Vogelinsel - Lupus Egarezzo - E-Book

Vogelinsel E-Book

Lupus Egarezzo

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Beschreibung

Der Riether Werder ist eine unbewohnte Insel am Stettiner Haff, auf der geschützte Vogelarten leben. Eines Sommers tritt der Biologiestudent Marc Rückers dort eine Stelle als Vogelwart an. Drei Monate soll er allein auf der Insel leben. Es dauert nicht lange, bis dieser sensible Mensch in einen Bann gezogen wird, aus dem ein Entkommen immer schwieriger wird. Hauptkommissar Wolter aus Ueckermünde hat andere Sorgen: er verfolgt eine Verbrecherbande, die beim Ausrauben von Sportbooten auch nicht vor brutalsten Methoden zurück schreckt. Irgendwann kreuzen sich seine Wege mit denen von Marc Rückers.

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Seitenzahl: 145

Veröffentlichungsjahr: 2015

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„Ich bin der, welcher schließet und öffnet, und ich bin einzig.“

(Papyrus des Ani, 1420 v. Chr.)

Inhaltsverzeichnis

An einem sonnigen Tag in Rieth am Badestrand

Riether Werder

Hannover – Herrenhäuser Gärten

Auf dem Haff

An einem regnerischen Tag in Altwarp

Ueckermünde

Am Steinhuder Meer

Horus und Seth

Leopoldshagen

Der Anfang

Auf der Vogelinsel

Die erste Woche

Mönkebude

Der alte Hof

Leben auf der Insel

Kontakte

Ueckermünde Kommissariat

Der Keller

Neue Kontakte

Unwetter

Ueckermünde Markt

Ein Raubzug

Hauptkommissar Kleins letzter Urlaubsabend

Lagebesprechung

Old Granddad

Funkstille

Das Verhör

Wolters Einsatz

Im Wacholdertal

Beim Juwelier

Anmerkungen zum Riether Werder

An einem sonnigen Tag in Rieth am Badestrand

Gegen Ende Juli hatte sich das Wetter hier an der Ostseeküste – oder besser: am Stettiner Haff – oder noch besser: am Warper See, der in das Haff einmündet – endlich beruhigt. Die Gewitterstürme hatten nachgelassen, und eine beständige, sonnige Wärme strahlte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf Dörfer und Strände und kleine und große Städte und Wiesen und Felder und Wälder herab. Auch, wenn die Schattentemperatur gelegentlich an die 30° kratzte, empfanden die Menschen diese Wärme doch angenehm – zumindest in Küstennähe, wo durchgängig eine laue Brise für Erfrischung sorgte.

Es war noch Ferienzeit in vielen Bundesländern, und Familien mit Kindern genossen die letzten freien Tage an den vielen kleinen und großen Stränden hier im äußersten Nordosten.

Jetzt – um kurz vor zehn am Morgen – machten sich Sofie und Max mit ihrem Vater auf. Von der alten Schule in Rieth in Richtung Badestrand. Jürgen Ziemann und seine Frau Melanie hatten sich mit ihren beiden Kindern in der zu einer preiswerten Ferienunterkunft umgewandelten ehemaligen alten Riether Schule für vierzehn Tage eingemietet und waren gerade mit dem Frühstück fertig, als die Kinder zum Wasser drängten. Nur in Badeklamotten ging es los. Die Mutter hatte noch ein paar Handtücher eingepackt und Trinkpackungen, der Vater noch schnell sein Mobiltelefon in die Strandtasche geworfen, dann schnappte sich der zehnjährige Max sein aufgeblasenes Krokodil unter den Arm und schon ging es los.

Auf der Dorfstrasse war verkehrsmäßig nichts los. Melanie wollte noch Besorgungen in Ahlbeck (nicht das Ahlbeck auf Usedom!) machen und war schon losgefahren. Die drei anderen schlenderten gemächlich an den vielen kleinen alten Häusern mit ihren bunt gestrichenen Zäunen und schmucken Vorgärten an beiden Seiten der Strasse vorbei, bis die Teerstrasse kurz hinter dem Landgasthaus in eine ebenso breite staubige Schottertrasse überging. Hier gabelte sich der Weg, und es gab zwei Möglichkeiten, zum Strand zu gelangen: der linke, breite Weg führt nach knapp zweihundert Metern zu einem kleinen Yachthafen. Dort gibt es im Sommer einen Kiosk und eine kleine Fischgaststätte. Der rechte, schmalere Weg führt durch ein Kiefernwäldchen, von gelegentlichen Lichtungen durchbrochen. Diesen Weg nahmen die drei, bis sich – ebenfalls nach etwa zweihundert Metern – vor ihnen eine Wiese auftat, auf der noch einige uralte Eichenbäume standen, dazwischen ein Beachvolleyball-Platz und einige Spielgeräte im Strandsand für Kinder, ganz vorne zwei Sitzbänke und keine fünf Meter weiter das Wasser des Warper Sees. Der Strand war nicht breiter als zehn Meter zu beiden Seiten der Bänke, dann wurde alles wieder vom Schilfgürtel mit seinen Mücken eingerahmt.

Der zehnjährige Max warf sein Krokodil im hohen Bogen ins leise vor sich hin plätschernde Wasser und sprang wild hinterher, während seine achtjährige Schwester etwas vorsichtiger einen Fuß nach dem anderen in die zu dieser Tageszeit noch etwas kalten Fluten setzte. Jürgen Ziemann stellte die Strandtasche auf eine der beiden Bänke ab, holte zwei Badetücher hervor, die er vor der Bank auf der Erde ausbreitete. Dann setzte er sich auf die Bank, die Ellenbogen auf die Rückenlehne gestützt und die Beine lang ausgestreckt. Die Sonne kam von schräg hinter ihm und begann, wohlig seinen nackten Rücken zu wärmen. Er schloss für einen kurzen Moment die Augen, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch: so konnte man es aushalten. Ein paar Tage noch. Die Kinder waren mittlerweise weit ins Wasser hinausgelaufen, aber es reichte ihnen auch nach dreißig Metern nur bis zu den Hüften. Hier war es flach, und man konnte als Erwachsener gute einhundert Meter hineinwaten, bis die Badehose nass wurde.

„Nicht so weit raus“, rief er seinen Kindern zu.

„Wir passen auf“, kam es von dem Jungen zurück.

***

Jürgen Ziemann blickte in Richtung des schmalen Pfades, der am Schilfgürtel entlang den kleinen Badestrand mit dem Yachthafen verband: fünf Minuten Gehzeit bis dorthin. Er kramte die Ostseezeitung von vorgestern, die sie aus Ueckermünde mitgebracht hatten, und die noch unten zerknautscht in der Badetasche steckte, hervor, legte sie auf die Bank neben sich und studierte sie in aller Ruhe. Ab und zu hob er den Kopf und beobachtete das Treiben der Kinder. Keine weiteren Badegäste weit und breit. War wohl noch zu früh.

Max kam raus und suchte sich im nahen Gebüsch einen Stock, den er zuerst in hohem Bogen ins Wasser warf, um ihn dann wieder an sich zu nehmen und direkt neben seiner Schwester auf das Wasser zu schlagen, sodass es richtig schön spritzte und Sofie an zu kreischen fing.

„Hör auf damit!“ rief der Vater.

„Ich tu nichts“, kam es zurück: „Die stellt sich immer nur an.“

Es wurde wieder ruhig an diesem stillen Ort. Vögel zwitscherten im nahen Wald, Möwen lachten und Nebelkrähen krächzten. Dann schrie Melanie wieder auf.

„Ist jetzt Schluss?“ Ziemann wurde langsam ungeduldig.

„Papa, da schwimmt was. Ekelhaft!“ Das Mädchen rannte laut schreiend aus dem Wasser. Max stand etwa fünfundzwanzig Meter vom Ufer entfernt, blickte auf die Wasseroberfläche und schob etwas mit seinem Stock hin und her.

„Ich glaube, es ist ein Tier, Papa. Komm und kuck!“

Ziemann konnte nichts erkennen. Durch das einfallende Sonnenlicht sah er nur die graue Oberfläche des Warper Sees.

„Du bleibst hier bei der Bank, Sofie.“

Ziemann watete vorsichtig ins Wasser. Er hatte eine gute Halbestunde in der Sonne gesessen und sich noch nicht abgekühlt. Das Wasser kam ihm noch recht kalt vor. Doch dann machte er ein paar große Schritte und stand kurz darauf bei seinem Sohn. Neben ihnen trieb ganz langsam eine große weiße Masse – etwa zehn Zentimeter unter der Oberfläche. Max wollte seinen Stock hineinstecken, aber sein Vater riss ihn ihm aus der Hand.

„Das sieht wie ein totes Schaf aus. Fass das nicht an. Komm, wir gehen raus.“

Sie machten, dass sie ans Ufer kamen.

„Trocknet Euch ab. Ich rufe die Polizei.“

„Was ist das?“ wollte Sofie wissen.

„Ein totes Schaf. Es ist ertrunken. Ich weiß nicht, wie das hierher gekommen ist. Geht da nicht mehr ins Wasser.“

Die Kinder wollten noch mehr wissen, aber der Vater hatte bereits sein Mobiltelefon hervorgeholt und wartete, dass es hochfuhr und ein Netz fand. Dann wählte er den Notruf.

„Ja, hier Ziemann. Ich bin mit meinen beiden Kindern am Badestrand von Rieth. Hier treibt ein totes Schaf im Wasser.“

***

Es dauerte etwa eine Dreiviertelstunde, bis der Polizeiwagen aus Ueckermünde kam. Mittlerweile hatte sich noch ein einheimisches Ehepaar mit ihren Badesachen eingefunden.

„Das kommt von drüben her“, meinte der etwa Sechzigjährige und deutet mit dem Kopf in Richtung der Insel, die sich in etwa einem Kilometer Entfernung aus dem Wasser hob. „Ist nicht das erste Mal.“

„Weiden da denn Schafe? Ich dachte das wäre nur Vogelschutz“, wollte Ziemann wissen, dessen Kinder es nach der ersten Aufregung jetzt langweilig wurde.

„Ja, und Rinder auch. Völlig frei und ungestört. Schon seit Jahren.“

„Und wer kümmert sich darum?“

„Da gibt es einen Verein oder so. Ich weiß nicht mehr, wie der heißt. Die kommen von Leopoldshagen.“

Die Kinder vergnügten sich am Waldrand. Und endlich tauchte der Streifenwagen über den holprigen Waldweg auf. Kommissar Falko Naumann stieg aus:

„Guten Tag. Wer von Ihnen hat angerufen?“

„Ich. Mein Name ist Jürgen Ziemann. Meine Kinder haben da hinten im Wasser ein totes Schaf entdeckt.“

„Wo denn?“

Ziemann zeigt auf die Stelle, aber man konnte nichts erkennen. Der Polizist machte keine Anstalten, ins Wasser zu gehen.

„Wir warten noch auf die Leute vom Freundeskreis. Die müssten bald hier sein.“

Und noch eine halbe Stunde Warten. Inzwischen nahm Naumann die Personalien und die Angaben von Ziemann auf. Der versuchte, seine Frau per Mobiltelefon zu erreichen, damit sie die Kinder abholen käme, aber sie war noch nicht vom Einkaufen zurück. Er selbst wollte sich die Bergung ansehen. Schließlich fuhr ein Landrover mit Anhänger vor und eine Frau und ein Mann stiegen aus.

„Janske“, sagte die Frau. „Wo ist das Tier?“

„Müller“, stellte sich der Mann vor. Beide waren Mitte dreißig, Wetter gebräunt – drahtig. Naturschützer halt.

„Man sieht von hier nichts. So etwa zwanzig, dreißig Meter ins Wasser rein. Ich kann sie hinführen“, bot Ziemann an.

Die beiden Naturschützer zogen ihre Schuhe aus, und die Frau, die sich mit Janske vorgestellt hatte, krempelte sich die Jeansbeine hoch. Müller war ohnehin in Shorts. Dann holte sie zwei Stangen mit Widerhaken an der Spitze vom Anhänger, stiegen ins Wasser und bewegten sich auf die Stelle zu, die Ziemann ihnen angedeutet hatte. Kurze Zeit später fanden sie den Kadaver, der noch immer an der gleichen Stelle vor sich hindümpelte. Sie setzten ihre Hakenstangen ein und zogen damit das tote Tier durchs Wasser, bis es in Ufernähe auf Grund zum Halten kam.

Müller bugsierte sein Gefährt mit dem Heck des Anhängers so nah ans Wasser wie er konnte. So halb aus dem Wasser konnte jeder der Umstehenden jetzt den aufgequollenen, weiß-gelben Körper des Tieres betrachten. Ziemann wurde aufgefordert, mit seinen Kinder zur Seite zu gehen, und die Naturschützer mit Hilfe von Kommissar Naumann zogen den Körper mit Seilen über ein Brett auf die Ladefläche des Anhängers. Ein Veterinär würde später versuchen, festzustellen, woran das Tier gestorben war. Wahrscheinlich war es aber nur ins Wasser gefallen und ertrunken, mutmaßte Müller. Gelegentlich gab es solche Unfälle von der Insel her, und einige Lokalpatrioten regten sich darüber auf und stellten das ganze Schutzkonzept in Frage. – Familie Ziemann sammelte Spielzeug und Badesachen zusammen und machte sich auf den Weg zurück zur alten Schule. Das ältere Ehepaar hatte auch keine Lust auf Baden mehr und folgte ihnen, nachdem Polizeiwagen und Landrover samt totem Schaf den Fundort verlassen hatten.

Riether Werder

Nachts wehen Laute herüber. Übers Wasser. Manchmal klagend. Tiere rufen, Vögel kreischen. Von der Vogelinsel her – vom Riether Werder.

Der Riether Werder ist heute eine Vogelschutzinsel im Warper See im Stettiner Haff zwischen Altwarp, Neuwarp und Rieth. Obwohl erstmalig im dreizehnten Jahrhundert erwähnt, meinen Manche, dass schon zu vorgeschichtlichen Zeiten dort ein heidnisches Heiligtum gewesen wäre. Konkrete Spuren hat man nicht gefunden. Dieselben Leute oder auch andere behaupten, dass es dort zu bestimmten Jahreszeiten nachts spukt. Beweise gibt es nicht.

Die Insel ist kein Quadratkilometer groß und liegt nahe der Grenze zu Polen auf deutschem Gebiet. Neben den weit verbreiteten Vogelarten wie Nebelkrähe, Fischreiher, etlichen Gansarten usw. finden sich hier mehr als fünfzig verschiedene Arten, die man woanders eher selten antrifft: Seeadler, Seeschwalben, Bekassinen, Baumfalken. Wespenbussarde, Rohrweihen, Rotmilane um nur einige zu nennen. Das Betreten der Insel ist verboten. Nur die Ranger vom Freundeskreis Riether Werder aus Leopoldshagen haben Zugang.

Bis Anfang der sechziger Jahre war die Insel noch bewohnt. Vor DDR-Zeiten stand ein Gutshof darauf. Nach der Enteignung wurde er einigen Bauern zugeteilt, die die Bewirtschaftung schließlich aufgaben. Vom Riether Ufer aus kann man noch drei verfallene Gebäude erkennen – ein Haupthaus und zwei Wirtschaftsgebäude. An östlicher Stelle steht ein Windrad. Später hat man wieder mit der Beweidung begonnen. Zwischen Mai und November wird hier eine Kuhherde von mehr als fünfzig Tieren sich selbst überlassen.

Hannover – Herrenhäuser Gärten

„Was ist das? Der Kampf zwischen den beiden Widersachern ist der Tag, an dem Horus mit Seth ficht, wenn dieser schon Unrat dem Horus ins Gesicht schleudert und Horus den Seth entmannt, denn Horus tut dies mit eigener Hand.“

Marc Rückers blinzelte in die Sonne, dann schlug er das Totenbuch, „Die Totenbücher“, zu. Er lehnte sich zurück auf der Parkbank und sein Blick wanderte von den Rabatten mit den Heidepflanzen über die Wege bis zur Grotte von Niki de Saint Phalle. Der ehemalige Küchengarten des Herzogs Georg von Calenberg hatte sich im Laufe der Jahrhunderte zur großen Parkanlage der Herrenhäuser Gärten gewandelt. Bei gutem Wetter verbrachte Rückers hier seine Mittagspausen. Allein. Er suchte nur gelegentlich den Kontakt zu anderen Leuten – hauptsächlich dann, wenn er Fragen hatte, etwas nicht verstanden, Hilfe brauchte. Ansonsten genügte er sich selbst.

Der blaue Himmel war ungetrübt von Wolken. Nicht einmal ein Schleier zeigte sich. Der blasse junge Mann, gerade einmal sechsundzwanzig Jahre alt, schob das Totenbuch zur Seite und fischte eine Cola-Dose aus seiner armeegrünen Lorrybag. Seine zusammengekniffenen Augen unter buschigen schwarzen Brauen, die sein mageres Gesicht noch kränklicher aussehen ließen, scannten den Himmel noch einmal in einem einhundertachtzig Grad Halbkreis. Kein Falke. Auch heute nicht.

Er schaute auf die Uhr. Zeit zur Universität zurück zu gehen. Zeit für die Vorlesung. Heute Nachmittag Bioinformatik. Er gähnte. Große Lust hatte er keine. Auch heute wieder nicht. Er verstaute das Buch in seiner Tasche und brach auf, die Cola-Dose in der Hand. Das war sein Mittagessen – entweder das oder die Mensa, aber nicht beides. Dazu reichte sein Geld nicht. Wenigstens hatte er keine großen Auslagen für Klamotten; ein weißes T-Shirt und eine löchrige schwarze Jeans und Sandalen taten ihre Dienste.

Zwischen den Bäumen tauchte schon das altehrwürdige Gebäude der ehemaligen „Höheren Gewerbeschule zu Hannover“, heute Leibniz-Universität, auf. Er wartete die Straßenbahn ab, die gerade vorbei fuhr und kreuzte dann rüber über den Rasen zum Hauptgebäude. Sein Fach und seine ursprüngliche Leidenschaft war Biologie, Vertiefungsfach Ornithologie. Im Laufe der Semester hatte sich seine Begeisterung abgeschliffen. Außer in den Parkanlagen hatte er in den Seminaren noch keinen echten Vogel zu Gesicht bekommen. Seine Gedanken kreisten um etwas anderes. Ja, sie kreisten, weil sie zu keinem Schluss kommen konnten oder wollten. Neben ein paar halbbeschriebenen Seiten aus seinem Kollegheft und einigen Stiften befand sich nur das Totenbuch, „Die Totenbücher“, in seiner Tasche. Horus ficht mit Seth.

Müden Schritts stieg er die Stufen zum Hauptportal hinauf. Links und rechts von ihm strömten die anderen vorbei. Die Vorlesungen waren gerade zu Ende. Die einen drängten hinaus, die anderen hinein in die Hörsäle. Es waren schon weniger als sonst. Letzte Semesterwoche in diesem Sommer.

***

Marc Rückers stammt aus Hameln. Sein Vater war Entwicklungsingenieur bei VW in Wolfsburg gewesen, verstarb nach einem Verkehrsunfall auf der A3 als Marc zwölf Jahre alt war. Darüber ist der Junge nie hinweg gekommen. Außerdem bedeutete das, dass seine Mutter ihn und seine zehnjährige Schwester allein ernähren musste. Ihr Einkommen aus ihrer Tätigkeit als Krankenschwester reichte nicht aus, den Kredit für das eigene Haus bedienen zu können. Der soziale Abstieg begann. Dennoch ermöglichte Frau Rückers ihrem Sohn später den Eintritt ins Studium. Sein Fernberufsziel war immer schon gewesen, eines Tages als ausgebildeter Biologe nach Südamerika oder Afrika zu gehen und dort in einer Forschungseinrichtung zu arbeiten.

Was die Sache so in die Länge zog waren einmal Unterbrechungen, da es nicht ohne eigene Jobeinkünfte weiterging, und seine depressiven Phasen, die alles zu verlangsamen schienen: manches Mal jeden Schritt, jede quälende Minute in bestimmten Vorlesungen oder Seminaren, jede sich dehnende Abendstunde allein in seiner Bude in der Hagenstraße hinter dem Bahnhof.

Er suchte Abwechslung und Zerstreuung in Randbereichen, interessierte sich für altägyptische Mythologie, vertiefte sich in die Totenbücher und deren Götterwelt. Er wurde – immer für sich natürlich, da er mehr als Kontakt scheu war, ja andere Menschen, wo es ging, außerhalb des Universitätsbetriebs mied – fast so etwas wie ein Experte in dieser Materie. Mit der Zeit und über die einsamen Abende wurde diese Welt zu seinem zweiten Zuhause. Ein gedanklicher Totentanz mit Horus, Seth, Nut und Re, mit Isis und Osiris.

Und nicht nur abends oder nachts. Diese Kobolde gewannen schleichend auch tagsüber seine Aufmerksamkeit. Er erwischte sich in langweiligen Vorlesungen bei Tagträumen, in den aus dunklen Grüften und Tempeln jene Fabelwesen auftauchten und ihm die Aufmerksamkeit nahmen, die er so nötig zum Studieren brauchte. Langsam aber stetig wurde seine Seele von Schatten eingenommen – zusätzliche Ursache für seine sich verschlimmernde Lethargie.

Als er den Vorlesungssaal wieder verließ, war es 03:00 Uhr am Nachmittag. Er blickte in den blauen Sommerhimmel hinauf: immer noch kein Falke zu sehen.

Auf dem Haff

Jetzt, in der zweiten Augusthälfte, herrschte stabiles Wetter auf dem Haff. Gelegentlich gab es abends ein kurzes Gewitter mit einigen Böen, aber tagsüber wehte eine leichte Brise – ideal für einen kleinen Bootsausflug Richtung Swinemünde über das Wasser. Die Frau auf dem Segler trug über ihren weißen Anorak eine gelbe Schwimmweste, ihr Töchterchen hatte ebenfalls eine Schwimmweste übergezogen bekommen. Am Ruder stand ein Mann mit sportlicher Figur, Anfang bis Mitte 40. Das Boot tuckerte mit Motorkraft die mäandernde Uecker entlang Richtung Ausfahrt ins Haff.

Bootsstandort in diesen Ferien war der Yachthafen in der Lagunenstadt am Ueckerkopf. Sie hatten das Boot vom Rhein her auf dem Anhänger mitgebracht; während des übrigen Jahres lag es in Oberwinter vertäut. Hauptkommissar Thorsten Klein war dort Mitglied im Yachtclub Mittelrhein, wo er auch seinen Segelschein gemacht hatte. Für seine Frau Barbara und ihre Tochter Gina aus erster Ehe war es das erste Mal, dass sie mit einem Segelboot aufs freie Wasser hinausfuhren. Das war schon etwas anderes als auf dem Rhein.