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»Ein erhellender Streifzug durch die geballten Denk-Hacks der Philosophiegeschichte, der uns hilft, klüger zu denken.« Laura Fröhlich
AUSGEGRÜBELT: Was wirklich gegen overthinking hilft
Grübelschleifen rauben Kraft und sind ungesund. »Gedankenstopp« heißt da das Wundermittel, das uns der Self-Help-Markt verordnen will. Doch wenn wir auf Knopfdruck aufhören könnten im Kreis zu denken, würden wir das nicht ohnehin tun? Und viel mehr noch: Sollten wir das überhaupt?
Philosophin Judith Werner sagt nein. Denn alles stummzuschalten, was die Gedanken kreisen lässt, hält uns nur vom Lösen unserer Probleme ab. Und das hat nicht zuletzt auch eine gesellschaftliche Dimension. Wir sollten lieber lernen besser, statt weniger zu denken – und genau damit das Overthinking in Schach halten.
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Seitenzahl: 243
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über das Buch:
Grübelschleifen rauben Kraft und sind ungesund. »Gedankenstopp« heißt da das Wundermittel, das uns der Self-Help-Markt verordnen will. Doch wenn wir auf Knopfdruck aufhören könnten im Kreis zu denken, würden wir das nicht ohnehin tun? Und viel mehr noch: Sollten wir das überhaupt?
Philosophin Judith Werner sagt nein. Denn alles stummzuschalten, was die Gedanken kreisen lässt, hält uns nur vom Lösen unserer Probleme ab. Und das hat nicht zuletzt auch eine gesellschaftliche Dimension. Wir sollten lieber lernen besser, statt weniger zu denken – und genau damit das Overthinking in Schach halten.
Die Autorin:
Dr. Judith Werner ist Publizistin und Philosophin. Sie kennt sich aus mit Denken, Überdenken, Gedankenschleifen und allem, was sonst noch so in einem kritischen Kopf passiert. Als freie Journalistin, Content Creator und nicht zuletzt auch ganz privat beschäftigt sie sich mit dem Thema Overthinking. Ihre Texte erscheinen u. a. in der Süddeutschen Zeitung, der Jüdischen Allgemeinen und dem Missy Magazine. In ihrem Buch »Danke, nicht gut« erklärt sie, wie man gelassen durch Krisen kommt – ganz ohne toxische Positivität. Dass dabei neben klugen Gedanken auch Wolle und Stricknadeln gute Tools sind, zeigt sie als Co-Autorin des Spiegel-Bestsellers »Knit is for Power«.
Judith Werner lebt mit ihren Gedanken, ihrem Mann, ihrer Tochter sowie einem charmanten Dackel und einem lautstarken Kater in Bonn.
JUDITH WERNER
BESSER GRÜBELN
Philosophische Hilfe bei Gedankenschleifen und Overthinking
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Umschlag: zero-media.net, München
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Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-32715-6V002
www.koesel.de
Für Martin
INHALT
Kapitel 1: Drauflosdenken
Gefangen im Gedankenkarussell: Wie uns Overthinking das Leben schwer macht
Alles nur Hype? Trendthema Overthinking
Warum Quick-Fixes und ein anderes Mindset nicht gegen Grübeln helfen
Reisebegleitung gesucht: Philosophische Travelbuddies
Vom Overthinking zum Deepthinking
Kapitel 2: Wegdenken
Warum Eskapismus zwar Spaß macht, aber keine Lösung ist
Weltflucht leicht gemacht: Von verkaufstüchtigen Elfen und pantheistischen Waldausflügen
Auf der Suche nach der Ruhe und Ursprünglichkeit: Zwischen Kreidefelsen und Infinitypool-Selfie
Familie, Tradition und eine Prise Faschismus: Zurück zu den »guten alten Zeiten«
Kapitel 3: Überdenken
Die Liebe in Zeiten des Grübelns: Wie wir uns das Leben schwerer machen, als es sein müsste
»Die Hölle, das sind die anderen«
Warum »ab auf die Insel« keine gute Reiseempfehlung ist
Hauptsache harmonisch – Das stille Leid der People Pleaser*innen
Kapitel 4: Mitdenken
Gesellschaftliches Overthinking: Warum wir nicht weniger denken, aber anders handeln sollten
Von Bubbles und Brücken: Wie viel Gemeinschaft wir wirklich brauchen
Wenn sich die öffentliche Debatte im Kreis dreht
Warum »Einfach machen!« nicht so einfach ist
Neue Perspektiven gegen Alltags-Asymmetrie
Pragmatismus: Gratwanderung zwischen Ehrlichkeit und Ratlosigkeit?
Kapitel 5: Ausdenken
Wie wir denkerisch der Overthinking-Falle entkommen
Warum Wissenschaft allein nicht hilft
In der Krise liegt die Kraft
Schlimm ist nicht immer gleich apokalyptisch
ABER was wenn doch?!?
Gegen die Hoffnungslosigkeit angrübeln
Fazit: Tiefer denken
Deepthinking als Expeditionstool
Vordenker*innen – Auf die Travelbuddies ist Verlass
Nach-Gedacht oder: Hat hier jemand eine Portion Metaoverthinking bestellt?
Danksagung
Anmerkungen
KAPITEL 1
Gefangen im Gedankenkarussell: Wie uns Overthinking das Leben schwer macht
Denken kann wehtun. Vor allem, wenn man das Gefühl hat, in einer Schleife festzustecken und die gleichen Gedanken und Sorgen immer und immer wieder hochkommen. Rumination nennen das die Fachleute.1 Ein Begriff, der eigentlich aus der Zoologie stammt und den Vorgang des Wiederkäuens bei Kühen beschreibt. Nun sind Kühe zwar majestätische Wesen, aber dennoch nicht die Identifikations-Tiere schlechthin. Zumindest für die meisten von uns. Die Vorstellung, Gedanken heuballengleich von einem Magen in den nächsten, von Gehirnwindung A nach Gehirnwindung B, zu wälzen, klingt schließlich nicht sonderlich anziehend.
Wer konstant seinen Gedanken nachhängt – zumal, wenn es sich um Sorgen oder Ängste handelt – verbraucht jede Menge Energie. Die fehlt dann an anderer Stelle, vor allem, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen. Overthinking macht mürbe und das ist kein erstrebenswerter Zustand. Denn so gemütlich wie die Kuh auf der Weide beim Wiederkäuen herumsteht, können schließlich nur die wenigsten ihr Leben gestalten. Der Alltag ist von großen und kleinen Entscheidungen geprägt und wenn wir dabei von unserer eigenen Grübelei ausgebremst werden, ist Stress vorprogrammiert.
Kein Wunder also, dass Google beim Suchbegriff Overthinking jede Menge Tipps und Tricks ausspuckt, die Abhilfe schaffen sollen. Bei den Toptreffern tummeln sich auch etliche Krankenkassen, die vor den langfristigen gesundheitlichen Folgen eines solchen Verhaltens warnen. Aber auch Lifestyle-Magazine haben dazu jede Menge im Repertoire: »Finden Sie Ablenkung!«2 oder »So überwinden Sie das Grübeln (…). Konzentrieren Sie sich auf die Gegenwart. Genießen Sie bewusst die schönen Momente.«3
Wilder, oft esoterischer und vor allem finanziell interessanter – also für die Anbietenden – wird es dann bei den Coaches, die allerlei gute Ratschläge zur Thematik mitbringen. Der Tenor der Lösungsansätze geht allerdings meist in eine ziemlich ähnliche Richtung: »Schluss mit Overthinking! Sag einfach Stopp zu Gedankenschleifen!«
Das klingt erst mal ganz gut und auch irgendwie nachvollziehbar. Wenn mir meine Gedanken so viele Probleme bereiten, dann wäre es doch das Beste, ich lasse das mit dem Denken mal, oder?
Nein. Und das gleich aus mehreren Gründen. Erst mal muss man sich vor Augen halten, dass Grübeln eine ziemlich natürliche Reaktion ist. Es gab Zeiten in der Menschheitsgeschichte, da war alles, was man heute unter Overthinking subsumiert, überlebenswichtig. Nur die Steinzeitmenschen, die in der Lage waren, sich auszumalen, dass hinter dem nächsten Busch ein Säbelzahntiger sitzen könnte und was das dann für das eigene Überleben bedeutete (Spoiler: nichts Gutes), konnten so etwas wie Vorsicht und vorausschauendes Denken entwickeln und anwenden. Die Möglichkeit, die Bedrohung denkerisch zu erfassen, sorgte dafür, Verhaltensmuster zu etablieren, die mehr Sicherheit boten. Wer darin nicht so begabt war, wurde eben Säbelzahntigerfutter. Natürliche Auslese at its best. Wir denken, fantasieren und grübeln also schon immer – und wer das gut kann, hat einen evolutionären Vorteil. Die Tatsache, dass wir heute im Alltag erfreulich selten von Wildtieren bedroht werden, hat daran nichts geändert.4
Was aber vor allem gegen den simplen Grübelstopp spricht: Er funktioniert nicht. Könnte man so einfach aufhören mit dem Grübeln, dann wäre es kein Grübeln. Qua Definition wohnt dieser Art des Denkens ja schon die Wiederholung inne. Grübeln ist ein hartnäckiger Geselle. Lieblingsdistanz: Langstrecke. Der Rat, man solle ihm einfach ein geistiges Stoppschild vor die Nase halten, ist genauso hilfreich, wie Menschen zu sagen, sie sollten sich jetzt auf gar keinen Fall einen pinken Elefanten mit blauem Zylinder vorstellen. Ob man will oder nicht: Der Vorhang hebt sich und schon spaziert der Dickhäuter in die imaginäre Zirkusmanege.
ALLES NUR HYPE? TRENDTHEMA OVERTHINKING
Apropos Zirkus – der findet längst häufiger im Internet statt als auf dem örtlichen Marktplatz. Besonders wild geht es in den sozialen Medien zu. Hat der Algorithmus sich erst mal auf das Thema eingeschossen, läuft der Social-Media-Feed schier über. Zugegeben, vieles davon klingt ein bisschen nach Wohlstandsgedöns und in manchen, vielleicht gar nicht so wenigen Fällen ist es das auch: Nebelschwaden, Stockfotos von tropfenden Tränen, alles in Grautönen, darüber der Schriftzug – »Ich bin ein Overthinker …«, Musikschnipsel in viel Moll. Solche Posts sind bisweilen mit einer derartigen Melodramatik aufgeladen, dass es schwerfällt, sie nicht auch ein bisschen amüsant zu finden. Das mag unempathisch klingen, aber wer schon mal in einem Tagebuch aus der eigenen Teenager-Zeit geblättert hat, der kennt dieses Gefühl: Zwar weißt du noch, wie gravierend du damals den Kommentar von Freundin XY, die Nichtbeachtung durch den aktuellen Schwarm oder das unfassbar peinliche Verhalten deiner Eltern empfunden hast, aber dennoch kannst du dich und deine Worte nicht mehr so richtig ernst nehmen. Ziemlich cringe. Dieses unangenehme, leichte Fremdschäm-Gefühl kann einen auch bei so manchem Content befallen, der mit dem Label Overthinking versehen durchs Netz schwirrt. Aber eben auch nicht bei jedem.
Denn Overthinking kann echten Leidensdruck auslösen. Die Bandbreite, wie sich dieser gestaltet, ist vielfältig. Genauso vielfältig wie die Lebensbereiche und Alltagssituationen, die er betreffen kann. Auch wenn manches aus der Rückschau geradezu lächerlich wirken mag, ändert das nichts am Leid des Einzelnen im konkreten Moment. Gerade Ablehnung – egal in welcher Form – schmerzt. Die Bewertung durch andere ist daher ein Kernelement von vielen Overthinking-Schleifen: Habe ich etwas Falsches gesagt? Wie habe ich es gesagt? Wie ist das bei der anderen Person angekommen?
Und wo könnte Wirkung auf andere wichtiger sein als beim Thema Beruf und Karriere?! »Overthinking stoppen: Das kannst du tun, wenn du zu viel nachdenkst« – wohlmeinende Tipps vom Jobportal Stepstone. Die Plattform warnt: »Overthinking macht schlechte Laune, schadet deiner Gesundheit und kann die Produktivität im Job verringern.« Die Aufzählung an Problemen, als deren Ursprung das Overthinking identifiziert wird, klingt dann schon recht bedrohlich: Verlust von Energie und Konzentration und verpasste Chancen. Da wären wir wieder bei der wiederkäuenden Kuh auf der Wiese, die es so richtig weit im Leben nicht bringen wird. Und weiterkommen ist doch das, was zählt, oder?
Es ist schon paradox: Overthinking passt nicht ins Getriebe einer auf Leistung fokussierten Gesellschaft und gleichzeitig scheinen es gerade die hohen Ansprüche eben dieser zu sein, die viele ins Dauergrübeln stürzen. Oft in Form des sogenannten Imposter-, also Hochstapler-Syndroms5, das in etwa so funktioniert: Ich bin eigentlich für meine Stelle geeignet, aber so in Selbstzweifeln gefangen, dass ich sicher bin, dass die Chefetage, das Team oder wahlweise die ganze Welt in Kürze erkennen wird, dass ich in Wahrheit vollkommen unqualifiziert bin …
Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass ein solches Denken dauerhaft zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden kann.
In die Grübelfalle zu tappen, ist also ziemlich einfach, denn es bieten sich nun mal so viele Gelegenheiten in unserer durchstrukturierten Welt dafür. Doch Overthinking ist nicht gleich Overthinking:
Auf der einen Seite existiert so etwas wie krankhaftes Grübeln. Overthinking kann ein Verhaltensbestandteil sein, der im Zusammenspiel mit anderen Aspekten wie Kontrolle, Vermeidung und Rückversicherung einen Typus von Zwangserkrankung (auch obsessive-compulsive disorder, kurz OCD) kennzeichnet. Die Grübelgedanken fungieren hier als eine Art Selbstüberzeugungsmechanismus, der erfolglos darauf abzielt, Unsicherheiten und Ängste zu überwinden.6 Wer so von sich-im-Kreis-drehenden Gedanken zerfressen ist, dass es massive Auswirkungen auf seine seelische und körperliche Unversehrtheit hat, braucht ärztliche oder therapeutische Hilfe.7 Die Grenzen sind dabei notgedrungen fließend und so sehr Social Media zur Selbstdiagnose verleiten mag – im Zweifelsfall lieber auf echte Expert*innen hören. Die haben das nicht umsonst jahrelang studiert und stochern daher nicht einfach im Trüben, sondern haben umfangreiche Kriterienkataloge, nach denen sie die Lage professionell einschätzen. Neben dem Umstand, dass man von immer wiederkehrenden Gedanken gequält wird, ist eine entscheidende Frage, ob und inwieweit der individuelle Leidensdruck das normale Leben beeinträchtigt. Schaffen es Betroffene, sich gegen diese Gedanken zur Wehr zu setzen? Ist es noch möglich, Alltagstätigkeiten auf beruflicher und sozialer Ebene nachzukommen? Wenn das über einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen an den meisten Tagen mit »Nein« beantwortet werden muss, kann das ein Hinweis auf eine vorhandene Zwangsstörung sein. Wenn zum Overthinking auch noch gedrückte Stimmung, Antriebslosigkeit und Interessenverlust über eine solche Zeitperiode hinzukommen, bewegt sich das Ganze in den Bereich der Depression. Depression und Zwangsstörung sind eng miteinander verbunden – nicht selten treten Zwangsgedanken und depressive Symptome gemeinsam auf.8 Welche schwerwiegenden Folgen solche psychischen Erkrankungen haben können, ist heutzutage glücklicherweise kein Tabuthema mehr. Auch immer mehr Personen des öffentlichen Lebens, wie etwa die Schauspielerin Nora Tschirner oder der Comedian Kurt Krömer, sprechen offen über mental health issues und wie sinnvoll es für sie war, sich therapeutische Hilfe zu suchen.
Auf der anderen Seite des Spektrums feiert hingegen die Pathologisierung eine Schaumparty nach der anderen: Gerade mit einem Hashtag davor entsteht schnell der Eindruck, dass jeder auch nur leicht grüblerische Gedanke schon ein Fall von krankhaftem Overthinking ist. Was da die innere Stimme von sich gibt? In etwa so etwas:
Eigentlich wärst du lieber auf der Couch als auf der Geburtstagsfeier eines Kollegen, aber du könntest dort ja unverhofft auf die Liebe deines Lebens treffen? Diagnose FOMO, also Fear of Missing out. Ganz gefährlich! Du schwankst, ob du heute noch ins Fitnessstudio gehst oder erst morgen (oder übermorgen oder nie …)? Da hapert es offenbar an der nötigen Selbstdisziplin. So wird das nichts mit dem healthy body – und wo soll dann der healthy mind wohnen? Dass nur einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist innewohnt, wusste man schließlich schon im Römischen Reich und du kriegst es 2000 Jahre später immer noch nicht auf die Kette. Ziemlich flache Lernkurve. Grund genug, gleich nachdem der Post mit #Overthinking dazu ins Smartphone getippt ist, einen Therapieplatz zu suchen.
Es ist erstaunlich, was alles unweigerlich zur »Diagnose« Overthinking zu führen scheint. Wie schnell ein Verhalten, das eigentlich ziemlich normal ist, zu einem massiven Grübelproblem hochstilisiert wird, ist aber bei Weitem nicht nur ein Internetphänomen. Die Psychologieprofessorin Susan Nolen-Hoeksema, die bis zu ihrem Tod 2013 an mehreren Ivy League Colleges lehrte und forschte, schilderte in ihrem 2003 erschienen Buch mit dem (zugegeben nicht ganz unproblematischen) Titel Warum Frauen zu viel denken folgenden Fall: Jenny, eine erfolgreiche Börsenmaklerin Anfang 30, verspricht ihrem Partner Peter, ihm bei den Vorbereitungen für eine kleine Hausparty zu helfen. Am Tag der Feier ist sie so sehr in die Arbeit vertieft, dass sie die Zeit vergisst und selbst erst kurz vor den Gästen eintrifft. Nicht gerade rücksichtsvoll von ihr – Peter ist verständlicherweise sauer. Am Ende des Abends streiten die beiden. Peter brüllt (!) Jenny eine halbe Stunde lang an und wirft ihr alle möglichen verletzenden Aussagen an den Kopf. Nachts sinniert Jenny schlaflos darüber, was sie auf die haltlosen Anschuldigungen hätte erwidern können, aber nicht getan hat, und wie oft Peter sie schon im Stich gelassen hat. Am nächsten Morgen sind diese Gedanken – oh Wunder – nicht verschwunden.
Wer nun vermutet, dass Jenny sich mit der Frage herumschlagen würde, ob Peters komplette Überreaktion, die laut Beschreibung nicht das erste Mal vorkommt, auf ein recht ungesundes Verhältnis hindeuten könnte und sie diese Beziehung nicht doch mal grundlegend überdenken sollte – weit gefehlt. Stattdessen beschreibt Nolen-Hoeksema, wie Jenny Gründe, aka Rechtfertigungen, für Peters Verhalten findet. Danach geht sie eine Runde joggen und schwupps, hat sie einen klaren Kopf und versöhnt sich mit Peter:
Jenny gelang es, den Konflikt zu bewältigen, weil sie mithilfe einiger Strategien aus dem Hamsterrad ihrer negativen Gedanken herauskam. Sie konnte diese Gedanken stoppen (…) Dann hörte sie auf, ihr Augenmerk darauf zu richten, was Peter gesagt hatte, sondern konzentrierte sich auf ihr Hauptziel, nämlich die Erhaltung der Beziehung mit Peter.9
Na herzlichen Glückwunsch, kann ich da nur sagen. Dank des Gedankenstopps überzeugt sich Jenny also selbst davon, dass Peters Verhalten, das anhand der Beschreibung durchaus als missbräuchlich verstanden werden kann, nicht das Problem ist, sondern sie und ihre viel zu negativen Gedanken. Eine Erkenntnis, die von der Autorin auch noch als positives Ergebnis des Grübelstopps ausgelegt wird.
Hach, so waren sie, die misogynen 2000er. Ich hätte Jenny ja gewünscht, dass sie ihre Überlegungen nicht wegjoggt, sondern sich im Gegenteil sogar mehr Gedanken macht und das Gaslighting, das Peter betreibt, wenn er sie als »selbstsüchtige Karrierefrau« betitelt, hinterfragt. Aber dank Gedankenstopp hat Jenny es sich jetzt im (un)happily ever after eingerichtet.
Wir sehen also – das Label Overthinking lässt sich in beide Richtungen drehen: Es kann einerseits ernsthafte Erkrankungen verharmlosen, andererseits aber auch alles, was ein bisschen mehr Zeit und Hirnschmalz benötigt, als pathologisch diskreditieren.
Der ganz überwiegende Teil des Grübelmeers schwappt aber eben zwischen diesen Polen herum. Die Momente im Leben, in denen man gerne aktiv werden würde, aber es einfach nicht hinbekommt, weil man offenbar eine Dauerkarte für das Gedankenkarussell gebucht hat: immer und immer wieder die gleichen Fragen und eskalierenden Sorgen, die sich wie die dudelnden Klangfetzen aus Jahrmarktlautsprechern in die Gehirnwindungen bohren. Besonders gerne nachts, wenn es draußen leiser und dafür drinnen in uns selbst umso lauter wird. Das ist nicht nur unangenehm, sondern kann uns auch daran hindern, überhaupt ins Tun zu kommen. Wir stecken fest. In unserem eigenen Kopf. Im Englischen nennt sich das dann sprachlich auch sehr hübsch: analysis paralysis – also Entscheidungslähmung.
Ich habe diesen Zustand das erste Mal mit etwa sieben Jahren kennengelernt, als mein Vater mir Schachspielen beibringen wollte. Zwar war mir relativ schnell klar, welche Züge die einzelnen Figuren machen dürfen, aber ich kam über die Eröffnung nicht weit hinaus. Das Gefühl, dass jeder Zug falsch sein könnte, weil ich ja nicht wusste, was mein Gegenüber als Nächstes machen würde und das zu einer Situation führen könnte, die über kurz oder lang im Schachmatt enden würde – das bedeutete das jähe Ende meiner Schachspiel-Karriere. Schließlich will niemand eine halbe Stunde vor einem Brett sitzen, ohne auch nur einen einzigen Zug zu machen. Frustrierend für alle Beteiligten. Was ich damals nicht verstand: Die Frage, ob ein Zug »falsch« oder »richtig« ist, ist etwas, das meist erst aus der Rückschau bewertet werden kann. Ich aber versuchte verzweifelt, alle Eventualitäten vorherzusehen, was natürlich unmöglich war.
Trotz meiner wenig erquicklichen Schachlaufbahn ist die Taktik, alle möglichen Szenarien einmal im Kopf durchzuspielen, eine, die ich auch heute im Alltag immer wieder anwende. Dass das an sich gar keine schlechte Idee ist, werden wir noch sehen – aber es ist zugegebenermaßen oft auch ziemlich mühsam. Ach, da fällt mir ein, ich hab es bisher ja noch gar nicht erwähnt: Natürlich bin ich selbst eine Overthinkerin. Wieso sollte ich sonst dieses Buch schreiben wollen?! Nun ist die Welt freilich nicht ärmer geworden, weil ich nicht die Nachfolge von Magnus Carlsen als Schachprofi angetreten habe. Aber wer ganz grundsätzlich und häufig in seinen Gedanken und Grübelschleifen feststeckt, verliert mindestens Flexibilität, oft auch Kreativität und in der Konsequenz vor allem einiges an potenziellem Lebensglück. Ziemlich unschön. Und wenn ich mich so umschaue – egal ob im realen oder digitalen Leben – bin ich mit diesem Problem nicht allein. Jetzt kommt aber die gute Nachricht: Es gibt Wege aus dem Overthinking und zwar solche, die einem nicht das Denken verbieten, sondern mit denen wir lernen, anders zu denken und so besser zu grübeln.
WARUM QUICK-FIXES UND EIN ANDERES MINDSET NICHT GEGEN GRÜBELN HELFEN
»Jetzt stell dich nicht so an!« Ein Satz, den Menschen, die zum Grübeln neigen, nur allzu gut kennen. Doch hier gleich mal zur Beruhigung für uns Overthinker*innen: Das ist Bullshit. Und ziemlich durchsichtig obendrein. Immer wenn Themen aus dem Bereich mentale Gesundheit diskutiert werden, gibt es bei der Familienfeier oder im Social-Media-Thread diesen einen Schlaumeier, der mit der vermeintlich tiefsinnigen Erkenntnis daherkommt: »Sowas gab’s früher nicht.«
Das ist ein gern vorgetragenes Totschlagargument aus der In-der-Vergangenheit-war-alles-besser-Schublade. Die knarzt aber auch dann nicht weniger, wenn man sie alle fünf Minuten aufreißt. Natürlich stimmt es, dass so etwas wie Overthinking vor etlichen Jahren oder gar Jahrzehnten kein Thema war. Das ist auch nicht verwunderlich, schließlich wurde bis vor nicht allzu langer Zeit nur relativ selten über psychische Gesundheit gesprochen. Dabei gab es zweifellos schon in der jüngeren Vergangenheit, wie beispielsweise in den Generationen, die die Weltkriege mit- und überlebt hatten, genügend Traumata, die man hätte aufarbeiten können und müssen. Die Linguistin Amanda Montell sieht hier eine recht deutliche Trennlinie:
Jede Generation hat ihre eigene Art von Krise. In den 1960er- und 1970er-Jahren ging es darum, sich von der physischen Tyrannei zu befreien – hin zu gleichen Rechten und der Möglichkeit, frei zu wählen, zu lernen, zu arbeiten und sich zu engagieren. Es waren Krisen des Körpers.10
Der Shift passierte laut Montell zu Beginn der 80er: Auf die – natürlich nur vermeintlich gelösten – »körperlichen« Krisen folgt die Verlagerung der Krisenhaftigkeit und Fragen ins Innere.
Den oberschlauen Onkel, die besserwisserische Tante oder den anonymen Facebook-Troll kann man mit solchen Hinweisen natürlich nicht überzeugen. Es gibt Menschen, für die ein Problem so lange kein Problem ist, wie sie dessen Existenz schlichtweg nicht anerkennen – egal wie gut belegt es sein mag. Paradebeispiel sind die Klimawandelleugner*innen, die selbst wenn ihnen das Wasser der nächsten Flutwelle wortwörtlich bis zum Halse steht, immer noch verkünden werden, dass es sich hier um ein ganz gewöhnliches Wetterphänomen handele. Getreu dem Motto: Wenn ich meine Augen ganz fest schließe, siehst du mich nicht.
Was nach kindlichem Trotz klingt und in Verschwörungsideologien münden kann, ist zunächst einmal aber nichts Unnormales. Die Psycholog*innen Eve und Mark Whitmore sprechen davon, dass Verleugnung eine natürliche Reaktion des menschlichen Geistes sein kann, sich gegen eine beängstigende Situation zur Wehr zu setzen.11 Sehr kurzfristig kann das sogar eine sinnvolle Taktik sein. Erst mal aus dem Panikmodus rauskommen, um dann mit klarerem Kopf weitermachen zu können, ist ja nicht der schlechteste Ratschlag. Nur muss dieses Weitermachen eben auch passieren und nicht in der Verleugnung verharren. Denn davon verändert sich die Realität ja nicht. Wenn es sich etwa um eine tatsächliche Gefahr handelt und die Leugnung des Problems dazu führt, dass nichts unternommen wird, können die Folgen schwerwiegend sein. Egal ob für den Einzelnen oder – wie im Falle des Klimawandels – für die Menschheit insgesamt. Wir scheinen das manchmal zu vergessen und fallen damit hinter unsere Vorfahren zurück, Stichwort: Säbelzahntiger-Prävention.
Mentale Gesundheit und das vermeintliche Aufhebens darum als reines Zeitgeistphänomen abzutun, dient also maximal der Beruhigung derjenigen, die solche Aussagen treffen. Daraus spricht kein erwachsener Umgang mit realen Gegebenheiten, sondern vor allem die Angst davor, mal selbst einen Blick auf die eigene geistige Verfasstheit zu werfen.
Die nackten Zahlen zu dieser Thematik, die Umfragen und Studien Jahr für Jahr zutage fördern, sind derweil so besorgniserregend, dass man vor ihnen eigentlich ganz gern die Augen verschließen würde. Der Axa Mental Health Report 2023 beispielsweise ergab: 67 Prozent der befragten Deutschen fühlen sich niedergeschlagen, 58 Prozent können sich über nichts mehr freuen und 49 Prozent sagen von sich selbst, keine positiven Gefühle mehr zu haben. Alles Probleme, die im Vergleich zur Untersuchung des Vorjahres zugenommen haben, teils sogar deutlich. Besonders schwer trifft es junge Frauen. 41 Prozent der weiblichen Befragten unter 35 bezeichnen sich als aktuell psychisch erkrankt. Im Bundesdurchschnitt, auf alle Geschlechter und Altersgruppen über 18 Jahren bezogen, ist es jede*r Dritte. Die Zahl der Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen steigt seit Jahren stetig an.12 Angesichts solcher Daten hilft auch kein noch so verbissenes Augenzusammenkneifen, um nicht zu sehen, dass mentale Gesundheit ein gesamtgesellschaftliches Thema ist. Doch wie damit umgehen? In der AXA-Studie gaben 69 Prozent der Teilnehmenden an, dass sie nicht mehr abschalten können. Spitzenreiter unter den problematischen Zuständen war mit 79 Prozent das Gefühl »unruhig und aufgewühlt« zu sein.13 Ein Teufelskreis, denn je unruhiger und aufgewühlter man ist, desto hektischer wird es im Kopf: Das Gedankenkarussell nimmt Fahrt auf. Willkommen im Overthinking.
Kein Wunder also, dass sich Coaches und Self-Help-Expert*innen des Themas angenommen haben und als Allheilmittel den Grübelstopp verordnen wollen. Das Ziel: die negativen Gedanken loszuwerden und das Nachdenken zu unterbrechen. Einfach mal abschalten und vor allem weniger denken, ist hier die Devise.
Den Tipp kennen wir inzwischen schon zur Genüge – aber von den Marketingprofis wird er oft eloquenter oder umständlicher formuliert und hinter Paywalls versteckt. Schließlich ist Coaching ein lukratives Business, insbesondere, wenn man einfache Botschaften als Wunderwaffe verkauft. Dabei ist das alles ja kein Hexenwerk: Natürlich hat geistiges Abschalten bei einem schönen Spaziergang noch niemandem geschadet. Das kann schon mal helfen, um sich zu entspannen und manches lockerer zu nehmen. Aber für diese Erkenntnis braucht es nun wirklich keinen Guru.
Wenn es hingegen um einen langfristigen Ausweg aus nervigen Gedankenspiralen geht, dann können solche Denkpausen auch das Gegenteil bewirken. Vielleicht schaffst du es zwar beim achtsamen Spaziergang einen Break von der Gedankenkarussellfahrt zu machen, aber es ist eben nur eine Auszeit. Sobald du wieder zu Hause bist, wird schon die neue Runde eingeläutet. Oder noch schlimmer: Die Stille wird zu einem echten Grübelbooster. Das gilt vor allem, wenn dein Overthinking die große Weite liebt. Ist es im Freien unterwegs, hat es möglicherweise noch mehr Echoraum als sonst und deine Grübelei holt das Megafon raus.
Warum beide Varianten recht häufig sind, dafür liefert die Psychologie Erklärungen. Die Verhaltenstherapie beispielsweise geht davon aus, dass solche Grübeleien eine immer weiter eskalierende Abfolge von beunruhigenden und beruhigenden Gedanken sind. Auf einen Gedanken, der Besorgnis erregt oder uns Angst macht, antworten wir mit einem tröstenden. Entweder flößen wir uns den emotionalen Beruhigungscocktail selbst ein oder wir suchen Rückversicherung bei anderen. Je intensiver wir aber versuchen, so auf unsere Ängste einzuwirken, desto mehr verstärken wir sie. Denn unser Grübel-Ich findet – so die Theorie – sofort einen neuen Grund, warum der Trost unzureichend oder trügerisch ist. Betreibt man dieses Pingpong-Spiel eine Weile, werden die Angstszenarien und das mögliche, drohende Unheil immer dramatischer.14
Manche landen deshalb schnell wieder bei den härteren Geschützen, dem sogenannten Stoppbefehl. Die Idee ist inzwischen reichlich angestaubt. Sie stammt aus den 1950ern und wurde als Baustein der kognitiven Verhaltenstherapie entwickelt. Auch wenn sie popkulturell immer wieder ein Revival erlebt, in der Psychologie gilt der Grübelstopp heute als überholt.15 Zum einen ließ sich die Wirksamkeit der Methode nie zweifelsfrei beweisen, zum anderen mangelt es der Methode an Praktikabilität: In der ursprünglichen Variante sollten Therapierende ihre Patient*innen durch ein lautes STOPP-Rufen erschrecken und so die Grübelei unterbrechen. Durch diese Art der Intervention sollte eine Konditionierung auf das Wort »Stopp« erreicht werden, die dann später von den Betroffenen auch bei sich selbst angewendet werden konnte. Konditionierung gilt heute allerdings nicht mal mehr in der Hundeerziehung als state of the art – das nur mal so am Rande. Außerdem dürfte plötzliches Selbstanbrüllen im Alltag, beispielsweise im Meeting mit den Kolleg*innen, für erhebliche Irritationen sorgen.16 Im schlimmsten Fall können solche Unterbrechungs-Aktionen gegenteilige Effekte hervorrufen: Durch die Ritualisierung des Abbruchprozesses kann es bei Patient*innen sogar zu verstärktem Grübeln und einer Zunahme an Zwangsgedanken und -handlungen kommen.17 Der Denkstopp sorgt rein funktional betrachtet ja nur dafür, dass Gedanken, die eigentlich vorhanden sind, unterdrückt werden. Einem Bumerang gleich erobern sie nicht selten mit noch größerer Intensität ihren Platz im Kopf zurück.18 Das gilt für Alltagssorgen genauso wie für Gedanken, die schon ins Pathologische reichen. Erzwungenes Nicht-Denken ist also auch aus wissenschaftlicher Sicht problematisch.
Eventuell habe ich mit diesen Ausführungen einige Meditations-Fans oder Achtsamkeits-Begeisterte vor den Kopf gestoßen. Denn Wissenschaft hin oder her – es gibt die verschiedensten Entspannungstrainings und Atemtechniken, die mit dem Ziel ausgeführt werden, den Kopf frei zu kriegen. Das kann ja nicht alles falsch sein – und das ist es auch nicht. Viele von uns haben sich wahrscheinlich schon mal gedacht, dass sie lieber als buddhistischer Mönch mit sich und der Welt im Reinen wären, als genervt im Zoomcall zu hängen. Allerdings lässt sich das Mönchsdasein mit unserem Alltagsleben nur schwer kombinieren und die wenigsten machen ihre Ausstiegs-Fantasien wahr und brechen als Youtuber*innen mit dem Bully nach Tibet auf. Ob sie dabei die angeblich gesuchte Ruhe finden würden, ist obendrein mehr als fraglich.
Aber gut. Vielleicht muss es ja auch nicht der große Wurf sein, sondern es geht auch eine Nummer kleiner. Mit einem Klick lassen sich Meditations-Apps auf dem Smartphone installieren. Einige davon sind mittlerweile medizinisch zertifiziert und die Kosten werden bei Verschreibung sogar von den Krankenkassen übernommen. Ich habe mich durch mehrere solcher Apps geatmet. Meine ganz persönliche Erfahrung: So richtig hat das nie in mein Leben gepasst und an meinem Overthinking hat sich auch nichts geändert. Das ist natürlich nur eine individuelle Einschätzung und taugt damit gerade mal als anekdotische Evidenz. Für mich war sie allerdings eine gute Motivation, nach anderen Wegen zu suchen, mit denen ich nachhaltiger mit meinem Overthinking umgehen kann.
Hoffnung habe ich geschöpft, als ich auf folgende Info gestoßen bin: Die Hirnforscherin Jill Bolte Taylor stellte auf Basis ihrer Untersuchungen die 90-Sekunden-Regel auf. Demnach läuft bei jeder Person, die auf irgendeinen Reiz in ihrer Umgebung reagiert, ein biochemischer Prozess ab, der 90 Sekunden dauert. Nach dieser Zeitspanne ist die emotionale Reaktion eigentlich vorbei. Wer länger in der Emotion verharrt, tut dies nicht aus biochemischen Gründen, sondern trifft eine Wahl – egal ob uns bewusst oder nicht bewusst ist, dass wir eigentlich frei in dieser Entscheidung sind. Wichtig ist für Taylor, dass wir, wenn wir es schaffen, die 90 Sekunden der Emotion auszuhalten, sie im Grunde danach auch wieder loslassen können. Zumindest gibt es physisch nichts, was uns daran hindert.19
Das klingt vielversprechend. 90 Sekunden, anderthalb Minuten. Das ist zu schaffen. Beispielsweise können die meisten von uns einen Anfall von Wut aushalten, ohne innerhalb dieses Zeitfensters dem Gegenüber mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Und genau um solche Fälle geht es bei Taylor. Um Impulskontrolle. Um unmittelbare Reaktion auf einen konkreten Reiz. Auch aus unserem Alltagssprachgebrauch kommt uns das bekannt vor: Man sagt, dass Ärger oder Wut verfliegen, verrauchen oder sich in Luft auflösen. Im Laufe unserer Kindheit lernen wir, unsere Emotionen zu verstehen und uns selbst zu regulieren. Wir erkennen irgendwann, dass nicht jedes Gefühl eine komplette und dauerhafte Veränderung der Welt darstellt, sondern dass sich Gefühle, Gedanken und Meinungen ändern und die negativen Momente vorübergehen können. Dann müssen wir uns auch nicht mehr schreiend auf den Boden werfen, wenn die Frustration zuschlägt. Obwohl man das auch im Erwachsenenalter manchmal nur zu gern würde.