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Beschreibung

Walter Benjamins Essay über Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften hat wie kaum ein anderer Text im 20. Jahrhundert die Gattung der philosophisch-ästhetischen Literaturinterpretation geprägt. In ihm durchdenkt Benjamin – im Rekurs nicht nur auf Goethe – grundlegende Probleme sowohl der Literaturtheorie, Ästhetik, Ethik und Erkenntnistheorie als auch der Theologie und der Gesellschaftstheorie. Der Band markiert Voraussetzungen von Benjamins Argumentation, schlüsselt in Einzelbeiträgen systematisch Problemkonstellationen auf und untersucht die Denkfiguren des Essays. Er ermöglicht so eine kritische Auseinandersetzung mit einem der faszinierendsten theoretischen Werke der Klassischen Moderne.

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Seitenzahl: 709

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Walter Benjamins Essay über Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften hat wie kaum ein anderer Text im 20. Jahrhundert die Gattung der philosophisch-ästhetischen Literaturinterpretation geprägt. In ihm durchdenkt Benjamin – im Rekurs nicht nur auf Goethe – grundlegende Probleme sowohl der Literaturtheorie, Ästhetik, Ethik und Erkenntnistheorie als auch der Theologie und der Gesellschaftstheorie. Der Band markiert Voraussetzungen von Benjamins Argumentation, schlüsselt in Einzelbeiträgen systematisch Problemkonstellationen auf und untersucht die Denkfiguren des Essays. Er ermöglicht so eine kritische Auseinandersetzung mit einem der faszinierendsten theoretischen Werke der Klassischen Moderne.

Helmut Hühn leitet die Forschungsstelle Europäische Romantik sowie das Schillersche Gartenhaus und die Goethe-Gedenkstätte der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Jan Urbich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Uwe Steiner ist Professor am Department of German Studies der Rice University in Houston (USA). Im Suhrkamp Verlag gab er zuletzt heraus: Walter Benjamin, Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 3: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (2008).

Benjamins Wahlverwandtschaften

Zur Kritik einer programmatischen Interpretation

Herausgegeben von Helmut Hühn, Jan Urbich und Uwe Steiner

Suhrkamp

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2136.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-74048-4

www.suhrkamp.de

Inhalt

Siglenverzeichnis

Helmut Hühn und Jan Urbich Einleitung: Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay

Teil I. Denkfiguren

Uwe Steiner Exemplarische Kritik. Anmerkungen zu Benjamins Kritik der Wahlverwandtschaften

Joachim Jacob Theorie und Begriff des Schönen bei Benjamin

Jan Urbich Das Ausdruckslose. Zur Dialektik des Scheins bei Benjamin

Alexander Honold Benjamins Konzept des Tragischen

Sigrid Weigel Treue, Liebe, Eros. Benjamins Lebenswissenschaft in »Goethes Wahlverwandtschaften«

Tilo Wesche Glück in Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay

Teil II. Einflüsse, Entgegensetzungen und Wechselwirkungen

Peter Fenves Kant in Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay

Astrid Deuber-Mankowsky Explizite und implizite Bezugnahmen auf Hermann Cohens System der Philosophie in Benjamins Wahlverwandtschaften-Aufsatz

Jörg Zimmer »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben«. Erläuterungen zu Benjamin und Bloch

Thomas Isermann Stern der Liebenden. Zum Motivkomplex »George« in Benjamins Essay »Goethes Wahlverwandtschaften«

Gerhard R. Kaiser Die »rechtskräftige Aburteilung und Exekution des Friedrich Gundolf«. Polemik im Wahlverwandtschaften-Essay

Teil III. Benjamin und Goethe

Helmut Hühn »Einsicht in einen Lichtkern des erlösenden Gehalts« Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay im Spiegel der Goethe-Forschung

Uwe Pörksen Goethe als in sich selbst versunkene mythische Natur? Die Wahlverwandtschaften sind ein Experiment vielseitiger Aufklärung

Stephan Pabst Der sowjetische Goethe. Benjamins Enzyklopädie-Artikel »Goethe« im Verhältnis zu seinem Wahlverwandtschaften-Aufsatz

Teil IV. Rezeption

Achim Geisenhanslüke Kritik des Mythos. Benjamins Wahlverwandtschaften-Aufsatz in neueren literatur- und kulturwissenschaftlichen Lektüren

Eckart Goebel Adornos Kästchenwahl

Über die Autorinnen und Autoren

Personenregister

Sachregister

Siglenverzeichnis

Benjamins Texte werden, wenn nicht anders angegeben, zitiert nach: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt/M. 1991, unter Angabe von Band (röm.) und Seitenzahl.

ÄrG Hermann Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls, Hildesheim 2005 (=Werke, Bd. 8 und 9).

ErW Hermann Cohen, Ethik des reinen Willens, 2., revidierte Auflage, Hildesheim 1981 (=Werke, Bd. 7).

GA Ernst Bloch, Gesamtausgabein 16 Bänden. Mit einem Ergänzungsband: Tendenz – Latenz – Utopie, Frankfurt/M. 1978.

GB Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, hg. im Auftrag des Theodor W. Adorno-Archivs von Christoph Gödde und Henri Lonitz, 6 Bde., Frankfurt/M. 1995-2000.

HA Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Erich Trunz, 14 Bde., München 1977.

LrE Hermann Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, 2. Aufl., Hildesheim 1977 (=Werke, Bd. 6).

WAGoethes Werke. Weimarer Ausgabe, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887-1919.

WuN Walter Benjamin, Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, im Auftrag der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv, Frankfurt/M. 2008ff.

WV Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, Bd. 8, hg. von Waltraud Wiethölter, Frankfurt/M. 1994, S.269-530.

Helmut Hühn und Jan UrbichEinleitung: Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay

I. Der Wahlverwandtschaften-Essay im Kontext des philosophischen Goethe-Diskurses zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Von Walter Benjamins Essay »Goethes Wahlverwandtschaften«, 1921/22 verfasst, 1924/25 erschienen, ist seit den 1960er Jahren eine suggestive Kraft auf die Literaturwissenschaft ausgegangen. Der Text hat eine zwiespältige Rezeption erfahren, Verehrung wie Verwerfung gleichermaßen hervorgebracht. Anstößig waren nicht nur die Ausdrucksform (der ›obskure Stil‹) und die dunkle Komplexität der Argumentation. Anstößig war auch das Konzept philosophischer Literaturkritik und Kunsttheorie, das in dem Aufsatz entwickelt wird. »Auch in einem trivialen Sinne ist Benjamin aktuell«, hat Jürgen Habermas Anfang der 1970er Jahre aus Anlass von dessen 80. Geburtstag notiert, »an ihm scheiden sich heute die Geister.« Benjamin gehöre »zu jenen unübersichtlichen Autoren, deren Werk auf eine disparate Wirkungsgeschichte angelegt« sei. In seiner Nachzeichnung der Grundlinien eines Werkes, das »auseinanderstrebende Motive verknüpft, aber nicht eigentlich vereinigt«, besteht die Aktualität Benjamins für Habermas in dessen »konservativ-revolutionäre[r] Hermeneutik, die die Geschichte der Kultur unter dem Aspekt der Rettung für den Umsturz entziffert«.[1]

In der Folge sind der Wahlverwandtschaften-Essay und das Trauerspiel-Buch (1928) als Gründungsdokumente der Kulturwissenschaften entdeckt worden. Gegen die starren akademischen Fächer- und Disziplinengrenzen des 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts und gegen die sinnbewahrende Haltung der Neueren Philologien setzt Benjamin eine sinnerweiternde, disziplinenüberschreitende Diskursivität ins Werk, die über den Text als Gegenstand hinausgeht und an ihm die Formationen von Geschichte und Gesellschaft kritisch zu ergründen sucht. Das Kunstwerk wird als Gegenstandsbereich entdeckt, an dem sich, über die subjektiven Intentionen seines Produzenten hinaus, kritisch-objektiver Sinn fassen lässt: Es wird zum Medium geschichtlicher Selbsterkenntnis.

Die Wirkung des Wahlverwandtschaften-Essays in den 1920er Jahren war vergleichsweise bescheiden. Der Aufsatz gehört zum einen in den Kontext der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die Philologie in der »Epoche der Geistesgeschichte«.[2] Benjamin beklagt 1931 im Kontext seiner Kritik der zeitgenössischen Literaturwissenschaft und -geschichte, verkürzt gesagt, den »geile[n] Drang aufs Große Ganze« und kämpft gegen die »Hydra der Schulästhetik mit ihren sieben Köpfen: Schöpfertum, Einfühlung, Zeitentbundenheit, Nachschöpfung, Miterleben, Illusion und Kunstgenuß« (III, 286). Der Essay gehört zum anderen, wie Karl Robert Mandelkow skizziert hat, in die Geschichte der »genuin philosophischen Annäherung an Goethe«, die die positivistische ›Goethe-Philologie‹ der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinter sich lässt.[3] Es ist noch immer ein Desiderat der Forschung, diese Debatten und ihren Zusammenhang genauer zu untersuchen. Ohne den Aufgaben Genüge tun zu können, mag folgende Skizze zur philosophischen Aneignung Goethes zu Anfang des 20. Jahrhunderts hilfreich sein. Mit der Jahrhundertwende rücken ideen- und problemgeschichtliche Betrachtungsweisen in den Vordergrund des philosophischen Goethe-Diskurses. Der Fokus der Aufmerksamkeit verschiebt sich vom Dichter auf den Denker Goethe und dessen ›Weltansicht‹. In neuer Weise angeeignet wird dabei auch Goethes Morphologie und Metamorphosenlehre, die der Diskussion des Formkonzepts in der Klassischen Moderne wichtige Impulse gibt. In dem Sinne einer Versöhnung von »Freiheit« und »Form« in ihrer wechselseitigen Verbindung wird Goethes »Weltansicht« für Ernst Cassirer zum »ideellen Mittelpunkt« der deutschen Geistesgeschichte, deren übergreifende Einheit er 1916 in seinen Studien von Leibniz bis zu Hegel zu rekonstruieren unternimmt.[4] Die philosophischen Goethe-Lektüren widmen sich ‒ auch an Friedrich Nietzsche anknüpfend[5] ‒ besonders der Verhältnisbestimmung von Kant und Goethe im Horizont der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte wie der europäischen Aufklärung. Die Resultate sind in der Regel, was Goethe betrifft, affirmativ, suchen die Leser doch ‒ mit Hilfe der Interpretation Goethes ‒ Dualismen der Kantischen Philosophie (wie Begriff und Anschauung, Sein und Sollen) und ‒ ein Erbe Hegels ‒ den Gegensatz von Natur und Geist zu überwinden. Goethes Werk gewinnt im Rahmen der kulturellen Selbstreflexion dieser Zeit eine eigene philosophische Dignität.

Benjamins Essay bildet im Zusammenhang dieser philosophischen Aneignungsversuche eine neue Form grundsätzlicher Kritik aus, die nicht allein dem herrschenden Goethe-Bild und Goethe-Kult gilt. Diese Kritik richtet sich auch auf Goethe selbst, auf die »mythischen Lebensformen des Künstlers« (»Abkehr von aller Kritik«, »Idolatrie der Natur«) und die »mythischen Lebensformen im Dasein des Menschen«. Mit Letzteren sind die Gestalten von »Lebens-« und »Todesangst« Goethes (vgl. I.3, 836) gemeint, die herausgestrichen werden. Es ist der Tod, der Benjamin zufolge »die gestaltlose Panarchie des natürlichen Lebens am meisten« bedroht, die ihrerseits »den Bannkreis des Mythos bildet« (I.1, 151). Die Kritik zielt auf die Erkenntnis und damit zugleich die Aufsprengung des Mythischen. Wahrheit und Mythos werden von Benjamin als Verhältnis »gegenseitiger Ausschließung« gedacht: »Es gibt keine Wahrheit, denn es gibt keine Eindeutigkeit und also nicht einmal Irrtum im Mythos« (I.1, 162). Aufgezeigt werden soll, dass das Selbstverständnis Goethes als Künstler und Zeitgenosse ungeklärt ist. Blinde Flecke, mythische Befangenheiten und Restriktionen seines Denkens sollen in seinem Werk aufgewiesen werden. Benjamins Lektüre oszilliert zwischen der Anerkennung der dichterischen Größe Goethes, an der sich die Interpretation abarbeitet, und einer Infragestellung seiner ›Weltanschauung‹ und ihrer Rolle im Formierungsprozess der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Nach seiner materialistisch-marxistischen Wende Ende der 1920er Jahre wird Benjamin folgerichtig die an Goethes Wahlverwandtschaften entwickelten kritischen Begriffe (Mythos, Schein) in Beschreibungskategorien des entfremdeten Bewusstseins in der Epoche des Kapitalismus übersetzen (Ware, Phantasmagorie, Traum).

Von der im weiteren Sinne zeitgenössischen lebensphilosophischen Aneignung Goethes grenzt sich Benjamin ab. Das gilt nicht nur für die Dilthey-[6] und die George-Schule, sondern auch für das Goethe-Buch von Georg Simmel (1913),[7] dem Benjamin noch 1932 in einer Rückschau auf »Hundert Jahre Schrifttum um Goethe« in der Rubrik »Das philosophische Goethebild« seine Anerkennung zollt: Es sei die »spannungsreichste und für den Denker spannendste Darstellung, die Goethe gefunden« habe. Bei Simmel fänden sich »die wertvollsten Hinweise« auf die »dialektische Struktur« einer »zukünftigen Goethe-Darstellung« (II, 339).

Simmel hatte Friedrich Gundolfs Goethe-Buch von 1916, das Benjamin im Essay für seine gesteigerte Polemik auswählt, 1917 wohlwollend rezensiert: Es verbinde in neuer Weise Leben und Werk und mache gerade »das Exemplarische der Goetheschen Existenz für unsere eigene bewusst«.[8] In einem Dankesbrief an Gundolf für die Übersendung der Arbeit heißt es: »Die Formel Ihres Problems scheint mir zu sein: welche Art von Leben ist es jeweils, das sich in dem einzelnen Werk ausdrückt?«[9] Sucht Gundolf mit dem programmatischen Begriff der »Gestalt« nach einer zeitenthobenen Anschauung der Einheit von Goethes Leben, Wesen, Werk und Wirkung,[10] so unternimmt es Simmel, das »Goethesche Leben, diese Rastlosigkeit von Selbstentwicklung und Produktivität, auf die Ebene des zeitlos bedeutsamen Gedankens« zu projizieren: »Dazu müssen freilich die Linien allenthalben über die Grenzen seines Denkens und Schaffens selbst hinaus verlängert werden, weil nur so Art und Weite ihrer Bedeutung ermessen werden kann.«[11] Über Gundolf hinausgehend, betont Simmel die bleibende Herausforderung der kulturellen Auseinandersetzung mit Goethe: »Die Antwort der Kulturwelt auf Goethe« sei »kein einmaliges Dogma, sondern ein unendlicher Prozeß«.[12]

Leben und Werk Goethes will Benjamin anders als Gundolf nicht vermischen, sondern unterscheiden und historisieren. Es sei das proton pseudos »in fast aller neuern Philologie […], von dem Wesen und vom Leben ausgehend die Dichtung als Produkt aus jenen wenn nicht abzuleiten, so doch müßigem Verständnis näher zu bringen«. Benjamin stellt heraus, »daß der einzige rationale Zusammenhang zwischen Schaffendem und Werk in dem Zeugnis besteht, das dieses von jenem ablegt« (I.1, 155). Deswegen sucht er in seiner Auslegung nicht an den »Sinn des Dichters« anzuknüpfen, sondern entschieden an den »seines Werks« (I.1, 140). »Verhängnisvoll« erscheint ihm Gundolfs Interpretation gerade ihrer remythisierenden Tendenzen wegen, weil sie »dasjenige, was [in Goethes Werk] dem Mythos zu entwachsen begonnen, verwirrend in denselben zurückbiegt« (I.1, 163). Die Kritik an Simmels lebensphilosophischer Aneignung Goethes und ihren Idealisierungen entwickelt Benjamin auf dem Weg einer ethisch-theologischen wie zugleich gesellschaftlich-geschichtlichen Reflexion der Lebensphilosophie. Hatte Simmel die Transzendenzbewegung des vitalen von der des geistigen Lebens kategorial abgehoben,[13] so differenziert Benjamin seinerseits im Essay zwischen dem »natürlichen« und dem »übernatürlichen Leben« (I.1, 139).[14] Einspruch erhebt er aber gegen Simmels Interpretation des Goetheschen Wahrheitsbegriffs. Im Rahmen des negativistischen Ansatzes, den Benjamin vertritt, ist Wahrheit »an sich nicht sichtbar« und kann demzufolge auch Schönheit nicht als »die sichtbar gewordene Wahrheit« (I.1, 194f.) verstanden werden. Wichtige Motive der Auseinandersetzung mit Simmel verdankt Benjamin Hermann Cohen, der Kant wie Goethe als Bündnispartner für eine geistige Emanzipation des Menschengeschlechts und für die Vermittlung von deutscher Philosophie und Poesie mit jüdischer Religion in Anspruch genommen hat. Benjamin entwickelt in seinem Essay die Perspektive einer radikalen Kritik bürgerlichen Bewusstseins, die Goethe wie Kant gilt. Es ist die Kritik der historischen Erfahrungs- und Erkenntnisformen, die ihre Basis in der »gesamteuropäische[n] Aufklärung« haben: »Denn genau um die Zeit, da Kants Werk vollendet und die Wegekarte durch den kahlen Wald des Wirklichen entworfen war, begann das Goethesche Suchen nach den Samen ewigen Wachstums« (I.1, 126).

Im Medium dieser doppelten Kritik, die Goethes Werk als defizitäre Antwort auf den Szientismus und Naturalismus aufklärerischer Transzendenzkritik liest, entfaltet Benjamin sein eigenes Denken. Er wählt hierzu ein prominentes Werk aus, das in den philosophischen Aneignungsversuchen Goethes nach der Jahrhundertwende ‒ mit Ausnahme von Cohen[15] ‒ nur eine Nebenrolle spielte: den Roman Die Wahlverwandtschaften von 1809. Kritisch verfährt der Essay zunächst im antiken Sinn, insofern er ›scheidet‹ (krinein), d.h. in der Arbeit am Begriff Unterscheidungen trifft und Unterschiede hervorhebt. Benjamin eignet sich die von Kant inaugurierte Erkenntnis- und Vernunftkritik genauso an wie die hermeneutisch-exegetische Kunst- und Literaturkritik der Romantiker, der sich bereits die Dissertation gewidmet hatte. Er verbindet beide Traditionen im Essay mit einer Zeitdiagnostik und Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft, die die soziale Gewalt mythischer Lebensverhältnisse herausarbeitet. In der Form des Essays kann Benjamin, was für seine Arbeiten insgesamt charakteristisch ist, das Erkenntnissubjekt mit dem Erkenntnisobjekt verschränken. Diese Verschränkung ist zugleich eine historische, die auf die Aktualität der Literaturkritik zielt. »Denn es handelt sich ja nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen«, heißt es 1931, »sondern in der Zeit, da sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt ‒ das ist die unsere – zur Darstellung zu bringen« (III, 290). Der Wahlverwandtschaften-Essay ist ein erster Schritt auf dem Weg der Herausbildung und Realisierung eines solchen Programms von Kritik.[16]

Zu Beginn der Untersuchung markiert der Interpret in einer dichten und bildstarken Erörterung der Methode die grundsätzlich philosophische Ausrichtung seiner Deutungspraxis, der sich (entgegen den Gewohnheiten im Genre der Klassiker-Auslegungen) die philologische Dimension unterordnet: »Die vorliegende Literatur über Dichtungen legt es nahe, Ausführlichkeit in dergleichen Untersuchungen mehr auf Rechnung eines philologischen als eines kritischen Interesses zu setzen« (I.1, 126). Das im Zentrum stehende Werk soll als Medium eines »Gehalts« verstanden werden, der auf dem Weg der Kritik seiner mythischen Momente philosophisch zu artikulieren ist. »Wahrheitsgehalt« und »Sachgehalt« sind die beiden ›Schichten‹ im Bedeutungsgeschehen, mit deren Differenzierung Benjamin den Geltungsanspruch literarischer Werke wie den ihrer philosophischen Kritik zu entfalten sucht: »Die Kritik sucht den Wahrheitsgehalt eines Werkes, der Kommentar seinen Sachgehalt« (I.1, 125). Die Goethe-Arbeit etabliert ein Modell, das Theodor W. Adorno in der Geschichte kritischen Denkens ausgezeichnet hat: »Immanente Kritik – ihr großartigstes Modell, am großartigsten Gegenstand, ist die Benjaminsche der Wahlverwandtschaften – verfolgt die Brüchigkeit kanonischer Gebilde in ihren Wahrheitsgehalt hinein.«[17]

II. Metaphysisch-sprachphilosophische Prämissen der Methode und Theorie der Kritik

Benjamin macht in dem Essay die eigenen Voraussetzungen (und vielfach auch die Quellen, auf die er sich bezieht) nicht hinreichend transparent. Eine Kritik, welche darauf zielt, am Gegenstand der Wahlverwandtschaften-Auslegung Benjamins literaturkritische Vorgehensweise zu verdeutlichen und zugleich auf den Prüfstand zu stellen, muss diese Voraussetzungen zum Thema machen und aufzuhellen versuchen. Methode, Anlage und Theorie der Literaturkritik, wie sie der Essay entwickelt, gründen nicht zuletzt in metaphysischenwie sprachphilosophischen Prämissen. Diese werden als »Überzeugung« in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal vom 13. Januar 1924 ausgesprochen. Hier wendet sich Benjamin strikt gegen die Instrumentalisierung der Sprache:

Jene Überzeugung nämlich, daß jede Wahrheit ihr Haus, ihren angestammten Palast, in der Sprache hat, daß er aus den ältesten λογοι errichtet ist und daß der so gegründeten Wahrheit gegenüber die Einsichten der Einzelwissenschaften subaltern bleiben, solange sie gleichsam nomadisierend, bald hier bald da im Sprachbereiche sich behelfen, gefangen in jener Anschauung vom Zeichencharakter der Sprache, der ihrer Terminologie die verantwortungslose Willkür aufprägt. (I.3, 819; GB II, 409)

Die kritische Erkenntnis des Romans soll sich orientieren an dem Sinngeschehen, das sich in der Sprache vollzieht, und nicht an dem durch die Sprache Gesagten. Mit der Differenz von ›in der‹ und ›durch die‹ Sprache ist eine Unterscheidung getroffen, die zurückverweist auf Benjamins zu Lebzeiten unveröffentlichten Sprachaufsatz »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« (1916), in welchem es heißt: Die deutsche Sprache sei »keineswegs der Ausdruck für alles, was wir durch sie – vermeintlich – ausdrücken können, sondern sie ist der unmittelbare Ausdruck dessen, was sich in ihr mitteilt« (II.1, 141). Im Zusammenhang dieser frühen Überlegungen betont Benjamin, es sei »fundamental zu wissen«, dass das geistige Wesen der Sprache »sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache« (II.1, 142). Die instrumentelle, zeichenhafte Funktion von Sprache als »Mitteilung« (II.1, 154) wird herabgesetzt gegenüber einer nichtintentionalen Sprachfunktion, in der sich das Wesen der ›Sache selbst‹ als sprachliches ›zeigen‹ soll. Wahrheit wird demnach zu entkoppeln versucht von der historischen Relativität des ›Meinens‹ (»Geschwätz«, II.1, 154), d.h. von der ideologischen Gewalt von historischen Diskursmächten, und zumindest partiell als ein sich gegen und jenseits von Subjektivität vollziehendes sprachliches Offenbarungsgeschehen verstanden (vgl. II.1, 152-157). Im Zentrum der sprachphilosophischen Unterscheidungen steht dabei Benjamins Theologie des »Namens«: »Der Name ist dasjenige, durch das sich nichts mehr, und in dem die Sprache selbst und absolut sich mitteilt. Im Namen ist das geistige Wesen, das sich mitteilt, die Sprache« (II.1, 144). Der Name als Ausdruck des Wahren in der Sprache kann als das »prägende [sprachliche] ›Prinzip‹« bzw. die »innere [sprachliche] Form« einer Sache verstanden werden: In der Namensgebung soll sich zugleich die »›intensive Totalität‹ der Sprache als solcher« manifestieren.[18] Ebendieser Grund des Wahren im Sprechen ist es, den Benjamin in seiner Kritik der Wahlverwandtschaften freizulegen sucht, gegen das Meinen und Wollen des Autors Goethe.

Die Benjamins Denken fundierende Sprachphilosophie, wie sie im Sprachaufsatz zum Ausdruck kommt, war und ist umstritten. Produktive Bezugnahmen auf sie sind deshalb in der Forschung bisher nur stark verkürzend oder transformativ möglich gewesen, vor allem indem ihre Grundunterscheidung auf eine Theorie des Zusammenhangs von Darstellung und Wissen übertragen worden ist. Benjamins Position erinnert in gewisser Hinsicht an die Ludwig Wittgensteins, der im Tractatus von 1921 eine symbolische Ausdrucksdimension der Sprache beschreibt, die in funktionaler Hinsicht Benjamins Differenz von »in« und »durch« die Sprache artikuliert und diesen Unterschied als »Sich-Zeigen« versus »Etwas-Sagen« expliziert.[19] Im Wahlverwandtschaften-Essay wird der Unterschied von »in« und »durch« die Sprache, von Name und Aussage, auf denjenigen von ästhetischer und nichtästhetischer Darstellung projiziert.[20] Benjamin selbst legitimiert eine solche ›Umschreibung‹ seiner sprachtheologischen Kategorien in darstellungstheoretische. Die theologische Orientierung bleibt aber in der Kritik entscheidend. Dem »Mythischen« als der unerlösten Welt, in der es keine Wahrheit gibt, stehen der eine, radikal transzendente »Gott und seine Offenbarung als Mächte der Erlösung und des Wahren gegenüber«.[21]

In der »Erkenntniskritischen Vorrede« erreicht die sprachphilosophisch gewendete Erkenntnistheorie ihre umfassendste Beschreibung, ohne dass sich gegenüber den Einleitungspassagen zum Wahlverwandtschaften-Essay oder dem Sprachaufsatz Wesentliches geändert hätte. Benjamin stellt der nichtintentionalen, sich in Sprache vollziehenden und damit ›konfigurativ‹ darstellenden »Wahrheit« des Namens die instrumentelle, zeichenhafte, satzförmige »Erkenntnis« entgegen (I.1, 209f., 215f.): Dieser Unterscheidung korrespondieren grundsätzlich die Differenzen von Wahrheitsgehalt/Sachgehalt und Kritik/Kommentar. Seine frühen sprachphilosophischen, methodologischen und epistemologischen Überlegungen entwickeln sich somit auf der Basis einer nur leicht variierten festen Grundunterscheidung (Wahrheitsgehalt/Sachgehalt, Name/Mitteilung, Wahrheit/Erkenntnis). Die Lektüre der Wahlverwandtschaften überträgt diese Prämissen auf das Feld der Kunsttheorie und der Kunstkritik, indem sie zu zeigen versucht, dass das Kunstwerk als Raum eines Wahrheitsgeschehens verstanden werden kann, das die einem bestimmten historischen Bewusstseinsstand und seinen ›Verblendungen‹ verpflichteten Intentionen des Autors überschreitet. Sprachlich verfasste Kunstwerke manifestieren ihren Sinn als den komplexen Zusammenhang von Bedeutungen in der zeitlichen Entfaltung eines Werkganzen und im Zusammenspiel aller seiner formalen und inhaltlichen Dimensionen als ein irreduzibles Geschehen. Dichterische Kunstwerke sind deshalb, so weiß es die ästhetische und hermeneutische Theorie, nicht reduzierbar auf das durch sie Gesagte. Der Sinn von Kunstwerken ist in den komplexen Zusammenhang ihrer Form eingebunden und muss durch das Verfahren der Kritik erst eigentlich freigelegt werden. So entsteht aber das Problem, in welcher Weise dieser Sinn zu explizieren sei, wenn er sich der einfachen Übersetzbarkeit in die Form von deutenden Aussagen entzieht, und welche Ansprüche die Kritik gegenüber dem Werk behaupten kann. Demgemäß heißt es bei Benjamin:

Also wird allem Schönen gegenüber die Idee der Enthüllung zu der der Unenthüllbarkeit. Sie ist die Idee der Kunstkritik. Die Kunstkritik hat nicht die Hülle zu heben, vielmehr durch deren genaueste Erkenntnis als Hülle erst zur wahren Anschauung des Schönen sich zu erheben […]: zur Anschauung des Schönen als Geheimnis. Niemals noch wurde ein wahres Kunstwerk erfaßt, denn wo es unausweichlich als Geheimnis sich darstellte.« (I.1, 195)

Bis hin zu Adornos Ästhetischer Theorie arbeitet sich die Kunstphilosophie der Kritischen Theorie an dem Problem ab, wie der berechtigte Anspruch verstehender propositionaler Explikation von ästhetischem Sinn mit der Gewahrung von dessen eigensinniger Entfaltung zusammenzudenken sei: »Deshalb bedarf Kunst der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt.«[22]

Eine zweite, ebenso notwendige Seite der Anlage und Theorie der Kritik kommt in Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay hinzu: die »kritische Gewalt« des »Ausdruckslosen« (I.1, 181). Diese übt weit weniger Zurückhaltung hinsichtlich der Integrität des Darstellungszusammenhangs: »Dieses [sc. das Ausdruckslose] erst vollendet das Werk, welches es zum Stückwerk zerschlägt, zum Fragmente der wahren Welt, zum Torso eines Symbols« (I.1, 181). Als »erhabne Gewalt des Wahren« und als »moralisches Wort« ist das Ausdruckslose »die kritische Gewalt, welche Schein vom Wesen in der Kunst zwar zu trennen nicht vermag, aber ihnen verwehrt, sich zu mischen« (I.1, 181). Die idealistische Kritik des (schönen) Scheins beerbend, genügt es Benjamin nicht, den integralen, formensprachlichen und in dieser Hinsicht »schönen« Darstellungszusammenhang des Werkes bloß in seiner Geformtheit deutend so zu beschreiben, dass sich ihm gegenüber alle mitteilbaren Sinngehalte als inadäquat erweisen: Zu groß scheint ihm die Gefahr, der trügerischen Seite des Scheins als Verklärung und Verbergung, d.h. als Mythos und Ideologie, zu unterliegen. Benjamin versteht im Rahmen seiner Kunsttheorie das Werk als Formung eines letztlich unbewältigten und regellosen »Chaos«: Diesem Chaos »jedoch wird es nicht, wie nach dem Idealismus der Emanationslehre die geschaffene Welt es tut, sich entringen. Künstlerisches Schaffen ›macht‹ nichts aus dem Chaos, durchdringt es nicht; […] Form jedoch verzaubert es auf einen Augenblick zur Welt« (I.1, 180f.). In paradoxer Wendung kann das Wahrheitsgeschehen des Romans nur durch den extremen Akt einer Zerschlagung der Form bewusst gemacht und damit, wie Benjamin sagt, vor seiner eigenen formgewordenen mythischen Energie ›gerettet‹ werden. Dem Wahrheitsgehalt korrespondiert gerade keine Form. Deshalb ist er an den Einspruch des im Werk »Ausdruckslosen« gebunden. Das Werk zu »zerschlagen« heißt hier, dessen Wahrheit gegen seine Unwahrheit, seine mythischen Momente zur Geltung zu bringen. Der Kritiker ist bestrebt, die immanente Reflexion des Werkes in seinem »Leben« und »Fortleben« (IV, 170),[23] in seinen Metamorphosen als ein dem Autor- und Epochenbewusstsein überlegenes Wissen von seinen Rändern, beispielsweise von unscheinbaren Ausdrücken oder sonst kaum verwendeten Worten, her aufzuspüren und zu entwickeln; oder gar im Zusammenhang des Werkes Ungesagtes als dessen Grund freizulegen. Eben damit aber, so versucht Benjamin sein Verfahren zu rechtfertigen, bleibe die Kritik gerade der »Idee« (I.1, 87-110, 207-238) treu, die als Wahrheitsgeschehen im Werk aktiv und in der ambivalenten Integrität seiner Darstellung (»Schönheit« und »Schein«) zugleich enthalten und verborgen sei. Die Kritik ›vollendet‹ das Werk, indem sie ihm mit dem Ziel widerspricht, damit zugleich dem ›wahren Sprachgeist‹ des Werkes Genüge zu tun. Der damit verbundene ›Auftrag‹ der Überschreitung von manifesten Werkzusammenhängen ist das problematische Kernstück von Benjamins Kritikbegriff. Die Kritik ermächtigt sich zur deutenden ›Verbesserung‹ des Sinnhorizontes und will sich zugleich durch das Leben des Werkes selbst legitimiert finden. Noch die Überschreitung des Werkes soll in ihm auf verborgene Weise angelegt sein: »Die wahre Kritik geht nicht wider ihren Gegenstand: sie ist wie ein chemischer Stoff[,] der einen anderen nur in dem Sinne angreift, daß er ihn zerlegend dessen innere Natur enthüllt, nicht ihn zerstört«, heißt es in einem Brief an Herbert Blumenthal von Ende 1916 (GB I, 349). Benjamin nimmt die hermeneutische Unterscheidung von »Buchstabe« und »Geist« auf, radikalisiert sie in seiner interpretatorischen Praxis wie in deren geschichtsphilosophischer Legitimation. Intendiert wird, auch latente Sinndimensionen des Werkes, welche seinem buchstäblichen Verständnis widersprechen oder es historisch überschreiten, in der Interpretation als dem Werk zugehörige produktiv zu machen. Zum Problem wird jedoch, wie deren Explikation ‒ jenseits autoritärer Gesten ‒ methodisch und epistemisch gesichert werden kann. Mit seinem Konzept des »Ausdruckslosen« entwickelt Benjamin im Wahlverwandtschaften-Essay eine charakteristische Theoretisierung seiner eigenen Deutungspraxis, die selbst in hohem Maße erklärungs- und begründungsbedürftig bleibt.

III. Das »Leben« des Kunstwerks und die Temporalität des »Wahrheitsgehaltes«

Sach- und Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks sind unauflöslich miteinander verbunden, damit zugleich auch Kommentar und Kritik als die Formen ihrer Erschließung. Der Vollzug der Geschichte arbeitet der Kritik vor, die den Wahrheitsgehalt des Werkes auseinanderzusetzen hat: Der geschichtliche Abstand unterminiert die Wirksamkeit des schönen Scheins und der scheinhaften Schönheit. An den Sachgehalt gebunden, ist der Wahrheitsgehalt nicht in derselben Weise von der sich verändernden geschichtlichen Aktualität betroffen wie die Realien, deren Bedeutung der Sachgehalt repräsentiert. Von deren »Grunde« hebt sich laut Benjamin »das Ewige des Werkes« (I.1, 126) ab. Der Wahrheitsgehalt transzendiert die historische Faktizität der Gegenstände, durch die er sich darstellt. Um seine spezifische Temporalität genauer zu erläutern, führt Benjamin in der »Erkenntniskritische[n] Vorrede« zum Trauerspiel-Buch, Anfang 1925 verfasst, eine Unterscheidung von »innen« und »außen« ein:

[D]as in der Idee des Ursprungs Ergriffene hat Geschichte nur noch als einen Gehalt, nicht mehr als ein Geschehn, von dem es betroffen würde. Innen erst kennt es Geschichte, und zwar nicht mehr im uferlosen, sondern in dem aufs wesenhafte Sein bezogenen Sinne, der sie als dessen Vor- und Nachgeschichte zu kennzeichnen gestattet. (I.1, 227)

Die Aktualität des Wahrheitsgehaltes ist nach Benjamin nicht an die Zeit seines Entstehens gebunden und vergeht nicht mit dieser. Vielmehr werde das historische Geschehen in ihm philosophischer Gehalt, d.h. erkennbar auf die bewegenden Prinzipien und Gründe hin. Was die Kritik als wahr erweise, sei die gültige Erfassung geschichtlicher Prozesse und Ereignisse, denen das Werk entspringt. Dieser Gehalt verberge sich hinter dem Sachgehalt wie die Ebenen des übertragenen Sinns in der klassischen Allegorese hinter dem buchstäblichen.

Von hier aus wird erklärbar, warum gerade das Kunstwerk, wie es der Wahlverwandtschaften-Essay vorführt, ausgezeichneter Ort einer solchen Wahrheit sein soll: »Vielmehr gehört gerade die Historizität zu seiner [sc. des Kunstwerks] Besonderheit, so daß einzig die Betrachtungsweise dem Kunstwerk ganz gerecht wird, welche die Geschichte im Kunstwerk, nicht aber die, die das Kunstwerk in der Geschichte zu sehen erlaubt.«[24] Kunstwerken eignet insofern ein »monarchischer Zug«,[25] als die Potentiale ihres Sinngeschehens nicht darin angemessen ausgeschöpft werden, dass man sie nur als Produkte und Abbilder ihrer historischen (gattungsgeschichtlichen, sozialen, weltanschaulichen etc.) Bedingungen begreift. Kunstwerke, so die Hoffnung Benjamins, widersetzen sich zumindest in gewissen Resten der Determination durch historische Mächte und partikuläre individuelle wie kollektive Intentionen. In ihnen kommt Geschichte zur Besinnung: Sie treten aus der Unterwerfung durch katastrophische Mächte historischen Verlaufs heraus, um diesen mit sittlicher Energie ein Bewusstsein anderer Verhältnisse entgegenzustellen. Eben darauf zielt Benjamins Kritik des Romans. In diesem Sinne sucht er in ihm Goethes Ringen um die Loslösung aus dem Bannkreis mythischen Denkens freizulegen und damit zugleich eine bestimmte Signatur des bürgerlichen Zeitalters im Roman zu reflektieren.

Benjamin, und im Anschluss an ihn Adorno, teilen Hegels Idee, dass die Wahrheit einen »Zeitkern«[26] habe, selbst also ein historisches Geschehen und nicht im außer- oder überzeitlichen Sinne ›ewig‹ sei, ohne sie doch damit zugleich ihrer Geltungsansprüche berauben zu wollen.[27] Das Kunstwerk ist in seinen Metamorphosen verbunden mit den geschichtlichen Augenblicken seiner Produktion und seiner Rezeption;[28] das heißt für Benjamin aber nicht, dass dies seine Ansprüche auf eine Erschließung historischer Phänomene desavouiert. Die Kritik sucht den Wahrheitsgehalt als ein Wissen im Werk zu verankern, das aus der Geschichte erwächst und auch durch ihren weiteren Gang nicht einfach zunichtegemacht wird, sondern in seiner ihm eigentümlichen Erschließungskraft mitbedacht werden muss.

Kunstwerke bedürfen des Kommentars und der Kritik um ihres eigenen »Lebens« willen. Das »Leben« des Werkes ist die Entfaltung seines Wahrheitsgehalts. Diese wird eng an eine »Filterung«[29] desselben durch zeitliche Entwicklung gebunden. Das Fortschreiten der geschichtlichen Zeit arbeitet der Entbindung der Wahrheit des Werkes vor. Auf diese Weise begründet Benjamin nicht nur die Annahme, es gebe für die Aufdeckung des Wahrheitsgeschehens zeitliche Bedingungen, die mit der konstitutiven Rolle historischer Nachträglichkeit verbunden sind. Zugleich macht die Rede vom »wachsende[n] Werk als […] flammenden Scheiterhaufen« (I.1, 126) auch klar, dass die mortifikatorische Arbeit der Kritik und ihre Hoheitsansprüche gegenüber dem Werk im zeitlichen Vollzug des geschichtlichen Lebens gründen. Die Kritik ›vollstreckt‹ so das lebendige Prinzip der Geschichte am Werk, indem es seine Wahrheit, die es selbst nur negativ darstellen kann, zur Sprache bringt.

Benjamins Methodologie der Kritik und seine Theorie des Wahrheitsgehalts, wie er sie im Wahlverwandtschaften-Essay entwirft, bewegen sich bewusst auf der Grenze zwischen philologischer Treue zum Gegenstand und philosophischer Transformation seiner Gehalte. Das Modell seines Verfahrens übernimmt Benjamin ‒ trotz aller Differenzen zu dieser – von der romantischen Idee der Kritik: »Vielmehr faßt die Beobachtung nur die aufkeimende Selbsterkenntnis im Gegenstand ins Auge, oder vielmehr, sie, die Beobachtung ist das aufkeimende Gegenstandsbewußtsein selbst« (I.1, 61). Deshalb gilt:

Kritik ist also gleichsam ein Experiment am Kunstwerk, durch welches dessen Reflexion wachgerufen, durch das es zum Bewußtsein und zur Erkenntnis seiner selbst gebracht wird. […] Das Subjekt der Reflexion ist im Grunde das Kunstgebilde selbst, und das Experiment besteht nicht in der Reflexion über ein Gebilde, […] sondern in der Entfaltung der Reflexion, d.h. für den Romantiker: des Geistes, in einem Gebilde. (I.1, 65f.)

Benjamin versteht Kritik im Wahlverwandtschaften-Essay nicht mehr allein romantisch als bloße Vollendung des Werks gemäß seinen immanenten Qualitäten und Gehalten aus diesem heraus (vgl. GB II, 393[30]), sondern auch als Bewegung äußeren Einspruchs gegen das Werk – aber in seinem Geist. Kritik, die immanent ansetzt, muss, um »diese Immanenz zu entbinden«,[31] zugleich schon je über sie hinaus sein. Bestimmte hermeneutische Maßstäbe der Werktreue und des Gegenstandsbezuges werden aufgelöst und einem übergreifenden Erkenntnisinteresse untergeordnet. Das Vorgehen, »am Gebilde noch durch Abbruch zu bauen« (I.1, 87), das Werk gleichsam im Werk zu zerschlagen,[32] gerät dabei in die Gefahr, seine Gegenstände für die Durchsetzung eigener Zwecke im politischen und geschichtsphilosophischen Kampf zu instrumentalisieren, ihnen im Drang der Aktualisierung etwas zu unterlegen, statt sie auszulegen.

IV. Zu den Beiträgen

Eine kritische Rekonstruktion und Darstellung der Wahlverwandtschaften-Kritik Benjamins ist das Ziel des vorliegenden Bandes. Im Rahmen einer produktiven Auseinandersetzung sollen Prämissen, die Benjamin seiner Lektüre von Goethes Wahlverwandtschaftenzugrunde legt, erfasst, in Bezug zu zeitgenössischen Denkansätzen gesetzt und geprüft werden. Im Streben nach Distanz und Klarheit halten die Beiträge an der Erschließung des von Benjamin Gedachten auch dort fest, wo dieses nur sehr bedingt als angemessene Interpretation von Goethes Roman gelten kann. Untersucht werden, gerade auch im Zusammenspiel der einzelnen Aufsätze, die methodologischen, ontologischen, literaturtheoretischen, literatur- und kulturgeschichtlichen sowie metaphysischen Voraussetzungen von Benjamins Argumentation. Herausgearbeitet werden dabei auch unbewusste Affinitäten zu Autoren, Denktraditionen und Begriffsgeschichten, die Benjamins Gedankenführung leiten. Was der Interpret anhand von Goethes Roman unternimmt, nämlich ›Wahlverwandtschaften‹ im Denken des Autors aufzuzeigen, wird hier für Benjamin und seine eigenen Affinitäten versucht, die oft erst in der mikrologischen Untersuchung des Essays sichtbar werden. Ermöglicht werden soll so eine kritische Auseinandersetzung mit einem der faszinierendsten theoretischen Werke der Klassischen Moderne, dessen ›Anziehungskraft‹ gerade auch in den Problemen liegt, die es als ungelöste in sich trägt.

Die Beiträge gliedern sich in vier Abteilungen: Systematisch aufzuschlüsseln sind zunächst grundlegende Figurationen und Konfigurationen des Essays. Benjamins Text ist zwar systematisch, aber nicht eigentlich begrifflich aufgebaut; er greift zwar Begriffstraditionen auf, ändert aber die tradierten Bedeutungen im Gebrauch oft radikal. Er kreist um zentrale ›Denkfiguren‹, d.h. Sinngebungs- und Begründungsmuster, die sich im Vollzug der Argumentation entfalten und doch zugleich verborgen bleiben. Um ihre Validität prüfen zu können, müssen sie also von der Kritik erst deutlich gemacht werden (Teil I: Denkfiguren). Genauer zu analysieren sind auch die intellektuellen Konstellationen, in denen der Aufsatz entsteht. Zu verdeutlichen ist, an welchen philosophischen Positionen sich der Text kritisch und zuweilen auch polemisch abarbeitet, um zu einer eigenen zu finden. Einbezogen werden auch Kontexte, die nur implizit den Gang der Argumentation leiten (Teil II: Einflüsse, Entgegensetzungen und Wechselwirkungen). Zu fokussieren ist die zentrale Auseinandersetzung mit Goethe und seinem Roman besonders im Frühwerk, aber auch über dieses hinaus (Teil III: Benjamin und Goethe). Und zu reflektieren ist schließlich die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Essays besonders in der Literaturwissenschaft und Philosophie (Teil IV: Rezeption und Wirkung).

Teil I: Benjamin bezeichnet seinen Aufsatz als eine »exemplarische Kritik« (GB II, 208). Exemplarisch ist, wie Uwe Steiner in seinem Beitrag verdeutlicht, schon der Gegenstand der Kritik, der ›klassische Roman‹. Exemplarisch ist auch die theoretische Selbstreflexion der Kritik, die sich ‒ in einer polemischen Wendung gegen die Romantik ‒ den romantischen Grundsatz der Immanenz anzueignen sucht. Schließlich ist Benjamins Kritik der Wahlverwandtschaften exemplarisch auch insofern, als sie nach Maßgabe der Lehre vom »Leben« und »Fortleben der Werke« die Perspektive auf den fundamentalen Wandel der Kunst eröffnet, den die späteren Schriften vor allem mit Blick auf die Rolle der Technik ins Zentrum rücken. Nicht zufällig hat sich Benjamin, wie Steiner herausarbeitet, der interne Zusammenhang seines Werkes immer wieder im Zeichen der zentralen Begriffe der Naturbetrachtung Goethes in einer produktiven Adaption der Idee des Urphänomens und der Metamorphose erschlossen.

Der Beitrag von Joachim Jacob verfolgt die zentrale Bedeutung, die der Begriff des Schönen in Benjamins Wahlverwandtschaften-Aufsatz und dessen Werkkontexten von der Dissertation über die romantische Kunstkritik bis zur »Erkenntniskritischen Vorrede« zum Ursprung des deutschen Trauerspiels annimmt. Es zeigt sich, dass Benjamin das Schöne, ohne es zu verabschieden, vor allem als ein Problem wahrnimmt, wie es für die ästhetische Reflexion der Moderne im Ganzen charakteristisch sei. Die Problematik liegt für ihn vor allem im Scheinhaften und in der Sprachlosigkeit des Schönen. Benjamin sieht in den verschiedenen Phasen seiner Auseinandersetzung das Schöne immer als ›in Bewegung‹ begriffen: als eine messianische Figur, als eine Bewegung der Erfüllung, aber auch als eine Figur des Entzugs und des Geheimnisses.

Das »Ausdruckslose« stellt eine begriffliche Schaltstelle der Grundoppositionen dar, die in Benjamins Philosophie eine wichtige Rolle spielen: Schönheit – Schein, Wesen – Schönheit, Idee – Darstellung, Kritik – Werk. Jan Urbichs Beitrag zeigt in einem ›close reading‹ der philosophischen Passagen des Wahlverwandtschaften-Essays auf, wie dieses Konzept begriffslogisch funktioniert und in welchen verdeckten und offenen Traditionsbezügen dieser Begriff steht. Sichtbar wird, dass das Ausdruckslose den Oppositionen entgeht, die es regulieren soll, indem es jeweils deren Grenzbegriff bildet. Das Ausdruckslose ermöglicht es, die für Benjamin so charakteristischen begrifflichen Ambivalenzen sowohl in ihren polaren Extremen als auch in deren Übergängigkeit ineinander zu beschreiben: Es führt dies schon in der eigenen Bezeichnung vor, indem es die Verneinung des Ausdrucks als Ausdruck zu sein hat. Zugleich zeigt der Aufsatz, dass Benjamin keine einheitliche Begriffsbildung des Ausdruckslosen entwirft, sondern dieses Konzept in verschiedenen Zusammenhängen und Texten mit teilweise weitreichenden Änderungen versehen wird.

Mit dem komplexen Begriffszusammenhang von Tragödie, Tragik und Tragischem hatte sich Benjamin etwa seit 1915 intensiv beschäftigt. Alexander Honold rekonstruiert die Bedeutung dieser Konzepte für die Studie über Goethes Wahlverwandtschaften. Mythische Vorwelt, dämonische Bestimmungsmächte, die unheilvoll magischen Anziehungskräfte zwischen den Hauptfiguren, ihre mit erzählerischer Unerbittlichkeit bis zum Ende verfolgte Todesverfallenheit: All dies, was der Essay aus Goethes Roman prägnant herausschält, ist zwar durchwirkt von Elementen des Tragischen, und doch insistiert Benjamin auf der größtmöglichen Distanz zu diesem Deutungsmuster. Tragik ist für ihn ein historisch und gattungspoetisch zu bestimmender Modus dramatischer Verknüpfung sprachlich zum Ausdruck gebrachter Handlungen. Die Inanspruchnahme numinoser Mächte sowohl durch die Figuren selbst wie durch die späteren Interpreten kaschiert, dass wirkliche Entscheidungen hier niemals von den Menschen getroffen, sondern dem Spiel der Umstände überantwortet werden. Dass die vier Hauptfiguren sich nicht entscheiden können, räumt dem Zufall in ihrem Leben umso größere Macht ein.

Benjamin unterscheidet ‒ grundlegend für den Essay ‒ die Sphären des »natürlichen« und des »übernatürlichen« Lebens. ›Treue‹ bezeichnet das göttliche Moment der Ehe, d.h. ihren »Logos« (I.1, 163). Sigrid Weigel untersucht die Konzeption der Treue vor dem Hintergrund von Benjamins Kritik an dem zweideutigen Gesetzesbegriff in Immanuel Kants Ableitung menschlicher Gesetze aus Gesetzen der Natur und Benjamins Auseinandersetzung mit der Dialektik von Lebens- und Todestrieb in Sigmund Freuds Jenseits des Lustprinzips. Benjamins Begründungen der Ehe aus der Entscheidung zur »übernatürlichen Dauer« der Liebe und seine Bestimmung des Eros für die Überschreitung »natürlicher Unvollkommenheit« der Liebe werden in den Kontext seines Lebensbegriffs gestellt.

Die Tiefenschicht von Goethes Roman erschließt sich laut Benjamin erst in einer Perspektive, unter der Form und Inhalt zur Deckung kommen. Der ästhetische Gehalt der Wahlverwandtschaften betrifft, wie Tilo Wesche darlegt, die Einheit von Moral und Glück. Dass Moral und Glück zum Einklang gelangen, setze jedoch die Anerkennung ihrer grundsätzlichen Antinomie voraus. Gelingendes Leben erfülle sich als Zweck erst dann, wenn das Wohlbefinden anderer als Zweck geachtet wird. Dieser Antinomie, so Wesche, werde durch eine narrative Form Rechnung getragen, die sich, im Sinne eines ästhetischen Negativismus, auf eine Darstellung des Scheiterns beschränkt. Solches Scheitern werde von den Romanfiguren auf je eigene Weise verkörpert; ihnen misslinge es aus jeweils anderen Gründen, Moral und Glück auszubalancieren. Insbesondere dem Erzählen verfehlten Lebensglücks wächst nach Benjamin die Erschließungskraft für ein Glück zu, das hält, was es verspricht, weil es die Achtung anderer einbezieht.

Teil II: Benjamins Essay beginnt mit einer Analyse der kantischen Lehre des Eherechts aus der Metaphysik der Sitten, wendet sich dem flüchtigen Hinweis auf die Theorie der Schönheit aus der Kritik der Urteilskraft zu und schließt mit einer Überlegung im Horizont der berühmten kantischen Frage: »Was darf ich hoffen?« Peter Fenves zeigt, wie sich Benjamin im Wahlverwandtschaften-Essay durchgängig mit Immanuel Kant auseinandersetzt. Fenves untersucht, wie Benjamin in Zwiesprache mit Kant die Idee der Kritik ausfindig macht, wie er die kantische Unterscheidung zwischen »Phänomenon« und »Noumenon« in diejenige zwischen »Sachgehalt« und »Wahrheitsgehalt« umbildet und wie er die kantische Erkundung einer rechtfertigbaren Hoffnung des einzelnen Subjekts transformiert in die Frage, worauf »wir« nicht nur hoffen dürfen, sondern müssen.

Dreimal nennt Benjamin den 1918 verstorbenen Philosophen Hermann Cohen und dessen Schriften zur Ästhetik explizit in seinem Wahlverwandtschaften-Essay. Nicht weniger relevant sind jedoch, wie Astrid Deuber-Mankowsky zeigt, die impliziten Bezugnahmen auf Cohens Ethik in der Interpretation von Mythos, Schicksal und Schuld. Konstitutiv für die Neubestimmung des Verhältnisses von Kunst, Philosophie und Kritik ist schließlich die kritische Absetzung von Cohens Logik des Ursprungs. Im Ganzen zeigen die Bezugnahmen auf Hermann Cohens dreiteiliges System, wie grundsätzlich Benjamins Begriff der Kritik geprägt ist von genuin philosophischen Fragen.

Jörg Zimmer verdeutlicht in seinem Beitrag, in welcher Weise Benjamins Texte immer wieder auf ihre verborgenen Quellen und Bezüge hin lesbar gemacht werden müssen, um den integralen Zusammenhang ihres Gehalts zu erfassen: das heißt, wie ihre Begriffe aus Lektüren entspringen, deren Autoren nicht namhaft gemacht werden, von denen sie sich damit zugleich freizumachen suchen. So sind im Wahlverwandtschaften-Essay Bezüge auf Ernst Bloch und seinen Begriff der Hoffnung zu finden, auch wenn der Name Bloch nirgends fällt und im Text auch nicht auf ihn angespielt wird. Benjamins intensive Beschäftigung mit Bloch, vor allem mit dem Geist der Utopie, dessen Rezension durch Benjamin leider verloren gegangen ist, führt dazu, dass Hoffnung im Wahlverwandtschaften-Essay, im bestimmten Gegensatz zu Bloch, negativ, intentionslos und paradox gedacht wird. Ihr konstitutiver Bezug auf Vergeblichkeit als ihren Modus und die Hoffnungslosen als ihr Subjekt zieht bei Benjamin einen Verzicht auf Utopie als praxisleitende Norm nach sich, ohne damit die Treue zum Besseren und die Rettung des Vergangenen preiszugeben. Benjamin findet dieses ›Gegenwort‹ der Hoffnung gerade in der Hoffnungslosigkeit des Geschehens der Wahlverwandtschaften.

Der Beitrag von Thomas Isermann untersucht den Motivkomplex »George« in Benjamins Essay. Isermann profiliert die These, dass Benjamins Verhältnis zum Werk Stefan Georges sich positiver gestaltet als das zu herausragenden Vertretern des George-Kreises, wie etwa Friedrich Gundolf. George wird an markanten Stellen des Essays zitiert. Die sowohl kontextuelle wie persönliche Verflechtung der Beziehungen Benjamins zu Gundolf, Benjamins zu George und Georges zu Gundolf weist Parallelen auf, die ihre Linien im Essay über die Wahlverwandtschaften einzeichnen. Gerade der Schluss des Essays lasse, so Isermann, philologische Ergebnisse Benjaminscher Interpretation in einem autobiographischen Licht erkennen.

Im kompositorischen Zentrum des Wahlverwandtschaften-Essays steht Benjamins höhnische Polemik gegen Friedrich Gundolfs Goethe. Gerhard R. Kaiser stellt sie in drei größere Zusammenhänge: das aus der Frühromantik wie aus jüdischer Tradition genährte Verständnis von Kritik, die idiosynkratische Reaktion auf harmonisierende und monumentalisierende Tendenzen Georges und seines Kreises, die Zurückweisung der Goethe zu Unrecht unterstellten Mythisierung von Gesellschaft als Natur. Besonders mit seiner sprachkritischen Schärfe sucht Benjamin der »Invektive gegen die herrschende Gesellschaft« (III, 361) gerecht zu werden, die er an anderer Stelle vom Polemiker forderte.

Teil III: Helmut Hühn entwickelt ein Modell der Kritik, das sich auf Benjamins theoretische Vorgaben im Detail einlässt, sie in der interpretatorischen Praxis überprüft und problematisiert. Sichtbar gemacht wird, dass die Binnenerzählung von den »Wunderlichen Nachbarskindern« in Goethes Roman als eine »Parallelgeschichte« und nicht, wie Benjamin vorschlägt, als eine »Antithesis« gegen das »Mythische« (I.1, 171) fungiert: Binnenerzählung und Rahmenerzählung deuten einander wechselseitig, ihr Verweisungszusammenhang trägt nicht die Gestalt einer dialektischen Entgegensetzung. In der Konsequenz dieses Befunds zeigt sich, dass das Dispositionsschema, das Benjamins Kritik zugrunde liegt, nicht auf den Roman appliziert werden kann und damit auch die spezifisch antihegelianische »Synthesis«, die vom Interpreten beansprucht wird, ihre Triftigkeit verliert. In Konfrontation mit Lektüren der Forschung werden Gründe benannt, die es fraglich erscheinen lassen, dass das »Mysterium der Hoffnung« im Benjaminschen Sinne Goethes Roman »einwohnt« oder in ihn »hereinragt« (I.1, 200f.). Hühn zeigt, dass der Kritiker mit dem Denkbild vom »Haus der äußersten Hoffnung« an entscheidender Stelle gegen das Kunstwerk interveniert. Er expliziert die Bedeutung des Denkbildes im Kontext jüdischer Religionsphilosophie.

Wahrheit und Mythos schließen sich für Benjamin kategorisch aus (I.1, 162). Zu den schärfsten Vorwürfen, die er gegen Goethes Wahlverwandtschaften in Stellung bringt, gehört der einer »Idololatrie der Natur« (I.1, 149). Der Interpret unterstellt dem Dichter eine mythische Konzeption der Natur, die in den Horizont seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem »Dämonischen« gerückt wird: »Unterscheidungslos verfällt das Dasein dem Begriffe der Natur, der ins Monströse wächst« (I.1, 148). Der vielschichtige Roman enthält unter anderem, wie Uwe Pörksen herausstellt, auch mythische Erfahrungsmomente, aber sein Sachgehalt ist nicht mythisch. Dieser ist vielmehr in der Form eines Experiments, so Pörksen, eine Phänomenologie variierenden menschlichen Verhaltens auf dem Spannungsfeld zwischen Naturnotwendigkeit und Vernunftfreiheit. Die von Benjamin ohne nähere Erläuterung ständig wiederholte Vokabel ›mythisch‹ wirke sich als ein Vehikel programmatischer Irreführung aus.

Der Goethe-Artikel, den Benjamin zwischen 1926 und 1928 für die Große Sowjetische Enzyklopädie schrieb, steht, wie Stephan Pabst verdeutlicht, in scharfem Kontrast zu seinen Wahlverwandtschaften-Aufsatz. Die Differenzen sind nicht allein aus den ideologischen Anforderungen zu erklären, die mit dem Auftrag verbunden waren, sondern hängen mit der politischen und theoretischen Neuorientierung Benjamins Mitte der 1920er Jahre zusammen. Sie stehen Benjamins Intentionen also nicht, wie in der Forschung gelegentlich vermutet wurde, vollkommen fremd gegenüber. Partielle Übereinstimmungen zwischen beiden Texten bestehen in den Vorbehalten gegenüber den Protagonisten des Wahlverwandtschaften-Romans, der Monumentalisierung ihres Autors und der Kritik mythisierender Erklärungen, die nun, anders als im Wahlverwandtschaften-Aufsatz, historisch-materialistisch fundiert werden. Die Entstehungsgeschichte des Goethe-Artikels zeigt überdies, wie sich Benjamins widersprüchliches Verhältnis zum Kommunismus auf seine Arbeit als Literaturhistoriker auswirkt.

Teil IV: Achim Geisenhanslükes Beitrag zu Benjamins Wahlverwandtschaften-Aufsatz nimmt seinen Ausgang von der bis heute kontroversen Rezeption Benjamins in der Literaturwissenschaft. Er zeichnet zunächst die Bedeutung des Aufsatzes für die Literaturtheorie der letzten Jahrzehnte nach, um auf dieser Grundlage Benjamins Kritik der Gewalt und des Schönen im Zeichen einer Ästhetik des Ausdruckslosen herauszuarbeiten. Damit rückt die Kontur einer Poetik in den Blick, die Benjamin zufolge auf dem inneren Zusammenhang von Sprache und Wahrheit beruht und in ihrer Bestimmung als Kritik eine strikte Trennung zwischen Philosophie und Literatur aufhebt. Eckart Goebels Aufsatz, der den Band beschließt, ist der Versuch, eine Sequenz von Anspielungen zu erhellen: Wenn Adorno in seinem Versuch über Goethes Iphigenieauf das Märchen von der »Neuen Melusine« hinweist, signalisiert er, dass sein Essay sich methodisch an Benjamins Essay über Goethes Wahlverwandtschaften orientiert, und macht zugleich deutlich, dass seine Ästhetische Theorie Benjamins Wahrheitsbegriff verpflichtet ist, der auch gegen die von der Psychoanalyse ratifizierte Idee der Entsagung einspricht.

Teil I Denkfiguren

Uwe SteinerExemplarische Kritik Anmerkungen zu Benjamins Kritik der Wahlverwandtschaften

I.

Wie Goethes Roman stellt auch Benjamins den Wahlverwandtschaften gewidmeter Essay den Leser vor erhebliche Verständnisschwierigkeiten. Ob absichtlich herbeigeführt oder dem Überlieferungsprozess geschuldet – angesichts fehlender Zeugnisse zur Entstehungsgeschichte sieht er sich damals wie heute ausschließlich auf den jeweiligen Text verwiesen.[1] Daran ändert auch der dennoch bemerkenswerte Umstand nichts, dass sich im Nachlass Goethes eine schematische Gliederung des ersten Teiles des Romans erhalten hat, der im Nachlass Benjamins eine Disposition entspricht, die den Aufbau seiner Abhandlung stichwortartig vergegenwärtigt. Die Leseanweisungen, mit denen Goethe in Gestalt der Selbstanzeige sowie in zahllosen Briefen und Gesprächen die Rezeption seines Romans zu steuern versuchte,[2] weisen keinen Weg aus dem Dilemma; sie sind vielmehr dessen reinster Ausdruck. Im Verlust der Autorität des Autors über sein Werk kündigt sich die Zuständigkeit des Kritikers an. Dessen Autorität bedarf weder der Sanktion durch den Autor, noch beruht sie auf Initiation. Ihre Legitimität leitet die Kritik nicht aus dem ab, was der Autor über sein Werk zu sagen hat, sondern aus dem Umstand, dass er sich zu seinem Werk äußert. »Das Verständnis der Wahlverwandtschaften aus des Dichters eigenen Worten darüber erschließen zu wollen«, so Benjamin, »ist vergebene Mühe« (I.1, 145). Aus der Sicht des Kritikers stellt sich das Werk nicht als ›Eigentum‹ des Autors dar, der frei nach dem Vico-Axiom verum et factum convertuntur aus seiner Autorschaft die alleinige Deutungskompetenz herleitet; vielmehr legt das Werk umgekehrt »Zeugnis« von seinem Autor ab, von dem es sich entfernt hat, um Teil der Geschichte zu werden. Als Zeugnisse betrachtet der Kritiker die Werke aus der Perspektive ihres »Fortlebens«. In Benjamins ›Lehre vom Leben und Fortleben der Werke‹, von der in seinen Schriften um 1920 wiederholt die Rede ist, geht es nicht etwa um die Grundlegung einer Theorie der Rezeptionsgeschichte, sondern um die eigentümliche Form der Geschichtlichkeit von Kunstwerken.[3] Auch diesem theoretischen Desiderat trägt Benjamin mit seiner Bemerkung Rechnung, die zugleich für seine Auffassung der Kritik von grundlegender Bedeutung ist, dass nämlich »überall, wo sich die Einsicht auf Gehalt und Wesen richtet, das Werk durchaus im Vordergrunde stehn« muss (I.1, 155). Es mag sein, dass Benjamins Abhandlung in ihrer »gedanklichen Komplexität und sprachlichen Schönheit« gleichrangig neben Goethes Roman steht;[4] doch bleibt die Frage, ob das für oder gegen die Abhandlung spricht, die Benjamin ausdrücklich als eine Kritik bezeichnet hat. Dass es kaum einen Leser geben wird, dem der sentenzenhafte Schlusssatz des Essays »leicht wieder aus dem Sinn kommt«,[5] kann sowohl auf Verständnis als auch auf Unverständnis des Diktums beruhen und stellt dem Essay ein eher bedenkliches Zeugnis aus. Dass der Schriftsteller, wie Benjamin an anderer Stelle notiert, »an der Sprache […] den Prüfstein seiner Denkkraft« besitzt,[6] bietet keine Gewähr dafür, dass er sich verständlich ausdrückt. Hier wie in der polemischen Auseinandersetzung mit Gundolf[7] geht es Benjamin nicht um die rhetorisch-stilistische Qualität von Texten. Der Vorwurf, Gundolfs Buch sei »ein veritables Falsifikat von Erkenntnis«, moniert nicht mangelndes Ausdrucksvermögen, sondern unklare Begrifflichkeit.[8]

Benjamin selbst hat auf »gewisse Dunkelheiten« in seinem Essay über die Wahlverwandtschaften aufmerksam gemacht, die die »Forcierung von Einsichten« zur Ursache hätten, also auf Unklarheit beruhten, was ihn jedoch nicht davon abgehalten hat, seine Einsichten in einer ihren Grenzen Rechnung tragenden Weise darzulegen.[9] Bereits Friedrich Schlegel hat sich in seiner paradoxen Rechtfertigung der Unverständlichkeit dagegen gewandt, »den Grund des Unverständlichen […] im Unverstand« zu suchen. Bedenkenswert schien ihm, »dass die Worte sich selbst oft besser verstehen, als diejenigen von denen sie gebraucht werden. […] Dass man die reinste und gediegenste Unverständlichkeit gerade aus der Wissenschaft und aus der Kunst erhält, die ganz eigentlich aufs Verständigen und Verständlichmachen ausgehen, aus der Philosophie und Philologie.«[10] Damals wie heute steht nicht zu befürchten, »dass die ganze Welt […] einmal im ernst durchaus verständlich würde«.[11] Da Unverständlichkeit offenbar unvermeidbar ist, kann es nur darum gehen, ihre Unvermeidbarkeit zu verstehen.

II.

Der Text, den Benjamin ursprünglich zur Veröffentlichung in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Angelus Novus vorgesehen hatte, hat zu Lebzeiten kaum über den erweiterten Freundeskreis hinausgehende Beachtung gefunden, innerhalb desselben aber seinem Autor größten Respekt und höchste Anerkennung eingebracht. Nach dem Scheitern des Zeitschriftenprojekts erschien der umfangreiche Essay schließlich 1924/25 in zwei Teilen in den von Hugo von Hofmannsthal herausgegebenen Neuen Deutschen Beiträgen. Die Verbindung zu Hofmannsthal hatte Florens Christian Rang hergestellt, dessen Interpretation von Goethes Gedicht »Selige Sehnsucht« aus dem West-Östlichen Divan zwei Jahre zuvor ebenfalls in den Neuen Deutschen Beiträgen erschienen war.[12]

Die hohe Wertschätzung, die Hofmannsthal dem Essay zuteilwerden ließ, ist umso bemerkenswerter, als es sich um die Arbeit eines ihm unbekannten Autors handelte. In seinem Schreiben an Rang, das er offenbar noch ganz im Bann der Lektüre verfasst hatte, hebt Hofmannsthal an dem »schlechthin unvergleichlichen Aufsatz […] die hohe Schönheit der Darstellung bei einem so beispiellosen Eindringen ins Geheimnis« hervor. In dieser Schönheit, die »aus einem völlig sicheren und reinen Denken« entspringe, zeigt sich Hofmannsthal zugleich »der Zusammenhang tiefster Art« mit der Gedankenwelt Rangs.[13] In einem späteren Schreiben führt er diese Gemeinsamkeit auf eine Auffassung von Philologie zurück, die »mit tiefstem, entscheidenden Ernst: als eine wahre Geisteswissenschaft, und religios« betrieben werde, »d.h. von dem Glauben beseelt, daß Wahrheit sei«.[14]

Tatsächlich stand Benjamin der Geistesart Rangs ebenso reserviert gegenüber wie der Gedankenwelt Hofmannsthals, der es sich in den Beiträgen zum Ziel gesetzt hatte, dem »ungeheuren Zusammensturz einer geistigen Welt«, wie er ihn sich in der Gegenwart vollziehen sah, den »Blick auf jenes Feste, Unerschütterliche geistiger Ordnung« entgegenzuhalten.[15] Den Gedanken einer Überwindung der Zerrissenheit der Gegenwart im Namen nicht der Freiheit, sondern der Bindung an die geistige Tradition hat Hofmannsthal 1927 in das Zentrum seiner Münchner Rede gestellt.[16] Deren Titel Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation ist programmatisch zu verstehen. Die Besinnung auf die Tradition, für die es in der Gegenwart deutliche Zeichen gebe, ziele zwar auf »eine neue deutsche Wirklichkeit«, sprenge aber in Umfang und Bedeutung selbst europäische Maßstäbe. Der Begriff der »konservativen Revolution«, in dem Hofmannsthal seine Überlegungen resümierte, sollte bald eine weit über den Entstehungskontext hinausgehende Bedeutung erlangen.[17]

Was Rang anbelangt, so war Benjamin in seiner Beurteilung von dessen Aufsatz über die »Selige Sehnsucht« zu einem dem Hofmannsthals diametral entgegengesetzten Ergebnis gelangt; dem Abdruck der Abhandlung in den Neuen Deutschen Beiträgen war Benjamins Ablehnung vorausgegangen, ihn in seinem Angelus Novus zu veröffentlichen. In einem Brief an Gershom Scholem hat er die Gründe seiner Ablehnung erläutert: Demnach galten seine Bedenken vor allem der als »unerträglich« empfundenen Sprache des Aufsatzes, der gnostizistischen Metaphysik, auf der sein Gehalt beruhe, sowie dem Umstand, dass Rang dem »eigentlich Dichterischen« an diesem Gedicht »nicht voll gerecht« werde und in Verkennung der Aufgabe eines echten Kommentars, »was er über das Gedicht sagt […] vielfach auf Kosten des Gedichts« sage. Diesen Einwänden zum Trotz bescheinigt er der Arbeit, »sowohl über das Gedicht wie insbesondere über die Bedeutung des Divan als Gesamtwerk außerordentlich tiefe, sehr wesentliche und bisher meines Wissens niemals geahnte Einsichten« zu enthalten.[18]

Scholem hat in seinem Erinnerungsbuch darauf hingewiesen, dass in der Zeit der Niederschrift des Essays Benjamins Ehe eine krisenhafte, schließlich zum Scheitern führende Wende nahm, die in Ursache und Verlauf Parallelen zur Romanhandlung aufwies. Obwohl der biographische Kontext allenfalls ein mögliches Motiv für die Niederschrift, nichts jedoch zum Verständnis der Abhandlung beiträgt, hat die frühe Rezeption sich durch Scholems biographischen Hinweis in ihrer Auffassung bestätigt gesehen, dass Benjamins Kritikauffassung durch persönliche Idiosynkrasien und ein hohes Maß an subjektiver Willkür geprägt sei.[19] Seine Bemerkung, dass der Wahlverwandtschaften-Aufsatz eine »Wendung in Benjamins geistigem Leben« eingeleitet habe, nämlich diejenige »vom systematisch ausgerichteten Denken zum kommentierenden«, beruft sich auf die »Bedeutung des Kommentars im jüdischen Schrifttum«, die tief in Benjamin angelegt gewesen sei.[20] Scholems Beobachtung wird durch das Eingeständnis nicht eben plausibler, dass er damals wenig von Goethe gelesen hatte und »ästhetische Theorie« ihn nicht interessierte.[21]

Über die Aufnahme des Essays durch Jula Cohn, der Benjamin eine der Reinschriften widmete, ist nichts bekannt. In einem etliche Jahre später verfassten Brief an Benjamin, in dem sie seiner Bitte entsprach, sich zu seinem »Rückblick auf Stefan George« zu äußern, distanziert sie sich nicht nur von seiner Haltung zu George, sondern gelangt abschließend zu dem wenig schmeichelhaften Urteil, dass bei all seinen »letzten Arbeiten, das Persönliche so sehr im Vordergrund [steht], dass alles wie ein Tagebuchblatt wirkt, und nicht darüber hinaus. Du weißt, oder weißt es nicht, dass ich fast immer etwas enttäuscht bin, wenn ich etwas von Dir lese.«[22] Es ist schwer vorstellbar, dass der Wahlverwandtschaften-Essay von dieser Enttäuschung ausgenommen sein könnte. Von einer Enttäuschung ganz anderer Art berichtet Benjamin in einem Brief aus dem Jahre 1938; bei der Lektüre der linksorientierten Internationalen Literatur war er auf die Besprechung eines Teilabdrucks des Wahlverwandtschaften-Aufsatzes gestoßen, in der er als »Gefolgsmann von Heidegger figuriere«.[23]

III.

Es mag vergebliche Mühe sein, die Wahlverwandtschaften aus Goethes Worten über das Werk erschließen zu wollen; für das Verständnis von Benjamins Begriff der Kritik eröffnen seine Selbstaussagen einen durchaus gangbaren Weg. In einem um 1928 verfassten Lebenslauf hat er seine wenige Jahre zuvor erschienene Schrift über Goethes Wahlverwandtschaften seinen beiden akademischen Qualifikationsschriften an die Seite gestellt. Was den Goethe-Aufsatz mit der Dissertation über den romantischen Begriff der Kunstkritik und der gescheiterten Habilitationsschrift über die Kunstform der Allegorie im Zeitalter des Barock verbindet, ist das Interesse am »philosophischen Gehalt des dichterischen Schrifttums und der Kunstformen«. In seiner Schrift Goethes Wahlverwandtschaften, so erläutert er in dem Lebenslauf sein philosophisches Interesse an Goethes Roman, habe er »den Gedanken, ein Werk durchaus aus sich selbst heraus zu erleuchten, […] durchzuführen« versucht.[24]

Bereits in den nicht sehr zahlreichen Äußerungen aus der Zeit der Niederschrift des großen Essays zeigt sich Benjamin bemüht, seine Beschäftigung mit Goethes Roman zu seinen laufenden oder geplanten Arbeiten in Beziehung zu setzen. Das geschieht besonders aufschlussreich in einem Brief, in dem er zunächst eher beiläufig berichtet, dass er seine »Kritik der Wahlverwandtschaften abzufassen« habe. Diese Arbeit, so fährt er erläuternd fort, sei ihm »gleich wichtig als exemplarische Kritik wie als Vorarbeit zu gewissen rein philosophischen Darlegungen […] – dazwischen liegt was ich über Goethe zu sagen habe«.[25] Der Stellenwert, den Benjamin seinem Essay einräumt, erinnert an die philosophische Standortbestimmung, die er kurz nach seiner Ankunft in Bern vorgenommen hatte, wohin er gekommen war, um sein Studium mit der Promotion abzuschließen. Seine »philosophische Gedankenentwicklung«, heißt es in einem Brief, sei »in einem Zentrum angelangt«. So schwer es ihm falle, so müsse er sie doch in dem gegenwärtigen Stadium belassen und werde sich ihr erst nach der Promotion mit voller Freiheit wieder zuwenden. Sollten der Erledigung des Doktors jedoch Hindernisse im Wege stehen, so werde er das als einen Hinweis auffassen, sich sogleich mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen.[26] In einem anderen Schreiben, in dem er diese Überlegung fast wörtlich wiederholt, hält er der akademischen Pflichtübung die »wahre Forschung« entgegen, deren Gegenstand die »Frage nach dem Ursprung aller menschlichen Geistesäußerung aus dem Wesen der Sprache« sei, mit der er sich bereits 1916 in seinem Aufsatz »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« befasst habe.[27]

Es spricht einiges dafür, dass die »rein philosophischen Darlegungen«, die Benjamin in seiner exemplarischen Kritik der Wahlverwandtschaften zu befördern hofft, dem zu Lebzeiten unveröffentlichten frühen Sprachaufsatz verpflichtet sind. In einem Brief an Hofmannsthal hat er für sich und seine literarischen Versuche die Überzeugung in Anspruch genommen, von der er vermutete, dass Hofmannsthal sie teile, die Überzeugung nämlich »daß jede Wahrheit ihr Haus, ihren angestammten Palast, in der Sprache hat«.[28] Den Grundgedanken seiner Sprachphilosophie, den er nicht nur für die Kritik der Wahlverwandtschaften, sondern auch für eine Studie über »Schicksal und Charakter« sowie für seine Baudelaire-Übersetzungen geltend macht, hat er in der Bemerkung ausgedrückt, »daß wir uns völlige Abwesenheit der Sprache in nichts vorstellen können« (II.1, 141). Damit erweist sich seine Sprachauffassung der deutschen Tradition der Sprachphilosophie im engeren Sinn verpflichtet, die im Anschluss an Hamann, Herder und Humboldt die Sprache als eine konstitutive Bedingung des Denkens begreift.[29]

Ohne an dieser Stelle näher auf die Sprachphilosophie Benjamins eingehen zu wollen, ist daran zu erinnern, dass sich ihr philosophischer Anspruch aus der Forderung nach der »erkenntnistheoretische[n] Fundierung eines höheren Erfahrungsbegriffes« ergibt, in der die Auseinandersetzung mit Kant und dem Marburger Neukantianismus im »Programm der kommenden Philosophie« gipfelt. Anders, nämlich in Anspielung auf Kants Prolegomena gesagt, handelt es sich für Benjamin darum, »Prolegomena einer künftigen Metaphysik auf Grund der Kantischen Typik zu gewinnen und dabei diese künftige Metaphysik, diese höhere Erfahrung ins Auge zu fassen« (II.1, 160). Das zentrale Anliegen der Abhandlung ist es demnach, den Begriff der Erfahrung, den Kant durch seine einseitige Orientierung an den mathematisch-mechanischen Wissenschaften mit der »Gegenstandswelt dieser Wissenschaften« identifiziert und damit unzulässig eingeschränkt hat, in der Reflexion auf das »sprachliche Wesen der Erkenntnis« zu korrigieren und der Sprache in der kommenden Philosophie den Stellenwert zurückzugewinnen, den Kant in seiner Philosophie der Mathematik zugewiesen hatte.[30] »Die große Umbildung und Korrektur die an dem einseitig mathematisch-mechanisch orientierten Erkenntnisbegriff vorzunehmen ist«, so Benjamins Resümee, könne »nur durch eine Beziehung der Erkenntnis auf die Sprache wie sie schon zu Kants Lebzeiten Hamann versucht hat gewonnen werden« (II.1, 168).

In der philosophischen Programmschrift steht einer unmittelbaren Anknüpfung der kommenden Philosophie an Kant neben dem systematischen ein historischer Vorbehalt entgegen. In der kritischen Restriktion der Erkenntnis auf mögliche Erfahrung ziehe Kant nicht nur der Erkenntnis enge Grenzen, sondern die Wirklichkeit, deren Erkenntnis er ermöglichen und in der er die Erkenntnis auf Wahrheit und Gewissheit gründen wollte, sei eine »Wirklichkeit niedern, vielleicht niedersten Ranges« (II.1, 158) gewesen. Ohne dass Kant selbst dies bewusst gewesen sei, zeige seine Auffassung von Erfahrung Züge historischer Bedingtheit, die ihn zu einem unzulänglichen Begriff nicht nur der Erfahrung, sondern letztlich auch der Metaphysik geführt habe. Zugespitzt lautet Benjamins Vorwurf an die Adresse Kants, dass dieser einer »Erfahrung die vergänglich war« (II.1, 158),[31] illegitimerweise zeitlose Geltung zugesprochen hat. Kant war ein Kind seiner Zeit, des Zeitalters der Aufklärung, mit dem er eine »singuläre zeitlich beschränkte« Erfahrung geteilt habe, »die man auch im prägnanten Sinne Weltanschauung nennen könnte«. Bei dem, was Benjamin als eine »der niedrigst stehenden Erfahrungen oder Anschauungen von der Welt« nennt, handelt es sich, wie es sich von selbst verstehe, »um denselben Tatbestand den man als die religiöse und historische Blindheit der Aufklärung oft hervorgehoben hat ohne zu erkennen in welchem Sinne diese Merkmale der Aufklärung der gesamten Neuzeit zukommen« (II.1, 158f.).

In fast wörtlicher Anlehnung an die philosophische Programmschrift ist Benjamin zu Beginn seines Essays über »Goethes Wahlverwandtschaften« auf diesen Aspekt seiner Kant-Kritik zurückgekommen. Die äußerst knappe Skizze des ideengeschichtlichen Rahmens, in dem Benjamin Goethes Werk situiert, stellt zum einen die für die Kritikauffassung zentralen Begriffe ›Sach- und Wahrheitsgehalt‹ in den werkinternen Kontext der Kant-Kritik; zum anderen dient sie dazu, Goethe zum Gegenspieler Kants zu stilisieren. In dem ideengeschichtlichen Rahmen bezeugt die »Armseligkeit ihrer Sachgehalte« (I.1, 126) die Zugehörigkeit der Werke Kants und Basedows zum Zeitalter der Aufklärung.[32] Wie