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Fred Unkel hat seine Frau getötet. Und es tut ihm leid. Er sucht einen Weg, seine schreckliche Tat ungeschehen zu machen. Dabei glaubt er, ein geheimnisvolles Projekt aufzudecken. von dem nur er Kenntnis erhält. Gleichzeitig beginnt eine Mordserie an deutschen Forschungseinrichtungen, die sich mit den kleinsten Teilchen der Materie beschäftigen. Die blutige Spur führt von Bonn im Rheinland bis an die Haffküste in Mecklenburg-Vorpommern. Lange tappen die Ermittler im Dunkeln, bis sich der Kreis schließt in einem dramatischen Wettlauf quer durch Deutschland, um einen weiteren Mord zu verhindern. Lupus Egarrezzo ist ein Pseudonym. Der Autor ist ein international anerkannter Publizist im naturwissenschaftlich-technischen Bereich. Als Kriminalromane sind von ihm bisher erschienen: "Bernsteinhändler" und "Vogelinsel".
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Seitenzahl: 224
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Conondrum:
Was ist das?
Wenn man weiß, wo es ist, weiß man nicht wann; und wenn man weiß, wann es ist, weiß man nicht wo.
Sechzehn Stufen
JVA Rheinbach
Absturz
Das Gästehaus
Heimkehr
Dietrich-Bonnhoeffer-Haus
Ramersdorf, Königswintererstrasse
Havanna
Hauptkommissar Klein ermittelt.
Am Hundestrand in Neuendorf
Das Drachenrad
Ein Tag im Leben von Hauptkommissar Klein
Ein Tag im Leben von Hauptkommissar Wolter
Der Drachenfels
Hamburg
Intermezzo
Begegnungen in Darmstadt
Die Weltmaschine
Das Ende des Sommers
Datenbanken
Die Spur nach Nordosten
Pützchens Markt
Der Knastbruder
Die Akte
Ein neuer Hinweis
Die Spur
Sechzehn Stufen
Das Testament
Drei Monate später
Die Durchgangsstraße war leergefegt, obwohl es erst 21:00 Uhr war. Regen peitsche fast waagerecht über den glänzenden Asphalt. Die schwarze Dunkelheit an diesem frühherbstlichen Abend wurde nur durch das gelbe Licht der Straßenlaternen gemildert. In seinen Kegeln schäumte der prasselnde Regen wie Sturzbäche auf. Aus der Ferne tasteten sich zwei Scheinwerfer durch das Unwetter heran. Sturmböen heulten um die Ecken der Seitenstraßen. An der Laterne vor dem ASIA-Restaurant hielt das Taxi am Bordstein an. Der Fahrer schaltete die Innenbeleuchtung ein, der Gast übergab mit einer wegwerfenden Handbewegung einen großen Schein. Dann stieg er aus. Der Taxichauffeur rief etwas durch die geöffnete Beifahrertür seinem Kunden hinterher.
„Ist schon gut. Ich brauche das Geld nicht mehr“, kam die Antwort.
Dann stand er ohne Kopfbedeckung oder Schirm im strömenden Regen unter der Straßenlampe, den Kragen seines schwarzen Regenmantels hochgeschlagen – ein dunkler, schlanker Mann von etwa vierzig Jahren. Er trug einen grauen Vollbart, und von seiner Halbglatze hing seitlich das Haar über die Ohren hinab. Das Wasser rann ihm vom Kopf ins Gesicht und in den Nacken. Der Mann wartete, bis sich das Taxi wieder entfernt hatte. Dann ging er ein Stück die Straße entlang und bog nach links in eine Seitenstraße ein, bis er die Gasse erreichte, die hinter die Häuserzeile führte. Nach wenigen Metern hatte er den Hintereingang des Restaurants erreicht.
Er wartete. Und der Regen hatte kein Erbarmen. Hier war es stockdunkel ohne Straßenbeleuchtung.
Nach wenigen Minuten sah er durch das Fenster der Hintertür, dass im Inneren Licht eingeschaltet wurde. Die Tür öffnete sich, und ein junger Chinese trat heraus, der hastig auf die Kellertreppe zuschritt, die seitlich am Haus nach unten führte. Der Mann ging ihm nach. Der Chinese stieg die Treppenstufen hinab und holte dabei ein Schlüsselbund aus seiner Tasche. Hinter ihm, im Abstand von fünf Stufen, folgte langsam der andere.
Sechzehn Stufen bis zur Tür ganz unten. Er kannte den Weg. Unzählige Male hatte er sie gezählt. Es war wieder soweit. Sechzehn Stufen. Der Chinese hatte jetzt die Holztüre geöffnet – eine Holztüre, deren Latten mit einem Z aus Streben zusammengehalten wurden. Der Chinese betätigte einen Lichtschalter im Inneren des dunklen Raumes und trat in den Keller.
Der Mann fixierte kurz die Türe. Zwölf Kerben zählte er und holte ein Klappmesser aus der Tasche. Schon zwölf Mal. Er wusste, was er zu tun hatte. Er fügte eine weitere Kerbe hinzu, schob dann die angelehnte Kellertür auf und trat langsam ein ….
Dass er in den nächsten Tagen entlassen werden würde, das wusste Fred Unkel, aber wann genau war ihm noch nicht gesagt worden. Das war hier in Rheinbach immer so. Tag und Stunde, wann man raus kam, wurden erst unmittelbar vorher mitgeteilt. Das wurde in Köln entschieden. Erst, wenn der Verwaltungsvorgang abgeschlossen war, kam von dort die Order an die Anstalt und dann an den Gefangenen.
Fred Unkel machte das nichts aus. Er hatte sowieso niemanden, der draußen auf ihn warten oder ihn abholen würde. Bei anderen sah das oft anders aus. Die standen im Nullkommanichts vor dem Gefängnistor mit ihrer Reisetasche und dem Entlassungsgeld im Portemonnaie. Und meistens wollte von den alten Angehörigen und Freunden niemand mehr etwas mit denen zu tun haben. Kein Zimmer, kein Transportmittel, also ab zur nächsten Bushaltestelle und dann nach Bonn oder Köln. Erst einmal sehen. Ganz schlecht war das, wenn die Entlassung am späten Nachmittag stattfand. Dann fuhren kaum noch Busse.
Aber es gab ja den Betreuungsverein, der sich um diese Leute kümmerte. Die hatten ein Einfamilienhaus gemietet. Da kamen immer drei bis vier Entlassene für einige Tage unter, bis sie irgendwo gemeldet waren und zum Arbeitsamt gehen konnten. Dann ging es irgendwie weiter.
Fred Unkel hatte keine Geldsorgen. Er besaß noch seine EC-Karte, und sein Konto war bestens gefüllt. Vor Haftantritt hatte er sein Geschäft noch gut verkaufen können. Und sein Haus und sein Auto warteten auf ihn. Seine Schwester Christiane hatte ab und zu einen Blick aufs Haus geworfen, den Garten sauber gehalten und im Winter die Heizung angestellt. Vier lange Jahre lang. Aber die konnte ihn auch nicht abholen. Die kannte auch nicht Tag und Stunde.
Es war 16:30 Uhr gewesen. Der Fernseher lief im Gemeinschaftsraum. Tiersendungen. Und dann kam Ringo, der Wärter mit dem Ohrring. Er stand im Türrahmen und blickte Fred an. Der blickte zurück, und Ringo machte eine Bewegung mit dem Kopf Richtung Flur:
„Pack Deine Klamotten. Du bist dran.“
Die Klamotten waren schon gepackt, seit sein Anwalt ihm vor einer Woche den ungefähren Termin mitgeteilt hatte. Fred brauchte nur noch sein Waschzeug einzustecken, dann konnte er seine Papiere holen und die Sachen, die er bei der Einlieferung damals abgeben musste.
***
Jetzt stand er vor dem Tor, die Reisetasche in der Hand. Draußen war es angenehm mild. Ende März meldete sich der Frühling schon. Aber Sonne und Wind kannte Fred schon seit einem guten halben Jahr als Freigänger. Fred wartete. Nicht auf irgendwelche Verwandte oder Bekannte. Er wartete auf den Mann vom Betreuungsverein, auf Holger Werth. Sein Bewährungshelfer hatte gefragt, ob er eine Unterkunft hätte. Natürlich. Sein Haus. Aber das stand in Siegburg, und da käme er heute nicht mehr hin. Er kannte sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht aus. Er würde seine Schwester anrufen, die hatte auch die Hausschlüssel. Sie sollte ihn morgen nach Feierabend abholen. Solange wollte er in dem Auffanghaus des Betreuungsvereins wohnen. Nur eine Nacht.
Vier Jahre, und es waren ursprünglich sechs gewesen. Aber er hatte sich gut gehalten. Zwei hatte man ihm auf Bewährung erlassen. – Ein dunkelblauer Opel Corsa fuhr vor und hielt am Bordstein direkt vor ihm. Ein Mann ließ das Seitenfenster auf der Fahrerseite runter:
„Sind Sie Fred Unkel?“
„Ja, bin ich.“
Der Mann war etwa fünfzig Jahre alt, etwas korpulent mit einer Stirnglatze, in Jeans und Sweatshirt. Er stieg aus, ging um das Auto herum und reichte Fred die Hand:
„Holger Werth. Ich bringe Sie zu Ihrer Wohnung.“
Werth verstaute Freds Reisetasche im Kofferraum, sie stiegen ein, und es ging los:
„Wir haben es nicht weit. In zehn Minuten sind wir da.“
Fred sagte nichts und blickte aus dem Seitenfenster hinaus, ließ den Verkehr an sich vorbeifließen. Hier, auf der Umgehungsstrasse, konnte er nur die Giebeldächer der Wohnhäuser sehen, die über den Lärmschutzwall herausragten. Die Welt außerhalb des Knasts kannte er ja bereits, aber jetzt war das anders. Andere Bilder tauchten auf. Er hatte sich natürlich im Gefängnis mit seiner Vergangenheit, seiner Schuld auseinandergesetzt – ganz so wie es sein sollte. Wie der Läuterungsprozess auszusehen hatte. Nächtelang hatte er sich auf seinem Bett gewälzt und jede Minute zu rekonstruieren versucht, die ihn nach Rheinbach gebracht hatte. Jede Minute, in der er die Wahl gehabt hatte, eine andere Entscheidung zu treffen. Die Bilder waren immer wieder aufgetaucht. Und eines Tages waren sie irgendwo ganz hinten in seiner neuronalen Speicherkammer gelandet. Nicht, dass er Frieden gefunden hatte. Nein, er hatte sie nur temporär weggeschlossen. Bis zum Ende der Restlaufzeit. Bis jetzt ….
„Es sind noch zwei Männer im Haus. Mit denen müssen Sie zurechtkommen“, unterbrach Werth das Schweigen.
Sie hielten jetzt vor einer Ampel. Rechts die Wohngegend, links Felder und kleine Wäldchen.
„Aha. Geht schon klar. Kenne ich die?“
„Vielleicht. Der eine heißt Hermann Lübbers. Der ist schon älter. Und dann einer in Ihrem Alter. Stefan Marks.“
„Den Lübbers kenne ich. Olle Herm.“
„Ja, der war schon mehr als einmal hier.“
„Aber den anderen? Nie gehört. Wieso ist der mir nicht in der Anstalt über den Weg gelaufen? Verstehe ich nicht. Wir kannten uns doch alle?“
„Ja. Der war bis zuletzt im Geschlossenen. Hat seine vollen acht Jahre abgesessen. Deshalb haben Sie ihn nicht kennen gelernt. Der ist erst vor einem halben Jahr hierher verlegt worden von Rostock.“
„Ein Ossi?“
„Vielleicht.“
„Und warum kam der hierher?“
„Keine Ahnung.“
„Was hat der gemacht?“
„Fragen Sie ihn selber.“
Der Wagen fuhr wieder an. Fred blickte zum Seitenfenster hinaus. Sie hatten beide viel getrunken gehabt an dem lauen Frühlingsabend. Zuerst Camparis auf der Terrasse, dann, als es kühler wurde, im Haus Wodka und Bier. Jede Menge. Alles war gut gewesen, aber dann ging das Nörgeln los. Schon wieder. –
Vor Freds Augen verschwamm die ganze Welt zu einem roten Meer von Blut und gellendem Gekreische. Sein Leben löste sich auf. Das andere wurde systematisch vernichtet – mit jedem hämmernden Faustschlag. Mit jedem wahnsinnigen Schädelstoß gegen das Kaminsims, mit jedem unaufhaltsamen Hieb des Schürhakens ins Gesicht. –
Nichts war gewesen. Nichts. Vorher nichts, und nachher auch nichts. Nichts war mehr da. Nichts stand mehr an seinem Platz, wie es sich gehörte. Nicht die Vasen, nicht die Nippesfiguren, nicht die Bilder mit ihren zerschlagenen Glasscheiben an ihren Wandhaken, nicht das Leben in seiner Frau. Vorher war nichts gewesen ….
Sie bogen von der Hauptstrasse in eine Sackgasse ab, die von schmucken Einfamilienhäusern gesäumt war.
„Sind gleich da.“
Fred hörte nicht zu. Die letzten Meter. Diese ewige Nörgelei, die Stiche, dieses Ausnutzen seiner Schwachstellen. Beleidigungen. Er war nicht zimperlich gewesen. Bedeutungslosigkeiten. Alles war doch im Lot. Oder Nicht? Das Kumulative, die ständigen Wiederholungen, die alten Kamellen. Es reichte. Irgendwann. Dann war die Spundwand überwunden, dann strömte das Hochwasser darüber – im freien Lauf. Der erste Schlag, und alle Sicherungen flogen heraus. Monatelange, jahrelange Demütigungen hatten den Druck im Kessel über die Toleranzgrenze gebracht. Der Anzeiger hatte das Ende der Skala erreicht. Freier Fall ohne Fallschirm ….
Sie hielten vor dem letzten Haus in der Strasse. Dahinter lagen Felder, ganz hinten die Autobahn.
„Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer und stelle Sie Ihren Mitbewohnern vor. Das ist hier wie eine WG. Küche und Bad müssen Sie sich mit den Anderen teilen. Benötigen Sie noch irgendetwas, das ich Ihnen besorgen kann? Zahnpasta oder so oder irgendetwas anders?“
„Nein. Ich hab alles, was ich brauche. Bin morgen Nachmittag sowieso weg. Meine Schwester holt mich ab.“
„Prima. Haben Sie Geld?“
„Klar.“
Werth ging voraus, die drei Stufen bis zur Haustür. Er klingelte. Die Tür ging einen Spalt breit auf. Dahinter erkannte Fred Olle Herm.
In jenem Gästehaus war es, dass Fred zum ersten Mal davon hörte. Es sollte den Rest seines Lebens bestimmen. An dem ersten und einzigen Abend, den er dort verbrachte, saß er mit Stefan Marks, einem bulligen Kerl in seinem Alter, mit reichlich Muskelpaketen, die er sich wohl im Knast-Fitness-Studio zugelegt hatte, am Küchentisch und aß von dem Eintopf, den Olle Herm aus der Dose warm gemacht hatte. Dabei tranken sie Bier und schauten schweigend aneinander vorbei. Herm war zu Bett gegangen.
Marks versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen: „Haust Du Morgen schon wieder ab?“
Nach längerer Pause antwortete Fred: „Jaja.“
Dann folgte wieder Schweigen. Vor Freds innerem Auge tanzten immer noch die Bilder aus der Vergangenheit. Die Beiden löffelten ihren Eintopf weiter und tranken Bier. Schließlich räumte Marks ab und brachte das Geschirr zur Spüle. Dann setzte er sich wieder zu Fred an den Tisch. Zweiter Versuch:
„Was machst Du dann?“
Zögernd kam die Antwort: „Weiß ich noch nicht.“
„Hast Du ´nen Job?“
„Nein“
„Und wovon willst Du leben?“
„Mach Dir keine Sorgen.“
Und so plätscherte die Unterhaltung weiter. Schließlich kamen sie auf den Grund des Brunnens an. Zu den Dingen, die sie hierhin verschlagen hatten. Marks hatte wegen Bankraubs gesessen. Und dann fing Fred Unkel doch an von dem, was ihn jetzt wieder so bedrückte, zu erzählen. Totschlag. Seine eigene Frau im eigenen Haus. Er hatte Mühe, jetzt seine Erregung zu unterdrücken.
„Ich wollte, ich könnte das rückgängig machen.“
Jetzt sagte Stefan Marks nichts mehr. Er war ein hart gesottener Bursche, der seine Verbrechen geplant hatte. Das einzige, was er bereute, war, dass man ihn erwischt hatte; alles andere war ihm egal.
„Ich wollte, ich könnte das rückgängig machen.“
Sie tranken schweigend ihr letztes Bier zu Ende, dann war das Sixpack aufgebraucht, das der freundliche Mann vom Betreuungsverein gestiftet hatte. Danach erhob sich Marks und wollte nach oben auf sein Zimmer gehen. Den letzten Schluck trank er im Stehen aus der Flasche. Fred Unkel blieb noch am Tisch sitzen. Er war in Gedanken versunken:
„Gute Nacht, Stefan.“
Stefan zögerte: „Mit dem Rückgängigmachen …. Mir fällt da etwas ein. Komisch. Nur so eine Idee. Vielleicht geht das irgendwie.“
„Was? Wie soll das denn funktionieren? Was gewesen ist, ist gewesen. Das ist leider Vergangenheit. Mach Dich doch nicht noch lustig über mein Unglück.“
„Nee, mach ich nicht. Aber weißt Du, ich hab von Physik keine Ahnung, aber es gibt da so eine Theorie, von der hab ich früher gelesen. Und ich habe mit Nico Ernst darüber im Bau geredet. Der hatte Ahnung davon. Der meinte, dass man damit eine Maschine bauen könnte.“
„Eine Zeitmaschine? Den Roman von Wells kenne ich. Und dann zurück in die Vergangenheit und alles neu richten? Klar.“
„Nee, keine Zeitmaschine.“
Marks hatte sich inzwischen wieder an den Tisch gesetzt.
„Was denn für eine Theorie?“
„Hast Du schon mal von einem Typen namens Heisenberg gehört?“
„Ja, sicher, ein bekannter Physiker und Nobelpreisträger. Der ist schon lange tot. Ich glaube, der war an dem Atombombenprojekt von Adolf beteiligt.“
„Kann sein, aber der hat so eine Theorie entwickelt. Angenommen, das Licht besteht aus Teilchen, aus Lichtteilchen. Und man hat einen Lichtstrahl. Dann weiß man entweder, wo sich ein solches Teilchen gerade befindet, aber dann nicht genau wann. Wenn man aber doch den Zeitpunkt kennt, dann weiß man wiederum nicht genau, wo das Teilchen gerade ist. Verstehst Du? Man kann nicht beides gleichzeitig kennen. Nur immer entweder das Eine oder das Andere.“
„Und was hat das jetzt mit meiner Vergangenheit zu tun?“
„Ja, also, ich verstehe das so: Diese Zeitspanne, in der sich ein Teilchen bewegt, die ist ungenau, wie ich sagte. Darum, wenn also der Hauptanteil eines Lichtbündels ankommt, kann es sein, dass wegen dieser Ungenauigkeit schon ein geringer Teil dieses Lichtbündels vorher ankommt, und wenn man diese Vorboten, will ich mal sagen, entdecken würde und sehr schnell wäre, dann könnte man etwas ändern, bevor der Hauptstrahl ankommt, und die ganze ursprüngliche Richtung wäre dann ungültig. Sagen wir, schnell den Vorboten so ablenken, dass der Hauptstrahl sozusagen gar nicht wie vorgesehen mehr ankommen darf. Dann stände das Geschehen im Widerspruch zu der Vergangenheit, nämlich zu den Voraussetzungen für den ursprünglichen Lichtweg. Man hätte den Verlauf der Dinge umgebogen oder so.“
„Und was hat das mit mir zu tun? Erstens hab ich das nicht richtig verstanden, aber egal, und zweitens sehe ich keinen Zusammenhang mit meiner Vergangenheit.“
„Aber Du willst doch Deine Vergangenheit rückgängig machen. – Also, Nico hat lange darüber nachgedacht. Er meinte, wenn man einen Apparat bauen würde, der dieses Zurechtrücken automatisch machte – sozusagen auf Knopfdruck, dann müsste sich doch die ganze Welt, also unser Universum und alles, auch so zurück ändern, dass das wieder passt. Und das ginge nur, dachte er, wenn die Welt wieder ganz von vorne beginnt. Und Du hättest ein paar Sekundenbruchteile gewonnen und so immer weiter zurück.“
Fred Unkel sagte nichts. Er blickte an Marks vorbei auf das Fenster über der Spüle. Es glotze ihn wie ein totes Auge an. – Er schüttelte sich:
„Aber so einen Kasten gibt es nicht. Das ist doch pure Phantasie.“
„Ich bin mir nicht sicher. Nico meinte, da müssten schon andere auf die Idee gekommen sein. Leute, die mehr Grips im Kopf haben als wir. Und dass die schon so ein Gerät entwickelt haben. Das wird wahrscheinlich geheim gehalten. Das darf nicht an die Öffentlichkeit. Stell Dir mal vor, was passieren würde, wenn jeder in der Lage wäre, jedes Mal die Welt von vorne anfangen zu lassen. Das geht doch gar nicht. Das muss doch unter Verschluss bleiben.“
„Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Und wenn auch, es würde mir sowieso nichts nützen.“
„Wie Du meinst. War ja nur so ein Gedanke, weil Du alles so gerne rückgängig machen wolltest. Mir ist das egal. Ich geh jetzt schlafen. Bis morgen.“
„Ja, bis morgen. Gute Nacht.“
***
Fred Unkel versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Er war draußen und hatte die erste Nacht in vollständiger Freiheit vor sich. Aber Entspannung wollte nicht kommen. Morgen nachmittag würde seine Schwester ihn abholen. Er würde kein neues Juweliergeschäft mehr eröffnen. Sein Geschäft von früher hatte er mit gutem Gewinn verkauft. Das Geld lag auf der Bank zusammen mit seinen anderen Ersparnissen. Da konnte er einige Monate gut von leben – ohne spürbaren Verlust. Er wollte etwas Urlaub machen, an der See. Leben und Freiheit genießen. Danach würde er ein Schreibwarengeschäft mit Lotto-Annahmestelle und Zeitungsverkauf aufmachen. Startkapital war vorhanden.
Er blickte wieder auf das Fenster über der Spüle. Dann raffte er sich auf und ging in seinen Raum und ins Bett. Eine unruhige Nacht wartete auf ihn. Das Übliche: je mehr er den Schlaf suchte, desto weniger kam der. Gegen zwei Uhr in der Früh glitt er in einen Dämmerzustand hinüber, in dem ihm die Bilder des Vortages immer wieder begegneten. Als er endlich um neun Uhr morgens erwachte, fühlte er sich wie gerädert. Aber da war ein Geistesblitz, eine Art Anstoß für etwas Neues. Er überlegte, was kam da auf ihn zu: die neue Freiheit, klar. Aber da war noch etwas. Ach ja: die Umkehr der Vergangenheit. – Er winkte innerlich ab. Unsinn. Spinnerei.
Im Haus war es still. Die beiden anderen Vögel waren ausgeflogen. Behördengänge machen. Arbeit suchen? – Als er wieder zum Fenster schaute, kam helles Licht von draußen herein. Er musste unbedingt noch mit Stefan Marks reden, bevor seine Schwester ihn abholte.
Christiane Unkel hatte ihre Schwägerin nie leiden können. Sie hatte auch nicht getrauert, nachdem das passiert war. Nicht, dass sie den Totschlag gebilligt hätte. Sie hatte auch keine Genugtuung gespürt. Natürlich war das schrecklich, was dem Fred passiert war. Und unverzeihlich. Aber leid getan wegen seiner Frau hatte es ihr nicht. Und nun war er draußen, und er hatte ja auch seine Zeit abgesessen und gebüßt. So sah sie das.
Christiane Unkel war unverheiratet und gegenwärtig ohne Lebenspartner. Sie war drei Jahre jünger als Fred und immer eine stille Bewunderin seiner geschäftlichen Fähigkeiten gewesen. Da sie weniger Zutrauen zu sich selbst hatte als er zu sich, hatte sie sich von vornherein in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis wohl gefühlt und war Arzthelferin geworden und zufrieden.
Die letzte Woche hatte sie damit verbracht, alles für Freds Heimkehr vorzubereiten. Der Kühlschrank war gut gefüllt. Das Haus hatte sie putzen lassen, Laub aufgefegt draußen, trotz beginnenden Frühlings die Heizung noch einmal aufgedreht. Und die Batterie im Auto austauschen lassen, eine Probefahrt mit dem silbergrauen 3er BMW gemacht, nachdem sie vorher einen Kanister Super einfüllen musste. Nach vier Jahren, war nicht mehr viel im Tank geblieben. Jetzt stand er vollgetankt in der Garage.
Als sie Fred abholte, nahm sie ihren eigenen LUPO und kreuzte nach ihrer Arbeit um Punkt 17:00 Uhr in Rheinbach vor dem Gästehaus mit ihrem froschgrünen Wagen auf. Ihr Bruder stand schon am Bordstein, die Reisetasche neben sich. Er hatte Marks nicht mehr wieder gesehen. Der war wohl noch unterwegs. Nur Olle Herm war zweimal kurz aufgetaucht. Fred hatte ihm einen Zettel mit seiner Mobilnummer gegeben für Marks. Der solle sich mal melden. –
„Hallo Fred“, die Schwester war ausgestiegen, und beide umarmten sich kräftig und lange: „Alles klar?“
„Alles bestens. Danke, dass Du gekommen bist. Ich bin froh, wenn ich gleich zuhause bin.“
„Gleich ist gut. Weißt Du nicht, was um diese Zeit immer zwischen Godesberg und Siegburg los ist?“
„Immer noch so schlimm?“
„Jeden Tag schlimmer.“
Christiane bugsierte ihr Auto aus Rheinbach hinaus, kam auf die Umgehung und hielt durch Obstplantagen auf Meckenheim zu. Am Kreuz Merl fuhr sie auf die A565. Kurz vor der Ausfahrt Hardtberg kamen sie zum Stehen. Dann ging es Füßchen vor Füßchen weiter über die Nordbrücke immer in Richtung Autobahndreieck Bonn-Nordost. Von dort sollte es weiter gehen auf der A59 Richtung Kreuz Bonn-Siegburg und dann wäre es nicht mehr weit.
„Ich bin ganz aufgeregt, dass Du wieder da bist“.
Christiane interessierte sich nicht für die Knastdetails. Die kannte sie schon aus vergangenen Freiganggesprächen: „Wie war die erste Nacht? War das Haus OK? Waren noch andere da?“
Fred berichtete ein wenig. Er wollte sich entspannen. Sich chauffieren lassen. An nichts denken. Es gelang ihm nicht so ganz. Auch Freiheit bedeutete Stress.
„Ich hab alles organisiert. Essensachen, Bier und so. Und Dein Wagen steht abfahrbereit in der Garage.“
„Mensch, toll. Gut, dass ich Dich habe. Du bist die Einzige, die zu mir steht. Das vergesse ich Dir nie. Hast Du Unkosten gehabt?“
„Vergiss es.“
„Aber der Sprit….“
„Kannst meine Kiste mal auftanken. Später. Alles gut.“
Mittlerweile waren sie auf der Flughafenautobahn, der A59, angekommen. Jetzt ging es etwas flotter. Es war ja auch schon fast 18:00 Uhr. Am Kreuz Siegburg nahmen sie die A560 und von dort die zweite Ausfahrt. Unkels Haus befand sich etwas außerhalb am Hang einer kleinen Anhöhe. Gepflegte Wohngegend, im Rücken ein Waldstück, vorne der Ausblick auf die Stadt. Alles war noch so wie früher, wie vor vier Jahren.
***
Seine Schwester war heimgefahren, er war beim Chinesen gewesen und saß jetzt mutterseelenallein auf seiner cremefarbenen Couch mit der Fernbedienung in der Hand. Auf dem Couchtisch vor ihm standen eine angebrochene Flasche Dornfelder und ein halbleeres Weinglas. Es war erst kurz vor 21:00 Uhr. Fred Unkel langweilte sich.
Langsam trank er das Glas aus, verschloss die Flasche, schaltete den Fernseher aus und ging hinüber in sein Büro. Dort war es noch so aufgeräumt, wie er es damals verlassen hatte. Fast schon steril. Den Laptop, der jetzt auf seinem Schreibtisch lag, hatte er aus dem Gefängnis mitgebracht. Seit einem Jahr besaß er ihn. Christiane hatte ihn gekauft. Fred stellte die notwendigen Steckverbindungen her: Strom und DSL-Anschluss. Er hatte keine Ruhe, setzte sich hinter den Schreibtisch, schaltete die indirekte Beleuchtung an und loggte sich ein. Emails erwartete er nicht. Die letzten raren Exemplare hatte er gestern Morgen abgefragt: außer SPAM nichts gewesen. Er brauchte nur GOOGLE.
***
Vier Stunden später lehnte er sich erschöpft in seinen Bürostuhl zurück und massierte sich zuerst den Nacken, dann rieb er sich beide Augen gleichzeitig mit den Fäusten. Er musste aufhören. Er kriegte nichts mehr zusammen. Ihm schwirrte der Kopf.
Eingestiegen war er mit „Heisenberg“. Von der Unschärferelation, von der Marks geschwafelt hatte, hatte er schon früher gehört und geglaubt, sie verstanden zu haben. Aber weder Wikipedia, noch Artikel von Universitäten, noch irgendwelche Blogs hatten ihm weiter geholfen: Ort und Zeit, Geschwindigkeit und Ort. Diese Paare konnte man nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmen. Hatte irgendetwas mit dem Planckschen Wirkungsquantum zu tun, einer Naturkonstante, die in der Welt des Kleinen die wichtigste Rolle zu spielen schien. In der Quantenphysik.
Und das war seine nächste Suchspur gewesen. Er war nie besonders gut in den Naturwissenschaften gewesen. Er war ein Künstler, ein Kreativer, kein verkopfter Materialist, dessen Leben nur aus Logik bestand. Gut, vielleicht war diese emotionale Seite seines Charakters ja mit Schuld an dem fatalen Ereignis. Vielleicht hätte klarer, deduktiver Verstand ihn davon abgehalten, was er getan hatte. Warum suchte er eigentlich nach diesen Begriffen, von denen er doch nur Halbwissen erhalten konnte?
„Ich wollte, ich könnte das rückgängig machen.“
Das hatte er nicht nur zu Stefan Marks gesagt, sondern hundert Mal und mehr zu sich selber in der Zelle, wenn er nicht einschlafen konnte.
„Ich wollte, ich könnte das rückgängig machen.“
Wie denn?
Marks hatte ihm eine Spur von Hoffnung gegeben. Die saß jetzt fest wie eine Wanze in seinen neuronalen Gehirnwindungen. Und wenn das alles nur Science-Fiction-Gerede war – was würde es schaden, wenn er die Fährte aufnahm. Mehr als ein weiterer Fehlschlag konnte dabei nicht herauskommen. Der Kumpel von Marks, dieser Nico, hatte gemeint, so ein Zeitgerät müsse es eigentlich schon geben, aber diejenigen, die es gebaut hätten, würden es verstecken oder ableugnen, weil es zu gefährlich wäre. Er würde es niemals im Internet finden, aber vielleicht Hinweise.
Im Schnelldurchgang hatte er sich durch immer neue Aspekte der Quantenphysik gewühlt. Vor seinem inneren Auge tanzten solche Begriffe wie Dekohärenz, Verschränkung, Superposition. Alles schien sich aus überlagerten Zuständen zusammen zu setzen, bis man es anfasste oder maß. Dann würden die Dinge konkret. Und manche Zustände konnten sich über fast unendlich weite Entfernungen verständigen. Zeit und Ort. Was bedeuteten sie? Und dann hatte er von Paralleluniversen gelesen, unter denen alle Zustände möglich wären und ein Eigenleben führten. Was, wenn es ein Paralleluniversum gab, in dem er eine andere Entscheidung getroffen hatte und statt Widerworte zu geben, den Streit einfach nur deeskaliert hätte. Dann wäre darin nichts passiert. Vielleicht gab es ein solches Universum, in dem er und Bettina jetzt noch beide lebendig und in einiger Harmonie zusammen lebten? Er könnte nie dorthin, aus technischen Gründen nicht, aber auch deshalb nicht, weil er dann zweimal im selbem Universum existieren würde. Es musste hier geschehen, in dieser Welt. Hier musste er die Maschine finden.
Verena Gärtner war leicht angesäuselt, als sie die Parkallee von der Bahnhofsunterführung Richtung Poppelsdorfer Schloss hinter sich ließ und in den Venusbergweg einbog. Sie war noch fröhlich, aber fror jetzt, denn nachts war es zu dieser Jahreszeit zum Frühlingsanfang noch recht frisch. Das hatte auch ein wenig geholfen, ihren Geist etwas zu klären. Es war jetzt 02:00 Uhr nachts, und sie hatte sich bei einer Kommilitonin, die in der Altstadt wohnte, verquatscht, nachdem beide vorher bis zur Schließungszeit mit anderen Freunden im Salvator einen Geburtstag gefeiert hatten. Das Starkbier und die Enzian-Schnäpse hauten ganz schön rein.
Sie wollte die vordere Eingangstür zum Dietrich-Bonnhoeffer-Haus aufschließen und stutzte. Das war seltsam. Um diese Zeit – das war verpflichtend in diesem Wohnheim der Evangelischen Studierendengemeinde – hatte die Tür verschlossen zu sein. Sie schloss hinter sich ab und trat in den dunklen Flur. Es war mucksmäuschenstill. Jetzt war wohl niemand mehr aktiv, und selbst die größten Nachteulen lagen längst in den Betten. Julia, ihre Zimmergefährtin wohl auch.
Verena schlich die Treppe hoch in den zweiten Stock. Auf den Aufzug verzichtete sie, um niemanden zu wecken. Oben nahm sie den linken Flur bis Nummer 20. Sie stutzte noch einmal, als sie die Wohnungstür aufschließen wollte. Auch die war unverschlossen. So leichtsinnig war ihre Kollegin doch wohl nicht? Sie trat ein und betätigte den Lichtschalter in dem kurzen Eingangsflur und schloss hinter sich ab. Nichts zu hören. Dann öffnete sie die Glastür zur gemeinsamen Wohnung. In der Küche war, wie zu erwarten, niemand, aber die Tür zu Julias Zimmer stand einen Spalt breit offen. Dahinter war es dunkel.