Berlin – Stadt der Revolte - Michael Sontheimer - E-Book

Berlin – Stadt der Revolte E-Book

Michael Sontheimer

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt«
Überall in Berlin finden sich Orte, die Schauplätze von Revolten waren: der Studentenbewegung im Westen, der Oppositionellen im Osten, der Feministinnen, Hausbesetzer und Punks in beiden Teilen der Stadt. So sehr sich die Reaktionen der jeweiligen Staatsmacht auf die jungen Rebellen beiderseits der Mauer auch unterschieden, überraschend ähnlich waren die Motive und der Mut der Menschen, die gegen überholte Ordnungen und Autoritäten aufbegehrten. Michael Sontheimer und Peter Wensierski erzählen die jüngere Geschichte einer aufsässigen Metropole anhand von Wohnungen, Häusern, Straßen und Plätzen. Gestützt auf umfassende Recherchen und Gespräche mit den Beteiligten, lassen sie eine Topographie der Revolte entstehen, die zum Flanieren, Entdecken und Staunen einlädt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 571

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael SontheimerPeter Wensierski

BERLIN

STADT DER REVOLTE

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, März 2018

entspricht der 1. Druckauflage vom März 2018

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Covergestaltung unter Verwendung eines Fotos von Günter Zint.

Motiv: Demonstranten auf einem umgestürzten Bauwagen, mit dem sie am Ostersonntag 1968 auf dem Kurfürstendamm eine Barrikade errichtet hatten.

Lektorat: Dr. Stephan Lahrem, Berlin

Karte: Peter Palm, Berlin

eISBN 978-3-86284-413-5

Inhalt

Das Gen der Revolte. Vorwort

DIE WILDEN SECHZIGER

1 Randale mit den Rolling Stones

Waldbühne; Glockenturmstraße 1

2 Es darf gegammelt werden

Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche; Breitscheidplatz

3 West-Berliner Weltgeister

Das SDS-Zentrum; Kurfürstendamm 140

4 Ein Schuss in viele Köpfe

Der Tod Benno Ohnesorgs; Krumme Straße 66–67

5 »Amis go home!«

Amerika Haus; Hardenbergstraße 22–24

6 Unruhige Ostern

Sitz des Axel-Springer-Verlages; Kochstraße 50 (heute Rudi-Dutschke-Straße)

7 Kritische Masse

Audimax von FU und TU; Garystraße 35, Straße des 17. Juni 135

8 Die Wahrheitsfindung

Kriminalgericht und Untersuchungshaftanstalt Moabit; Turmstraße 91

9 Die Entdeckung Kreuzbergs

Adalbertstraße 48

10 Konfliktverteidigung

Das Sozialistische Anwaltskollektiv; Meierottostraße 1

11 »High sein, frei sein …«

21.-Mai-Teestube; Xantener Straße 9

12 Die K1

Wohnungen der Kommune 1; Niedstraße 14, Kaiser-Friedrich-Straße 54a, Stephanstraße 60

13 Umherschweifende Haschrebellen

Wohnung der Wielandkommune; Wielandstraße 13

14 Antiautoritäre Erziehung

Der erste Kinderladen; Kopfstraße 12

AUFBRUCH IM OSTEN

15 Ost-Helme für die APO

Sophienstraße 31, Brunnenstraße 5

16 »Sofort war ’ne Gegenreaktion bei mir«

Bettina Wegner; Elsa-Brändström-Straße 18

17 »Nichts und niemals etwas hinnehmen«

Die Ost-Kommune 1; Samariterstraße 36, Gartenstraße 115

18 »Unser schlimmstes Gift«

Wolf Biermann; Chausseestraße 131

19 Havemanns Haus

Grünheide; Burgwallstraße 4

20 Alternative gesucht

Die Wohnung Rudolf Bahros; Streustraße 53

KRIEG UND FRIEDEN

21 »Natürlich kann geschossen werden«

Die Befreiung von Andreas Baader; Miquelstraße 83

22 Tugend und Terror

Ulrike Meinhofs letzte legale Wohnung; Kufsteiner Straße 12

23 Mit Knarre und Toupet

Konspirative RAF-Wohnung; Knesebeckstraße 89

24 »Friede den Hütten«

Georg von Rauch-Haus; Mariannenplatz 1a

25 Keine Macht für Niemand

Domizil der Ton Steine Scherben; Tempelhofer Ufer 32

26 Frauen, kommt her!

Autonomes Frauenzentrum; Hornstraße 2

27 Das Kreuzberger »Volksgefängnis«

Laden der Bewegung 2. Juni; Schenkendorfstraße 7

28 Der große Ratschlag

Tunix-Kongress; Audimax der TU, Straße des 17. Juni 135

29 Prinz Eisenherz

Der erste Schwulenbuchladen; Bülowstraße 17

30 Die taz

Suarezstraße 41, Wattstraße 11–12

ES WERDEN MEHR

31 Blues-Messen

Samariterkirche; Samariterstraße 27; Erlöserkirche; Nöldnerstraße 43

32 Frauen für den Frieden

Erlöserkirche; Nöldnerstraße 43; Auferstehungskirche; Friedenstraße 83

33 Straßen der Opposition

Prenzlauer Berg; Fehrbelliner, Husemann-, Rykestraße, Kastanienallee …

34 Graue Fassade, bunte Bewohner

Fehrbelliner Straße 7

35 Offene Wohnung

Bei Ulrike und Gerd Poppe; Rykestraße 28

36 Erziehung zum Frieden

Kinderladen; Husemannstraße 14

37 Dunkelkammer im Hinterhof

Fotograf Harald Hauswald; Kastanienallee 11

38 Der »Schwarze Kanal«

Ost-West-Piratensender; Husemannstraße 10

HAUS UM HAUS

39 Instand(be)setzung

Comiczeichner Seyfried; Görlitzer Straße 74

40 Juppys Circus

Einstiges UFA-Gelände; Viktoriastraße 10–18

41 Der Zwölftezwölfte

Straßenschlacht nach Räumung; Fraenkelufer 48

42 Der Bauhof

Material für Hausbesetzer; Manteuffelstraße 40–41

43 Der Zwoundzwanzigsteneunte

Der Tod von Klaus-Jürgen Rattay; Winterfeldtstraße 20, Bülowstraße 89, Potsdamer Straße 125

44 Krawall ohne Bullen

Besetzer-Kulturzentrum; Potsdamer Straße 157–159

45 Punk und Pogo

Das SO36; Oranienstraße 190

46 Knüppel, Steine, Tränengas

Nollendorfplatz, Wiener Straße 1–6

47 Sprung über die Mauer

Kubat-Dreieck; Lennéstraße, Bellevuestraße, Ebertstraße

ES REICHT!

48 Treffpunkt der Opposition

Bei Bärbel Bohley; Fehrbelliner Straße 91

49 Freiheit der Kunst

Literarischer Salon von Wilfriede und Ekkehard Maaß; Schönfließer Straße 21

50 Die radix-blätter

Untergrundverlag und Druckerei; Ferdinandstraße 4

51 Der Ost-West-Kanal

Lutz Rathenow und Jürgen Fuchs; Thaerstraße 34, Gabelsberger Straße 3 (heute Silvio-Meier-Straße), Tempelhofer Damm

52 Popmusik, Protest und Prügel

Konzert an der Mauer; Pariser Platz, Unter den Linden

53 Das Hauptquartier

Die Umweltbibliothek; Griebenowstraße 15–16

54 Auf die Straße!

Demonstrationen gegen Wahlfälschung und Bevormundung; Alexanderplatz

55 Erst die Wohnungen, dann die Häuser

Besetzte Häuser; Lottumstraße 10 a, Schönhauser Allee 20–21, Schreinerstraße 47

56 Die letzte Schlacht

Besetzte Straße; Mainzer Straße 2–12, 22, 24

Und jetzt? Nachwort

ANHANG

Karte

Quellen

Literatur

Vollständige Adressen

Personenregister

Über die Autoren

Für Aline, Bruno, Leon und Robin

Das Gen der Revolte

Vorwort

In der Linienstraße in Berlin-Mitte steht ein Gesamtkunstwerk, ein früher mal besetztes, mit Graffiti überzogenes Haus. »Soldaten sind Mörder« ist auf den bröckelnden Putz gemalt, ein Satz von Kurt Tucholsky. In Kreuzberg am Mariannenplatz, über dem Eingang des 1971 von jungen Linken besetzten Georg von Rauch-Hauses, findet sich ein Spruch Georg Büchners: »Friede den Hütten, Krieg den Palästen«. Berliner Rebellen scheinen einen Hang zur Literatur zu haben und einen Drang zur Romantik. Ihre bevorzugte Figur ist die eines romantischen Verlierers.

Auf eine Theorie der Revolte konnten die Berliner Hausbesetzer allerdings auch nicht zurückgreifen, sie existiert – erstaunlicherweise – nicht einmal in Ansätzen. In der marxistisch geprägten Revolutionstheorie wird die Revolte gelegentlich als kleine Schwester der Revolution erwähnt, als lokal oder von ihren Protagonisten gesehen begrenzter Aufstand, als erfolgloser Versuch einer Revolution.

Der Revolte werden meist keine nachhaltigen Wirkungen zugestanden. So schrieb der französische Philosoph Michel Foucault: »Revolten sind Feuerwerke, geschossen in das Dunkel der Macht; sowie sie aufleuchten, sind sie am Verlöschen.« Eine positivere Sicht auf den politischen Aufstand hatte der in West-Berlin lehrende Politologe Johannes Agnoli. Zwar stellte er fest: »Revolten kennen im allgemeinen nur das Scheitern, sonst wären sie Revolutionen«, aber er räumte ihnen eine langfristige Wirkung ein: »Die gescheiterte Revolte indessen greift in die Geschichte ein, sie setzt Zeichen, die teils verschwinden, um später wieder aufzutauchen, sie verändern doch die Welt.«

Berlin, die deutsche Hauptstadt, birgt eine ganze Reihe von Zeichen vergangener Revolten. Im Westen wie im Osten finden sich Orte, die Schauplätze oder Kulissen unterschiedlicher Aufstände waren. Die Neigung der Politiker, an die Revolten und ihre Opfer zu erinnern, ist allerdings gering. An den im September 1981 in West-Berlin bei einem Polizeieinsatz zu Tode gekommenen Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay beispielsweise erinnert nichts im öffentlichen Raum.

Vielleicht besitzen Städte eine Erbmasse. Wenn dem so sein sollte, dann gehört zur Erbmasse Berlins ein Gen der Revolte. Spätestens im 19. Jahrhundert hatte sich der Drang zum Aufstand in der Berliner DNA festgesetzt. 1848 kämpften Demokraten für die Freiheit, 1919 kommunistische Arbeiter für eine Rätedemokratie. Hunderte Antifaschisten ließen hier ihr Leben im Widerstand gegen Hitler, 1953 probten Ost-Berliner Arbeiter den Aufstand. Seit den Sechzigerjahren folgten Revolten in kürzeren Abständen.

So wie es keine Theorie der Revolte gibt, fehlen auch soziologische Studien über ihre Protagonisten. Folgen wir subjektiven Eindrücken und der Logik, sind die Träger von Revolten, die Kämpfer auf der Straße, fast immer junge Männer. Sie unterschätzen Gefahren und begeistern sich für radikale Ideen. Sie neigen zu Ungeduld und Hochmut. West-Berlin war für junge Männer besonders attraktiv. Auf der Insel inmitten Ostdeutschlands gab es – im Gegensatz zur Bundesrepublik und der DDR – keine Wehrpflicht. Außerdem fehlte eine Sperrstunde; es ließ sich – wie nirgendwo sonst in Deutschland – rund um die Uhr feiern.

Den Beginn der wilden Sechzigerjahre in West-Berlin markieren zwei Ereignisse: Am 18. Dezember 1964 versammelten sich erstmals Studenten zu einer größeren Demonstration, gegen den kongolesischen Ministerpräsidenten Moise Tschombé und dessen Staatsbesuch in West-Berlin. Rudi Dutschke nannte die Aktion später den »Beginn unserer Kulturrevolution«. Ein dreiviertel Jahr später, im September 1965, zerlegten Tausende von Jugendlichen bei einem Konzert der Rolling Stones die Waldbühne. Ab 1966 wählten die Studenten den Kurfürstendamm zur Bühne ihrer Proteste gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam. Sie hielten sich an die Worte des chinesischen Kommunisten Mao Zedong, der gesagt hatte: »Rebellion ist gerechtfertigt.«

Wehrunwillige junge Westdeutsche waren auch die treibende Kraft der Hausbesetzer- und Jugendbewegung, die 1981 in West-Berlin ihren Höhepunkt erreichte. Sie wurde später weniger beachtet als der Aufstand der Studenten von 1967 bis 1969, obwohl die Besetzerbewegung wesentlich größer und militanter war. Linksradikalen, Autonomen, Punks und Alternativen gelang es, rund 100 Mietshäuser dauerhaft in Gemeinschaftseigentum zu überführen.

Nach dem Fall der Mauer entwickelte sich in Ost-Berlin innerhalb von Monaten ebenfalls eine Hausbesetzerbewegung, die im November 1990 mit der Räumung von 13 Häusern in der Mainzer Straße eine dramatische Niederlage erlitt. Anschließend bekam die Mehrheit der Besetzer schnell Mietverträge.

In der DDR war Ost-Berlin ein zentraler Ort der Opposition. Schon 1968 hatten Sympathisanten der West-Berliner Rebellen in der Hauptstadt der DDR Spenden für ihre Brüder und Schwestern im Geiste gesammelt. Einige Mutige protestierten gegen den Einmarsch sowjetischer Panzer in Prag, andere gründeten eine Kommune. In den Achtzigerjahren kamen immer mehr anpassungsunwillige junge Leute und Oppositionelle in den Ost-Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. In zerfallenden Altbauten, deren Wohnungen sie meist »schwarz« bezogen, versuchten sie sich der Kontrolle von Partei und Staatsgewalt zu entziehen. Sie suchten Freiräume für ein selbstbestimmtes Leben und waren darin den Rebellen in West-Berlin durchaus ähnlich. Der Kapitalismus war nicht ihr Sehnsuchtsort.

Wenn Ost- und West-Rebellen zusammenkamen – was nicht so häufig, aber öfter als bekannt geschah –, verstanden sie sich politisch meist intuitiv. Auch wenn die Stoßrichtung ihrer Gesellschaftskritik und die Bedingungen, sie in die Praxis umzusetzen, grundverschieden waren, verband sie die Ablehnung staatlicher Autorität, Kontrolle und Bevormundung. Ob nun aus dem Westen oder dem Osten, sie wollten keine Herrschaft des Geldes, sondern eine gerechte Gesellschaft mit echter Demokratie, eine friedliche und ökologische Alternative zu beiden deutschen Staaten.

Das Revolte-Gen verband die beiden Hälften der geteilten Stadt, aber die Ausgangslage der Oppositionellen im Osten war ungleich schwieriger als die ihrer Freunde im Westen. Bereits bei geringen Anlässen trat die Staatssicherheit in Aktion, mit Überwachung und Schikanen. Schon das Abschreiben und Weitergeben kritischer Texte konnte Gefängnisstrafen nach sich ziehen.

Nachdem die DDR infolge eines neuen Denkens in der Sowjetunion und der Proteste im Inneren kollabiert und die Ostdeutschen der Bundesrepublik beigetreten waren, machten viele der mutigen Oppositionellen Karriere, als Abgeordnete im Bundestag oder anderen Parlamenten, in den Institutionen der DDR-Diktaturforschung, beim Aufarbeiten der Stasi-Vergangenheit. Etliche bekamen ein Bundesverdienstkreuz. Bei den Achtundsechzigern kamen auch viele auf dem von Rudi Dutschke propagierten »langen Marsch« wieder im Bürgertum an, doch zahlreiche Rebellen aus den ersten Reihen bekamen Berufsverbote, etliche leben heute in Armut. Im Gegensatz zur »friedlichen Revolution« der DDR-Oppositionellen fanden die Rebellen im Westen, die gegen den Kapitalismus aufgestanden waren, keine Anerkennung. Und bei dem Sohn des 1967 von einem West-Berliner Polizisten erschossenen Studenten Benno Ohnesorg hat sich noch immer kein Vertreter des Berliner Senats ordentlich entschuldigt.

Natürlich lassen sich nicht alle Aktionen gegen die Staatsmacht als Revolten auf eine Stufe stellen; es ist nicht einerlei, ob sie friedlich oder gewaltsam waren, ob sie von Feministinnen, von Autonomen, von RAF-Terroristen oder von Neonazis kamen. Der Historiker Walter Laqueur hat Terrorismus als eine Strategie des Aufstands beschrieben, die sich mit den verschiedensten Ideologien von links nach rechts kombinieren lässt. Folglich ist die moralische Berechtigung einer Revolte von ihren Ideen, Forderungen und Methoden abhängig. Wir beschränken uns in diesem Buch auf die Rebellionen, die aus einer humanistischen, linken Richtung gekommen sind. Aber auch die können mitunter inhuman enden.

2009 haben wir begonnen, Protagonisten der politischen Gruppen und Bewegungen zu befragen, die von Mitte der Sechzigerjahre bis in die frühen Neunzigerjahre das Schicksal des geteilten Berlin mit ihren Revolten mitgeprägt haben: Achtundsechziger, einstige Haschrebellen, DDR-Oppositionelle, Feministinnen, Hausbesetzer aus Ost wie West, andere mehr. Für viele, die wir befragt haben, gilt das Wort von Sigmund Freud: »Eines Tages, zurückblickend auf die Jahre, wo du gekämpft hast, werden sie dir wie die schönsten vorkommen.«

Uns ging es darum, ein interessantes und wichtiges Stück der Geschichte Berlins zu sichern. Wir führten Interviews mit Zeitzeugen, von denen manche leider inzwischen schon gestorben sind. Mit ihren Geschichten erzählen sie Geschichte. Wir haben diese Erinnerungen mit schriftlichen Zeugnissen und Fotos angereichert.

Orte sind bedeutsam für die Geschichte. Sie prägen die Ereignisse und dienen später als Anknüpfungspunkte der kollektiven und individuellen Erinnerung. Die Annäherung an historisch bedeutsame Orte bedeutet eine Annäherung an Geschichte. Vor diesem Hintergrund gehen wir in diesem Buch von Orten aus, von Wohnungen, Häusern, Straßen und Plätzen. Und versuchen, über diese Schauplätze historisch wichtiger Ereignisse eine Geschichte der kleinen und großen Aufstände in Berlin seit den Sechzigerjahren zu erzählen. Diese kann nicht vollständig oder gar enzyklopädisch sein. Geknüpft werden soll vielmehr ein Netz der Erinnerung, eine Topographie der Revolte. Dieses Netz lässt sich auch gut erlaufen und sinnlich erfahren, deshalb haben wir die Adressen der wichtigsten Schauplätze angegeben. Los geht’s! Man sieht nur, was man weiß.

Unsere Auswahl der Orte ist, wie es schon in den Grenzen eines Buches nicht anders geht, subjektiv und unsystematisch, geprägt von Zufällen, von persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen, Freundschaften und Sympathien. Ein enzyklopädischer Ansatz würde dem schillernden Gegenstand auch nicht gerecht, denn: Die Revolte kommt am liebsten, wenn niemand sie erwartet.

Michael Sontheimer und Peter Wensierski Berlin, im Februar 2018

DIE WILDEN SECHZIGER

1Randale mit den Rolling Stones

Waldbühne; Glockenturmstraße 1

»Ich kenne jetzt die Hölle«, schrieb Marianne Koch, Reporterin der Bild-Zeitung, am 15. September 1965: »Mein Beruf hat mich gelehrt, ziemlich tapfer zu sein. In der Waldbühne habe ich vergangene Nacht das Fürchten gelernt. Eine tosende, entfesselte Masse juchzt. Drängende, strampelnde Leiber an den Eingängen. Dann im Innenraum ein Tanz der Hexen in der Walpurgisnacht. Flammende Fackeln. Rings um mich herum ist alles Ekstase. Tanzt, schreit, zuckt.«

In der Revolte geht der Einzelne im Kollektiv auf, verschmelzen Individuen zur Masse. Auf Versammlungen, bei Demonstrationen, auf den Barrikaden. Oder auch bei Konzerten. In der Revolte befeuern Einzelne eine kollektive Bewegung.

Am 15. September 1965 manifestierten sich die wilden Sechzigerjahre auch in West-Berlin, auf jener surrealen Insel im roten Meer des Kommunismus. Rund 20 000 Fans der Rolling Stones versammelten sich in der ausverkauften Freilichtarena unweit des Olympiastadions. Die sieben Hektar große Anlage, deren Ränge sich wie in einem griechischen Amphitheater 30 Meter über die Bühne erheben, hatte Adolf Hitler für die Olympischen Spiele 1936 erbauen lassen.

Hannibal, 1947 in Berlin-Schöneberg geboren, erinnert sich: »Zu den Stones in der Waldbühne zu gehen, das war Pflicht. Damals gab es nur so wenige Langhaarige.« Also kaufte er sich eine Karte für sechs Mark. Hannibal hatte Maurer gelernt und begeisterte sich als Teenager schon für Rock ’n’ Roll, für Elvis Presley, Little Richard und andere Musiker aus den USA, die dem Blues ein neues Tempo und neue Energie gaben. Die wilden Töne aus Amerika waren für Hannibal und seine Freunde ein Weckruf für den Protest gegen die verstaubten Konventionen und das selbstzufriedene Establishment.

Die Jugendzeitschrift Bravo aus dem Springer-Verlag hatte die Tournee der Rolling Stones durch die Bundesrepublik organisiert und als »einmaliges Sensations-Gastspiel mit der härtesten Band der Welt« beworben. Beim Konzert in Hamburg hatte es 31 Verletzte und 47 Festnahmen gegeben; Berlin war die letzte Station der Tour.

Als eine von vier Vorgruppen hatte sich die lokale Band »Team Beat Berlin« anheuern lassen; Gage gab es keine. Organist Olaf Leitner erinnerte sich später daran, dass das Publikum nur die Stones sehen wollte. »Deshalb hatte ein Teil des Publikums für uns im wahrsten Sinne des Wortes nur ’nen Appel und ’n Ei übrig, die sie während unseres Auftritts auf die Bühne warfen. Nach zwanzig Minuten traten wir wieder ab.«

Die Randale ging schon los, bevor die Stones auf die Bühne kamen. Ralf Reinders, damals Lehrling, erinnerte sich: »Wir hatten die Kohle für den Eintritt nicht und beschlossen, umsonst reinzugehen. In Tegel versammelten wir uns: Beatles-Fans, Stones-Fans und Kinks-Fans. Es waren etwa 200 bis 250 Leute, die dann losmarschierten. Unter ihnen waren die späteren Aktivisten des 2. Juni stark vertreten. Als wir an der Waldbühne aus der S-Bahn kamen, war da gleich die erste Bullensperre. Eine ganz lockere, die wir zur Seite drückten. Dann kam kurz vor der Waldbühne eine zweite mit einer berittenen Staffel. Das war schon ein bißchen komplizierter. Wir sind auch da durchgebrochen. Dann gab es nur noch eine ganz leichte Sperre direkt an der Waldbühne. Und so waren wir schließlich mit über 200 Leuten umsonst drinnen, und standen ganz vorne.«

Das ging nicht ohne Blessuren ab. »Polizeihunde bissen sich in Textilien und Fleisch durchbrechender Beatjünger fest«, fabulierte am nächsten Tag ein Journalist des Tagesspiegel. Schon bei der ersten Nummer der Rolling Stones, »Everybody needs sombody to love«, stürmten Dutzende Fans auf die Bühne. Die Ordner kapitulierten, Polizisten marschierten auf und schufen der Band aus England wieder Platz. Dann spielten Mick Jagger & Co. ihren aktuellen Hit: »I can’t get no satisfaction.«

Doch nach dem dritten Stück hörten sie wieder auf. Bei dem Chaos auf und vor der Bühne fürchteten sie um ihre Sicherheit. Das Publikum war enttäuscht, verlangte nach einer Zugabe, aber die Stones ließen sich nicht mehr blicken, sondern in das noble Schlosshotel Gerhus chauffieren. Die Stones-Fans fühlten sich betrogen und waren sauer.

»Wir begannen von oben auf die Bänke zu springen«, so Hannibal, der später zu den Haschrebellen gehörte (s. Kap. 13). »Die Bänke waren aus Eternit und knackten sofort durch, wenn wir mit unseren Cowboystiefeln draufsprangen.« Es habe eine ganze Weile gedauert, »bis die Bullen ernsthaft eingriffen. Sie waren nicht auf Krawall vorbereitet.« Nun drehten die Veranstalter das Licht aus. Chaos war die Folge. Immer mehr empörte Fans nahmen Bänke auseinander.

Als das Licht wieder anging, marschierten Polizisten auf der Bühne auf. Ralf Reinders: »Die Bullen hielten mit ihren Wasserwerfern von oben rein, worauf sich die erste Schlacht – hauptsächlich mit uns – entwickelte. Jeder kannte jeden und es gab ein Stück Gemeinsamkeit, ein gemeinsames Gefühl.« Bis dahin sei alles noch halbwegs friedlich verlaufen. »Doch dann«, so Reinders, »fingen die Bullen an, auf eine Gruppe von 40 bis 50 Mädels einzuschlagen, die sich an der Bühne versteckt hatten. Das war dann das Signal für alle: jetzt nochmal zurück. Und dabei ging die Waldbühne richtig zu Bruch!«

»Wir sind dann alle abgehauen«, sagt Hannibal, »und in die S-Bahn rein. Die S-Bahn gehörte dem Osten, und der war bei uns nicht so beliebt. Also haben wir die Scheiben eingeschmissen. In Halensee warteten dann die Bullen auf uns. Wir sind aus dem Zug raus und haben es die Böschung raufgeschafft. Da waren wir dann in Sicherheit.«

Im Polizeibericht hieß es: 87 Verletzte, darunter 26 der insgesamt 367 eingesetzten Polizisten. 17 demolierte S-Bahn-Züge, von denen vier aus dem Verkehr gezogen werden mussten. Die Gewerkschaft der Polizei forderte, »derartige voraussehbare Krawallveranstaltungen in Berlin künftig zu untersagen«.

Die empörte Reaktion der Journalisten offenbarte ein abgrundtiefes Unverständnis der älteren Generation gegenüber den Jugendlichen. Im Tagesspiegel hieß es: »Die Verlautbarungen des dem Barbarismus systematisch verfallenden, von einer Massenhysterie in die andere überwechselnden Publikums überstiegen die musikalische Phonerzeugung auf der Bühne um ein Beträchtliches.«

Den Journalisten waren die Jugendlichen, ihre Musik, ihre langen Haare zutiefst zuwider: Das galt nicht nur für West-Berlin, sondern auch für die Hauptstadt der DDR. Befehdeten sich sonst beide Seiten in den Propagandaschlachten des Kalten Krieges, gegen die jugendlichen Musikfans waren sich Kommunisten und Kapitalisten einig. »Im Appell an niedere Instinkte, im Ausscheiden jeglichen Denkens liegt schließlich potentiell eine neue Kristallnacht begründet«, schrieb ein Kommentator im Neuen Deutschland. Schließlich druckte das Parteiorgan der Kommunisten in ganzer Länge die Grusel-Reportage von Marianne Koch aus der Bild nach, die ansonsten als Revanchistenblatt gegeißelt wurde.

Nicht nur das Neue Deutschland schwang die Nazi-Keule gegen die rebellischen Jugendlichen, auch in der Ost-Berliner Jungen Welt hieß es: »Die Hitler-Jugend sang in einem Lied, dass sie marschieren wolle ›bis alles in Scherben fällt‹. Genau in diesen Zustand soll die westdeutsche und Westberliner Jugend versetzt werden.«

Wie man die Kritik an der Bonner Politik mit der an den West-Berliner Jugendlichen unter einen Hut bekommen kann, demonstrierte das Neue Deutschland: »Die fachmännisch inszenierte Massenhysterie dient niemals der Jugend, sondern der Kriegsvorbereitung. Die Schlacht in der Waldbühne soll auf lebensgefährliche Schlachten vorbereiten. Vernebelte Köpfe und nackte Gewalt waren schon immer die besten Bundesgenossen derer, die Deutschlands Jugend in zwei Weltkriege trieben.«

Ein West-Berliner CDU-Abgeordneter wollte von der Landesregierung wissen: »Hält der Senat auch solche Vorkommnisse für eine Attraktion Berlins?« Ein Kommentator des Magazins Blickpunkt namens Wolfgang Fietkau räsonierte: »Textilien lagen damenlos herum, mehr sogar als nach einem alkoholischen Betriebsvergnügen, das manche Eltern gelegentlich in Waldrestaurants absolvieren.«

Für Ralf Reinders, ab 1972 eine wichtige Figur der Stadtguerilla-Gruppe »Bewegung 2. Juni« (s. Kap. 27), stand die Randale beim Konzert der Rolling Stones am Anfang des Kampfes gegen die Staatsgewalt: »Zum ersten Mal sah ich auch ansonsten ganz unpolitische Leute, die einen wahnsinnigen Haß und Frust auf die Bullen hatten.«

Die Waldbühne wurde erst sieben Jahre nach dem Konzert der Rolling Stones wieder instand gesetzt. Im Juni 1980 gab in der Freiluftarena, weniger als ein Jahr vor seinem Tod, der Reggae-Musiker Bob Marley aus Jamaika ein legendäres Konzert. »Get up, stand up. Stand up for your right.«

2Es darf gegammelt werden

Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche; Breitscheidplatz

Als Zentrum West-Berlins galt die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Breitscheidplatz, wo der Kurfürstendamm in den Tauentzien übergeht. Das 1895 eingeweihte Gotteshaus war im Zweiten Weltkrieg zerbombt worden. Der Senat ließ den neoromanischen Torso nicht wieder aufbauen; er sollte künftig als Mahnmal gegen Krieg dienen. Einrahmen ließ die Stadtregierung den »Hohlen Zahn« durch eine moderne, von Egon Eiermann entworfene Kirche.

Ab Mitte der Sechzigerjahre lagerten auf den Stufen des Sockels der Gedächtniskirche langhaarige junge Menschen. Einige unter der Woche, wesentlich mehr am Wochenende. Sie ließen die Lambrusco-Flaschen kreisen; ein paar Mark für den billigen italienischen Rotwein ließen sich immer auftreiben. Vielleicht hatte einer eine Gitarre dabei. Die Touristen aus Westdeutschland sagten zu ihren Kindern: »Guck mal, das sind die Gammler.«

Alfred Mährländer, genannt »Shortie« wegen seiner 1 Meter 97, war einer der ersten Gammler in West-Berlin. »Wir waren schon irgendwie links damals«, erinnert er sich, »aber nicht alle waren politisch.« Zu ihrer Politisierung trug bei, dass sie an der Gedächtniskirche und anderswo übel beschimpft wurden. »Wir kriegten ständig Sprüche zu hören wie: ›Euch müsste man vergasen.‹« »Wir wollten allerdings auch provozieren«, räumt Shortie ein. Die Gammler ließen sich die Haare lang wachsen und trugen in der Hasenheide einen Wettbewerb aus, wer die längst Matte hatte. Shortie kam mit 52 Zentimetern vom Scheitel bis zu den Spitzen auf Platz drei.

Gammler, diese Vorläufer der Hippies, waren nicht nur ein Berliner Phänomen. »Gammler in Deutschland« hieß eine Spiegel-Titelgeschichte im September 1966. »Langhaarig, trinkfest, schmuddelig, gleichgültig, lungern sie an den Ecken der Nation: am Ohr oder um den Hals blechernes Geschmeide, um die Hüften zerfranste Jeans, an jedem Fuß eine andersfarbige Socke, eher aber noch ohne Strümpfe und Schuhe. […] Sie nähren sich von milden Gaben trockenen Brotes oder Schulstullen, die ihnen – so in Frankfurt – von Obersekundanerinnen aus der Straßenbahn gereicht werden. Sie sorgen sich nicht um ihr Leben und erstreben keinen persönlichen Besitz (ein nacktfüßiger Berliner Gammler mit Bart und Abitur: ›Ich halte es wie Kalle Marx, der hielt auch nichts von dieser Eigentumsscheiße‹). Und sie kennen auch ein Vorbild: ›Jesus war der erste Gammler.‹ […] Es sind in Deutschland nur 800 oder tausend an der Zahl; 5000 etwa in Europa. Und doch macht die Gesellschaft um sie ein Aufhebens, als wären es Millionen.«

Zu denen, die angesichts von ein paar hundert Nonkonformisten das Gefühl für Verhältnismäßigkeit verloren und hyperventilierten, gehörte auch der Bundeskanzler. »Solange ich regiere, werde ich alles tun, um dieses Unwesen zu zerstören«, ereiferte sich Ludwig Erhard (CDU) über die Gammelei.

Damit Polizisten Gammler besser identifizieren konnten, listete ein Beamter des niedersächsischen Innenministeriums deren angebliche Merkmale auf: »Zumeist unter 25, Jungen wie Mädchen, vielfach geistig aufgeschlossen, oft gutsituierte Eltern, gruppenweise auftretend, teils politisch engagiert, gesellschaftliche Wiedereingliederung nach Reifeprozess wahrscheinlich«.

Auch mit bescheidenen Mitteln ließen sich damals in der konformistischautoritären Gesellschaft enorme Wirkungen erzielen. Lange Haare bei Männern reichten völlig aus, um in der Öffentlichkeit heftige Aggressionen auszulösen und besonders ältere Frauen in Hysterie zu versetzen. Shortie Mährländer sagt: »Für Langhaarige war es echt gefährlich damals. Du bist von den Hertha-Fans fast gelyncht worden. Oder sie haben dir in der Kneipe gesagt: ›Waldmännchen werden hier nicht bedient.‹ Als Langhaariger hast du in keiner Kneipe was zu essen gekriegt. Manche Typen haben sich deshalb mit Kurzhaarperücke für Jobs beworben und mit der auf dem Kopf auch gearbeitet. Erst am Wochenende kam die Matte raus.«

Jungen, nonkonformistischen Frauen ging es nicht viel besser. Helga Wullweber, damals Jurastudentin, erinnert sich, dass ihre kurzen Röcke für erhebliche Aufregung sorgten: »Aber als wir eines Morgens nach einer durchfeierten Nacht in der U-Bahn von den alten Damen, die ins KaDeWe fuhren, blöde angeredet wurden, sagten wir zu denen: ›Husch. Husch, schnell in die Urne.‹ Da war dann Ruhe.«

Am Wochenende trafen sich die wenigen Langhaarigen von West-Berlin bei Beat-Konzerten, zum Beispiel im »Seeschloss Hermsdorf« oder im »Top Ten« in Rudow; die beliebtesten West-Berliner Beat-Bands Mitte der Sechzigerjahre waren die Hound Dogs und die Boots.

Die erste Kneipe, in der Gammler und andere Nonkonformisten geduldet wurden, war die Dicke Wirtin in der Carmerstraße am Savignyplatz. Dort, so wusste der Spiegel zu berichten, »trinken zerfranste Bohemiens und Schnapspoeten ›doppelten Wünschelburger Eisweizen‹ und ›Rixdorfer Galgen‹, bis immer mal wieder einer steif und stumm vom Schemel fällt«.

Ein Langhaariger namens Pauli mietete einen Keller in der Platanenallee in Westend. In der »Villa Pauli« genannten Höhle im Souterrain trafen sich Shortie und andere Gammler. Um sich zu berauschen, tranken sie alle Arten von Alkohol und nahmen Pillen, etwa das rezeptfreie Aufputschmittel Captagon.

Shortie fuhr mit seinen Freunden im Sommer nach England, nach Holland und nach Schweden. Das gesellschaftliche Klima dort war wesentlich toleranter als in Deutschland. Es gab schon Drogen, vor allem Haschisch. Die Berliner Gammler logierten in Stockholm im Hotel »Beatnik«. Im Jahr 1967 wurden die meisten Gammler zu Hippies, nach dem Vorbild der Blumenkinder in San Francisco.

Die Langhaarigen auf den Stufen der Gedächtniskirche verliefen sich, nicht viel später wurde die Kirche Schauplatz politischer Aktionen. Am 24. Dezember 1967 zogen Mitglieder der Evangelischen Studentengemeinde begleitet vom Orgel-Vorspiel mit Plakaten zur Christmette ein. Ein Foto zeigte einen gefolterten Vietcong, dazu ein Jesus-Zitat von Apostel Matthäus: »Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.« Ein Student stellte ein Pappschild vor den Altar: »Frieden auf Erden, Napalm auf Vietnam.« Als Rudi Dutschke, der Kopf der Studentenbewegung, zur Kanzel eilte, wurden die Rufe der Gottesdienstbesucher, unter ihnen viele Touristen, lauter: »Wascht euch erst mal!«, riefen sie und: »Raus, ihr Schweine!« Dutschke setzte an: »Liebe Brüder und Schwestern …« Da zogen ihn aufgebrachte Gottesdienstbesucher von der Kanzel herunter, von hinten traf ihn die Krücke eines Kriegsversehrten auf den Kopf. Ein ehemaliger Burschenschaftler, früher SA-Mann und Stuka-Flieger, hatte ihm eins übergezogen. Die Christen sangen Weihnachtslieder, Dutschke, dem das Blut über das Gesicht lief, musste sich im Krankenhaus seine Platzwunde nähen lassen.

3West-Berliner Weltgeister

Das SDS-Zentrum; Kurfürstendamm 140

Über dem Eingang des Hauses dräute ein in Sandstein gehauener Reichsadler. Das Hakenkreuz, das er einst in seinen Krallen hielt, war 1945 weggeschlagen worden. In dem Gebäude Kurfürstendamm 140 hatten NS-Schreibtischmassenmörder den »Generalplan Ost« entwickelt, eine Blaupause der Versklavung und Vernichtung der slawischen Völker.

In diesem Haus mietete der Rechtsanwalt Horst Mahler für den Berliner Landesverband des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) 1964 eine heruntergekommene Altbauwohnung an. Sie war sehr groß, selbst für Berliner Verhältnisse. Die zeichneten sich dadurch aus, dass es, besonders in den westlichen Innenstadtbezirken, weitläufige bürgerliche Wohnungen gab wie sonst in keiner anderen deutschen Stadt. Die herrschaftlichen Räume lagen zur Straße hin; als Übergang zum Seitenflügel diente das meist düstere »Berliner Zimmer«; es folgten kleinere Räume und ganz hinten die Küche, eine Dienstbotenkammer und der Lieferantenaufgang. Die jüdischen Bewohner dieser noblen Domizile waren von den Nazis vertrieben und ermordet worden, die »arische« Bourgeoisie war nach dem Krieg größtenteils in die prosperierende Bundesrepublik abgewandert. In das bauliche Vakuum strömten die Studenten. Sie wurden Untermieter bei den sprichwörtlichen »Wilmersdorfer Witwen« oder schlossen sich in den hohen Hallen zu Wohngemeinschaften und Kommunen zusammen.

Im »SDS-Zentrum« diente das Berliner Zimmer als Versammlungsraum, der mehr als 100 Menschen fasste. Der aus Stuttgart zugezogene Student Tilman Fichter gehörte zu den ersten Bewohnern des SDS-Zentrums und nennt dessen Belegschaft »die erste politische Wohngemeinschaft der Stadt«.

Der SDS war 1946 als der SPD nahestehende Studentenorganisation gegründet worden, ein Jahr danach wurde der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt zum Bundesvorsitzenden gewählt. Doch 1961 schloss die SPD die regelmäßig kommunistischer Umtriebe verdächtigten Studenten komplett aus der Partei aus.

Tilman Fichter, der später in die SPD eintrat und als Bildungsreferent im Parteivorstand arbeitete, erinnert sich an »rund zehn Wohneinheiten« im SDS-Zentrum. »Wir waren keine Kommune, wir suchten keine Ersatzfamilie, sondern wir waren eine Art Schiffsmannschaft – allerdings eine ohne Kapitän.« Jeder musste mitarbeiten, es gab Arbeitspläne. Es galt die Ölöfen, mit denen geheizt wurde, im Winter täglich nachzufüllen. Es war sauberzumachen. Ein einstiger Mitbewohner sagt: »Beim Aufräumen sammelte man jedes Mal 10 000 Kippen ein; damals rauchte eigentlich jeder.«

Mit Ausnahme eines Malers waren alle Bewohner des SDS-Zentrums Mitglieder im radikalen Studentenverband. Jeder bezahlte zwischen 80 und 100 D-Mark Miete. »Wir waren arm damals«, sagt Tilman Fichter. »Wir gingen zum Jugoslawen eine Currywurst mit scharfen Zwiebeln essen.« In der Küche gab es getrennte Kühlschränke. Nur Rudi Dutschke und seine Frau Gretchen, die ein Jahr hinter der Küche wohnten, holten sich immer die Milch aus allen Kühlschränken. Die Mitbewohner ließen ihnen das durchgehen, denn Rudi war so charmant, dass ihm niemand wegen des Klauens von Milch böse sein konnte.

Rudi Dutschke war im Sommer 1961, kurz vor dem Bau der Mauer, aus Luckenwalde, südlich von Berlin, in die Westsektoren der Stadt geflüchtet. Er hatte schon in der Schule Ärger bekommen, weil er pazifistische Reden gehalten und sich geweigert hatte, in der Nationalen Volksarmee zu dienen. Zunächst wollte Dutschke Sportreporter werden, arbeitete auch kurz bei Springers BZ, dann interessierte er sich doch mehr für Philosophie. Der Student schloss sich der anarchistischen Gruppe »Subversive Aktion« an, machte mit Bernd Rabehl und anderen Genossen die Zeitschrift Der Anschlag und trat schließlich Anfang 1965 in den SDS ein. Dutschke hatte asketische Züge und las pausenlos. Hegel mit seiner Denkfigur des »Weltgeistes« hielt er für den größten Vertreter des subversiven Idealismus; er studierte die materialistische Geschichtsauffassung von Karl Marx. Er las Karl Korsch, Georg Lukács und Herbert Marcuse.

Gleichzeitig besaß er Charisma, war ein brillanter Redner und es dauerte nicht lange, bis er zum Kopf der Studentenbewegung wurde. »Da ist nichts an Rudi Dutschke, was nicht dem Bild des braven Bürgers vom Revolutionär entspräche«, hieß es im Spiegel. »Und wenn er von Revolution spricht, ist sein Antlitz düster-schreiender Protest.«

Dutschkes Mitbewohner Jörg Schlotterer aus Stuttgart, der SDS-Mitglied wurde, obwohl er kein Abitur hatte, und als Gasthörer studierte, erinnert sich: »Rudi ist mir erstmals aufgefallen bei dem Konflikt um die schlagenden Verbindungen.« Der spätere West-Berliner Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) war Ende Januar 1963 zum Vorsitzenden des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) an der Freien Universität gewählt worden. Da der Jurastudent einer schlagenden Verbindung angehörte, die an der FU verboten waren, sorgten die Linken dafür, dass Diepgen nach 17 Tagen wieder abgewählt wurde. »Dutschke«, so Schlotterer, »hielt eine fulminante Rede. Seine leicht heisere Stimme, seine langen, hochkomplexen Sätze, bei denen er letztlich fast immer noch die Kurve kriegte, das war faszinierend.« Er schloss seine Rede mit dem schwierigen Zitat aus Georg Büchners »Dantons Tod«: »Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit.«

Im Versammlungsraum des SDS-Zentrums, dem Berliner Zimmer, versammelten sich so gut wie jeden Abend Studenten, um politisch zu diskutieren. 1968 waren drei Viertel der Studierenden männlich, im SDS waren Frauen ähnlich unterrepräsentiert, vor allem aber führten die Herren der Schöpfung auf den Versammlungen gerne das Wort. Rudi Dutschke referierte über die »formierte Gesellschaft«, Bernd Rabehl über Rätedemokratie, Wolfgang Lefèvre und Jürgen Treulieb über die Hochschulreform, Tilman Fichter über die Apartheid in Südafrika. Peter Gäng und Jürgen Horlemann präsentierten einmal die Woche eine detaillierte Presseschau über den Krieg der Amerikaner in Vietnam.

»Wir haben uns als Motor der Bewegung verstanden«, sagt Tilman Fichter. »Das SDS-Zentrum war kein subkultureller Ort, sondern ein intellektueller Ort.« Wenn der Berliner Landesvorstand des SDS tagte, waren nur Mitglieder zugelassen. Nach zwei Stunden konnte man vor Rauch nichts mehr sehen, so vollgequalmt war es. Solche Sitzungen konnten den ganzen Tag dauern und anschließend gingen die SDS-Genossen gern ins Kino, mit bis zu 40 Leuten. Vorzugsweise sahen sie sich Italowestern an. »Viva Maria«, »Töte Amigo«, »Django«, »Mercenario – der Gefürchtete« oder »Spiel mir das Lied vom Tod«. Das waren Filme mit viel Gewalt, in denen meist einsame Rächer für Gerechtigkeit kämpften.

Im Frühjahr 1967 zog die Kommune 2 ins SDS-Zentrum ein. Für Fichter war das zu viel des Guten, er zog Ende Mai 1967 aus. »Man konnte nicht mehr schlafen«, so der spätere SPD-Mann, »weil die Kommunarden nachts ihre endlosen Psycho-Diskussionen geführt haben.«

Gleichwohl lässt Tilman Fichter auf das SDS-Zentrum nichts kommen, er nennt es »einen mythischen Ort« der Sechzigerjahre. Die Polizisten hätten es nie angegriffen. »Sie haben höflich geklingelt, und wir haben sie an unsere Anwälte verwiesen. Für Fichter gab es damals in Berlin vier Machtzentren: das Gebäude des DDR-Staatsrats, das Rathaus Schöneberg, das Springer-Hochhaus und das SDS-Zentrum.

Mit Letzterem war es 1970 vorbei. Am 21. März löste sich die wichtigste Organisation der Studentenbewegung bei einem Treffen in Frankfurt am Main selbst auf. Den Bewohnern des Berliner SDS-Zentrums wurde gekündigt, das Haus abgerissen und zum Nutzen von Steuerabschreibern ein hässlicher Neubauriegel aus Beton hochgezogen.

4Ein Schuss in viele Köpfe

Der Tod Benno Ohnesorgs; Krumme Straße 66–67

Der 2. Juni 1967. Helmut Gollwitzer, in Nazi-Deutschland Pfarrer der oppositionellen Bekennenden Kirche, dann Professor für evangelische Theologie an der Freien Universität Berlin und Freund von Rudi Dutschke, nutzte diesen Tag später für eine geschichtsphilosophische Betrachtung. »Die menschliche Geschichte«, sagte Gollwitzer, »vollzieht sich sowohl in Bewegungen, als auch in auslösenden Ereignissen. Bevor solch ein auslösendes Ereignis kommt, weißt du nicht, womit die Geschichte schwanger geht. Sie geht schwanger mit solchen Bewegungen, aber dann muss irgendwas kommen, damit sie wirklich nach außen dringen, das sich nicht planvoll herbeiführen lässt. Du kannst organisieren, was du willst, und es explodiert nicht, aber auf einmal springt der Funke.«

Am 2. Juni 1967 besuchten der iranische Schah Mohammed Resa Pahlewi und seine Gattin Farah Diba West-Berlin. Schon am Vormittag schlugen Agenten des iranischen Geheimdienstes Savak und von ihnen angeheuerte Schah-Unterstützer vor dem Schöneberger Rathaus mit Dachlatten auf Demonstranten und Schaulustige ein. Berliner Polizisten sahen den »Jubelpersern« minutenlang dabei zu ohne einzugreifen.

Die Studenten, die gegen den Empfang des Diktators protestieren wollten, hatten dazu aufgerufen, am Abend zur Deutschen Oper in der Bismarckstraße zu kommen, wo der Staatsgast mit Mozarts »Zauberflöte« unterhalten werden sollte. Die Polizei ließ »Hamburger Gitter« am Bürgersteig gegenüber der Oper aufstellen und schuf so eine enge Gasse, die nach hinten durch einen Bauzaun begrenzt war. In diesem nur etwa sechs Meter breiten Schlauch sammelten sich am frühen Abend die Schah-Gegner.

Polizisten griffen sich zunächst einzelne Protestierer aus der Menge heraus und schlugen sie zusammen, darunter Rainer Langhans und Fritz Teufel von der Kommune 1 (s. Kap. 12). Kurz vor acht Uhr rollte der Mercedes 600 mit dem Schah und seiner Gattin an der Oper vor; die Sprechchöre »Mörder, Mörder!« schwollen an. Nachdem der Staatsgast mit seinen Begleitern und dem Gastgeber Heinrich Albertz, dem Regierenden Bürgermeister, in der Oper verschwunden war, kehrte zunächst wieder Ruhe ein. Doch dann erlebten die Demonstranten eine böse Überraschung. Polizisten starteten – ohne die vorgeschriebene Aufforderung, die Straße zu räumen – einen Frontalangriff. »Die Bullen rannten auf uns zu wie die Wahnsinnigen und knüppelten sofort los«, erinnerte sich später Bommi Baumann, der 1972 zu den Gründern der Terrorgruppe »Bewegung 2. Juni« zählte.

Polizeipräsident Erich Duensing erläuterte die Taktik am nächsten Tag so: »Nehmen wir die Demonstranten wie eine Leberwurst, nicht wahr, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt.« Nach der Anwendung der »Leberwursttaktik« verfolgten Polizisten flüchtende Demonstranten mit einem Wasserwerfer; Greiftrupps in Zivil versuchten unter der Devise »Füchse jagen«, mutmaßliche Rädelsführer zu schnappen.

Zu diesem Zeitpunkt steht an der Kreuzung Krumme Straße/Schillerstraße ein junges Ehepaar, Benno und Christa Ohnesorg. Die beiden haben erst sechs Wochen zuvor geheiratet und erwarten ein Kind. Die Gewalt der Polizei hat sie schockiert. Der 26 Jahre alte Germanistik- und Romanistik-Student will wissen, was weiter passiert und bleibt. Seiner Frau ist die Lage zu bedrohlich; sie verabschiedet sich und geht nach Hause.

Ohnesorg läuft auf den Hof des Hauses Krumme Straße 66–67, genau genommen ein Parkplatz eines Neubaus. Kurz darauf folgt auch Karl-Heinz Kurras. Der Beamte der politischen Polizei trägt einen graublauen Anzug und eine Pistole Walther PPK, Kaliber 7,65 Millimeter. Auf dem Parkplatz herrscht Chaos; Menschen schreien und rennen in der Dämmerung zwischen den Autos umher. Drei Polizisten treten und knüppeln auf einen am Boden liegenden Studenten ein. Dann fällt ein Schuss aus der Pistole von Kurras. Er trifft Ohnesorg in den Hinterkopf.

Kurras war unbedrängt auf Ohnesorg zugegangen und hatte auf ihn aus kurzer Distanz geschossen, als dieser von uniformierten Polizisten mit Knüppeln geschlagen wurde. In jedem Fall hatten Zeugen gehört, wie ein dicht neben Kurras stehender Kollege ihn anherrschte: »Bist du wahnsinnig, hier zu schießen?« – und Kurras darauf geantwortet hatte: »Die ist mir losgegangen.«

Der Regierende Bürgermeister Albertz gab noch in der Nacht eine Erklärung heraus, in der es hieß: »Die Geduld der Stadt ist am Ende.« Ins gleiche Horn stießen die Zeitungen des Axel-Springer-Verlages, der mehr als zwei Drittel des West-Berliner Tageszeitungsmarktes beherrschte. »Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen«, kommentierte die BZ. Die Bild-Zeitung hetzte gegen die »SA-Methoden« der Studenten. Ohnesorg, so Springers Massenblatt, sei »nicht der Märtyrer der FU-Chinesen, sondern ihr Opfer. […] Er wurde Opfer von Krawallen, die politische Halbstarke inszenierten.« Den Demonstranten warf der Kommentator des Boulevardblatts vor: »Ihnen genügte der Krach nicht mehr. Sie müssen Blut sehen.«

Die Studenten waren schockiert: »Einflußreiche Leute in dieser Stadt verhindern, daß die Bevölkerung die Wahrheit erfährt«, hieß es in einem Flugblatt der Evangelischen Studentengemeinde. »Die Berliner Zeitungen haben es dazu gebracht, daß niemand den Studenten glaubt, daß die Bevölkerung sie haßt und sich freut, wenn sie geprügelt und durch Disziplinarmaßnahmen eingeschüchtert werden.«

Die Empörung der Studenten wuchs noch, als sie herausfanden, dass die Planung für den brutalen Polizeieinsatz am Abend des 2. Juni 1967 beim Kommandeur der West-Berliner Schutzpolizei Hans-Ulrich Werner gelegen hatte. Der vormalige NSDAP-Parteigenosse hatte sein Handwerk im Zweiten Weltkrieg bei der »Bandenbekämpfung« in der Ukraine gelernt und in Italien, wo er eigenhändig zwei angebliche Partisaninnen erschossen hatte. Der Reichsführer SS Heinrich Himmler hatte ihn für seinen Einsatz mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.

Kurras’ Vorgesetzter Wolfram Sangmeister, Chef der West-Berliner Kriminalpolizei, war – wie der Spiegel 2017 herausfand – NSDAP- sowie SA-Mitglied gewesen und hatte als junger Jurist im Krieg für die Deutsche Umsiedlungs-Treuhandgesellschaft gearbeitet, ein Organ des Reichsführers SS, das den Holocaust mitvorbereitete.

Kurras – das wurde erst 2009 bekannt – hat zum Tatzeitpunkt ein geheimes Doppelleben geführt. Einerseits war er in West-Berlin Beamter der politischen Abteilung der Kriminalpolizei und Mitglied der SPD, andererseits diente er seit 1955 dem Ministerium für Staatssicherheit als geheimer Informant und war Mitglied der SED. Entscheidend für den notorischen Waffennarren war, dass er mehrere hundert D-Mark im Monat von der Stasi bekam, mit denen er sich die Munition kaufen konnte, die er auf dem Schießplatz der Polizei verballerte. Nach seinem fatalen Schuss am 2. Juni 1967 schalteten die Stasi-Offiziere ihren Topagenten allerdings sofort ab.

Wenn schon damals bekannt gewesen wäre, dass Kurras für die Stasi spionierte, wäre die West-Berliner Justiz sicher nicht so großzügig mit ihm verfahren. Doch damals legten es die Staatsanwälte und Richter geradezu darauf an, das Vertrauen der Studenten in sie zu zerstören. Der Todesschütze Kurras musste keinen einzigen Tag hinter Gittern darben, während Fritz Teufel von der Kommune 1 wegen schweren Landfriedensbruchs für mehrere Monate in Untersuchungshaft genommen wurde. Der spätere SPD-Bundesinnenminister Otto Schily, der als junger Anwalt an der Oper mitdemonstriert hatte, erinnerte sich einmal: »Mein Glaube an die Rechtsstaatlichkeit, an die Unabhängigkeit des Gerichts, der ging damals ziemlich den Bach runter.«

Der Schuss auf Benno Ohnesorg war ein Schuss in viele Köpfe. Er war die Initialzündung der Studentenbewegung, nicht nur in West-Berlin, sondern auch in der Bundesrepublik. Die Studenten, die sich zunächst auf eine Reform der überkommenen Ordinarienuniversität konzentriert hatten, brachen in West-Berlin aus dem Campus der Freien Universität in Zehlendorf aus. Sie starteten eine »Anti-Springer-Kampagne«, formierten sich zur Außerparlamentarischen Opposition, zur APO, und hielten für mehrere Jahre die Frontstadt des Freien Westens in Atem.

Am 2. Juni 1967 und in den Tagen danach fand die politische Generation zu sich selbst, die später die der »Achtundsechziger« genannt wurde. Die von den Soziologen bis dahin als unpolitisch klassifizierte Jugend begann eine Revolte, die in den folgenden Jahren das Bewusstsein der bundesdeutschen Gesellschaft stärker transformierte, als die allermeisten anderen politischen Ereignisse seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Die Gesinnungsgenossen von Benno Ohnesorg bildeten jene Bewegung, die die Bundesrepublik langsam in das liberale, tolerante Land verwandelte, das aus dem Schatten des Holocaust treten konnte und heute in aller Welt beliebt ist. Doch die Studentenbewegung entwickelte auch schnell ein fanatisches politisches Moment; sie brachte düstere Zerfallsprodukte hervor: die Terrorgruppen »Rote Armee Fraktion« (RAF) und die »Bewegung 2. Juni« (s. Kap. 23 u. 27). Letztere nannte sich so, um bei jeder ihrer Aktionen in Erinnerung zu rufen, dass es nicht sie gewesen war, die als Erstes geschossen hatte, sondern ein Polizist.

Am späten Abend des 2. Juni 1967 kamen aufgebrachte Studenten im Zentrum des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, SDS, am Kurfürstendamm 140 zusammen. Als sie die dramatischen Ereignisse des Tages diskutierten, rief eine junge Frau erregt: »Das ist die Generation von Auschwitz. Mit denen kann man nicht argumentieren.« Die Frau hieß Gudrun Ensslin, war 26 Jahre alt und Doktorandin der Germanistik. Sie schlug vor, eine Polizeikaserne zu stürmen und sich zu bewaffnen, doch besonnene Studenten lehnten das ab. Es dauerte noch knapp drei Jahre, dann gehörte Gudrun Ensslin zu den Gründern der RAF.

5»Amis go home!«

Amerika Haus; Hardenbergstraße 22–24

Der SDS und andere Studentenorganisationen riefen dazu auf, am 5. Februar 1966 gegen den Krieg der USA in Vietnam zu demonstrieren. Die U.S. Airforce hatte ihre Flächenbombardements auf Städte und Dörfer in Nordvietnam wieder aufgenommen. Der Kabarettist Wolfgang Neuss war empört, wollte mitmarschieren und ging zum Treffpunkt am Steinplatz in Charlottenburg. Es war die erste größere Demonstration gegen den Vietnamkrieg auf deutschem Boden. Neuss trug einen grauen Schlips und ein weißes Hemd, vor allem hinterließ er einen Bericht des historischen Ereignisses: »›Dreierreihen‹, sagte der außergewöhnlich freundliche Polizist, ›bitte in Dreierreihen demonstrieren.‹ Also gut.« Zu Neuss gesellten sich Volker Ludwig vom Reichskabarett, der spätere Gründer des Grips-Theaters, und Peter Brandes von den Zehlendorfer Falken, der Jugendorganisation, die der SPD nahestand.

Rund 2000 Demonstranten waren zum ersten öffentlichen Protest gegen den eskalierenden Krieg der U.S. Army gegen die vietnamesischen Kommunisten und Nationalisten gekommen. Auf ihren Schildern und Plakaten hieß es: »Vietnam den Vietnamesen« – »Wildwest in Fernost« – »500 000 Tote. Wieviel noch?« – »Wie viele Kinder habt ihr heute ermordet?« – »Wird der Mond kommunistisch? US-Truppen auf zum Mond!« Vor dem Amerika Haus angekommen, ließen sich Demonstranten zu einem Sit-in nieder – eine von der US-Bürgerrechtsbewegung übernommene Protestform, ein Sitzstreik. Sprechchöre erschallten: »Johnson, Mörder!« und »Amis raus aus Vietnam!«

Das nach Plänen des Architekten Bruno Grimmek errichtete und 1957 eröffnete Kultur- und Informationszentrum der USA mit Kino, Bibliothek und Ausstellungsflächen drängte sich als Ort für Proteste gegen die US-Politik in Südostasien förmlich auf. Es war zentral gelegen, in der Hardenbergstraße, gleich neben der Eisenbahnbrücke am Bahnhof Zoo.

Wolfgang Neuss berichtete: »Es war verkaufsoffener Sonnabend. Ein eleganter Herr kam aus einem Hefterladen raus, mit sechs brandfrischen Eiern. ›Nach der Demonstration gibt’s am Amerikahaus Freibier‹, flüsterte er mir zu. Und wozu die Eier? ›Für Ho Chi Minh‹, lispelte er. ›Ich‹, sagte er, ›bin SPD-Mitglied, ich hol persönlich die Fahne runter vor dem Amerika-Haus.‹«

Die Demonstration verlief friedlich. Zum Abschluss verkündete der Einsatzleiter der Polizei: »Wir danken Ihnen für die eindrucksvolle Demonstration, nunmehr ist sie beendet. Bitte die Schilder ablegen, auf Wiedersehn.«

Im Vorjahr waren mehr als 1800 US-Soldaten in Vietnam gefallen, Tendenz rasant ansteigend; über 180 000 Amerikaner kämpften Ende 1965 fern der Heimat gegen die Nordvietnamesen und den Vietcong, die Nationale Front zur Befreiung Südvietnams. Die West-Berliner Zeitungsverleger hatten überlegt, wie sie der US-Schutzmacht wenigstens moralisch zu Hilfe eilen könnten. Die Idee soll schließlich aus dem Hause Axel Springer gekommen sein, ganz klar ist das nicht.

Am 1. Dezember 1965 riefen jedenfalls sämtliche Tageszeitungen West-Berlins zu einer Spendensammlung auf. Aus dem Erlös sollten Porzellankopien der Berliner Freiheitsglocke – das Stück zu 17 Mark 25 – für die Hinterbliebenen aller in Vietnam gefallenen US-Soldaten gekauft und Medikamente für den südostasiatischen Kriegsschauplatz erworben werden. Die Begründung lautete: »Weil wir Berliner wissen, daß die Amerikaner bereit sind, mit dem Leben ihrer Soldaten unsere Freiheit zu verteidigen.« Die »Freiheitsglocke«, die seit 1950 im Rathaus Schöneberg jeden Tag um zwölf Uhr mittags ertönte, war durch eine vom US-Geheimdienst CIA verdeckt initiierte Spendenkampagne finanziert worden.

Der Kabarettist Wolfgang Neuss, sein Kollege Wolfgang Gruner von den »Stachelschweinen« und andere Kabarettisten konterten den Verlegeraufruf mit einer Extraausgabe der satirischen Flugschrift »Neuss Deutschland«. Auf der Titelseite hieß es: »Unter dem verbrauchten Gebimmel der Berliner Freiheitsglocke herden sich die West-Berliner Tageszeitungen zu einem zynischen Anzeigenvormarsch. Sie organisieren ein metaphysisches Weihnachtsgedenken für die Hinterbliebenen der amerikanischen Toten des amerikanischen Krieges in Vietnam.« Gleichzeitig ergänzten die Kabarettisten den Aufruf mit der Bitte um Spenden auch »für die Hinterbliebenen der amerikanischen Soldaten, die im Kampf gegen Hitlerdeutschland gefallen sind. […] In Vietnam kämpfen amerikanische Soldaten mit dem südvietnamesischen General Ky. Sein größtes Vorbild: Adolf Hitler.«

Und an die Adresse der Berliner gerichtet hieß es: »Eure Rührung ist mörderisch.« Im Extrablatt meinte Neuss zum Spendenaufruf, »man solle als fühlender und denkender Berliner etwas spenden für Amerikaner, die sozusagen Hinterbliebene seien von toten Soldaten, welche im Dschungel ihr Leben lassen mußten, damit wir ungestört auf’m Kudamm unsere Weihnachtseinkäufe tätigen können. Mh.«

Die angegriffenen Zeitungsverleger verstanden keinen Spaß. Die Leitungen aller acht Tageszeitungen teilten dem Büro von Neuss mit, sie würden fortan keine Anzeigen für seine Auftritte mehr entgegennehmen; die Redaktionen bekamen zudem Order, bei Berichten über das Kabarett die »Stachelschweine« den Namen des Neuss-Kumpanen Wolfgang Gruner nicht mehr zu erwähnen.

»Der Dschungelkrieg in Vietnam hat auf die Bundesrepublik übergegriffen«, meldete kurz vor Weihnachten 1965 auch der Spiegel. Westdeutsche Schriftsteller und Wissenschaftler hatten ihren Namen unter eine Erklärung gesetzt, in der sie sich »von der moralischen und finanziellen Unterstützung des Vietnamkriegs durch die Bundesregierung« distanzierten und »für die sofortige Beendigung des Krieges und für die Neutralisierung ganz Vietnams« eintraten. Ein Redakteur des reaktionären Münchner Merkur beschrieb die Dissidenten so: »Ein paar ehrliche, jedoch einfältige Leute, viel schlampige Frauenzimmer und Jünglinge, die so aussehen, als röchen sie etwas streng.« Unterschrieben hatten die Autoren Heinrich Böll, Erich Kästner und Rolf Hochhuth, die Professoren Helmut Gollwitzer, Ernst Bloch sowie rund 150 Assistenten, Dozenten und Professoren von sieben Universitäten.

Sechs Wochen später: Nach dem Ende der Demonstration in West-Berlin am 6. Februar 1966 gingen ein paar hundert Demonstranten nicht nach Hause, sondern zogen noch einmal vor das Amerika Haus. Der Sozialdemokrat, der Wolfgang Neuss Freibier versprochen hatte, nahm die Eier von Hefter aus ihrer Schachtel (»Erst einmal, dann öfter, dann immer zu Hefter!«). Der Mann schleuderte sie auf die Propagandazentrale der Schutzmacht. Vier zerschellten symbolträchtig an der mit einem Mosaik der abstrahierten US-Flagge verzierten Frontfassade des Hauses; andere Zeugen sprachen von drei. Auf jeden Fall holten vorwitzige junge Männer das Sternenbanner vor dem Haus ein. Als sie es auf Halbmast setzen wollten, griffen die Ordnungshüter ein. Ihre Gummiknüppel klatschen dumpf auf Demonstrantenkörper.

Eier auf die Flagge der Schutzmacht. Was für ein Sakrileg! Schlimmer ging es kaum in West-Berlin. »Berlins Schild«, so schrieb der sozialdemokratischeTelegraph, sei »beschmutzt« worden, Springers Morgenpost machte »studentische Narren« aus. Willy Brandt, der Regierende Bürgermeister, sprach von »Schande«. Der FU-Rektor Herbert Lüers entschuldigte sich schriftlich beim US-Stadtkommandanten.

Die Eier trieben konservative Frontstädter zur Weißglut. Drei Tage nach der frevelhaften Tat trafen sich, aufgerufen von der Jungen Union der CDU, rund 600 Amerika-Freunde vor dem besudelten Haus. Ernst Lemmer, der Berlinbeauftragte des Bundeskanzlers, schmähte die Anti-Kriegs-Demonstranten als »Verrückte« und »Spinner«. Der Spiegel berichtete von »rechten Rollkommandos«. Die hätten andersdenkende Zwischenrufer »unter der Parole ›Gammler raus!‹ an den Haaren gepackt, zum nahegelegenen Bahnhof Zoo gedrängt und durch die Sperren geprügelt. Nachruf: ›Ab mit euch in den Osten.‹«

Der SDS-Aktivist Peter Schneider, Germanistikstudent und später Schriftsteller, sprach im April 1967 im Audimax der FU von den generellen Überreaktionen der Frontstädter: »Wir haben in aller Sachlichkeit über den Krieg in Vietnam informiert, obwohl wir erlebt haben, dass wir die unvorstellbarsten Einzelheiten über die amerikanische Politik in Vietnam zitieren können, ohne dass die Fantasie unserer Nachbarn in Gang gekommen wäre, aber dass wir nur einen Rasen betreten zu brauchen, dessen Betreten verboten ist, um ehrliches, allgemeines und nachhaltiges Grauen zu erregen.«

Die Kette der Proteste vor dem Amerika Haus riss nicht ab. Am 22. März 1968 etwa nahm die Polizei 30 Personen vor dem Gebäude fest. Und es blieb nicht bei Aktionen vor dem Haus. Astrid Proll, später Mitbegründerin der RAF, trug einen Brandsatz in das Symbol des US-Imperialismus. »Im Anschluss an eine dieser Demonstrationen deponierten wir eine Brandbombe im Amerikahaus«, schrieb Proll später. »Sie löste zwar nur einen Schwelbrand mit minimalem Sachschaden aus, doch mit dieser Aktion hatte ich meine Mutprobe bestanden.«

Zur härtesten Konfrontation vor dem Amerika Haus kam es am 9. Mai 1970. Manfred Grashof hat die Ereignisse so in Erinnerung: »An der Kent State University in Ohio hatte die US-Nationalgarde vier Studenten erschossen, die gegen den Einmarsch der US-Truppen im neutralen Kambodscha demonstriert hatten. Es gab eine Solidaritätsdemonstration in West-Berlin und zwischen dem Ernst-Reuter-Platz und Amerika Haus in der Hardenbergstraße nahmen uns die Bullen in die Zange. Von der einen Seite kamen sie mit Wasserwerfern, von der anderen mit berittener Polizei.«

Grashof, der als Bundeswehrdeserteur nach West-Berlin geflüchtet war, versuchte, mit seiner Freundin Petra Schelm aus dem Zangengriff der Polizei in die Grolmanstraße zu entkommen, doch sie stürzte auf der Flucht, schlug der Länge nach auf den Asphalt hin. Grashof: »Wenn Hans-Jürgen Bäcker, der später auch bei der RAF war, nicht mit erhobenen Armen auf die Mannschaftswagen zugelaufen wäre, hätten die Petra einfach überrollt. Er hat ihr das Leben gerettet. Es war hart.«

Manfred Grashof und Petra Schelm gehörten zu den Gründern der RAF und hörten fünf Tage später, bei der ersten Aktion der Gruppe, den Polizeifunk ab. Schelm starb kurz darauf durch die Staatsgewalt. Nachdem sie sich der RAF angeschlossen hatte, tötete sie ein Polizist Mitte Juli 1971 in Hamburg, im Rahmen einer Großfahndung, mit einem Schuss in den Kopf.

Das Amerika Haus wurde nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zu einer Festung ausgebaut; fünf Jahre später schloss die US-Regierung ihr West-Berliner Aushängeschild und verkaufte es an das Land Berlin. Seit 2014 zeigt die Galerie C/O Berlin in dem Gebäude Fotoausstellungen.

6Unruhige Ostern

Sitz des Axel-Springer-Verlages; Kochstraße 50 (heute Rudi-Dutschke-Straße)

Am Morgen des 11. April 1968 stieg, aus München kommend, der Hilfsarbeiter Josef Bachmann aus dem Interzonenzug. Der 23-Jährige hatte ein Porträt Adolf Hitlers in seinem Zimmer hängen und suchte Rudi Dutschke. Eine Woche zuvor hatte in den USA ein weißer Rassist den schwarzen US-Bürgerrechtler und Pfarrer Martin Luther King erschossen.

Bachmann ging zur Wohnung der Kommune 1 (s. Kap. 12) in der Kaiser-Friedrich-Straße 54a, wo ihm Rainer Langhans riet, im SDS-Zentrum nachzufragen. Bachmann ermittelte auf dem Einwohnermeldeamt die Adresse des SDS-Zentrums, Kurfürstendamm 140, und wartete dort.

»Es kann natürlich mal irgendein Neurotiker oder Wahnsinniger mal ’ne Kurzschlusshandlung durchführen«, hatte Dutschke kurz zuvor einem Reporter auf die Frage geantwortet, ob er sich um seine Sicherheit sorge. Er wohnte zumindest nicht mehr im SDS-Zentrum, sondern mit Frau und Sohn bei dem Theologieprofessor Helmut Gollwitzer.

Ins SDS-Zentrum kam Dutschke an diesem Tag nur, weil er Material für einen Artikel abholen wollte, den Stefan Aust, Redakteur des linken Magazins konkret, bei ihm bestellt hatte. Außerdem wollte er Nasentropfen für seinen Sohn Hosea Ché kaufen. Es war kurz nach 16 Uhr 30, als Bachmann auf Dutschke zuging, der mit seinem Fahrrad am Rand des Kurfürstendamms stand. Er fragte: »Sind Sie Rudi Dutschke?« Der sagte nach kurzem Zögern: »Ja.« Bachmann zog eine Pistole, rief »Du dreckiges Kommunistenschwein!« und drückte ab. Dutschke lief in den Kopf getroffen ein paar Schritte und stürzte hin; Bachmann schoss ihm aus nächster Nähe noch einmal in den Kopf und die Schulter.

Wenige Stunden später im Audimax der Technischen Universität: Knapp 2000 Studenten und Jugendliche sind gekommen. Fassungslos und aufgewühlt über das, was sich am Nachmittag auf dem Kurfürstendamm ereignet hat.

Der einflussreiche SDS-Aktivist Christian Semler kündigt einleitend an: »Kommilitonen und Kommilitoninnen, Genossen und Genossinnen! Wir werden heute abend nicht nur über diesen Mordversuch sprechen, sondern auch über die praktischen Konsequenzen und die Aktionen, die aus diesem Mordversuch für uns folgen.«

Während Rudi Dutschke im Krankenhaus noch um sein Leben ringt, erklärt der SDS-Aktivist Hans-Joachim Hameister: »Der Lügner und der Mörder heißt Springer. Das Attentat von heute nachmittag ist ein öffentlich vorbereitetes Attentat, begonnen durch den Springer-Konzern. Geduldet und gefördert und gepriesen als Bekenntnis zur Demokratie und Freiheit von einem abhängigen Marionettensenat. Was in dem Attentat von heute nachmittag sich Luft gemacht hat, ist ein System, das dieser Konzern verherrlicht und verschleiert, was einen Alltag darstellt, ein System von Korruption und Gewalt, die durch Springer zu den Richtlinien für die Politik des Berliner Senats geworden sind, und zwar nachzusehen und wie wir es selbst erlebt haben, in den ganzen letzten anderthalb Jahren.« »Wir sind heute abend hier, um darüber zu beraten«, fährt Hameister fort, »wie wir eine nicht abbrechende Kampagne gegen den Springer-Konzern führen können. (Riesenbeifall!)« Die letzte Anmerkung stammt von einem Spitzel des Verfassungsschutzes oder einem Beamten der Politischen Polizei, der einen Bericht über das Treffen im Audimax verfasste, der später dem Generalstaatsanwalt für eine Anklage gegen den Anwalt Horst Mahler vorlag.

Nach weiteren kämpferischen Appellen verkündet Semler: »Soeben erfahren wir, daß der Springer-Konzern das Hochhaus mit Stacheldraht umgeben hat. (Großes Gelächter und Gebrülle!)« Der SDS-Aktivist Jürgen Horlemann erklärt, dass Aktionen gerechtfertigt seien, »die sich richten gegen die Springer-Filialen, die sich richten gegen den Vertrieb der Zeitungen«.

Und so ziehen am Abend des 11. April 1968 rund 2000 Demonstranten von der Technischen Universität nach Kreuzberg zum Sitz des Axel-Springer-Verlages unmittelbar an der Mauer. Die Demonstranten skandieren aufgebracht »Springer, Mörder!«. Der Rechtsanwalt Horst Mahler und Bernd Rabehl vom SDS marschieren an der Spitze; Fritz Teufel, Dieter Kunzelmann, Bommi Baumann und andere Kommunarden sind dabei; Ulrike Meinhof. Die Stimmung ist explosiv.

An diesem Gründonnerstag haben sich die meisten Polizisten in den Osterurlaub abgemeldet, nur 200 Beamte sind rund um das 19 Stockwerke hohe Springer-Haus zusammengezogen worden. Die konkret-Journalistin Ulrike Meinhof stellt ihr Auto für eine Barrikade zur Verfügung und reicht Steine nach vorn. Am nächsten Tag erklärt sie bei einer Versammlung: »Wirft man einen Stein, so ist das eine strafbare Handlung. Werden 1000 Steine geworfen, ist das eine politische Aktion.«

Ein paar Demonstranten schaffen es bis in das belagerte Gebäude; doch dann erblicken sie in der Vorhalle, wie sich Bernd Rabehl erinnert, »die geballte Macht der Arbeiterklasse«: Drucker und Setzer mit schweren Schraubenschlüsseln bewaffnet, wild entschlossen, ihre Arbeitsplätze zu verteidigen. Rabehl: »Wir gingen durch die Drehtür gleich wieder raus.«

Den allermeisten Demonstranten fehlt die Entschlossenheit, das Haus wirklich zu stürmen. Sie ziehen zur Ausfahrt der Druckerei, bauen dort Barrikaden, die von der Polizei beiseitegeschoben werden. Peter Urbach, ein Agent Provocateur des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz, verteilt »Molotow-Cocktails« genannte kleine Brandbomben. Ein paar Militante greifen zu. Als sich die Lage gegen Mitternacht beruhigt, sind einige Springer-Fahrzeuge ausgebrannt, die meisten jedoch können mit Verspätung ihre Zeitungen ausliefern. Auf der Bild prangt die Schlagzeile: »Terror in Berlin!«

Als sich die Nachricht vom Attentat auf Dutschke und vom Sturm auf das Springer-Hochhaus verbreitete, sprang der Funke der Revolte von West-Berlin nach Westdeutschland über. Am Karfreitag versammelten sich in Hamburg auf der Moorweide 2000 Menschen. Der studentische Aktivist Jens Litten rief: »Unser bisheriger Protest gegen die autoritär-faschistischen Tendenzen konnte diese nur bloßlegen. Jetzt müssen wir jedoch einen offenen Kampf gegen sie beginnen.« Die Demonstranten zogen zum Sitz des Springer-Verlages und versuchten, die Lieferfahrzeuge zu stoppen. Die Polizei löste mit Gummiknüppeln und Wasserwerfern die Blockade auf.

In 27 Städten kam es an den Ostertagen 1968 zu Protesten und teilweise zu Straßenkämpfen, die an die Weimarer Republik erinnerten. Solche Szenen hatte die 19 Jahre junge Bundesrepublik bislang nicht erlebt. Rund 20 000 Polizisten wurden in der gesamten Republik aufgeboten, um die »Osterunruhen« niederzuschlagen. Gegen 827 Demonstranten wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet.

»Gestern Dutschke, morgen wir«, skandierten Demonstranten in München. Ein Polizeihauptwachtmeister konterte zum Vergnügen seiner Kollegen: »Hoffentlich noch heute.« In der bayerischen Landeshauptstadt kamen der Fotograf Klaus-Jürgen Frings, 32, und der Student Rüdiger Schreck, 27, zu Tode. Frings wurde von einem Stein am Kopf getroffen, Schreck von einem stumpfen Gegenstand. Die Umstände ihres Todes wurden nie genau aufgeklärt.

An Ostern 1968 bekamen brave Bürgerkinder politischen Nachhilfeunterricht. »Der Gegenschlag der Staatsgewalt«, hieß es im Spiegel, »von der Polizei im Namen des Rechtsstaats mit Gummiknüppeln geführt, war ungleich brutaler« – als die Gewalt der Demonstranten.

Es waren an diesen Ostertagen nicht mehr nur Studenten, die auf die Straße gingen. In München zählte nur weniger als ein Drittel der 110 Festgenommenen zum akademischen Nachwuchs. Die Revolte hatte nun Lehrlinge, Schüler und Dissidenten aller Schichten in ihren Bann gezogen. Gleichzeitig heizten die Schüsse auf Dutschke die Konfrontation an zwischen dem Staat und den jungen Menschen, die sich als »Neue Linke« verstanden und sich den im Kalten Krieg im Westen tabuisierten Marxismus aneigneten.

Die Gewaltspirale hatte bereits am 2. Juni 1967 ihren Anfang genommen, als ein West-Berliner Polizist den Studenten Benno Ohnesorg erschoss. Bei den Osterunruhen radikalisierte sich der militante Teil der Bewegung weiter. »Wirklich ein High« war die Blockade des Berliner Springer-Hochhauses für Bommi Baumann: »Als ich vor den Flammen gestanden bin, ist mir klar geworden: Hier kannst du was erreichen.« Vier Jahre später zählte Baumann zu den Gründern der Stadtguerilla-Gruppe »Bewegung 2. Juni«.

In Ost-Berlin dichtete Wolf Biermann ein Lied mit dem Titel »Drei Kugeln auf Rudi Dutschke, ein blutiges Attentat«. Darin heißt es: »Die Kugel Nummer Eins kam aus Springers Zeitungswald.« Das Fazit der bitteren Moritat des späteren Kulturkorrespondenten des Springer-Blattes Welt: »Wenn wir uns jetzt nicht wehren, wirst du der Nächste sein.«

Der Verleger Axel Springer, der am Tag des Attentats aus den USA zurückkehrte, flüchtete in die Schweiz, statt in West-Berlin seinen Mann zu stehen. Als er dann in die Frontstadt zurückkehrte, sagte er zu seinem Generalbevollmächtigten: »Ich habe keine Lust mehr. Suchen Sie einen Käufer. Es muß aber mindestens eine Milliarde rausspringen.«

Springer verkaufte nicht. Und sein Leser Josef Bachmann, der kurz nach den Schüssen auf Dutschke selbst von einem Polizisten angeschossen und festgenommen worden war, beging Ende Februar 1970 Suizid, nach zuvor sechs erfolglosen Versuchen. Im Moabiter Gefängnis erstickte er sich mit einer Plastiktüte, die er sich über den Kopf zog.

Dutschke überlebte. Er musste nach dem Attentat mühsam wieder Sprechen und Lesen lernen. »Vietnam« sei eines der ersten Worte gewesen, das er wieder gelernt habe, erzählte sein chilenischer Freund Gaston Salvatore später. Nach einer Irrfahrt durch die Schweiz, Italien und Großbritannien, wo die Familie wieder ausgewiesen wurde, ließ sich Rudi Dutschke mit Gretchen und ihren beiden Kindern 1970 im dänischen Aarhus nieder. Am Weihnachtsabend 1979 starb Rudi Dutschke dort an den Spätfolgen des Attentats. Zu Hause erlitt er einen epileptischen Anfall und ertrank in der Badewanne.

Die taz-Genossenschaft schlug Ende 2004 anlässlich des 25. Todestages von Dutschke der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg vor, den östlichen Teil der Kreuzberger Kochstraße nach dem Kopf der Studentenbewegung der Sechzigerjahre umzubenennen. Und zwar jenen Teil, an dem die Verlags- und Redaktionsgebäude sowohl der taz als auch des Springer-Verlags liegen. Mehr als drei Jahre und mehrere Gerichtsentscheidungen später wurde der größere Teil der Kochstraße tatsächlich zur Rudi-Dutschke-Straße. Der Springer-Verlag hatte vergeblich geklagt. Nach der Mehrheit der Bezirksverordneten hatten in einer Volksabstimmung auch 57,1 Prozent der Bewohner des Bezirks, die ihre Stimme abgaben, eine Straße für Rudi Dutschke befürwortet.

7Kritische Masse

Audimax von FU und TU; Garystraße 35, Straße des 17. Juni 135

Revolten sind undenkbar ohne große Versammlungen. Ohne Treffen, auf denen beraten wird, auf denen gestritten wird; Versammlungen, in denen der Geist der Revolte sich manifestiert, in denen die großen Gedanken und Gefühle freigesetzt werden, in denen Wut, Trauer und Freude geteilt werden; Versammlungen, in denen der Schritt vom Wort zur Tat vorbereitet wird.

Zunächst war das Auditorium Maximum, das Audimax, der Freien Universität in Dahlem der Ort, an dem die Studenten zusammenkamen. Der mit rund 1200 Sitzen ausgestattete Saal in dem 1952 bis 1954 mit Geld aus den USA erbauten Henry-Ford-Bau war Schauplatz von Versammlungen aller Art.