Berge, Quallen - Gomes/Thermann - E-Book

Berge, Quallen E-Book

Gomes/Thermann

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Beschreibung

Ein Fotograf fängt Feuer. Eine Frau verliert ihr Gedächtnis. Ein Staubsaugerfabrikant steht im Verdacht, Leichen zu zerstückeln. Blaszczykowski, Nespoli, Schmittkopf. Personen, Ereignisse, die einander fern scheinen und sich doch ineinander verstricken, sich verflechten und ihren Faden verlieren, ehe er sich an anderen Orten wiederfindet, dieser rote, allzu rote, durch Blut gezogene Faden am Saum des Kleids von Viola Nespoli. Keine Mordkommission behält da den Überblick: Sgarby, Kottwitz, Schwarz und Rütters. Ein hinter Namen und deren Wiedergängern florierendes Kartell arbeitet hart im Dienste der Imagination und des Begehrens, der Kunst und anderer Verbrechen. Und das könnte endlos so weitergehen, in Polen, Mexiko, Sizilien, auf dem Papier und in den Köpfen anderer Leute.
Mit wilder Intelligenz und präziser Choreographie führen uns Gomes/Thermann vor, wie der Sinn den Verstand übersteigt und in eine derart zwingende Logik mündet, dass einzig noch der falsche Weg hinausführt: ein rasantes Erstlingswerk von halluzinatorischer Kraft, literarischer Finesse, filmreifer Komik.

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Seitenzahl: 390

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Gomes/Thermann Berge, QuallenRoman

6. September

Das Kleid

Auf Błaszczykowskis Schreibtisch stand neben übereinandergestapelten Bänden eines Medizinlexikons ein gräulich flackernder Computerbildschirm. Seit mehreren Minuten versuchte Błaszczykowski, die Stirn in die linke Hand gepresst, seiner Müdigkeit einen Angriffsplan über den Königsflügel abzuringen, doch das Schachbrett zerfloss immer wieder vor den zufallenden Lidern. »Dr. Błaszczykowski!« Eine Frauenstimme riss ihn aus dem Halbschlaf, die Deckenlampen gingen an. »Sie müssen in die Notaufnahme!« In der Tür stand eine Krankenschwester, mit Hüften, die breiter als ihre Schultern waren. »Es ist dringend, Herr Doktor!« Błaszczykowski schaute die Schwester an und schwieg. Erst als sie sich nach seinem Wohlbefinden erkundigte, »ist alles in Ordnung, Herr Doktor? Sie sind so bleich«, entgegnete Błaszczykowski schleppend: »Was ist denn passiert?« – »Eine Frau. Mit schweren spasmodischen Anfällen.« Błaszczykowski schaute auf den Monitor. Er könnte den Läufer ziehen und eine Fesselung des Springers androhen, das war ihm vorher noch gar nicht durch den Kopf gegangen. »Nun gut.« Er zog den Läufer und stand auf.

Sie gingen durch den Flur in Richtung des C-Trakts. Die Krankenschwester berichtete über die Patientin, während Błaszczykowski versuchte, seinen Kittel im Gehen richtig zuzuknöpfen. »Minutenlang hält sie den Atem an, ihre Glieder werden steinhart. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Auch nicht bei schweren Fällen von Katatonie.« Am Ende des Ganges bogen sie in einen Durchgangsraum, in dem Kranke und Verletzte auf Tragebahren lagen. Aus einer Ecke kam ein trockener Husten. Irgendwo stöhnte eine Frau, als verdurste sie. Es roch nach Urin und Verfaultem. »Hin und wieder«, fuhr die Krankenschwester fort, »fängt sie an zu kreischen, ›ich, ich‹, immer nur dieses eine Wort, ›ich‹. Sonst sagt sie nichts. Zumindest nichts Verständliches.« Sie hielt Błaszczykowski eine Flügeltür auf, die in einen dunklen Korridor führte. Aus dem Innenhof gelangte verwaschenes Licht in den Flur, ein Licht, das keine Schatten warf. »So, da wären wir.« Die Schwester öffnete die Tür zu einem grell gefluteten Raum. »Hier.« In der Mitte des Zimmers kauerte eine Frau in einem roten Kleid auf dem Boden. Neben ihr hockte ein Krankenpfleger, der sich zu Błaszczykowski drehte: »Herr Doktor.« Błaszczykowski stellte fest, dass er seinen Kittel falsch zugeknöpft hatte, beschloss jedoch, dieses Detail zu ignorieren. Auch wenn es ihn störte. Die Krankenpfleger sahen ihn an. »Schauen wir doch mal«, sagte er mit gemessener Langsamkeit und bückte sich zur Frau. Er musterte sie kurz, stieß den Oberarm an. Die Beschreibung der Krankenschwester traf zu. Die Frau war wie versteinert und atmete kaum. »Wie lange liegt sie so da?«, fragte er den Krankenpfleger. »Drei Minuten vielleicht. Oder vier, ich weiß es nicht. Bevor sie sich auf den Boden warf, hat sie wild an ihren Haaren gezogen und gebrüllt. Wir hatten ernsthafte Schwierigkeiten, sie festzuhalten. Dann verfiel sie plötzlich in diese Starre.« – »Plötzlich«, murmelte Błaszczykowski. Etwas missfiel ihm an diesem Wort. »Nun, außergewöhnlich ist das ja alles nicht«, sagte er, während er die Atemwege überprüfte. Von ihrem Hals ging ein holzig warmer Duft aus. Błaszczykowski griff nach seinem Abtastgerät und nahm eine Geruchsprobe. Das Gerät piepte, auf der Anzeige erschien das Ergebnis der Analyse. »Moschus«, las Błaszczykowski und griff nach ihrem Puls. Sofort stieß ihn ein Schlag zurück und die Frau gab einen gellenden Schrei von sich, der in der Tat wie ein langgezerrtes »ich« klang. Sie ruderte mit den Armen und schlug sich mit Wucht auf die Brust. Der Krankenpfleger griff nach einer Zwangsjacke, drei Krankenschwestern hielten die Frau fest. Nach einigen Sekunden brach das Geschrei jäh ab, die Frau verdrehte die Augen, sank zurück und blieb auf dem Boden liegen. Sie atmete jetzt ruhig und regte sich nicht, als man ihr das Korsett anlegen wollte. »Lassen Sie das bitte«, sagte Błaszczykowski, der sich mit dem Daumen über die Lippen fuhr. »Sie bluten, Herr Doktor«, bemerkte eine der Schwestern. »Lassen Sie die Frau bitte so liegen«, sagte Błaszczykowski mit strenger Geste. »Ja, aber Herr Doktor, Sie haben doch gesehen.« Błaszczykowskis Mund schmeckte nach Metall, die Unterlippe war aufgeplatzt. »Ich muss sie beobachten«, sagte er. Das Gesicht der Frau war hell, mit kantigen Zügen und einer verschwitzten Stirn, die mit Haarsträhnen verklebt war. Ihr rotes Sommerkleid verriet zwei runde Brüste, die in steifen Spitzen endeten. Die Atmung ging jetzt regelmäßig und ruhig. Das Personal beobachtete den Arzt beim Beobachten. »Name? Alter? Beruf?«, fragte Błaszczykowski. Eine Krankenschwester schüttelte den Kopf, der Krankenpfleger übersetzte die Geste in ein redundantes »wissen wir nicht«. Er hielt immer noch die Zwangsjacke in der Hand. »Und wo hat man sie gefunden?« – »Auf einer Straße, nicht weit vom Stadtpark. Sie hatte Glück, dass ein Passant sah, wie sie zusammenbrach.« – »Und sie hatte keinen Ausweis, kein Handy, nichts dabei?« Der Krankenpfleger verneinte stumm. Błaszczykowski schaute auf die Namenlose. Ihre Wirbelsäule war nach hinten gekurvt, der Kopf zurückgeworfen, als hätte ihn eine unsichtbare Hand aufgefangen. Die Haltung erinnerte an Abbildungen, die Błaszczykowski aus Medizinbüchern des späten 19. Jahrhunderts kannte. Wäre nicht das Kleid, hätte er den verdrehten Frauenkörper für ein lebendes Schwarzweißfoto aus einer Studie von Charcot oder Gilles de la Tourette halten können. Vielleicht war es das, was die Krankenschwester als so eigenartig empfunden hatte. Vielleicht war es die Ahnung eines Anachronismus, der sie beunruhigte. Błaszczykowski hätte sie am liebsten gefragt, ob sie ein Problem mit Anachronismen habe, unterließ es aber. »Bitte bringen Sie die junge Dame auf ein Einzelzimmer und verabreichen Sie ihr zunächst zehn Milligramm Diazepam, siebeneinhalb Milligramm Haloperidol.« Der Krankenpfleger blickte auf. »Jetzt sofort?« – »Jetzt sofort.« Błaszczykowski saugte sich das Blut von der Unterlippe. Drei Krankenschwestern mühten sich, die Frau auf eine Trage zu hieven. Es schien, als hätten sie die Last eines Steinbilds zu tragen. Selbst das rote Kleid störte diese Illusion nicht, im Gegenteil; es verlieh der Figur den Glanz von Erhabenem. Das Kleid war kein bloßes Accessoire, sondern Bestandteil ihres Körpers, ein Glied, das man nicht einfach amputieren durfte. Unter keinen Umständen dürfte man ihr dieses Kleid abnehmen. »Warten Sie«, rief Błaszczykowski. Die Schwestern, die gerade die Rolltrage über die Türschwelle schoben, blieben stehen und schauten den Arzt an. Błaszczykowski sah, dass sein Handrücken mit Blut verschmiert war. Er rieb sich die Hand und sog an der Lippe. »Fünf Milligramm Haloperidol reichen.« – »Gut«, sagte eine der Schwestern. Dann verschwand die Rolltrage im Flur.

Am späten Nachmittag schaute Błaszczykowski nach der Patientin. Sie lag auf einem Krankenbett und starrte regungslos an die Decke. Das rote Kleid hatte man inzwischen durch eine Hose und ein Hemd aus hellgrünen Kunstfasern ersetzt. Ein Bildschirm am Bettkopf zeigte die Kurven verschiedener Körpermesswerte. Sie verliefen regelmäßig. Błaszczykowski ging zum Kontrollpult, um die Einstellungen zu überprüfen. Eine Pflegerin mit dunklen Zöpfen schaute ihm zu. »Die Diazepamdosis können wir auf fünf Milligramm herunterfahren. Einmal täglich. Abends.« Die Schwester notierte die Anweisung in einem Digitalheft. Błaszczykowski ging ans Fenster. Draußen fiel Regen. »Sonst noch etwas?«, fragte die Krankenschwester. Am Fensterglas perlten Diagonalen herab. »Weiß man inzwischen, wer die junge Frau ist?« Die Schwester verneinte leise »m-m. Der Status ist nach wie vor ›Name unbekannt‹«. Sie deutete auf die Anzeige am Patientenmonitor. »Name unbekannt«, wiederholte Błaszczykowski und tastete mit der Zunge die angeschwollene Unterlippe ab. »Wie kann es sein, dass niemand etwas über diese Frau weiß?« Er schaute die Krankenschwester vorwurfsvoll an, als hätte sie der Patientin nicht nur das Kleid, sondern auch den Namen abgenommen. Die Schwester verteidigte sich mit einem Schweigen. »Gut. Sie können gehen«, sagte Błaszczykowski. »Ich werde noch einmal die Wahrnehmungswerte überprüfen, vielleicht lässt sich ja schon bald ein Gehirnscan machen.« Die Schwester steckte ihr Digitalheft ein. »In Ordnung«, sagte sie und verließ den Raum.

Błaszczykowski trat an den Datenbildschirm, der die Atmungs- und Schweißsekretionskurven zeigte. Er blickte auf die namenlose Frau hinab, die in der Zwischenzeit wieder eingeschlummert war. Ihr Gesicht kam Błaszczykowski eigentümlich fremd vor. Ohne das rote Kleid sah sie wie eine andere Person aus. Die Konturen waren weicher, die Haut glatter. Es war eine Schönheit, die sich erst allmählich einstellte, dann aber mit jedem Atemzug zunahm. »Schlafen Sie?«, flüsterte Błaszczykowski. Die Atmung ging ruhig. Er knipste das Neonlicht aus und machte stattdessen die Leuchte am Nachttisch an. Mit dem Lichtwechsel schien sich die Frau erneut zu verwandeln, wie eine Schauspielerin, die in die nächste Rolle schlüpft. In diesem wärmeren Licht erschien die Haut wie aus Stein, oder vielmehr aus hellem, nahezu durchsichtigem Marmor. Langsam beugte sich Błaszczykowski über ihr Gesicht. Er spürte ihren Atem auf seiner Wange. »Hören Sie mich?« Ein süßlicher Duft stieg aus ihrem Mund. Błaszczykowski schloss die Augen. Er zitterte, als er ihre Lippen mit seinem Mund streifte, seine Hand schwebte über ihrer Brust. Ihre Haut war eine elektrische Ladung, die durch den rauen Stoff des Pflegehemdes strahlte. Błaszczykowski spürte ein Kribbeln an den Fingerkuppen, ihre Brust wogte magnetisch in seiner leeren Handkuhle. »Nein, Błaszczykowski«, schluckte er trocken. Er richtete sich auf und knipste das Licht aus. Durch das Fenster fiel ein bläulicher Strahl.

Die Mispeln

Die letzten Nächte konnte ich nicht schlafen. Gegen fünf oder sechs Uhr morgens wache ich auf und wälze mich im Bett hin und her. Es juckt an den Beinen, ich habe mir die linke Wade wundgekratzt, vorgestern. Als ich aufstand, waren die Bettlaken mit braunem Blut beschmiert. Ich habe dem Dienstmädchen gesagt, dass ich meine Tage habe, und sie hat mich schräg angeschaut, mit einem Lächeln, das mir bedeutete, dass sie mir mein Geheimnis – denn sie ging wohl davon aus, dass ich etwas zu verbergen hatte – gönnte. Wenn ich auf dem Bauch liege, verspüre ich eine Art Seitenstechen unterhalb der linken Brust. Deshalb liege ich auf dem Rücken und schaue auf den Ventilator an der Decke. Um halb sieben geht im Garten der Rasensprenger an. Dann zischt und rattert es. Um diese Uhrzeit macht der Gärtner den ersten Rundgang. Er angelt Laubblätter und tote Insekten aus dem Schwimmbad und setzt sich nach getaner Arbeit in einen Baumschatten, um zu rauchen.

Ich dusche dieser Tage länger als üblich, wechselwarm. Letztens stand ich eine halbe Stunde unterm Wasser. Meine Haut war ganz verschrumpelt, als ich aus dem Bad kam. Ich wickelte mich ins Handtuch, warf mich aufs Bett und wusste, dass ich nach Europa will, sobald die letzte Schulprüfung abgelegt ist. Am Frühstückstisch erzählte ich meinem Vater davon. Wir saßen auf der Terrasse und eine Biene surrte um sein Marmeladenbrot. Er war damit beschäftigt, das Insekt mit seiner Serviette zu verscheuchen, was auch als Rechtfertigung dafür diente, meine Frage unbeantwortet zu lassen. »Papa, hör mir doch zu.« Er faltete die Serviette zusammen, legte sie auf den Tisch und blickte mich an. An seinem Schnurrbart hing eine Milchschaumwolke. »Was weißt du eigentlich von Europa?« – »Nicht viel. Ich möchte aber mehr wissen!« Es war dreist von mir, auf meinem Standpunkt zu beharren, und ich war überzeugt, dass mein Vater im nächsten Moment aufstehen und mir eine scheuern würde. Er blieb aber sitzen. »Dein Kaffee wird kalt.« Ich habe den Eindruck, wir werden uns immer fremder. »Ich will weg aus Mexiko.« Er nestelte an seiner Serviette, faltete sie sorgfältig zusammen und stand schließlich auf, um sie auf die Biene zu donnern. Seine Kaffeetasse und eine Karaffe mit Orangensaft kippten um, gelbe und braune Flüssigkeit lief aus. Mein Vater verließ schnaubend den Tisch und verschwand im Haus. Mar, die einige Schritte von uns entfernt gestanden hatte, eilte herbei, um sauber zu machen. »Vivi«, keifte sie mich an. In der Lache auf dem Tisch schwamm die tote Biene. Ich stand auf und bohrte meinen Blick in die Augen von Mar. »Vivi, einen Scheißdreck«, was nennen die mich noch Vivi! Meine Brüste sind viel größer als die von Mar, da müsste sie doch verstehen, dass ich eine Frau bin und nicht mehr die kleine Vivi mit dem silberglitzernden Haarreifen, die im Wohnzimmer eingerahmt an der Wand hängt. Überhaupt sind diese Fotos wie schlechte Fiktionen und seit langem schon hege ich den Verdacht, dass man die Motive irgendwann gestellt hat, nur um mir einzureden, dass das, was ich dort sehe, einer tatsächlich gewesenen Vergangenheit entspricht. Einmal sieht man mich in Weiß, wie ich krumm ins Bild schiele. Neben mir steht meine Cousine in einem hellblauen Kleidchen und blickt, verschämt oder einfach nur zerstreut, zu Boden. Wir stehen auf einem Platz – wahrscheinlich der Rathausplatz einer Kleinstadt – vor einer Pizzeria. Pizeria Caltanissetta steht da groß, nur mit einem »z«. Auf einem anderen Bild sieht man mich zwischen meinen Eltern stehen, irgendwo auf dem Land. Mein Vater trug damals keinen Schnurrbart und hatte noch Haare. Meine Mutter hatte ein schönes, wenn auch kränklich anmutendes Gesicht, mit tiefen Augenringen und bleichen Lippen. Als sie im Sarg lag, sah sie nicht anders aus. Da war ich vierzehn und entdeckte gerade die Sinnlosigkeit des Daseins. Zu dieser Zeit ging ich einmal in die Küche. Die Wanduhr tickte, die Spülmaschine surrte, die Köchin schälte Kartoffeln im Hof. Ich nahm ein Küchenmesser und setzte es an den Puls. Ich drückte ein bisschen, aber es wollte nicht bluten. Vielleicht war die Klinge stumpf, vielleicht machte ich es einfach nicht richtig. Es wurde mir jedenfalls klar, dass es wirklich wehtun musste, wenn man freiwillig von dieser Welt gehen wollte. Das war mir dann doch zu viel. Jetzt denke ich gar nicht mehr daran zu sterben, sondern ich will einfach nur nach Europa, zu meinen Tanten in Madrid oder meinetwegen sogar nach Russland, warum nicht nach Russland. Ich weiß zwar nichts über Russland, aber es wird mit Sicherheit nicht schlimmer sein als hier.

Zwei Männer mit Maschinengewehren laufen den Hang herauf. Den einen nennen sie Luisito, den anderen kenne ich nicht. Ich habe inzwischen den Überblick verloren über alle Leute mit Waffen, die hier ständig durch den Garten laufen. Seit dem Blutbad in Casillas de la Piedad, als eine Gruppe von Söldnern auf die Gäste einer Geburtstagsparty das Feuer eröffnete und am Ende die Leichen auf den Bahngleisen aneinanderreihte, um sie von El Chepe zermalmen zu lassen, hat mein Vater beschlossen, die Sicherheit zu erhöhen und Scharfschützen auf dem Dach zu postieren. In dem alten Werkstattschuppen am Rande des Grundstücks, wo früher die Sägewerkstatt war, steht ein Flugabwehrraketensystem bereit, wer weiß, wozu. Es liegt eine Unruhe in der Luft, wie ich sie vorher nie gekannt habe. Seit Monaten gibt mein Vater keine Feste mehr im Garten und fürs erste bin ich in der Schule krankgemeldet. Bis vor Kurzem durfte ich noch Besuch von Freundinnen bekommen, aber seitdem nun des öfteren eine Stute mit meinem Namen im Fernsehen zu sehen ist, ist es auch damit vorbei. Den »Affront« – ich habe ihn nur ein einziges Mal darüber sprechen hören und er nannte es einen »Affront« – hat der Alte immer noch nicht verkraftet. Dabei läge es doch an mir zu entscheiden, ob das Ganze ein Affront ist oder nicht. Mit Daniela habe ich noch darüber gelacht, sie war mein letzter Besuch. Als sie kam, haben wir eine Whiskyflasche aus dem Wohnzimmer stibitzt und uns bei mir oben auf der Terrasse betrunken und geküsst und gegenseitig an den Brustwarzen gelutscht. Am Morgen mussten wir beide kotzen, es gab einen Höllenärger mit Mar, die damit drohte, uns zu verpetzen. Daniela sprach den ganzen Tag über kein Wort und seitdem habe ich weder sie noch irgendeine andere meiner Freundinnen wiedergesehen. Wir telefonieren manchmal oder schicken uns Sachen zu, das ist alles.

Tagsüber empfängt mein Vater Leute in seinem Büro. Was sie hier wollen, weiß ich nicht. Es sind auch Sachen, von denen ich lieber nichts mitbekommen möchte. Ich weiß nur, dass es sich meist um klebrige Männer mit dicken Wampen handelt. Vor wenigen Tagen war aber auch der hübsche Silvio Fórster zu Gast. Sein Vater ist, wenn ich es richtig verstanden habe, todkrank und wird bald krepieren. Dabei wirkte der Alte, als wir vor nicht einmal einer Woche in Cuernavaca bei ihm waren, kerngesund, auf Silvios Geburtstagsparty hat er sogar getanzt. Jetzt liegt er im Sterben und sein Sohn führt die Familiengeschäfte. Nach seiner Ankunft verbrachten er und mein Vater den Tag im Besprechungszimmer. Am frühen Abend musste mein Vater auf die Finca von Don Antonio, und der junge Fórster blieb zurück. Er machte es sich im Garten zwischen zwei Mispelbäumen bequem und las in einem Buch. Mar war dabei, das Abendessen vorzubereiten und bat mich, den Gast zu fragen, ob man ihm einen Aperitif bringen könne. Ich lief in den Garten, die letzten Sonnenstrahlen schimmerten durch die Baumkronen. Als Silvio mich herannahen sah, klappte er das Buch zusammen und legte es auf den Schoß. »Unser Dienstmädchen fragt, ob du vielleicht einen Aperitif trinken möchtest?« Er blickte mich von unten aus seinen silberblauen Augen an und lächelte: »Danke.« Mit der Nase deutete er auf die Mispelbäume: »Was ist das eigentlich für Obst, das an den Bäumen wächst?« – »Wollmispeln.« – »Ach –– das sind also Mispeln.« Ich nickte. Das waren Mispeln. »Warum wunderst du dich so?« Er deutete auf den Umschlag seines Buches. Auf der Titelseite war ein Baum zu sehen, von dem kleine Erdkugeln herabhingen wie Obst. The Worlds Within, von einem gewissen R. Goldman. Es sah nach billiger Esoteriklektüre aus. »Ich lese gerade über Mispeln, genauer gesagt über eine alte japanische Sage, der zufolge jede einzelne Mispel eine Welt wie unsere enthält. In jeder Mispel doppelt sich unsere Welt, und auch in dieser Welt gibt es wiederum Mispelbäume, an denen andere Welten gedeihen, und so weiter und so fort.« Ich wusste nicht, wie ernst Silvio es mit seiner Begeisterung für die japanische Sage meinte. Er hatte aber Humor. »Wenn ich jetzt also eine Mispel von diesem Baum pflücke«, ich reckte mich und griff nach einer Mispel, die zwar noch nicht reif, aber mit Sicherheit essbar war, »und wenn ich sie dann esse, verschlinge ich also auch uns?« Silvio zuckte mit den Schultern. »Natürlich.« Ich biss in die grüne Mispel, er verzog das Gesicht. »Es ist aber nicht so, dass es uns nur einmal gibt. Wir sind verdoppelt und vertausendfacht. In jeder Mispel gibt es uns. Aber immer anders.« Ich musste lange kauen, das Fruchtfleisch war noch zäh. »Vivi!« Mar stand auf der Terrasse und schrie: »Vivi!« – »Ahora voy!« Silvio zwinkerte mir zu, »geh nur«.

»Will der junge Mann nun einen Aperitif oder nicht?«, fragte Mar, die Hände an den Hüften. In ihren Augen schimmerten Vorwürfe, womöglich auch etwas anderes, Neid oder verbissene Scham. »Du bist nicht meine Mutter, Mar.« – »Kind, mach mir keine Mätzchen. Ich hatte dich gebeten, den jungen Mann zu fragen, ob er einen Aperitif möchte.« – »Er möchte keinen.« Ich stapfte durch die Küche und knallte die Tür zu. Im Flur stieß ich mit Luisito zusammen. Was hatten diese Leute jetzt im Haus zu suchen? »Entschuldigen Sie, señorita!« Er blickte bang um sich, so wie Tiere, die um ihr Leben fürchten. »Schau doch, wo du hinläufst, du Trottel!«

Bis zum Essen sperrte ich mich in meinem Zimmer ein. Ich blätterte in den alten Fotoalben meiner Mutter und in Gedichtheften, in die ich seit Jahren meine Gedanken in Versform eintrage. Die meisten Sachen sind mir peinlich, aber hier und da finden sich auch überraschend reife Stellen. Zwei Wochen nach dem Tod meiner Mutter habe ich diese Zeilen geschrieben: »Das Blut brannte / der Chef ließ den Leib in Scheiben zerlegen / eine Blume eingeäscherter Gedanken goss ich mit meinem Urin / mit Steinen.« Das ist zwar wirr, aber keine schlechte Poesie für eine Vierzehnjährige. Ansonsten geht es in meinen Texten fast immer nur um Liebe, um Hass und um andere niedere Gefühle. So verstrich der Nachmittag, bis es irgendwann an meiner Tür klopfte. Es war Mar, die mich zum Abendessen rief.

Meinem Vater war anzusehen, dass er sich Sorgen machte oder dass ihm etwas nicht passte. Vielleicht bildete er sich ein, dass der junge Fórster hinter mir her war, es war ja nicht auszuschließen, dass Mar ihm irgendwelche Äffchen in den Kopf gesetzt hatte. Während des Essens sprach er kaum und überließ dem jungen Fórster die Rolle des Unterhalters. Er erzählte von Geisterstädten in den USA, wo er bis vor Kurzem noch gelebt hatte, und der hohen Arbeitslosigkeit, sprang dann über zu seinem Vater und dessen Vater, Nikolai, der im Alter von 25 Jahren aus Osteuropa in die USA ausgewandert war und von dort aus nach Mexiko. Es war eine Erzählung voller Sprünge und Ungereimtheiten, der mein Vater nur wenig Aufmerksamkeit schenkte. Entgegen seiner Gewohnheit aß er fast nichts, sondern stocherte nur in seinem Filet, das zur Hälfte auf dem Teller blieb. Nach dem Essen setzten sich die beiden ins Rauchzimmer und ich verabschiedete mich. Silvio wünschte mir eine gute Nacht und fragte, ob wir uns vielleicht noch am Frühstück, vor seiner Abfahrt, sehen würden. Ich sagte ihm »ja, wir sehen uns zum Frühstück« und wünschte meinem Vater gute Nacht. Er antwortete nicht, sondern steckte eine Zigarre an und paffte einen Totenschädel in die Luft.

In der Nacht weckte mich das Geräusch eines Wagens, der vor dem Haus gehalten hatte. Ein Dieselmotor ging im Leerlauf, Männerstimmen riefen sich Sachen zu. Ich stand auf, das Herz in den Händen, und schlich über den Flur in ein leer stehendes Gästezimmer mit Fenster zum Vorhof. Draußen stand ein Pick-up, auf den zwei Männer etwas Schweres luden. Irgendwann tauchte mein Vater auf und unterhielt sich mit einem der beiden Männer. Ich meinte ihn zu erkennen, war mir aber nicht sicher, ob es Luisito war. Gemeinsam mit einem hochgewachsenen Mann stieg er in den Wagen ein und sie fuhren los. Danach konnte ich nicht mehr schlafen.

Als mich Mar zum Frühstück rief, hatte ich fürchterliche Kopfschmerzen. Ich duschte lange. Trotzdem war ich als erste auf der Terrasse, was mich überraschte, denn wenn es eine positive Eigenschaft gibt, die man meinem Vater nicht abstreiten kann, dann ist es seine Pünktlichkeit. Dass der junge Fórster verschlief, konnte ich mir vorstellen. Dass aber mein Vater – mochte er noch bis tief in die Nacht wach geblieben sein – spät kam, war neu. Ich nahm ein Stück Brot, belegte es mit Käse und strich Mispelkompott darauf. Mar brachte den Kaffee. »Wo ist Papa?« – »Er kommt gleich. Er ist noch am Telefon.« – »Und Fórster?« – »Fórster? Der ist doch längst weg.« – »Er wollte aber heute hier frühstücken.« Sie winkte ab. »Der ist über alle Berge.« Sie schenkte mir Kaffee ein und ging. Ich starrte auf die angebissene Brotscheibe auf dem Teller. Als mein Vater auch nach einer halben Stunde nicht erschien, stand ich auf und setzte mich in den Garten unter eine Akazie. Den ganzen Tag echote es in meinem Ohr »über alle Berge, über alle Berge«, den ganzen Tag konnte ich nichts essen und nichts trinken. Am Abend stieß ich im Wohnzimmer auf Silvios Lektüre, The Worlds Within, und dachte, mein Kopf würde explodieren. Ich musste Mar um zwei Tabletten anflehen, obwohl ich eigentlich zweihundert gebraucht hätte. Trotz der Kopfschmerzen versuchte ich in dem Buch zu lesen, ich schaffte keine zwei Sätze. Schlafen konnte ich die ganze Nacht nicht, vielleicht dämmerte ich eine Stunde in irgendeinem Schwellenzustand, vielleicht auch nur eine halbe oder auch gar nicht. Es ist inzwischen auch viel zu hell, um zu schlafen. Unten im Garten lehnt der Gärtner den Laubkescher an eine Pappel. Er nimmt eine Zigarette aus der Brusttasche seiner Latzhose und steckt sie sich an. Langsam schlendert er am Schwimmbad entlang und raucht. Wahrscheinlich könnte ich ihn, so wie er da geht, mit dem kleinen Finger ins Wasser stürzen. In der Ferne verschwimmen die Berge in der Wüstenglut. Es wird unerträglich heiß heute.

Das Heim

Das Büro war in Neonlicht gebadet. Błaszczykowski saß am Schreibtisch und blätterte in einem Aktenordner. An einer Stelle machte er halt und ließ die Metallringe aufspringen. Er nahm einen zusammengehefteten Papierstoß heraus: Die Akte Palański. Błaszczykowski überflog das Deckblatt, nahm einen Papierbogen, der auf dem Schreibtisch lag, und heftete diesen an die Akte. Es handelte sich um eine Kopie der Todesurkunde von Antoni Palański, versehen mit dem Stempel »Original lag vor«. Für Błaszczykowski war das Abstempeln und Einheften solcher Zeugnisse Routine. Insbesondere in den letzten Monaten hatte er den Ablauf zur Genüge wiederholt, fast eine ganze Generation hatte es innerhalb kürzester Zeit dahingerafft. Die meisten starben an Altersschwäche, doch es ereigneten sich mitunter Stürze und alles in allem vermeidbare Unfälle, so wie im Falle der alten Podgórna, die wenige Tage vor ihrem hundertsten Geburtstag – wahrscheinlich wegen der glitschigen Fliesen – im Badezimmer ausrutschte und so unglücklich stürzte, dass sie mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug und auf der Stelle starb. Auch der Tod des alten Młynarczyk, der seit Jahren an Alzheimer erkrankt war, hätte vermieden werden können. Man fand ihn an einem frühen Morgen völlig nackt in einem Haferfeld nicht unweit des Heims. Offenbar hatte er die Anlage in einem Moment geistiger Verwirrung verlassen, ohne dass es die Pfleger bemerkt hätten. Er musste stundenlang durch die Weiden geirrt sein, bis er schließlich mitten im Nichts zusammensank und erfror. Um derartigen Vorfällen in Zukunft vorzubeugen, hatte Błaszczykowski unmittelbar nach Młynarczyks Tod die Pfleger einberufen und zu mehr Wachsamkeit aufgefordert. Er verordnete, die Heimtür künftig nach neunzehn Uhr abzusperren und erst um sechs Uhr wieder zu öffnen. Trotz dieser Maßnahmen starb auch der alte Palański unter äußerst unglücklichen Umständen. Er wurde nämlich vom eigenen Schal, der sich auf sonderbare Weise im Speiseaufzug verfangen hatte, erdrosselt. Da Palański keine Angehörigen mehr hatte und da sich bis auf die anderen Gäste des Heims niemand für seinen Tod interessierte, unterließ man letztlich jegliche Nachforschungen über die Todesursache, und fand sich damit ab, auch diesen Fall mit dem Etikett des Schicksalsschlags zu versehen.

Błaszczykowski blätterte in den großenteils zerfledderten, vergilbten Unterlagen. Unter diesen befand sich die Fotokopie eines Personalausweises, ausgestellt im Juli 1948. Ein gutaussehender junger Mann war Palański gewesen, mit seinen dunklen Haaren und dem Zigeunerschnurrbart. Błaszczykowski stellte den Ordner zurück ins Wandregal. Bevor er ging, beugte er sich über das Schachbrett auf dem Schreibtisch. Er überlegte nicht lange, sondern rückte den C-Bauern um zwei Felder vor. Ein defensiver Zug. Błaszczykowski spielte in letzter Zeit immer defensiver, am liebsten mit Schwarz, sizilianisch. Er nahm den Mantel vom Kleiderhaken und verließ das Büro.

Błaszczykowskis Schritte hallten durch den Flur, dessen Leere sich wie ein Abgrund vor ihm öffnete. Die Alten schliefen, wahrscheinlich schlief auch das Personal, das den Nachtdienst versah. Als er vor dem Haupteingang Halt machte, wurde es leise im Flur. Błaszczykowski steckte den Schlüssel ins Schloss und wollte gerade aufschließen, als er einen Schrei vernahm. Er hielt inne und horchte in die Leere. Als er bereits beschlossen hatte, dass es sich um eine Sinnestäuschung gehandelt haben musste, vernahm er ein gedämpftes Gelächter, das zweifelsohne aus der Kantine kam. Błaszczykowski zog den Schlüssel aus dem Schloss und lief geradewegs zur Kantine. Immer wieder schallten Gelächtersalven durch den Gang. Bis Błaszczykowski die Kantinentür aufriss und den Trubel unterbrach. Den Pflegerinnen gefror das Lachen im Gesicht. Sie saßen an einem der Esstische um Sgarby versammelt, dem einzigen Mann in der Gruppe. Eine von ihnen stieß vor Schreck einen abgehackten Schrei aus und alle bis auf Konopka, die den Direktor geradezu empört anstarrte, blickten verschämt auf ihre Schöße oder auf den Tisch. Anscheinend hatte Błaszczykowski die Versammelten dabei erwischt, wie sie sich ein Video auf Sgarbys Handy anschauten. Dieser hatte ein wenig unbeholfen versucht, das Gerät in seiner Hosentasche zu verstecken, dabei aber vergessen, die Wiedergabe zu stoppen. Bisweilen tönten schrille Geräusche aus Sgarbys Hosentasche, die ebenso gut als Schreie eines gequälten Ochsen wie als Jubel von Fußballfans aufgefasst werden konnten. »Sie wissen, dass Sie die Nachtruhe zu wahren haben«, sagte Błaszczykowski. Sgarby nickte widerwillig. Eine Pflegerin murmelte »es tut uns leid, Herr Direktor, es wird nicht noch einmal vorkommen«, worauf Błaszczykowski zunächst nichts sagte. Erst als das Krakeelen in Sgarbys Tasche aussetzte, sagte der Direktor, da ihm nichts Geeigneteres einfallen wollte: »Ich will doch schwer hoffen.« Er lief die Runde mit militärischem Blick ab. Außer der Konopka, die den Direktor weiterhin stumm anstarrte, hielten alle die Köpfe gesenkt, wie Lausebengel, die sich vor der drohenden Standpauke ducken. Błaszczykowski beließ es jedoch bei seiner knapp formulierten Aufforderung zur Einhaltung der Nachtruhe und fügte sogar noch, bevor er die Tür hinter sich zuzog, ein eher freundliches als schroffes »Gute Nacht« hinzu.

Błaszczykowski fuhr mit heruntergekurbeltem Fenster durch die milde Septembernacht. Aus dem Radio klang ein Refrain, den er mitsummte, »komm zurück, komm zu mir«, ein Lied aus den Fünfzigern, das neulich zum Coverhit verballhornt worden war. Ein galliger Geschmack lag ihm auf der Zunge, die nächtliche Versammlung der Pflegerinnen um den klebrigen Sgarby ging ihm nicht aus dem Sinn. Schlecht ausgebildetes Personal – regelrechtes Dorfgesindel – hatte das Heim in letzter Zeit aus finanziellen Gründen einstellen müssen. Sgarby, mit seinem nasenlosen Gesicht. Allein diese Provokation von einer Fratze hätte eine schärfere Zurechtweisung verdient. Mit Folgen hätte er drohen müssen, mit Suspendierungen, zumal ja ein offensichtlicher Verstoß gegen die Hausordnung und die Dienstpflichten vorlag. Vor allem angesichts der jüngsten Todesfälle, die zumindest teilweise auf das fahrlässige Verhalten der Pfleger zurückzuführen waren, und aus denen sogar ernsthaftere Probleme für das Heim hätten erwachsen können, wäre ein härteres Durchgreifen geboten gewesen. Was fiel diesen Leuten eigentlich ein? Anstatt ihren Pflichten nachzugehen, versammelte sich die Nachtschicht um diesen Scharlatan und unterhielt sich mit irgendwelchen lustigen Videos. Und wer wusste schon, was nicht sonst so in seiner Abwesenheit vorging, denn diesem Sgarby – da war sich Błaszczykowski jetzt mehr als sicher – war noch vieles andere zuzutrauen.

Der Idiot! Mit einer scharfen Bremsung brachte Błaszczykowski den Wagen zum Stillstand. Er schaltete den Motor aus. Die Radiostimme wiederholte den Refrain, »komm zurück, komm zu mir«. Das Original war unvergleichlich schöner als die neue Version. Błaszczykowski zündete eine Zigarette an. Mit seiner halbherzigen Mahnung hatte er den Pflegern möglicherweise sogar eine weitere Spottvorlage zugespielt. Die mussten sich noch schiefgelacht haben nach seinem Abgang. Er hätte strenger sein müssen. Im Grunde war er mit seiner übertriebenen Milde seinen Pflichten als Direktor ebenso wenig nachgekommen wie die Pfleger den ihrigen. Auch er hatte also einen Fehler wiedergutzumachen. Als erstes müsste ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden, wenn nicht gegen alle, so zumindest gegen den Unruhestifter Sgarby. Und gegen die Konopka könnte man auf Anhieb zwei Verfahren einleiten: eins gegen ihre Person und das andere gegen ihren unausstehlichen Blick. Was die sich erdreistete, ihn mit ihren durchsichtigen Augen so anzuglotzen! Die Fotze! Morgen früh würde er beide vorsprechen lassen. Und dann würde man schauen, wie lange die Suspendierung ausfallen würde, denn es war klar, dass die Mindeststrafe in diesem Fall eine Suspendierung war. Błaszczykowski schlug mit der Handfläche auf das Steuer und stieß ein zufriedenes »Ja!« aus. Doch da fiel ihm ein, dass der Schichtwechsel bereits um halb sieben stattfinden würde und dass er sich bei seinem Dienstantritt um acht Uhr weder Sgarby noch die Konopka würde vorknöpfen können. Er blickte geradeaus in die Finsternis. »Dann eben jetzt.« Er schnipste die Zigarette aus dem Fenster und ließ den Motor anspringen, wendete mit einem Quietschen und raste denselben Weg wieder zurück.

Błaszczykowski parkte in einiger Entfernung des Heims und folgte einem Trampelpfad bis zur Ostseite des Grundstücks. Über einen morschen Lattenzaun gelangte er in den Garten des Heims und schlich bis an die Hintertür, die er mit einem Quietschen öffnete. Er war sicher, dass er die Pfleger, die sich nun in Sicherheit wähnten, noch einmal auf frischer Tat ertappen würde. Im Flur, der zur Kantine führte, herrschte Todesstille. Kein Lachen, kein Kreischen, nichts war zu vernehmen, und dennoch zweifelte Błaszczykowski keine Sekunde lang, dass die Pflegerinnen immer noch um Sgarby versammelt waren. Lange blieb er vor der Kantinentür stehen und horchte. Da er aber auch nach einer längeren Weile nichts vernahm, öffnete er vorsichtig die Tür. Nichts. Alles dunkel. Błaszczykowski tastete sich an der Wand bis zum Schalter vor und machte Licht. Der Raum war leer. Vielleicht haben sie sich ja wirklich zusammengerissen, dachte er, obwohl er nicht recht daran glauben wollte. Ein plötzlicher Knall, der durch den Flur hallte, bestätigte ihn in dem Verdacht. Nach einigen Sekunden folgte ein Scheppern, dann ein Kreischen. Błaszczykowski spürte seinen Puls. Er eilte den Flur entlang, dem immer lauter werdenden Lärm entgegen. In einer Einbuchtung am Ende des Gangs befand sich der Zugang zum Bad. Dort brannte Licht. Błaszczykowski blieb stehen. Er hörte ein Wimmern und ein heiseres Röcheln. Den Rücken an die Wand gepresst, schlich er bis zur Badezimmertür vor. Sein Herz schlug ihm in der Kehle, als er durch die weit offenstehende Tür in den hell gekachelten Raum blickte. In einer Ecke sah er die Rücken von zwei Pflegerinnen. Als eine der beiden sich vornüber beugte, erkannte er auch Sgarby, der sein Handy eine Hand weit vor den Augen hielt und offenbar etwas filmte, was sich auf dem Boden zutrug. Eine perfide Neugier ermutigte Błaszczykowski, einen Schritt weit in den Raum vorzudringen, um zu sehen, was Sgarbys Kamera einfing. Was sich seinem Blick darbot, überwältigte ihn derart, dass er das Gleichgewicht verlor und beinahe zu Boden gestürzt wäre, hätte er sich nicht reflexartig an einem Wasserrohr festgeklammert. Auf dem Boden zusammengekauert lag ein alter Mann, Nieszpułka, völlig nackt und mit blutüberströmtem Gesicht. Eine der Pflegerinnen, die durch die Zähne fauchte, schien mit einer Zange in einer Wunde an seinem Unterkörper zu stochern, während zwei weitere Pflegerinnen damit beschäftigt waren, seinen Kopf mit Fäkalien zu beschmieren. Sgarby stand mit weit aufgerissenen Augen daneben und hielt die Handykamera auf diese unsägliche Gewalt. Der Alte röchelte leise oder vielleicht bildete sich Błaszczykowski nur ein, so etwas wie ein Röcheln zu hören. Seine Knie flatterten, das Wasserrohr schien sich in seiner Hand zu biegen wie Gummi. Was hier vor sich ging, ließ sich alles nicht mehr mit Maßregelung und Suspendierung erledigen, das war ein Fall für die Polizei. Błaszczykowski tastete die Hosentasche nach seinem Handy ab. Dann spürte er nur noch ein metallenes Krachen, das ihm den Hinterkopf zerbarst wie Eis.

Der Fotograf

Als ich gerade sechzehn Jahre alt geworden war, fuhr ich für zwei Wochen nach Sizilien, zu einem Onkel, der mit seiner Familie in einem Reihenhäuschen am Rande von Caltanissetta lebte. An den Tag der Ankunft erinnere ich mich noch genau, es war der 6. September, zwei Tage nach meinem Geburtstag. Als ich aus dem Zug ausstieg, lag der Geruch von verbrannten Pinien in der Luft. Mein Onkel erklärte mir, dass das Hinterland seit Tagen brannte. Am Horizont türmten sich graue Rauchwolken, bei Südostwind legte sich ein Schleier über die Stadt. Halb Sizilien muss in jenem Jahr abgebrannt sein. Meinen Cousin – er hieß Franco, wie mein großer Bruder – habe ich damals gar nicht zu Gesicht bekommen, weil er bei der Freiwilligen Feuerwehr im Dauereinsatz war. Am Abend betete meine Tante Rosenkränze für ihn, während sich meine Cousine Daniela schön machte für den Abend. Daniela war viel älter als ich, fünf Jahre, wenn nicht mehr. Auf meine Frage, was sie vorhabe, entgegnete sie »du kommst mit« und packte mich an der Hand. Auf der Piazza tranken wir mit ihren Freunden einen Aperitivo, später gingen wir auf ein Fest in einem Tanzsaal, auf einer Anhöhe ein wenig außerhalb der Stadt. Wir tanzten stundenlang und machten uns den größten Spaß daraus, den Jungen, die uns wie Mücken umschwirrten, Körbe zu verpassen. Als wir spät nachts zurückkehrten, erzählte mir Daniela, wie sie, sehr gegen den Willen ihres Vaters, mit vierzehn die Schule geschmissen und seitdem ein bisschen von allem gemacht hatte. Bäckergehilfin war sie eine Zeit lang gewesen, dann Näherin und Metzgerin. Sie erzählte von ihren vielen Affären und von Antonio, ihrer einzigen wahren Liebe. »So eine Liebe gibt es nur einmal«, sagte sie ernst. Antonio war mit ihrem Bruder befreundet gewesen, ein junger Soldat. Zwei Wochen lang trafen sie sich in einer alten Hütte am Waldrand. Danach musste er nach Treviso. Aeronautica Militare. »Ich habe ihn zum Bahnhof begleitet, er hat mir einen Kuss auf die Wange gedrückt und ist in den Zug gestiegen.« Daniela gab einen lauten Kuss in die Luft, sprang vom Weg ab und kletterte auf einen Felsen. Der Wald bildete eine schwarze Kulisse hinter ihr, von Weitem war noch die Musik aus dem Tanzsaal zu hören. »Komm!« Sie steckte eine Zigarette an, kippte den Kopf zurück und blies den Qualm in die Luft. Ich kletterte zu ihr hinauf. »Es ist schön, dass du nach Sizilien gekommen bist«, sagte sie. Ich wollte etwas Freundliches erwidern, ihr für den schönen Abend danken, aber sie redete weiter: »Ich brauche nämlich morgen deine Hilfe.« – »Meine Hilfe?« Sie zog lange an der Zigarette. »Es ist einfach: Ich habe einen Fotografen kennengelernt. Einen Ausländer.« – »Hast du dich verliebt?« Daniela winkte ab. »Man verliebt sich nur ein Mal, das habe ich dir doch eben erst erklärt.« Sie nahm die Spange aus dem Haar und glättete die Frisur. »Er möchte mich fotografieren«, zischelte sie mit der Zigarette im Mund. Ich hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte. »Er möchte dich fotografieren?« Daniela klemmte die Spange ins Haar. »Er möchte mich nackt fotografieren.« Mein Gesicht wurde heiß. »Ich habe schon ein Mal für einen Maler gesessen. Keine schwierige Arbeit. Man sitzt da. Man wird gemalt. Und am Ende bekommt man sogar Geld.« Ich schüttelte zwei Steine zwischen meinen Handkuhlen, wie beim Würfeln. »Ein Foto ist kein Gemälde«, gab ich zu bedenken, doch sie hörte nicht einmal zu. »Du musst morgen mitkommen«, sagte sie und drückte die Zigarette am Stein aus. »Ich? Auf keinen Fall!« Ich protestierte, wie ich nur konnte, doch sie schob sich an mich heran und setzte mir einen nikotinbitteren Finger auf den Mund. »Er möchte mich in der Natur fotografieren, im Wald.« Ich schüttelte den Kopf. Daniela griff nach meinen Händen, ihre Augen – in der Dämmerung konnte ich es genau erkennen – waren feucht. Sie hatte runde schwarze Augen, ein schönes maurisches Gesicht. Große Brüste. Sie musste wunderschön sein, nackt, ich schüttelte aber den Kopf und wiederholte leise »Nein«. »Tesoro«, sagte sie und fasste mir ans Knie, »wenn du dabei bist, macht es doch viel mehr Spaß.« Ich blickte hinab auf meine neuen Sandalen, die mir mein Vater zum Geburtstag geschenkt hatte, während sie meine Beine streichelte und auf mich einredete. Bis ich schließlich nachgab – denn es war aussichtslos – und sie mir vor Freude einen feuchten Kuss, halb auf die Wange, halb auf die Lippen, drückte. Um die Waldsilhouette lief der Himmel rötlich an.

Zu Hause konnte ich kaum schlafen. Die Hitze war unerträglich, die Bettlaken nass und klebrig. Einmal erwachte Daniela aus ihrem Schlaf und fragte, ob alles in Ordnung sei. »Es ist zu heiß«, sagte ich. Sie rückte ihr Kopfkissen zurecht und kehrte mir den Rücken zu. »Schlaf lieber«, murmelte sie zur Wand, »wir haben morgen einen langen Tag.« Als ich es nicht mehr länger aushielt, stand ich auf und schlich in die Küche. Weil ich nichts anderes zu tun wusste, bereitete ich das Frühstück vor. Ich kochte Kaffee, toastete Brot vom Vortag, stellte Butter und Marmelade auf den Tisch und wartete, bis alle aufstanden. Zum Frühstück erschien Daniela in einem mattgrünen Kleid. Ein Ledergürtel hing lose um die Hüfte. Dazu trug sie eine weiße Schute mit Schleife, die sie auch bei Tisch nicht absetzte. Sie trank eine Tasse Kaffee und aß einen Keks. Mein Onkel blätterte stumm in der Gazzetta dello Sport, meine Tante fragte mich misstrauisch, was wir denn vorhätten bei der Hitze. Ich merkte, wie meine Stimme stumm zitterte, aber Daniela ließ mich gar nicht zu Wort kommen, sondern erzählte von einem Schneider aus San Cataldo, der Aushilfen bräuchte wegen der vielen Hochzeiten im September. »Wir machen da heute ein paar Stunden.« Sie lächelte mich an, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Fein«, sagte die Tante, »fein, ein bisschen Arbeit steht euch jungen Damen nicht schlecht.«

Draußen war es drückend heiß. Wir liefen zu einem kleinen Hotel in der Nähe des Rathauses. Ich folgte meiner Cousine ins Gebäude, sie grüßte den Portier, ungeniert, als kenne sie ihn schon ein Leben lang. Zielstrebig lief sie auf eine schmale Holztreppe zu. Die Stufen knirschten unter unseren Füßen, wir gingen in den zweiten Stock. Am Ende eines krummen, an buckligen Wänden verlaufenden Flurs klopfte Daniela an eine Tür. Im Rahmen erschien ein gutaussehender Mann mit glattgegelten, hellen Haaren und dünnem Oberlippenbart. Er grüßte Daniela mit einem Handkuss. »Roman«, stellte er sich vor und gab mir die Hand, die weich war wie eine Frauenhand. »Das ist meine Cousine«, sagte Daniela und trat ins Zimmer ein, noch ehe Roman dazu einlud. Auf einem Metallbett lagen Klamotten herum. Am Fenster zum Corso stand ein holzwurmzerfressener Schreibtisch, auf dem Roman eine Landkarte von Sizilien ausgebreitet hatte. Caltanissetta war schwarz umkringelt und mit einer unleserlichen Notiz versehen, anscheinend in einer fremden Sprache. Neben der Karte reihten sich mehrere Kameraobjektive aneinander, die Linsen nach unten. »Wenn ihr wollt, kann ich euch ein paar ältere Fotos zeigen«, sagte er. Trotz des unverkennbaren Akzents sprach er ein sehr schönes Italienisch, in dem alle Sätze weich abklangen. Daniela klatschte in die Hände: »Ja, zeig!« Aus einer Ledermappe, die er unter dem Bett hervorholte, nahm er einen Stapel Bilder. »Hier.« Er hielt Daniela die Fotos hin. Beim Anblick des ersten schrak ich zusammen. Auch Daniela verstummte und wechselte rasch zum nächsten Bild und dann zum übernächsten. Sie waren alle sehr ähnlich. »Was sind das eigentlich für Bilder?«, fragte ich. Roman lächelte schelmisch, ein bisschen stolz auch. »Sie sehen echt aus, nicht? Das Bild da zum Beispiel finde ich fantastisch.« – »Das hier?«, fragte Daniela und zeigte auf einen schwarzen Lurch, der auf einem Stein lauerte. Von seinem Schwanz, der zu einem Kringel eingerollt war, verlief ein dunkler Streifen über den Rücken. »In Wirklichkeit sind das alles gar keine Lurche, sondern Kunstobjekte eines berühmten Künstlers. Oskar Kottwitz. Der ist auch in Italien bekannt.« Daniela ging die Molchbilder durch. »Hast du denn keine Fotos von Menschen?« Roman fuhr mit der Zunge über die Unterlippe. In der Ferne setzten wieder die Feuersirenen ein. »Ekelt ihr euch etwa vor diesen Tieren, die gar keine sind?« Daniela schaute ihn an. »Nein. Sie sind nur ein wenig besonders.« Sie legte den Stapel auf das Bett, während Roman die Objektive in seine Kameratasche einräumte. Die Landkarte schob er, sorgfältig zusammengefaltet, in das vordere Fach. Die Tasche über die Schulter geschwungen, musterte er uns mit einem Lächeln. »Gut. Gehen wir«, sagte Daniela. Roman schloss das Zimmerfenster und zog die Stoffgardinen zu. Für einen Moment verstummten die Sirenen.

Wir liefen lange durch die sengende Mittagshitze. Daniela führte uns über eine Sandpiste auf einen dicht mit Bäumen bewachsenen Hügel. Ganz verschwitzt kamen wir oben an. Unterwegs hatte Roman an einer Tankstelle zwei Wasserflaschen gekauft. Eine davon war für Daniela und für mich. Wir setzten uns in einen Schatten auf einen gefällten Baumstamm und schauten hinunter auf Caltanissetta. Hinter der Stadt stieg Qualm auf. »Da wird auch mein Bruder sein«, flüsterte Daniela. Roman verstand nicht, wovon die Rede war. »Er ist bei der Feuerwehr.« Roman schaute in die Ferne. »Tapfer«, murmelte er, und ich war mir nicht sicher, ob er es so meinte oder nur ironisch sagte. »Los!« Daniela stand auf und klopfte sich das Kleid sauber. Wir folgten in den Wald.

An einer Lichtung machten wir Halt. Roman blickte umher, schaute durch den Sucher der Kamera. »Dort vielleicht.« Er lief auf eine Gruppe von Schwarzkiefern zu, durch deren Geäst ein sanftes Licht fiel. »Hier ist gut«, sagte Roman. Im Hintergrund, in der Ferne war die Rauchsäule zu sehen. »Sieht man da nicht den Qualm?«, wagte ich zu fragen. Ich musste an meinen Cousin denken, der dort am Horizont gegen ein Feuermeer kämpfte, inmitten von Flammen, die ihm die Glieder leckten, das Gesicht Kohlenschwarz. Nie hätte er auch nur ahnen können, dass seine Schwester und seine kleine Cousine im selben Moment mit einem Erotikfotografen im Wald unterwegs waren. Oder doch? Es gab ja so etwas wie Telepathie, insbesondere zwischen Geschwistern. »Komm«, unterbrach Daniela meine Gedanken. Ich sollte ihr beim Ausziehen helfen. Nach und nach reichte sie mir ihre Kleidungsstücke, die ich zusammenfaltete. Als sie mir ihr Höschen anvertraute, spürte ich ein Stechen im Rachen. Ihre Wäsche hatte einen Duft von Kampfer und Lavendel. Mit aller Sorgfalt, die mir meine zittrigen Hände erlaubten, legte ich ihre Sachen auf einem nestartigen Wurzelwerk ab und nahm im Moos daneben Platz. Roman schraubte die Kamera auf das Stativ. »Kannst du dich ein wenig zur Seite drehen?« Er schaute durch den Sucher, gab ein Zeichen mit der Hand. »Noch ein bisschen. Noch ein bisschen.« Lange geschah nichts. Mein Herz raste. Als ich das Schnalzen des Auslösers hörte, stieß ich einen Schrei aus. Roman drehte sich zu mir um. Daniela schaute in meine Richtung, ohne die Pose aufzulösen. »Alles in Ordnung?«, fragte sie. Ich deutete auf meine Hand. »Ein Insekt.« Zum ersten Mal schaute ich Daniela genau an. Sie stand mit leicht auseinandergespreizten Beinen in einer Flut von milchigen Lichtstrahlen, die durch das Geäst fielen. Ihre Schamhaare hatte sie rasiert, sodass der Ansatz der Scheide und dazwischen eine etwas hervorgestülpte Lippe zu sehen war. Ihre Brüste waren rund, mit großen dunklen Warzenhöfen, aus denen spitze Brustwarzen hervorstachen. Sie stand auf ihren Beinen wie auf Stelzen, die Hände an den Hüften, den Kopf leicht nach links geneigt. Roman war dabei, die nächste Einstellung vorzubereiten. »Den linken Fuß einen halben Schritt nach vorne. So ist gut.« Gebieterisch blickte Daniela in die Kamera. Man hätte glauben können, dass sie durch das Objektiv hindurch in Romans Auge schaute und ihn auf diese Weise in ihrem Bann hielt. Roman gab ihr immer wieder neue Anweisungen, aber es war, als folgte er damit nur Danielas Wünschen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich einen Begriff davon, was Schönheit ist, und ich spürte ein Kribbeln, das vom Unterleib in den Magen strahlte oder in die Milz, ich weiß nicht, jedenfalls spürte ich dieses Kribbeln tief in den Eingeweiden.

Als die Schau zu Ende war, hatten sich die Lichtstrahlen aufgelöst. Daniela zog ihr Kleid an, während Roman am Boden hockte und Filme beschriftete. Er bemerkte, dass ich verloren umherstand. »Los«, sagte er zu mir mit der Kamera in der Hand, »ein Foto ist noch auf dem Film.« Ich war wie in Trance. »Ein Foto?«, fragte ich, oder vielleicht brachte ich es gar nicht über die Lippen, wie in einem Traum, in dem es uns die Stimme verschlägt. »Ja, komm!« Eine nie dagewesene Mischung aus Scham und Reiz überfiel mich. Mein Gesicht brannte. »Muss ich mich ausziehen?« Roman lachte. »Ich möchte dein Gesicht fotografieren.« Er legte mir seine Mädchenhände auf die Schultern und schob mich einen halben Meter zurück. Dann richtete er die Kamera auf mich. Ich kam mir vor wie ein albernes kleines Kind. »Was soll ich machen?« – »So ist gut.« Er löste aus. »Sehr schön«, lächelte er, »du hast ein hübsches Gesicht.«