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Nach dem Auffinden dreier Leichen nahe der deutschen Ostseeküste laufen Ermittlungen parallel in Bonn und Ueckermünde. Der ursprüngliche Ermittlungsansatz im Umfeld von Schleusern und Menschenhändlern führt ins Leere. Der Bernsteinhändler Richard Strom lebt mit seiner kleinen Familie im Rheinland. Er wird durch die Wiederbegegnung mit einem alten Bekannten aus seinem beschaulichen Lebensrhythmus geworfen. Der ehemalige KGB-Agent erpresst ihn mit seiner Rolle vor vielen Jahren im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Tod eines Geschäftspartners und bringt ihn dazu, in ein Projekt einzusteigen, das Strom zu einer tödlichen Gefahr werden wird.
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Seitenzahl: 312
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammen kamen?
(Friedrich Schiller, Die Kraniche des Ibykus)
Prolog
Im Wald bei Rieth
Kommissariat Ueckermünde
Entlang der Bernsteinstraße
Wieder in Ueckermünde
Bei Salomo
Ramersdorf, Königswintererstrasse
Am John-J.-McCloy-Ufer
Von Bonn nach Ueckermünde
Berlin-Schönefeld
Mehlem – Mainzer Strasse
Wieder am McCloy-Ufer
Im Maritim
In Ueckermünde
Fähre Königswinter
Zwischen Ueckermünde und Frankfurt
Wieder in Bonn
Richtung Hamburg
Nochmals bei Salomo
Neustart in Rieth
Richtung Stettiner Haff
Uni Frankfurt, Bockenheim, Hörsaalgebäude H6
Im Haffhus
Hotel Pommernyacht
Richtung Altwarp
In Rieth
Im Helmholtzinstitut
Altwarp Hafen
Wiesbaden
Am Münsterplatz
Zwischen Christiansberg und Ueckermünde
Mainzer Strasse
Wieder am Münsterplatz
Telefonkonferenz
Noch einmal Pommernyacht
Epilog
Richard Strom saß in seinem bescheidenen Büro ohne Wandschmuck und ohne Blick nach draußen, als sein Telefon zum zehnten Mal an diesem Morgen läutete. Hinter seinem Rücken und rechter Hand versperrten ihm cremefarbene Blechwände, die mit Hängeordnern in Stahlschränken zugestellt waren, die Sicht. Vom Schreibtisch aus nach vorne und zur linken Seite blickte er durch Glas in ein Großraumbüro. Vor ihm nach rechts lag der Computerraum mit zwei hochgerüsteten Hewlett Packard Rechnern der mittleren Datentechnik inklusive Magnetbandeinheiten, jeweils vier Plattenlaufwerken und zwei Nadeldruckern. Seitwärts nach links konnte er seinen Blick über einen Korridor durch noch mehr Glas bis diagonal ganz nach vorne schweifen lassen, wo Veronika das Vorzimmer des großen Busheer bewachte. Sie winkte ihm gerade mit ihrem Telefonhörer zu, als es bei ihm klingelte.
Hartmut Genz, sein Kofferträger und Rechenzentrumsoperator im weißen Kittel, saß grinsend auf dem niedrigen Bürostuhl vor ihm in seiner üblichen, unterwürfig-gekrümmten Haltung. Sie hatten sich gerade über den großen Meister lustig gemacht. Genz´ Fahne roch nach Gaffel Kölsch. Strom hatte den Besucherstuhl absichtlich auf niedrigste Höhe eingestellt, seinen eigenen hinter dem Schreibtisch aber immer so hoch es ging – aus „psychologischen“ Erwägungen heraus. – Während das Telefon immer noch läutete, griff Genz spielerisch zum Mithörer und wiegte ihn in seiner Hand. Dann hängte er ihn wieder ein: leicht und leer war das Ding. Sein direkter Chef hatte die Elektronik schon lange ausgebaut. Sie lag in dessen Schreibtischlade.
Strom nahm ab und gab Genz ein Zeichen mit dem Kopf, zu verschwinden, und der schlich geräuschlos in sein Computerreich hinüber.
„Was gibt´s?“
Strom schaute noch einmal zu Veronika hinüber. Sie sah nicht gut aus. Irgendetwas war faul.
„Peter George ist tot.“
Schweigen auf beiden Seiten. Was war das? Trauer, Mitleid, Schock? Er wurde sich nicht klar über seine eigene Reaktion, aber irgendetwas hatte ihn in seinem Inneren getroffen. Unmöglich:
„Was ist passiert? Vor ein paar Tagen war er noch kerngesund – als ich bei ihm war.“
„Er ist unter eine Lok gekommen – in Frankfurt – im Sackbahnhof. Sein Sohn rief an.“
Sein Sohn. Nicht seine Frau. Seinen Sohn hatte er nur einmal flüchtig gesehen.
„Ritchie, Busheer will dich sehen. Komm rüber.“ Veronika legte auf.
Strom verlies sein Büro, schloss die Glastür hinter sich und ging langsam in seinem leicht gebeugten Gang den Korridor entlang. Peter George war tot. Einfach so. Strom konnte sich nicht konzentrieren, es wollte sich kein Fokus einstellen. Alles verschwamm in seinem Kopf zu einer einzigen unartikulierten Frage. Er passierte den Schreibtisch von Veronika, ohne sie auch nur anzusehen, klopfte an die Tür des vordersten Büros – das einzige, dessen Glaswände mit cremefarbigen Plastikvorhängen getarnt waren:
„Komm rein!“
Strom öffnete die Tür und tat einen Schritt nach innen.
„Mach die Tür zu.“
Da saß Salas Busheer und glotzte ihn ausdruckslos aus seinen großen schwarzen Kulleraugen an – das rechte sowieso: es war aus Glas.
Es war kurz vor 06:00 Uhr morgens, und die Sonne kämpfte sich gerade über den Horizont hinaus durch einen trüben Wolkenschleier, als Schorsch Reinke sein Fahrrad aus dem Keller holte und es durch die Pforte vor seinem Häuschen auf den sandigen Fahrweg schob. Der Nebel wird in einer Stunde verschwunden sein, dachte er und radelte los in Richtung Dorfstrasse in Ahlbeck. Ahlbeck bei Ueckermünde, nicht mit dem Ahlbeck auf Usedom zu verwechseln. – Keine Menschenseele. Nach zehn Minuten kamen ihm ein VW Golf mit einer jungen Frau am Lenkrad and fünf Minuten später Richtung Rieth ein Kombi mit zwei Männern entgegen. Sonst nichts. Es war frisch und einsam und still zwischen Wald und Feldern.
Schorsch war schon über siebzig und wollte in die Pilze. Im Wald bei Rieth nahe der polnischen Grenze hatte er – wie alle echten Pilzsammler – seine Geheimstellen: Pfifferlinge im Moos zwischen dicht stehenden Birken – kaum von den kleinen vergilbten Birkenblättern auf dem Boden zu unterscheiden. Es hatte in den letzten beiden Nächten geregnet, und jetzt – Ende August – war die Zeit reif.
Der Hochnebel hatte sich inzwischen verzogen, und die Fahrradfahrt trieb ihm trotz der Morgenkühle den Schweiß in die Stirn. Er schob seine alte Schippermütze in den Nacken und bog in das kleine Dörfchen Rieth ein, hielt sich auch gleich wieder rechts auf der Schotterstrasse am Wald entlang und wollte gerade absteigen, als er etwa dreißig Meter vor sich ein Hindernis auf der Strasse erblickte. Etwas wie ein großer Stein oder ein Felsbrocken. Aber hier gab es keine Felsen. Oder ein Paket, das von einem Laster gefallen war. Schorsch schob sein Rad und ging näher hin. Dann sprang er wieder hastig aufs Rad, radelte vom Hindernis weg und zurück und steuerte das erste Haus am Dorfplatz an, stellte sein Rad ab und stürmte durch den Vorgarten. Er kannte die Leute: Rangnitz, und warf sie aus dem Bett – wenigstens den Alten:
„Da liegt Einer. Der ist vielleicht tot oder verletzt. Da vorne am Wald.“
Der alte Rangnitz war nicht besonders erbaut von dem Weckruf, dann aber sofort hell wach: „Ich komme“, und verschwand wieder im Haus. Zwei Minuten später war er wieder draußen, einigermaßen präsentabel. Hundert Meter weiter standen die beiden Männer dann vor dem, was sie eindeutig als Leiche identifizierten. Vor ihnen lag der Körper einen Mannes, der schon in die Jahre gekommen war. Der Oberkörper lag auf der Strasse, die Beine schräg nach oben auf dem Böschungswall, über den man in den Wald kam – Richtung Pfifferlinge. Der Tote trug Jeans und eine schwarze, abgewetzte Lederjacke und war fast kahl. Sein Gesicht konnten sie nur halb sehen. Es war nach unten auf den Schotter gedreht. Darunter hatte sich eine kleine dunkle Pfütze gebildet; die Flüssigkeit war schon teilweise in den Grund versickert. Die beiden Männer fassten nichts an, waren sich aber sicher, einen Toten vor sich zu haben.
„Bleib du hier. Ich ruf die Polizei“, Rangnitz ließ Schorsch Reinke mit seinem Fahrrad stehen und ging zu seinem Haus zurück. Als er wiederkam, standen schon zwei weitere Dorfbewohner herum. Die Polizei aus Ueckermünde war unterwegs.
***
Die Beamten mussten sich den Weg zur Leiche schon fast durch einen Pulk von Neugierigen bahnen. Kommissar Falko Naumann, Anfang dreißig, hochgewachsen, hellblond und durchtrainiert, und ein Kollege beugten sich über den Körper, ohne ihn zu berühren:
„Kopfschuss“, stellte Naumann fest.
„Und hier“, bemerkte sein Begleiter und zeigte auf ein Loch in der Lederjacke in Höhe der linken Schulter. Dann drängten Sie die Leute zurück, und während sein Begleiter die Fundstelle mit rotweißem Band absicherte, nahm Naumann Kontakt zum Kommissariat in Ueckermünde auf. Hauptkommissar Wolter würde rauskommen und die Leute von der Spurensicherung auf den Weg bringen ….
***
Sie befragten Schorsch Reinke und den alten Rangnitz, die sich weiterhin in Bereitschaft halten sollten. Der Tote musste aus dem Wald gekommen sein, bevor er beim Abstieg über die Böschung erschossen wurde. Soviel stand jetzt schon ohne Detailanalyse fest. Dumm war nur, dass um die Fundstelle herum durch die Neugierigen schon alles platt getreten war. Naja, vielleicht zauberte die Spurensicherung ja doch noch etwas Brauchbares hervor. Naumann und ein weiterer Beamter stiegen die Böschung in gebührendem Abstand vom Fundort der Leiche hinauf und bewegten sich vorsichtig in den Wald hinein. Die Sonne stand hoch genug, um ihnen Licht zu geben. Sie wateten durch tiefen Farn, und als Naumann das Dickicht vor sich in Augenschein genommen hatte, nahm er in etwa zweihundert Metern Entfernung mitten im Wald die Umrisse einer halbverfallenen Hütte wahr. Sie gingen darauf zu. Und fanden den Rest.
Als Naumann und sein Begleiter zum Fundort der ersten Leiche zurückkamen, sahen sie Hauptkommissar Heinz Wolter an einem der Einsatzwagen stehen und mit der Zentrale telefonieren. Wolter, Mitte 50, machte einen behäbigen Eindruck. Der Bauchansatz war unverkennbar. Sein immer leicht gerötetes Gesicht deutete entweder auf hohen Blutdruck oder leichte Erregbarkeit hin. Sein graues, aber noch volles Haar war nach hinten gekämmt, und sein Gesicht eingerahmt von einem leichten Backenbartansatz. Er war noch zu DDR-Zeiten ausgebildet worden und war auf seiner Dienstelle als solides Arbeitspferd bekannt.
„Da liegen noch zwei, Heinz“, sagte Naumann: „Wir müssen den Wald komplett abriegeln.“ Es wurde ein langer Tag.
Fährt man von Ueckermünde-Zentrum in Richtung Liepgarten, passiert man kurz vor dem Ortsausfahrtsschild linker Hand den liebevoll eingerichteten Ueckermünder Zoo, auf den ein großes Werbeplakat mit einem in allen Farben schillernden Mandril hinweist. Vorher, weiter Stadt einwärts macht die Liepgartener Strasse einen Bogen. An der Kreuzung, an der ein Abzweig links weiter auf die Umgehung Richtung Altwarp führt, findet man das kasernenartige Gebäude des Kriminalkommissariats Ueckermünde. An diesem Nachmittag hatten sich dort in Wolters Büro der Hauptkommissar, Falko Naumann sowie Nicole Reuter und Stefan Kirn zur Bestandsaufnahme eingefunden. Kirn war schon in Rieth dabei gewesen. Auch er ging schon etwas in die Breite. Alter etwa Ende Zwanzig, ebenso blond wie Naumann, aber schon mit leichter Stirnglatze. Nicole Reuter war nicht viel älter mit ihrer knallroten Kurzhaar-Punkfrisur. Im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen machte sie eher einen untergewichtigen Eindruck. – Auf Wolters Schreibtisch lagen zwei Pässe in durchsichtigen Plastikhüllen. Naumann zählte auf:
„Drei männliche Leichen. Zwei Ende fünfzig, einer um die dreißig. Die beiden älteren Knaben trugen Ausweispapiere bei sich. Hier.“ Er deutete auf die beiden Pässe.
„Ein russischer, ein deutscher.“
Wolter warf ein: „Überprüft? Identität? Was ist mit der Befragung der Leute aus Rieth?“
„Alles der Reihe nach. Also, die Identität des Deutschen haben wir – wenn es denn sein Pass ist. Ein Rheinländer aus Bad Godesberg.“
„Wo ist das denn?“ kam die Frage von Stefan Kirn.
„Irgendwo bei Bonn, wo früher die Westbonzen gewohnt haben. – Also weiter. Für den Russen haben wir über Schwerin in Berlin bei der Botschaft angefragt. Dringlichkeitsstufe.“
Wieder Wolter: „Ich erwarte nicht viel. Kooperation null.“
Naumann fuhr etwas genervt fort: „Wie dem auch sei. Das ist das Prozedere. Jetzt zu Deiner Frage nach den Interviews. Nicole?“
„Also wir haben die Leute in unmittelbarer Nachbarschaft abgeklappert – von Haustür zu Haustür. Die Meisten haben nichts gehört. Der Eine oder Andere wohl die Schüsse, aber die dachten, das wären Jäger oder Wilderer. Da gibt es jede Menge Wildschweine. Und wenn es nachts knallt, reagieren die Meisten nicht.“
„Wir kommen nicht darum herum, jeden Bewohner dieses kleinen Dorfes zu befragen. Nachdem wir die Identitäten haben. Was ist mit dem Dritten?“
Kirn legte los: „Der Deutsche lag ja in der Hütte, aber der andere mitten im Wald zwischen verstreuten Kleidungsstücken. Die Klamotten waren wohl über dreißig Quadratmeter verteilt. Sind sicher gestellt. Die sahen nicht sehr elegant aus. Rundherum war alles flach getreten: Farn, Sträucher, Gras – als wäre eine Herde Elefanten daher gerast. Das müssen mindesten zehn Menschen gewesen sein.“
„Ein Fest für unsere Spurensicherung“, scherzte Wolter und schüttelte seinen Bauch vor Lachen. „Die brauchen massive Verstärkung, und weil sie die nicht kriegen, jede Menge Überstunden. Was ist mit Spuren auf dem Fahrweg, wo der Russe lag?“
„Also die gesamte Hütte wurde natürlich aufgenommen. – Nachts hatte es geregnet, sodass wir Reifenspuren auf der Sandstrasse vor der Böschung festmachen konnten. Es reichte sogar noch, obwohl das halbe Dorf alles rundherum platt getrampelt hatte.“
„Passen die zu den beiden Fahrzeugen, die wir am Ende des Dorfplatzes sichergestellt haben?“ bohrte Wolter.
„Wird noch untersucht, aber wahrscheinlich nicht. Die Spurbreiten an der Sandstrasse deuten einmal auf einen Geländewagen und dann auf einen Transporter hin. Bei den beiden anderen Fahrzeugen handelt es sich um zwei Personenwagen, zwei Leihwagen: ein Audi 80 und ein BMW 320i. Der Audi wurde bei Sixt in Heringsdorf angemietet. Die Identität des Mieters stimmt mit der des Rheinländers überein. Soviel haben wir schon herausgefunden ….“
„…. schon? Alle Achtung“, kam Wolters Ironie.
„…. Der Russe hatte seinen BMW in Berlin bei AVIS abgeholt. Beide Fahrzeuge sind in der Spurensicherung. Die Verleiher sind informiert.“
„Die müssen vor Ort befragt werden.“
„Schon auf dem Weg“, Naumann meldete sich wieder zu Wort. „Wir haben die lokalen Dienstellen dort angefragt.“
„Ich fasse zusammen“, kam es von Wolter: „Die drei Leichen liegen in der Forensischen hier. Sobald wir die Projektile haben, schicken wir die nach Schwerin ins Landesamt. Von zwei der Toten haben wir Identitätsanhalte. Was ist mit dem dritten?“
„Fingerabdrücke sind genommen und werden gerade über das Zentralregister geprüft.“
Bevor Wolter zum Ende kommen konnte, klopfte es, Naumann stand auf und nahm einen Umschlag entgegen: „Gerade passend. Hier sind die Ergebnisse der Fingerabdrücke. Mal sehen, was auf dem Ausdruck steht.“ Wolter nahm das Blatt entgegen: „Frank Radke …. vierunddreißig Jahre alt …. mehrfach vorbestraft …. Der Mann wird in Zusammenhang mit Schleuserdelikten gesucht. Da haben wir es. Das ist die Richtung, aber ich habe mir das schon gedacht mit all den Kleidungsstücken im Wald. Die kommen rüber und wechseln die Kluft und lassen die alten Sachen da liegen, oder die sind eilig aufgebrochen. Falko, Du musst mit dem Forstamt sprechen wegen der Wilderei nachts. Wenn Schleuserkriminalität dahinter steckt – und es sieht so aus – dann müssen wir die Bundespolizei einschalten.
Ich kenne den Leiter der Staffel von Altwarp, Jens Siepker, ein Westfale, habe früher öfters mit ihm in Müllers Bierbar, als es die noch gab, einen gehoben – genau gegenüber von der Kaserne. Ich ruf ihn an.“
***
Östlich von Ueckermünde wird es einsam. Vor der Wende war praktisch die gesamte Gegend bis zum nordöstlichsten deutschen Fischerdorf Altwarp in fünfzehn Kilometer Entfernung militärisches Sperrgebiet gewesen: Flugabwehrstellungen – gerichtet gen Osten, gegen die durch den Warschauer Pakt Verbündeten Polen – achthundert Meter über Wasser vom Fischereihafen entfernt; immer schon Militärstützpunkt gewesen, immer schon ein reizvolles Schmugglerparadies. Wenn im Winter der Warper See – ein Ausläufer des Stettiner Haffs – zugefroren war, ging es übers Eis, im Sommer in kleinen Booten, die von Schilf überwucherte Buchten anfuhren, über Wasser, ansonsten zu fuß durch den Wald. Die Tiere dort kannten niemals eine Grenze – ob Adler in hohen Lüften, Wildschweine oder Hirsche, und im Winter kann man manchmal die breiten Pfotenabdrücke von wandernden Wölfen entdecken.
Die meisten alten Kasernengebäude sind mittlerweile abgerissen oder verfallen. Bestand hat immer noch die Holzhäusersiedlung für ehemalige russische Offiziere, die direkt nach dem zweiten Weltkrieg zwei Kilometer landeinwärts von Altwarp errichtet wurde. Nach dem Abzug der Russen wurden die einfachen Häuser preisgünstig an ehemalige deutsche Bedienstete verkauft, die sie anschließend zu wahren Schmuckstücken umbauten. Die Menschen hier haben unter allen Regimes und Staatsformen ihre Enklave als ziemlich autonom betrachtet – auch ihr Verhältnis zu den Wildschweinen und dem Holz aus dem Wald. Daran hat sich seither nur wenig geändert. Gleich gegenüber dieser Siedlung auf der anderen Seite der Landstrasse liegt die Kaserne der Bundespolizei mit Spezialfahrzeugen, Schnellbooten, Hubschraubern und einer eigenen Hundestaffel. Der Hubschrauberlandeplatz befindet sich mitten im vorpommerschen Wald. Die ehemalige DDR-Einheit, die ursprünglich dort gelegen hatte, wurde als eine der letzten über die Wende informiert – Tage später als der Rest der Bevölkerung und praktisch zeitgleich mit dem Eintreffen des westdeutschen Bundeswehrgenerals, der die DDR-Fahne einholte und seine eigene hisste.
Die Männer und Frauen von der Bundespolizei sind im ständigen Einsatz und patrouillieren zu Land, zu Wasser und aus der Luft: es geht nach wie vor um Schmuggel: Zigaretten, Alkohol, Waffen und vor allem Menschen, die von weit her aus den Ländern des Ostens hinter Polen über die ansonsten ungesicherte Grenze gebracht werden. Mitten im Wald steht irgendwo ein Pfahl in den Farben des Nachbarstaates und schon ist man auf der anderen Seite.
Früher wurde in der Holzhäusersiedlung die Kneipe „Müllers Bierbar“ betrieben, in der der Hauptkommissar Heinz Wolter mit dem Staffelführer Jens Siepker, den es von Osnabrück nach hier oben verschlagen hatte, öfter einen gehoben hatte, wie er sich ausdrückte. Siepker war ein typischer Ostwestfale: hochgewachsen, kräftig, dunkles, leicht angegrautes Haar und eine tiefe Stimme. Ein Bauernkopf wie ein Ochse. – Heute Abend trafen sie sich zwei Kilometer weiter in „Gregors Bierstube“, der ältesten von drei Kneipen in dem Fischerdorf Altwarp mit seinen schmucken alten Kapitänshäusern im Bäderstil der Vorjahrhundertwende. Sie saßen auf der Terrasse. Es war noch warm genug an diesem Abend Ende August. Wolter hat sich Brataal bestellt und Siepker eine Haffzander, alles von lokalen Fischern spät morgens frisch an Land gebracht. Vor jedem stand ein frischer halber Liter Lübzer Pils.
Wolter hat Siepker von den Ereignissen des Morgens erzählt, besonders von seinem Verdacht Richtung Menschenschmuggel.
Siepker: „Die Sache sieht ganz danach aus. Außerdem kennen wir die Hütte in der Nähe da. Die hätte man längst abreißen sollen, das hässliche Ding, aber manchmal stellen sich dort Wanderer oder Pilzsucher unter, wenn das Wetter umschlägt. Die herumliegende Kleidung deutet auf eine größere Truppe Illegaler hin. Habt ihr die Sachen mal untersucht, woher die stammen könnten?“
„Alles noch in Arbeit. Sind Beweismittel. Unsere Spezialisten sind dran. Alles, was ich sagen kann, ist, dass sie nichts taugen, abgetragen waren, verschlissen, teilweise durchlöchert.“
„Ist bei diesen armen Schweinen immer so. Also ihr habt drei Leichen?“
„Ja, der Eine stammt as Anklam. War schon mehrfach in diesen Dingen involviert. Eigentlich ist die Sache ganz klar. Ich vermute eine interne Abrechnung unter Schleusern.“
„Und die anderen Beiden?“
„Ein Rheinländer, wenn seine Papiere stimmen; der andere definitiv ein Russe. Personaldatenüberprüfung ist angefordert. Zwei hatten Waffen bei sich, der Russe und der Mann aus Anklam. Die Leichen werden obduziert und die Ballistik ist auch schon am Werke: wer hat wen umgelegt und so weiter.“
Siepker machte ein nachdenkliches Gesicht, während beide sich jetzt erst einmal mit ihrem Essen beschäftigten. Der Wirt kam heraus und fragte, ob alles in Ordnung sei. Dann nahm Siepker den Faden wieder auf:
„Was mich wundert, ist, dass ein Russe dabei sein soll. Das ist hier ungewöhnlich. Solche Fälle hatten wir noch nicht. Polen, gelegentlich Tschechen oder Rumänen. Aber Russen passen nicht ins Muster.“
„Kann ja mal was Neues sein.“
„Kann sein. Wo wurden denn die Leichen gefunden?“
„Der Russe vor dem Wald, an einer Böschung weiter ab, schon halb auf der Strasse, der Schleuser mitten zwischen den Kleidungsstücken und der Rheinländer in der Hütte auf einer dreckigen Matratze.“
„In der Hütte?“
„Ja, und dann haben wir vier Fahrzeuge, von denen zwei zurückgelassen wurden.“
„Vier? Wozu das? Die brauchen normalerweise doch nur einen Transporter für ihre Ware und dann noch einen zweiten Personenwagen.“
„Die zurückgelassenen sind Mietwagen aus Heringsdorf und Berlin. Elegante Fahrzeuge.“
„Passt überhaupt nicht ins Bild. Obwohl, aber das ist Kaffeesatzlesen: wenn da größere Strukturen hinter stecken, kann das schon um so eine Art Abrechnung oder Kampf um Einflusssphären sein, aber dafür Mietwagen organisieren? Die Spur ist doch vorgezeichnet.“
„Oder auch nicht – wenn beide durchkommen. Offensichtlich haben in diesem Fall aber beide Seiten verloren.“
„Nicht unbedingt. Die Komplizen des Mannes aus Anklam sind offensichtlich heil aus der Sache herausgekommen. Die sind ja immer zu mehreren unterwegs. Ich gehe davon aus, dass die Mietwagenleute nicht dazu gehörten.“
„Möglicherweise. Dann war da wohl noch ein Wagen außer dem Transit. Die Spuren deuten auf einen Geländewagen hin.“
„Kann das Begleitfahrzeug der Truppe gewesen sein. Ich schlage vor, ich recherchiere etwas. Vielleicht haben wir Warmbildaufnahmen der Gegend von letzter Nacht. Ich prüfe auch noch einmal, ob uns der Mann aus Anklam bekannt ist.“ Wolter schob ein Blatt mit den wichtigsten Daten über den Tisch.
„Ansonsten will ich mich da nicht unbedingt reinhängen“, fuhr Siepker fort: „Das ist Mord in Eurem Revier. Wenn ich Hinweise finde, melde ich mich, und wenn Du Näheres aus der Spurenanalyse erfährst, kannst Du mich ja anrufen. Dann kommen wir wieder hierher.“
Der Wirt kam zum Tisch: „Noch n´ Lütten?“
„Nur für den hier“, sagte Wolter und zeigte auf Siepker. „Ich muss fahren.“
Spieker nahm den doppelten Wodka mit den Worten: „Nicht lange schnacken – Kopp in´ Nacken.“ Bezahlt hatten Sie. Wolter setzte Siepker anschließend vor der Kaserne ab und rollte gemächlich die fünfzehn Kilometer nach Ueckermünde zurück. Sie hatten allerhand Material aus dem Wald, zwei Fährten über die Mietwagen und das Schleuser-Szenario. Aber – wenn das nicht schlüssig war? Nach dem Gespräch mit Siepker war Wolter eher skeptisch. Auf jeden Fall gab es jede Menge zu ermitteln.
Mitte Oktober. Bahnhof Mehlem um 05:30 Uhr.
Es war noch dunkel und zudem neblig: diffuse Halos schlangen sich um die trübgelben Bahnhofslaternen herum. Beim zweiten Unterstand, vom alten, jetzt geschlossenem Bahnhofsgebäude etwa zehn Meter entfernt, hatte ein Mann zwei Gepäckstücke auf den Bahnsteig abgestellt: ein Attachécase aus Aluminium und eine dunkelblaue Reisetasche. Der Mann bewegte sich kaum. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet über die Gleise hinweg auf einen Fixpunkt etwa fünfhundert Meter Luftlinie entfernt, zwischen Supermärkten und Wohnhäusern hindurch auf die König-Fahd-Akademie, die jetzt im Dunkeln nicht zu sehen war.
Mehlem ist der südlichste Stadtteil von Bad Godesberg und liegt genau gegenüber von Königswinter mit dem berühmten Drachenfels auf der anderen Rheinseite. Hier unten beginnt die schön-kitschige Uferlandschaft des Mittelrheins mit all ihren Burgen und Schlössern bis weit hinunter nach Bingen. –
Langsam tauchten auch andere Gestalten aus dem Rheinnebel auf dem Bahnsteig auf, aber um diese frühe Zeit würden es nicht viele werden. Der Mann im hellgrauen Übergangsmantel war noch nicht ganz wach. Gestern Abend war es spät geworden. Außerdem war das nicht seine Zeit. So früh. Alle vier bis sechs Wochen ließ er diese Frühaufstehertortur freiwillig über sich ergehen. Dabei säße er jetzt viel lieber am Schreibtisch zuhause vor seinem Rechner. Es war doch schon fast Herbst.
Schon um fünf Uhr hatte er seine Wohnung über der Doc Morris Apotheke im Mehlemer Ortskern verlassen, weil er gerne zu Fuß zum Bahnhof ging. Für die paar Kilometer ließ er sein Auto in der Garage. Dann brauchte er sich außerdem auch nicht um einen der umkämpften Parkplätze am Bahnhof zu sorgen. Seine Sachen hatten griffbereit im Hausflur gestanden – vorbereitet schon am Abend vorher. Er hatte sich nur noch seinen Fahrkartenausdruck gegriffen. Der hatte wie immer eingeklemmt an derselben Stelle in seinem Büro zwischen Hund und Bär auf dem oberen Bücherregal hinter seinem kleinen Schreibtisch gesteckt. Alte Geschenke aus längst vergangener Zeit und einem fernen Land: der Schäferhund aus Granit geschliffen und der Bär aus Onyx. Dann hatte er sich von Barbara verabschiedet. Solidarisch war sie auch so zeitig mit aufgestanden. Tochter Gina schlummerte noch selig vor sich hin: „Bis Morgen!“ – „Pass auf Dich auf!“ – „Tschüss.“ –
Pünktlich um 05:43 Uhr lief die Regionalbahn auf Gleis 2 ein. Richard Strom nahm seine Gepäckstücke auf, stieg ein und blieb drinnen im Eingangsbereich des Zuges nahe der Türen stehen. Er fuhr ja nicht weit mit diesem Zug. Es gab einen Zwischenhalt in Bad Godesberg und acht Minuten später war er im Bonner Hauptbahnhof. Hier hatte er eine halbe Stunde Aufenthalt für seinen Anschluss nach Berlin. Zeitungsladen und Bäcker waren schon geöffnet. Er kaufte sich eine Herald Tribune und dann ein Vinschgauer Brötchen mit Salami und eine kleine Flasche Orangensaft. Um diese Zeit hatte er zuhause noch nicht gefrühstückt. Im Zeitungsladen studierte er flüchtig die übrigen Schlagzeilen – nichts als das Übliche: sich profilierende Politiker vor Mikrofonen, die redeten, als wären sie außergewöhnliche Wesen, und der Rest der Menschheit warte nur darauf, zu hören, welche Vorschläge als Nächstes kommen würden. Ob die kommen oder nicht – wen interessiert das? –
06:22 Uhr ging es weiter.
Im Großraumwagen suchte er sich einen Fensterplatz mit freiem Sitz zum Gang daneben. Nachdem er sein Gepäck oben auf der Ablage verstaut, den Mantel ausgezogen und aufgehängt und sein Frühstück ins Netz an der Rückenlehne des Vordersitzes gesteckt hatte, stellte er seine eigene Rückenlehne zurück und schloss die Augen. Erst einmal provisorisch. Wenn nur der Kontrolleur bald käme, danach wäre dann Zeit für ein längeres Nickerchen – mindesten für eineinhalb Stunden. Kurz nach Sechtem tauchte der Schaffner auf: Fahrkarte, Bahncard; dann war Ruhe. Richard Strom schlief einen leichten Zugschlaf bis Dortmund. –
Als er auf die Armbanduhr schaute, war es 08:00 Uhr vorbei. Nun erst einmal frühstücken. Dann die Tribune lesen. Er dachte an zuhause und daran, wie zufrieden er jetzt war.
Mit Anfang sechzig befand er sich quasi im Ruhestand und finanziell ausreichend abgesichert. Das konnte ihm keiner mehr wegnehmen. Alt, aber noch nicht zu alt, um nicht noch kleinere Geschäfte zu machen. Seine Frau betrieb das Unternehmen, das ihm geblieben war – oder besser: die Webpage dazu. Er hatte nach einem unruhigen Leben spät geheiratet und war seit sechs Jahren Vater einer bewundernswerten Tochter, die sein Lebensmittelpunkt geworden war. Ohne die sein Leben nicht mehr vorstellbar wäre. Die ruhigen Jahre waren da, das Alte endlich über Bord. Mit jenem Alten würde er seine Familie nicht mehr belasten wollen. Er hatte Barbara erst kennen gelernt – sie war zwanzig Jahre jünger als er – als das Meiste schon hinter ihm lag. Sie war von diesen Dingen nicht mehr betroffen, und es gab auch keinen Anlass, sie unnötig damit zu belasten. Das Bernsteingeschäft machte ihr Freude und gab ihr das Gefühl von Eigenständigkeit, und er half ihr dabei. Dass zusätzlich noch etwas dabei übrig blieb, war ein positiver Nebeneffekt.
Noch drei Stunden bis Berlin. Er las die Tribune gerne wegen ihrer Objektivität. Irgendwie schafften die Amerikaner es, bei der Berichterstattung zwischen objektiven Nachrichten und Kommentar klar zu differenzieren. Und selbst bei den Kommentaren lassen sie immer die Meinungen der beiden Lager nebeneinander stehen. Kein Gezänk und keine Stimmungsmache. Er las das Blatt jetzt nur noch bei seinen gelegentlichen Zugfahrten, früher hatte er es abonniert gehabt.
Von draußen grüßte ein trüber Himmel. Noch regnete es nicht, aber weit und breit war kein Sonnenstrahl in Sicht. Windig war es. Sie hatten jetzt Hannover verlassen, und bald würden ihn dunkle Kiefernwälder, die gelegentlichen Seen und jede Menge Brachland auf der Fahrt begleiten. Der Blick konnte sich weiten, die Besiedlung wurde dünner: der Osten. Er liebte diese Gegenden, diese Weite.
***
Berlin Hbf. 11:08 Uhr.
Wieder hatte er eine halbe Stunde Aufenthalt. Die Zeit kam ihm gelegen, da er zum Umsteigen ja noch hinunter ins Tiefgeschoß musste. Und er nutzte das Intervall und rief zuhause an. Gina war wahrscheinlich um diese Zeit noch in der Schule. Barbara saß mit Sicherheit vor ihrem Rechner.
„Ich bin´s, Richard. Bin in Berlin. Geht gleich weiter bis Züssow. Bei Euch alle klar?“
---
„Ich auch, und heute Abend wird es wieder spät. Du kannst ja früh ins Bett gehen. Ich melde mich aus Heringsdorf. Tschüss!“
Der IC nach Züssow ging um 11:37 Uhr. Bis Züssow waren es mehr als zwei Stunden Fahrtzeit. Er setzte sich in den Speisewagen und bestellte sich Nürnberger Bratwürstchen, den Standard, und dazu eine Apfelschorle. Alkohol würde es später noch genug geben. Draußen wechselten sich jetzt kleine Wäldchen mit Seen und Heide ab: Fontaneland. Eine Pracht – die Bäume standen um diese Jahreszeit schon im goldenen, roten und gelben Kleid. Er genoss den Anblick, die Ruhe und sein Leben.
Die Idee mit den Bernsteinen war ihnen vor einigen Jahren während eines Urlaubsaufenthaltes in Swinemünde gekommen – auf dem riesigen Polenmarkt dort. Entlang der kilometerlangen Basarmeile kommen auf hundert Meter drei Bernsteinstände. Die Endverkaufspreise liegen bei dreißig Prozent von dem, was gleiche oder ähnliche Schmuckstücke im Rheinland kosten. Zuerst hatten sie ganz normal über die Theke gekauft. Damit hatte Barbara ihr Internetgeschäft langsam aufgebaut. Bis sich ein kleiner Kundenstamm gebildet hatte. Den Webauftritt hatte er selbst entworfen. Später merkten die Polen natürlich, dass er regelmäßig wieder kam und mehr kaufte als für den Eigenbedarf. Und so entstand im Laufe der Zeit der Deal: er kaufte immer für eine vorher vereinbarte Summe zu einem Preis, der zwar unter dem Ladenpreis, aber sicherlich noch über deren Einkaufspreis lag. Er kam regelmäßig alle vier bis sechs Wochen vorbei. Käufer und Verkäufer trafen sich in Ahlbeck auf Usedom, kurz vor der polnischen Grenze. Das war jetzt sein Leben. Und er war froh darüber.
Aber er kam nicht nur deshalb hier oben hoch, in diese Gegend. Im Laufe der Jahre hatten sie hier Freunde gewonnen und oft Urlaub gemacht, dann auch mit Gina. Einiges war mittlerweile ziemlich touristisch geworden, insbesondere auf Usedom, aber es gab immer noch versteckte Flecken, die den alten DDR-Charm bewahrt hatten – zusammen mit dem Charakter der vorpommerschen Menschen. Und bei zweien von denen musste er heute Abend auch noch vorbei.
Es ging über Angermünde, Prenzlau, Pasewalk und Anklam, der Lilienthalstadt, bis der Zug schließlich um 13:50 Uhr in Züssow ankam. Von hier aus fuhr Strom weiter mit der Usedomer Bäderbahn für noch einmal anderthalb Stunden bis nach Heringsdorf. Sein Herz weitete sich jedes Mal, wenn er das Usedomer Achterwasser passierte. Er hätte mehr Zeit mitbringen sollen, dachte er. So war alles nur wieder ein Streifzug. –
In Heringsdorf kam er um 15:24 Uhr an. Am Bahnhof standen zwei Taxen herum. Die Saison war schon längst zu Ende.
„Einmal Bansin zu Sixt. Danke.“
Die Strecke hätte er eigentlich auch gehen können, die paar hundert Meter, aber er fühlte sich noch rechtschaffen müde vom frühen Aufstehen. –
„Hallo, Herr Strom! Schön, dass Sie wieder da sind. Wie geht es Ihnen?“
„Bin zufrieden. Und Ihnen, Frau Mader?“ Frau Mader trug das klassische Sixt Business-Kostüm mit der weißen Bluse darunter.
„Uns geht es immer gut. Jetzt ist nicht mehr viel los. Viel Ruhe. Aber, Gott sei dank, kommen Sie ja immer noch. Dann können wir wenigstens nicht pleite gehen. – Ich habe Ihnen den üblichen Wagen reserviert. Nur hier unterschreiben. Alles andere haben wir ja. Der Wagen steht direkt vor der Tür. Schlüssel steckt.“
„Ich gebe das Auto dieses Mal in Berlin zurück. Nur, dass Sie Bescheid wissen.“
„Kein Problem. Dann also: gute Fahrt und – bis zum nächsten Mal.“
Strom lieh sich immer einen Audi 80. Schwarz. Er fand den Wagen draußen auf dem Vorplatz, wendete kurz, und ab ging die Fahrt wieder zurück nach Heringsdorf und von dort nach Ahlbeck hinein. Er fand einen Parkplatz, von dem aus er direkt in die kleine Strasse mit ihren Cafés und Restaurants Richtung Seebrücke gelangte. Schon von weitem sah er ihn am Aufgang der Brücke warten:
„Krzysztof!“
„Ah, Herr Strom. Guten Tag! Endlich sind Sie da. Hat es Probleme gegeben?“
„Wieso? Alles lief nach Plan. Wie geht es?“
„Wir dachten nur, Sie kämen früher. Uns geht es wie immer. Sie wissen schon. Irgendwie hat Mutter das noch nicht verkraftet. Das mit Vater.“
„Ja, das dauert. Mit der Zeit wird das schon. Wie laufen die Geschäfte?“
„Jetzt weniger, wie immer um diese Zeit. Aber das Zeug wird immer billiger, seit sie den Hafen von Danzig ausbaggern. Tonnen von Bernstein.“
„Gibt es neue Moden? Habt ihr auch Muster dabei? Wo ist Deine Mutter?“
„Drüben“, er deutete mit dem Kopf Richtung Seebrücke. Sie schlenderten rüber und betraten das Restaurant.
Krzysztof kam auf die Mode zurück: „Die Anhänger sind jetzt länglicher als sonst. Und es wird mehr Silber verarbeitet. Gold ist zu teuer geworden.“
Hinten im Lokal saß Paula, Krzysztofs Mutter: Mitte 50, gut erhalten in schwarzen langen Hosen und engem schwarzen Rolli, der ihre etwas füllige Figur vorteilhaft betonte. Sie trug eine ärmellose hellgrüne Weste darüber und eine silberne Kette, mit deren Hilfe der unvermeidliche Bernsteinklunker an der richtigen Stelle plaziert wurde. Dazu kurze, dunkle Haare und manikürte Fingernägel in hellrosa.
Strom ging auf sie zu, und nach den üblichen Begrüßungsküsschen drückten sie sich erst einmal kräftig.
„Paula, Du siehst gut aus – von Mal zu Mal besser!“
„Gut aussehen und sich gut fühlen sind zwei Dinge. J erzy fehlt mir immer noch.“
„Tut mir echt leid. Ich glaube, man braucht so ein gutes Jahr, bis alles wieder normal ist.“
Vor seinem inneren Auge tauchte noch das alte Bild von Paulas Mann auf – oben auf der Terrasse hinter ihrem Haus in Swinemünde: die Bank und der Tisch mit dem gelben Wachstuch darauf. Auf der Bank davor hatte Jerzy immer gesessen. In seinem grauen Jogginganzug, jedes Mal die unvermeidliche Selbstgedrehte zwischen den Lippen, die Haare ungekämmt, eine Flasche Tyskie-Bier vor sich stehen und das kleine Pinchen für den Klaren. Die Wodkaflasche stand links neben der Bank auf dem Betonboden – unauffällig an ein Tischbein gelehnt. Vor ihm dann die letzte Ausgabe von Fakt aufgeschlagen. J erzy war immer gut drauf gewesen. Nie ein böses Wort, aber auch nie das geringste Interesse für das Geschäft. Solange Frau und Sohn sich darum kümmerten …. Vor einem halben Jahr war er an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. –
„Wie geht´ s Euch?“ fragte Paula. „Was machen Barbara, und die Kleine – ist sie jetzt in der Schule?“
„Ja, ja. Der Ernst hat begonnen.“
„Das ist für Euch doch sicher auch eine Umstellung. Aber Barbara hat bestimmt mehr Ruhe und Zeit für Dich und das Geschäft.“
„Das muss sich alles noch einpendeln.“
„Fährst Du nachher wieder?“
„Ja, ich bin heute bei Gerd und Mina. Ich kann nicht lange bleiben.“
„Schade. Aber wie immer. Weißt Du, Du kannst auch bei uns in Swinemünde schlafen. Dann hast Du weniger Stress, und wir könnten uns heute Abend noch ein wenig unterhalten.“
„Ein anderes Mal – vielleicht im Sommer.“
„Vielleicht …. Vielleicht …. Du weißt, bei uns wartet immer ein gemachtes Bett auf Dich.“
Ja. Sicher. Fragt sich nur, welches? Vor etlichen Jahren hätte er keine Sekunde gezögert, aber das ist jetzt lange her. Die Zeiten waren vorbei. Er wusste, wo er hingehörte, und er wusste, was ihn zuhause erwartete. Das sollte so bleiben. Hoffentlich für immer. Er hatte nichts gegen Paula – im Gegenteil: die wäre schon in Ordnung gewesen. In einem anderen Szenario.
„Sollen wir erst etwas essen oder später?“
„Lass uns erst das Geschäft machen – gleich hier am Tisch.“
Die Nachbartische waren nicht besetzt, und auch sonst war in dem Restaurant nicht viel los. Paula hatte einen Lederkoffer dabei, den sie unter dem Tisch hervor holte. Strom hatte seinen Alu-Koffer bereits auf seinem Schoß geöffnet. Paula zeigte ihm vier große dünne Steckkissen voller Ohrstecker, Ringe und Anhänger und noch ein Kästchen mit Ketten dazu – alles beste Bernsteinqualität. Strom schaute nur flüchtig darüber: wie immer. Auf sie war Verlass. Er vertraute ihr. Würde sich die Sachen zuhause mit Barbara näher ansehen. Dann reichte er ihr viertausend Euro in einem braunen Briefumschlag über den Tisch.
„Zähl nach.“
„Brauch ich nicht. Ich vertraue Dir, Ritchie.“
Strom verstaute die Steckkissen in seinem Alukoffer. Eine Kellnerin tauchte auf mit drei Speisekarten. Sie blieben eine gute Stunde zusammen und tauschten Erinnerungen und Neuigkeiten aus. Die Koffer standen unter dem Tisch, und zum Schluss besiegelten sie das Geschäft mit drei Runden Wodka.
„Mehr als drei darf ich nicht. Das heißt: eigentlich nicht mal mehr als einen, aber wo ich schon mal hier bin. Ich muss noch gut hundert Kilometer weiter. Prost!“
Es war schon dunkel, als er die Seebrücke verließ. Strom hatte sich verabschiedet – die beiden wollten noch etwas bleiben, bevor sie den Fußweg nach Swinemünde antraten – und ging mit seinem Koffer in Richtung Auto. Nachdem er seine Waren im Kofferraum hatte und eingestiegen war, fuhr er ein Stück die Hauptstrasse entlang Richtung Polen. Wenig Verkehr jetzt. Mit drei Wodka im Blut und einem Koffer voll Bernsteinen bog er kurz vor der Ortsausfahrt nach rechts ab in Richtung Anklam. Bei der Dunkelheit war von Usedom jetzt nichts mehr zu sehen. Links und rechts der Landstraße standen Wälder, die mit freien Brachflächen abwechselten. Bei Zecherin führt die lange Brücke dann zum Festland. In Anklam angekommen, nahm er den Hansaring und fuhr weiter in Richtung Pasewalk. Später, auf der Höhe von Ducherow bog er wieder nach links und steuerte Ueckermünde an über Leopoldshagen, Mönkebude und Grambin.
***
In Ueckermünde am Stettiner Haff war um diese Abend- und Jahreszeit alles ruhig. Die traditionsreiche Hansestadt war ohnehin kein typischer Disko-Urlaubsort. Strom fuhr am alten Markt vorbei. Die restaurierten Kaufmannshäuser blieben im Dunkeln unsichtbar. Dann an der Kirche vorüber und über die Uecker mit dem kleinen Yachthafen. Er ließ die Haffsiedlung links liegen und orientierte sich danach weiter in Richtung Altwarp – keine Menschenseele war mehr unterwegs. Als nächster Ort kam Bellin. Die Landstraße war jetzt wieder von dichtem Wald gesäumt. Wildschweinwechsel war zu dieser Jahresund Abendzeit nichts Außergewöhnliches. Er kannte dieses Risiko und fuhr deshalb verhalten. Danach noch durch Vogelsang-Warsin. Hier gibt es noch DDR-Straßenbelag – Katzenkopfsteine. In Vogelsang selbst führt rechter Hand eine Abzweigung nach Rieth an der polnischen Grenze. Die ließ er aber liegen. Danach kam nichts mehr – außer Altwarp.
Gerd und Mina Althaus hatten sich hier vor Jahren ein altes Kapitänshaus gekauft. Sie hatten zwar seit ihrer Heirat schon immer in diesem Haus gelebt, aber nach der Wende konnten sie es günstig erwerben. Wegen der militärischen Bedeutung dieses Standorts waren die Häuser schon vor 1945 enteignet worden, und zu DDR-Zeiten waren die Besitzverhältnisse auch nicht geändert worden: Staatseigentum. Die Stroms hatten das Ehepaar Althaus im Urlaub kennengelernt und waren Freunde mit ihnen geworden.
Strom ließ Altwarp-Siedlung kurz vor der eigentlichen Ortschaft links liegen, und nach zwei Kilometern war er fast am Ziel. Er bog von der Nordstraße, über die er gekommen war, in die Seestraße ein – vorbei am pommerschen Landmarkt. Kurz vor dem Haus seiner Freunde parkte er. Er war angemeldet und wurde überschwänglich begrüßt.
Es wurde ein langer Abend. Es gab viel zu erzählen vom Rhein und von der Oder, obwohl man sich ja erst noch vor ein paar Monaten gesehen hatte – beim letzten Bernsteinhandel. Strom hatte Flönz aus Köln und einige Flaschen Wein von der Ahr mitgebracht. Und bei Althausens stand das Essen schon auf dem Tisch, und anschließend leerten Gerd