Der Ärger war aus seinen Augen verschwunden. Stattdessen lag ein Gemisch aus Sorge und Warmherzigkeit in seinem Blick. Er setzte sich auf die Treppe. »Na, komm her«, sagte er und zog Schlunz neben sich auf die Treppe. Er legte seinen Arm um Schlunzens Schulter und drückte ihn an seine Seite. Da fing der Schlunz an, bitterlich zu weinen. Er drückte sein Gesicht in Tims Pullover und weinte wie ein kleines Kind, dem man seine Mama weggenommen hat. Lukas, der die ganze Zeit an die Tür gelehnt stand und Schlunz und Tim zusah, musste an den Tag denken, an dem sie den Schlunz im Wald gefunden hatten. Da hatte er auf Papas Schoß gesessen und genauso geweint. Damals war ihm der Junge fremd und unheimlich vorgekommen. Jetzt hatte er unendliches Mitleid mit seinem Freund. Lukas ging langsam in den Flur und setzte sich ebenfalls auf die Treppe. Auf die andere Seite von Tim. Tim legte sofort seinen Arm um Lukas. »Lieber Vater im Himmel«, sagte Tim leise, »bitte hilf unserem Schlunz, seine Familie wiederzufinden. Du bist der Größte. Du kannst alles. Bitte hilf uns.«

Das war schön, dass Tim gebetet hatte, fand Lukas. Er fühlte sich wohl im Arm von dem großen Tim und er dachte, wenn er jemals sein Gedächtnis verlieren würde, wäre seine Erinnerung an Tim auch eine gute.

4

Am Sonntag war wieder Kindergottesdienst. Es war der erste Sonntag nach dem Gemeindefest. Etliche Familien, die zum Gemeindefest gekommen waren, waren auch heute wieder da. Der Kindergottesdienst in der unteren Etage war ebenfalls deutlich voller geworden. Der übliche Stuhlkreis, den die Kinder bildeten, war heute viel zu klein. Alle Kinder aus Schlunzens Schülerband waren gekommen: Anna Kaiser, die ja vor dem Gemeindefest auch schon mal da gewesen war, Guido, der Schlagzeuger, Niko, der Bassist, und Nina und Michaela, die Sängerinnen. Außerdem noch ein paar Mitschüler aus Elmars Schreib-AG und einige, die Lukas nicht kannte. Adelheid, die Leiterin, machte eine lange, ausführliche Vorstellungsrunde. Immer wieder schlug sie ihre Hände vor ihrer Brust zusammen, schüttelte ihren Kopf, freute sich inständig und hauchte: »So viele neue Kinder. So viele neue Kinder.«

Normalerweise war Adelheid viel strenger und freute sich nicht so laut. Mit ihren langen, alten Kleidern und dem großen Haarknoten auf dem Kopf wirkte sie ein bisschen wie Fräulein Rottenmeier aus der »Heidi«-Serie. Die Kinder wussten, dass Adelheid die Kinder eigentlich sehr lieb hatte. Trotzdem war sie oft streng, niemand durfte ohne zu fragen dazwischenreden.

Nachdem alle ihre Namen gesagt hatten, erklärte Adelheid freundlich, aber mit erhobenem Zeigefinger die Regeln im Kindergottesdienst. »Wir wollen hier von Jesus hören«, sagte sie. »Darum sind wir hier schön leise, reden nicht dazwischen und zappeln nicht auf den Stühlen.«

Niko, der gerade mit seinem Stuhl nach hinten gekippelt war, klappte sofort zurück und legte seine Hände flach auf die Beine.

»Singen wir denn wieder so klasse Lieder wie letzte Woche?«, fragte Michaela gleich.

»Nein«, sagte Adelheid schnell und streng, aber dann setzte sie freundlicher hinzu: »Ich wollte sagen ... also ...«, sie sah Hilfe suchend zu Schlunz rüber, »normalerweise sind unsere Lieder eher, also, wie soll ich sagen ...«

»Langweilig«, half Schlunz ihr weiter.

»Also!«, empörte sie sich sofort und schob ihre Brille auf der Nase nach vorne. »Nein, langweilig wollte ich nicht sagen.« Sie rang nach Worten. »Aber wir haben hier ja sonst nicht so eine umfangreiche ... äh ... Musikkapelle, wie ihr sie ... also ...«

»Wir können unsere Instrumente mitbringen«, unterbrach Niko sie.

»Ach so«, sagte Adelheid. Lukas konnte kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn erkennen. »Nun ja, ich glaube, für einen normalen Kindergottesdienst braucht ihr euch da nicht so abzumühen ...«

»Das macht mir nichts aus«, sagte Niko.

»Mir auch nicht!«, riefen Anna, Guido und Schlunz gleichzeitig.

»Ach so«, sagte Adelheid wieder, schob ihre Brille auf der Nase zurück und keuchte ein wenig. »Macht euch das nichts aus ... tja, also dann ... wie soll ich sagen ...«

»Wir können es doch nächste Woche mal ausprobieren«, schlug Anna vor. »Wenn es gut klappt, dann können wir das immer so machen. Und wenn nicht, dann lassen wir sie zu Hause.«

»Also gut«, keuchte Adelheid, »wenn ihr also meint, also, wenn ihr, also, meint ... also ...«

Da meldete sich Elmar ganz schüchtern: »Also, ich fände das also gut, also.«

Adelheid schob ihre Brille wieder nach vorne und lächelte Elmar an. »Also, du fändest das ... also ... gut ... also ...«

Guido meldete sich: »Muss man hier immer Also sagen, wenn man was sagen will? Also?«

Adelheid öffnete den Mund, aber sie brachte kein Wort heraus. Dann endlich kam: »Also ... also nein.« Sie schob ihre Brille wieder nach oben. »Also, also nein, also überhaupt nicht.«

Nele lachte so laut, dass Lukas bis in den Hals sehen konnte.

Adelheid hatte sich wieder gefasst: »Ich kenne die Lieder von letzter Woche aber überhaupt nicht.«

»Das macht nichts«, sagte Anna. »Wir bringen sie euch bei.«

»Dafür kennen wir ja die Lieder nicht, die ihr hier sonst so singt«, sagte Guido und fügte hinzu: »Also.«

»Also«, kam es von Adelheid, aber Lukas konnte nicht heraushören, ob sie sich geärgert hatte oder ob es eine Zustimmung war. Dann sagte Adelheid noch: »Die nächsten drei Sonntage findet sowieso kein Kindergottesdienst statt. Da sind Herbstferien und ich darf mir selbst den Gottesdienst oben gönnen. Aber nach den Ferien, da freue ich mich, euch alle wieder begrüßen zu dürfen. Und ich bin sehr gespannt, wie das mit den Instrumenten klappt.« Sie hob noch einmal ihren Zeigefinger. »Aber wenn es nur darauf hinausläuft, dass ihr eure Musikprobe auf sonntags vormittags verlegen wollt und wir vor lauter Rockmusik nicht mehr zur biblischen Geschichte kommen, dann sag ich euch gleich, dass ich das nicht mitmache.«

»Keine Sorge«, sagte Guido, »wir passen schon auf.« Und wieder setzte er hinzu: »Also.«

»Also«, antwortete Adelheid und diesmal klang es wie ein Schlusspunkt am Ende eines Vortrags.

In der darauffolgenden Woche besorgte Lukas im Reisebüro Prospekte über die Stadt Darmstadt, aus der offensichtlich der silberne Audi stammte. Lukas legte Schlunz die Prospekte vor und forderte ihn auf, sie durchzublättern. »Schau dir die Bilder genau an«, sagte er, »und überleg, ob du dich an etwas erinnerst.«

Schlunz blätterte den ersten Prospekt durch. Er schien nicht sehr interessiert zu sein. Und anscheinend erkannte er auch nichts. »Und?«, fragte Lukas.

»Ich weiß nicht«, sagte Schlunz. »Kann sein, dass ich die Bilder schon mal gesehen habe. Aber ich muss mir ja auch bei dem Kinderpsychologen andauernd Bilder von Städten und Straßen und Häusern anschauen. Da wird man ja ganz durcheinander.«

»Hier, nimm den zweiten Prospekt.«

Hier stockte Schlunz auf der zweiten Seite. Das Bild zeigte einen gepflasterten Platz mit einer sehr hohen Säule in der Mitte. Ein Mensch aus Stein stand ganz oben auf der Säule. Straßenbahnen fuhren über den Platz, rund um die Säule herum. Menschen standen, gingen, warteten. »Luisenplatz«, las Schlunz leise, fast verschwörerisch die Bildunterschrift vor.

»Kennst du den?«, fragte Lukas sofort.

Schlunz betrachtete weiter das Bild. »Ja, ich glaub schon.«

Lukas merkte, wie seine Hände feucht wurden. »An was erinnerst du dich?«

Schlunz begann zu träumen. »Ich weiß nicht.«

»Sag alles, was dir einfällt.«

»Marius«, hauchte Schlunz und schloss die Augen.

»Okay«, sagte Lukas eindringlich. »Marius. Was noch?«

»Luisen ...« Schlunz stützte seinen Kopf auf seine Hände und hielt die Augen geschlossen.

»Luisenplatz«, ergänzte Lukas. »Gut. Weiter.«

»Lukas, ich kann nicht mehr.«

Enttäuschung machte sich bei Lukas breit. »Kannst du nicht mehr oder willst du nicht mehr?«

»Ich weiß nicht.« Schlunz stand auf und setzte sich auf sein Bett. »Wahrscheinlich beides.«

Lukas setzte sich neben ihn. »Ist es eine gute oder eine schlechte Erinnerung, wenn du an Luisenplatz denkst?«

Schlunz dachte nach. »Mit Marius ist Luisenplatz was Gutes. Ohne Marius nicht.«

Lukas nahm all seinen Mut zusammen. Er hatte sich vorgenommen, mit Schlunz zusammen zu kämpfen. Er wollte nicht mehr der ängstliche Lukas sein. »Sollen wir zusammen hinfahren?«

Schlunz öffnete die Augen und sah Lukas erstaunt an. »Hinfahren? Wohin?«

»Nach Darmstadt.«

»Wie willst du das machen?«

»Weiß ich noch nicht. Du hast doch immer die Einfälle, wie man verrückte Ideen umsetzen kann.«

Schlunz lachte. »Du bist verrückt, Lukas.«

Lukas lachte auch. »Das hast du noch nie zu mir gesagt.« Er merkte, wie stolz er darauf war, dass der verrückte Schlunz den oberbraven Lukas verrückt nannte. Beide lachten.

Dann wurde Schlunz wieder ernst. »Mama und Papa dürfen nichts wissen.«

»Ist gut«, sagte Lukas ernst, aber dann musste er seine Frage doch loswerden: »Aber warum nicht?«

»Die Erwachsenen sind mir zu schnell«, sagte Schlunz. »Wenn ich zu dem Psychologen sage, ich erinnere mich an Darmstadt, schicken sie mich sofort zusammen mit der Polizei nach Darmstadt und dann muss ich da so lange rumlaufen und riechen und gucken, bis mir schlecht wird und ich nur noch heulen muss.« Schlunz zog die Nase hoch und wischte sich über die Augen. »Ich weiß noch, wie sie mich gezwungen haben, im Wald nach meinem Weg zu suchen, den ich zu euch gekommen bin. Ich konnte nicht mehr und hatte nur Angst, aber ich musste immer weitergehen. Die kapieren nicht, wann es zu viel ist.«

»Aber Mama und Papa sind doch nicht so.«

»Wenn ich es denen sage, sagen sie es Frau Rosenbaum und die sagt es der Polizei.«

»Nicht, wenn wir sie bitten, es für sich zu behalten.«

»Lukas«, sagte Schlunz ernst und hielt ihn am Arm fest. »Wir zwei, wir sind Freunde.« Er sah Lukas direkt in die Augen. »Wir halten zusammen. Für immer und ewig. Wir machen das so langsam, dass ich es verkrafte. Wir schaffen es auch ohne Erwachsene. Okay?«

»Okay«, sagte Lukas leise, aber wohl war ihm nicht dabei. »Ich dachte nur, wenn wir einen Erwachsenen an unserer Seite hätten, dann wären wir auch schneller unterwegs. Zum Beispiel in Darmstadt.«

Schlunz nickte lange und gedankenverloren. »Marius«, sagte er dann. »Marius können wir einweihen. Der ist noch nicht so richtig erwachsen. Der ist noch auf unserer Seite. Und er kann trotzdem Auto fahren.«

»Du meinst Tim«, sagte Lukas.

»Von mir aus. Den fragen wir. Der soll uns nach Darmstadt fahren. Vielleicht erinnert er sich dann ja selbst daran, dass er eigentlich Marius ist.«

Und damit beendeten sie das Thema für heute.

5

Endlich Herbstferien! Der September war zu Ende, der Oktober begann mit einem sonnigen Wochenende. Die Blätter an den Bäumen verfärbten sich rot und gelb, Schlunz und Lukas spielten den ganzen Tag Fußball auf dem Platz hinter der Schule.

»Siehst du den Mann auf dem kleinen Moped da hinten?«, fragte Lukas einmal, als er gerade den Ball aus einem Strauch holte.

»Ja«, antwortete Schlunz. »Der steht schon die ganze Zeit da.«

»Was der wohl will?«

»Keine Ahnung. Mit mir hat er nicht gesprochen.«

Lukas hatte kein gutes Gefühl. »Der beobachtet uns«, sagte er.