Beten - Klaus Douglass - E-Book

Beten E-Book

Klaus Douglass

4,6

Beschreibung

Beten. Wie geht das? Ist es ein Selbstgespräch oder hilft es? Was macht es mit mir? Klaus Douglass hat alles ausprobiert: vom schlichten Gebet in einer alten Kirche über das Singen und Tanzen von Gebeten und das meditative Betrachten von Bildern bis hin zum virtuellen Andachtsraum im Internet. Sieben Jahre hat Klaus Douglass aufgeschrieben, was ihm begegnet ist, was ihn berührt hat, was sein Leben verändert. Immer wieder hat er dabei Neues entdeckt, auch vor den Weisheiten anderer christlicher Glaubensgemeinschaften hat er dabei nicht haltgemacht. Oftmals war es erstaunlich, was alles passierte, wenn er sich auf das Unbekannte einließ. Entstanden ist ein wunderbares Buch, das sich sowohl für Glaubende als auch für Zweifler eignet.

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Gott ist immer da – davon bin ich überzeugt.Uns fehlt nur oft das nötige Handwerkszeug, um uns für seine Gegenwart zu öffnen.

Inhalt

Vorwort

Tag 1: Zusammen auf dem Weg

Beten bei einer Prozession

Tag 2: Hurra, ich habe Durst!

Beten voller Sehnsucht

Tag 3: Das Erinnerungsvermögen der Seele

Beten voller Dank

Tag 4: Erbauliche Gedanken vor Mitternacht

Beten in einer alten Kirche

Tag 5: Rennst du noch oder betest du schon?

Beten beim Laufen

Tag 6: Das sakrale Aschenputtel

Beten für andere

Tag 7: An der Quelle

Beten mit der Bibel

Tag 8: Leben mit Ergebnissicherung

Beten als Tagesrückblick

Tag 9: Mehr als nur Entspannungstechnik

Beten durch bewusstes Atmen

Tag 10: Ohne Unterlass

Beten mit dem Jesusgebet

Tag 11: Auf Du und Du mit dem Himmel

Beten ganz intim

Tag 12: Komplimente erhalten die Freundschaft

Beten und Loben

Tag 13: Die dreizehnte Aufgabe des Herkules

Beten mit dem Vaterunser

Tag 14: Liebe lebt von der Vergebung

Beten voller Bedauern

Tag 15: Gottes Stimme in unserem Inneren

Beten und Hören

Tag 16: Das große theologische Rätsel

Beten und Bitten

Tag 17: Unverschämt fromm oder fromme Unverschämtheit?

Beten mit Jabez

Tag 18: Jammern mit Perspektive

Beten und Klagen

Tag 19: Gebetslyrik für Anfänger

Beten mit neu geschriebenen Psalmen

Tag 20: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind …“

Beten in Gemeinschaft

Tag 21: Kleinkindgeplapper für Erwachsene

Beten in Zungen

Tag 22: Geliehene Worte

Beten mit Gebetbüchern

Tag 23: Gott ist gegenwärtig

Beten durch Anbetung

Tag 24: Wie man sich jeden Bibeltext erschließt

Beten mit Martin Luther

Tag 25: Besinnung in der Cyberkirche

Beten im virtuellen Andachtsraum

Tag 26: Putzen für Jesus und Angelina

Beten und Arbeiten

Tag 27: Zutiefst bewegt

Beten mit Gebärden

Tag 28: Geh schon mal in dich, ich komm gleich nach!

Beten und Schweigen

Tag 29: Verliebt in eine Statue

Beten vor einem Christusbild

Tag 30: Chi ist, wenn es trotzdem wirkt

Beten in einem japanischen Gebetsgarten

Tag 31: Ramadan für Anfänger

Beten und Fasten

Tag 32: Auf der Suche nach dem alten Zauber

Beten in einer Taizé-Andacht

Tag 33: Meine etwas andere Geburtstagsfeier

Beten beim Malen einer Ikone

Tag 34: Wiederholung ist die Mutter der Erfahrung

Beten mit dem Rosenkranz

Tag 35: Stark wie ein guter Espresso

Beten in zehn Sekunden

Tag 36: Das Herz ist eine miese Gegend

Beten mit den Rachepsalmen

Tag 37: Der wahrscheinlich 500. Versuch

Beten beim Abendmahl

Tag 38: Ein zärtlicher Kuss Gottes

Beten bei Segnung und Salbung

Tag 39: Chaossymphonie und Gänsehaut

Beten mit Tönen

Tag 40: Gipfelerlebnis mit Hindernissen

Beten auf dem Pilgerpfad

Tag 41: Gespräche mit Gott

Beten im Dialog (frei nach Neale D. Walsch)

Tag 42: Göttliches Schauspiel für Eingeweihte

Beten im orthodoxen Gottesdienst

Tag 43: Lass die Kirche rocken!

Beten durch Lobpreismusik

Tag 44: Schwedenhäppchen für die Hosentasche

Beten mit den Perlen des Lebens

Tag 45: Das Schöne steckt im Detail

Beten mit dem Fotoapparat

Tag 46: Hier steppt der Bär!

Beten beim Tanzen

Tag 47: Fünf kleine Stellschrauben des Lebens

Beten als Alltagsliturgie

Tag 48: Der göttliche Liebesbrief

Beten mit der Lectio divina

Tag 49: Nichts ist schwieriger als Nichtstun

Beten durch Heiligung des Sabbats

Tag 50: Glaube geht durch die Nase

Beten mit Weihrauchopfer

Nachwort

Über 100 Weisen zu beten

Über den Autor

Vorwort

Vor ein paar Jahren habe ich einmal die These aufgestellt, es gäbe fünfzig Weisen zu beten. Langweilig sei Beten nur dann, wenn man (wie die meisten Menschen hierzulande) davon nur eine Handvoll kenne. – Ich und meine große Klappe! Doch scheinbar habe ich mit meiner Aussage einen Nerv getroffen, denn auf kaum einen Satz wurde ich in den vergangenen Jahren so oft und so interessiert angesprochen wie auf diesen. Vielen geht es scheinbar ähnlich wie mir: Sie glauben an Gott, empfinden aber, wenn sie ehrlich sind, das Gebet oft als eine ziemlich mühsame und eintönige Angelegenheit. Kein Wunder: Es ist ja auch nicht ganz einfach, sich mit einem Wesen zu unterhalten, das man weder sehen noch hören, noch anfassen kann.

Immer wieder bin ich darum gefragt worden: „Wie sehen denn diese fünfzig Weisen aus?“ Hier und dort bin ich sogar eingeladen worden, Vorträge über dieses Thema zu halten. Ausgerechnet ich! Es gibt sicherlich einige Themen, zu denen ich Sinnvolles beitragen kann, doch „Beten“ gehörte bislang nicht dazu. Also habe ich die Leute oft hingehalten und geantwortet, ich würde über diese Frage irgendwann mal ein Buch schreiben. Und in der Zwischenzeit habe ich klammheimlich Weisen zu beten gesammelt.

Über zehn Jahre sind seither vergangen und ich löse hiermit mein Versprechen ein. Endlich. Allerdings hatte ich ursprünglich vor, eine Art „Rezeptbuch“ zu schreiben: „Man nehme diese und jene Zutat, gieße alles fröhlich ineinander, rühre das Ganze kräftig um, und fertig ist das Gotteserlebnis.“

Über zehn Jahre sind seither vergangen und ich löse hiermit mein Versprechen ein. Endlich. Allerdings hatte ich ursprünglich vor, eine Art „Rezeptbuch“ zu schreiben: „Man nehme diese und jene Zutat, gieße alles fröhlich ineinander, rühre das Ganze kräftig um, und fertig ist das Gotteserlebnis.“

So funktioniert das aber nicht. Denn das Heilige lässt sich nicht mithilfe von Methoden einfangen. Als ich begann, mich ernsthaft mit diesem Projekt zu beschäftigen, wurde mir schnell klar, dass ich die fünfzig Arten des Gebets selbst erproben, das heißt einen Selbstversuch durchführen muss, wenn ich authentisch darüber schreiben will. Ich merkte aber auch, dass das, was ich dabei erlebte, höchst individuell war. Und dass ein Leser oder eine Leserin, wenn sie genau die gleichen Übungen machen würden wie ich, dabei möglicherweise völlig andere Erfahrungen sammeln würden.

So kam ich auf den Gedanken, eben kein „religiöses Kochbuch“ zu veröffentlichen, sondern meinen Selbstversuch tagebuchartig zu dokumentieren und Sie an meinen Erfahrungen teilhaben zu lassen. Was ich dabei erlebte, war für mich teilweise wirklich bewegend. Anderes wiederum erschien mir eher kurios und wunderlich. Manches wirkte – wie Sie schnell merken werden – auf mich auch einfach nur skurril und komisch.

Nun! Ich kann die kritischen Einwände gegen ein solches Vorgehen schon ahnen: „So ein ‚Schnupperkurs in Sachen Gebet‘ ist bereits von seinem Ansatz her total oberflächlich und die Darstellung der einzelnen Gebetsformen alles andere als objektiv. Außerdem ist der lockere Ton eines solchen Buches dem ernsthaften Thema doch eher unangemessen.“

Stimmt. Dem allen kann ich nur beipflichten. Wenn Sie eine hochtheologische und zugleich tiefgehende, eine objektive und garantiert humorfreie Darstellung des Themas „Gebet“ suchen, sollten Sie unbedingt auf andere Bücher zurückgreifen. Davon gibt es schließlich eine ganze Menge. Einige davon würde ich Ihnen sogar ausdrücklich empfehlen. Lesen Sie die. Meistens beschäftigen sich solche Publikationen nur mit einer oder mit ganz wenigen Gebetsformen und behandeln diese mit der notwendigen Sachlichkeit und Tiefe. Und das ist auch gut so.

Dieses Buch hier ist ein wenig anders. Klar: Ein Selbstversuch ist schließlich schon vom Ansatz her etwas höchst Subjektives. Und da ich fünfzig Tage lang jeweils eine andere Gebetsart ausprobiert habe, ist der Vorwurf, nichts davon „richtig“ gemacht zu haben, durchaus naheliegend. Wenn Sie es „richtig“ machen wollen, müssen Sie eine Gebetsform oft monate-, ja, mitunter sogar jahrelang einüben. Erst dann können Sie wirklich etwas Qualifiziertes darüber sagen. Andererseits ist das Leben kurz. Ich hätte meine These von den 50 Weisen nie belegen können, wenn ich jede Gebetsart erst mal jahrelang ausprobiert hätte. Wenn Sie also zu den Vertretern der „Eine-Gebetsweise-pro-Jahr-genügt“-Theorie gehören: Bitte schön! Vielleicht kann dieses Buch Ihnen trotzdem helfen, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, mit welcher Übung Sie den Anfang machen oder mal etwas Neues ausprobieren wollen.

Allerdings: So ganz kann ich die Theorie, dass wir uns auf wenige Arten des Betens beschränken sollen, nicht teilen. Es ist völlig normal, wenn wir unsere individuellen Favoriten und Schwerpunkte entwickeln. Aber schon unter uns Menschen ist „Kommunikation“ ein unglaublich buntes, vielschichtiges Geschehen. Wir beschränken uns eben nicht auf zwei oder drei Ausdrucksmöglichkeiten, sondern funken sozusagen auf allen Kanälen: Wir reden, schreiben, singen, simsen, schimpfen, winken, lachen, weinen, umarmen einander usw. Je breiter die Palette der von uns genutzten Kommunikationswege ist, desto mehr erfahren wir voneinander und desto lebendiger ist unser Gespräch. Und umgekehrt: Je eingleisiger unsere Kommunikation verläuft, desto langweiliger und eintöniger wird sie. Ich behaupte: Ähnliches gilt auch für unser Gebet, denn Beten ist nichts anderes als Kommunikation mit Gott. Je breiter die Palette der Ausdrucksmöglichkeiten ist, derer wir uns dabei bedienen, desto lebendiger und interessanter wird dieses Gespräch. Ständige Gleichförmigkeit ist auch hier der Killer jeder lebendigen Kommunikation und endet in dem – wenn auch häufig unausgesprochenen – Gebet: „Lieber Gott, dasselbe wie gestern, Amen.“

Der Philosoph und Psychotherapeut Paul Watzlawick hat einmal gesagt: „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.“ Ähnlich geht es jemandem, der nur ein oder zwei Weisen zu beten kennt. Ich erinnere mich, dass ich als Kind von meiner Mutter zwei Gutenachtgebete gelernt habe, mit denen ich viele Jahre versuchte, allen Situationen meines Lebens zu begegnen. Wenn „Müde bin ich, geh zur Ruh’“ nicht passte (was bei einem lebhaften kleinen Bengel wie mir meistens der Fall war), dann betete ich eben: „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm.“ Schon damals war mir bewusst, dass dieses Instrumentarium ziemlich begrenzt war, weil es eine Vielzahl von Lebenslagen nicht wirklich abdeckte. Aber ich kannte nur diese beiden Gebete, und dass man Gott mit freier Rede ansprechen darf, lernte ich erst später. Allein diese eine neue Gebetsform eröffnete mir damals einen weiten Horizont. Vielleicht ahnen Sie, wie es mir jetzt ergeht, wo ich dieses Buch fertig habe.

Vielleicht fragen Sie sich auch: „Wie kommt dieser Typ eigentlich auf die Zahl 50? Vielleicht gibt es ja auch 96 oder 333 oder sogar unendlich viele Weisen zu beten.“ Und damit haben Sie völlig recht. Anfangs habe ich diese Zahl einfach mal provokativ in den Raum gestellt. Dann habe ich angefangen zu sammeln und bin im Laufe meiner Recherchen zu diesem Buch auf weit über hundert Weisen des Betens gekommen. Sie finden sie im Anhang aufgelistet. Und sicherlich sind es in der Tat noch sehr viel mehr.

Ich habe es bei meiner Ausgangsthese belassen und fünfzig dieser Formen im Rahmen meines Selbstversuchs ausprobiert. Dabei habe ich alle Grundgebetsarten berücksichtigt und darüber hinaus versucht, eine möglichst bunte Mischung von Gebetsweisen zu finden, die ich – ganz subjektiv – als inspirierend und horizonterweiternd empfand und von denen ich mir neue, ungeahnte Zugänge zu Gott erhofft habe.

Wobei ich manchmal gefragt wurde: „Ja, sind denn die Gebetsformen, die Sie da aufführen, alle christlich?“ Ich verstehe diese Frage und finde sie doch irreführend. Denn ob unser Beten christlich ist oder nicht, entscheidet sich meiner Meinung nach nicht so sehr an der äußeren Form, sondern daran, an wen wir uns mit unserem Gebet wenden. Moslems knien vor ihrem Gott nieder, Juden erheben die Arme zum Himmel und Buddhisten meditieren – sollten Christen das deswegen nicht tun? Zweifellos gibt es Gebetsformen, die dem Wesen des Christentums widersprechen: Menschen- und Tieropfer zum Beispiel. Aber das ist viel seltener der Fall, als wir manchmal meinen. Im Großen und Ganzen empfehle ich, mit dieser Frage gelassen umzugehen und nicht so viele Berührungsängste zu haben.

Viel wichtiger als die Unterscheidung zwischen christlichen und möglicherweise unchristlichen Gebetsformen ist für mich die Frage, ob die jeweilige Weise des Betens zu uns „passt“ oder nicht. Jeder von uns kommuniziert anders; das gilt auch für unser Gebet. Wenn eine bestimmte Art des Betens unsere Beziehung zu Gott vertieft, ist sie auch gut für uns. Und wenn das nicht der Fall ist, ist es unerheblich, ob vielleicht Tausende andere diese Art des Gebets mit Gewinn praktizieren. Für uns ist sie dann offensichtlich ungeeignet. Der Punkt ist: Es gibt keine Gebetsform, die für alle Menschen und in allen Lebenssituationen gleichermaßen geeignet und angebracht wäre. Ein trauriger Mensch muss nicht danken, ein glücklicher Mensch braucht nicht zu klagen, ein unmusikalischer Mensch muss nicht singen und ein ADHSler sollte sich nicht mit Stille-Übungen plagen. Was für den einen gut ist, ist es nicht zwangsläufig auch für den anderen. Vielmehr muss jeder Mensch seine ganz eigene Weise finden, mit Gott zu kommunizieren. Dass Sie eine Idee von der Vielfalt der Gebetsformen bekommen und dabei hoffentlich eine oder mehrere zu Ihnen passende Weisen finden, ist mein persönlicher Wunsch für dieses Buch.

Da es mir zuallererst um eine Entdeckungsreise in die Wunderwelt des Betens geht, bitte ich Sie auch, die von mir am Ende jedes Kapitels gegebenen Noten nicht als abschließende Bewertung einer Gebetsform zu verstehen. Sie sind nicht objektiv, sondern so etwas wie mein ganz persönlicher „spiritueller Fingerabdruck“. Es ist nur normal, wenn der bei Ihnen völlig anders aussieht als bei mir. Ich fand es allerdings wichtig, mich im Rahmen meines Selbstversuchs zu positionieren und nicht einfach feige der Stimme zu enthalten. Kann sein, dass ich damit einigen auf die Füße trete, aber das ist nicht meine Absicht. Mir geht es vielmehr erstmal darum, meine eigenen Gefühle auf die Reihe zu bekommen. Doch auch Sie haben etwas von meinen Noten: Denn dadurch bringe ich Sie dazu, sich ebenfalls zu positionieren, und das ist auf alle Fälle positiv. Es holt Sie aus der reinen Leserrolle heraus. Sei es, dass eine gute Note Sie reizt, diese Gebetsform auch mal auszuprobieren, oder dass eine von mir gegebene schlechte Note Sie provoziert, sich Ihr eigenes Bild zu machen.

Eine Bemerkung noch zur Frage des Humors. Bei jedem von uns verläuft die persönliche Humorgrenze etwas anders. Ich versuche – und zwar durchaus als Bestandteil meiner Spiritualität! –, mich selbst, das Leben und auch religiöse Fragen zwar ernst, aber nicht allzu schwer zu nehmen. Darum kann ich fast allem eine humorvolle Perspektive abgewinnen. Ich weiß: Das geht nicht jedem so. Darum ist der Vorwurf, ich behandle die Dinge nicht mit dem nötigen Respekt, geradezu unvermeidbar. In meinen Augen aber verbindet sich das Heilige mit Lachen, Leichtigkeit und vor allem mit einem gesunden Schuss Selbstironie in viel besserer Weise als mit verbissenem Ernst. Wobei keineswegs jedes Kapitel ein Schenkelklopfer ist. Keine Sorge. Darum geht es auch nicht. Manche Übungen haben mich tief erschüttert, andere eine Vielzahl von Fragen aufgeworfen – und an die erwähnte Leichtigkeit musste ich mich im Lauf meines Selbstversuchs erst langsam herantasten. In jedes Kapitel habe ich deshalb auch versucht, reflektierende Gedanken einzubauen, schon allein, um meine Wissbegierde zu stillen, aber auch, damit das Buch nicht im Subjektiven verflacht.

Es war mir wichtig, eine möglichst bunte Mischung zu finden. Natürlich sind „die üblichen Verdächtigen“ dabei, also Bitte, Lob, Dank usw. Aber in diesem Buch finden Sie auch recht exotische Versuche. Ich habe in einer alten Klosterkirche übernachtet (na ja, nicht ganz), in Zungen geredet, gefastet, eine Ikone gemalt, die 99 Namen Allahs gebetet, an einem Zen-Kurs teilgenommen, den Sabbat geheiligt, gesungen und getanzt, einen virtuellen Andachtsraum besucht, Gott ein Rauchopfer gebracht, bin auf den Sinai gepilgert und vieles andere mehr.

Bei alledem habe ich eine Menge Spaß gehabt, viel gelernt und vor allem den Eindruck gewonnen, „empfänglicher“ für die Gegenwart Gottes in meinem Leben geworden zu sein. Und das ist es, was Gebet letztlich bewirken soll: uns in Berührung mit Gott bringen. Das Ziel dieses Buches ist, Sie an der Fülle dessen teilhaben zu lassen, was Gebet sein kann. Dabei ist es nicht nötig, dass Sie es von Anfang bis Ende lesen. Sie können sich gezielt irgendwelche Kapitel heraussuchen. Nebenbei: Ich nehme den Vorwurf der Oberflächlichkeit gerne in Kauf, wenn Ihre Gottesbeziehung beim Lesen dieses Buches an Tiefe gewinnt. Wenn Sie am Schluss zu völlig anderen Ergebnissen kommen als ich, aber neu Lust verspüren, selbst wieder mehr und vor allem „bunter“ zu beten, hat sich mein Buch auf jeden Fall gelohnt.

Ich wünsche Ihnen eine ebenso inspirierende wie vergnügliche Lektüre!

Klaus Douglass

Tag 1: Zusammen auf dem Weg

Beten bei einer Prozession

Heute geht es also los – und ich bin sehr gespannt! Eine geistliche Reise von fünfzig Tagen liegt vor mir, und ich erwarte nichts Geringeres, als Gott zu begegnen. Wow! Wobei ich zugleich ahne, dass das nur auf dem Umweg über mich selbst geht. Sprich: Wenn ich mit Gott in Berührung kommen möchte, werde ich erst mal auf mich selbst treffen: auf meine Wünsche, Sehnsüchte und Träume. Auf meine Ideale, Stärken und Begabungen. Und leider auch auf meine Vorurteile, Ängste und Unzulänglichkeiten. Es gibt nämlich keinen Weg zu Gott an der Wahrheit unseres Lebens vorbei. Vielleicht habe ich mir deshalb mit meinem Selbstversuch so viel Zeit gelassen. Nicht, weil ich die Begegnung mit Gott, sondern die mit mir selbst scheue.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich komme ganz gut mit mir zurecht. Meistens jedenfalls. Vielleicht, weil ich im Lauf der Jahre ein gewisses Bild von mir aufgebaut habe, mit dem ich recht gut leben kann. Eine Art Arbeitshypothese, die ich nicht groß hinterfrage. „Never change a running system – verändere nie ein funktionierendes System“, heißt es in der Computerbranche. Denn wer allzu sehr daran schraubt und herumbessert, dem kann es passieren, dass ihm das ganze System abstürzt. Und fünfzig Tage auf verschiedene Weisen zu beten bedeutet, tief in das eigene „Betriebssystem“ einzugreifen. Sich selbst auszuloten, neue Möglichkeiten zu entdecken, Grenzen zu überschreiten.

Eigentlich ist es genau das, worum es beim Christsein geht: immer wieder neu aufbrechen, sich nicht festsetzen, auf dem Weg bleiben. Einer meiner theologischen Lehrer pflegte zu sagen: „Das Wichtigste am Glauben sind die Füße.“ Dieses Wort hat sich mir tief ins Bewusstsein gebrannt, gerade weil es so ungewöhnlich klingt. Ist Glaube nicht eine Herzenssache? Oder auch eine Angelegenheit des Kopfes: eine bestimmte Weise, die Dinge zu sehen? Ja! Und dann ist Glaube natürlich auch eine Sache zupackender Hände: eben nicht nur Gesinnung und Theorie, sondern hoffentlich lebendige, tätige Praxis. So dachte ich jedenfalls immer. Und dann kam dieser Mann und sagte: „Das Wichtigste am Glauben sind die Füße.“ Ich vermute, dass ich nicht der Einzige war, der über diesen Satz unmerklich den Kopf schüttelte. Doch einmal auf diese Spur gebracht, entdeckte ich, wie viele Weg-Geschichten in der Bibel erzählt werden, angefangen von Abraham und Mose bis hin zu dem Wanderprediger Jesus und den Reisen der Apostel. Jesus berief seine Jüngerinnen und Jünger mit den Worten „Folge mir nach“. Wussten Sie, dass sich die ersten Christen der Bibel zufolge nicht „Christen“ nannten, sondern „Menschen des Weges“? Für sie war Christsein kein fester Standpunkt, sondern so etwas wie eine Straße, auf der sie sich miteinander vorantasteten. Wahrscheinlich wäre im Lauf der Kirchengeschichte viel Schaden vermieden worden, wenn Christinnen und Christen dies beherzigt hätten, statt sich und anderen einzureden, sie wären bereits angekommen.

Also: Wenn „Unterwegs-Sein“ zum Kern des christlichen Glaubens gehört, wird es höchste Zeit, dass ich mich mal wieder auf den Weg mache. Hoffentlich habe ich mir da nicht zu viel vorgenommen. Ein bisschen mulmig ist mir schon. Egal. Jetzt will ich es wissen. Ich will diesem Gott ganz neu auf die Spur kommen.

Eigentlich wollte ich meinen Selbstversuch eher ruhig angehen lassen. Doch auf dem Kalender steht heute „Fronleichnam“, und auch wenn es mir etwas schnell geht, nehme ich diesen besonderen Event natürlich mit. Und irgendwo passt es auch. Denn an diesem Tag begehen katholische Christen eine feierliche Prozession – einen religiösen Umzug. Ich bin zwar nicht katholisch, aber was könnte angemessener sein, als meine spirituelle Reise mit einer kleinen Wanderung zu beginnen, die unter einem großen religiösen Thema steht? So bleibt das Sich-auf-den Weg-Machen nicht nur ein Prozess, der sich in meinem Kopf abspielt, nein, ich spüre es am eigenen Leibe, was es bedeutet, den eigenen Standpunkt und die eigene Sicherheitszone, innerhalb derer ich mich eingerichtet habe, zu verlassen und mich aufzumachen zu neuen Ufern. Das Wichtigste am Glauben sind die Füße.

Ich muss gestehen, dass ich noch nie an einer Fronleichnamsprozession teilgenommen habe. Dieser wohl katholischste aller Feiertage ist mir innerlich eher fremd. Der Begriff „Fronleichnam“ hat, nebenbei erwähnt, nichts mit einem „frohen Leichnam“ zu tun, sondern leitet sich von dem mittelhochdeutschen vrône lîcham – „des Herren Leib“ – ab. Im Englischen und anderen Sprachen trägt das Fest den Namen „Corpus Christi“. An diesem Tag dreht sich alles um eine geweihte Abendmahlsoblate, die in einer feierlichen Prozession durch die Straßen getragen wird. Die Gläubigen sind fest davon überzeugt, dass es sich hierbei um den Leib des gekreuzigten Christus handelt. Ich gestehe, dass ich mit dieser doch sehr gegenständlichen Vorstellung etwas Mühe habe. Aber das soll jetzt nicht mein Thema sein. Dem „Abendmahl“ als Gebetserfahrung widme ich später ein eigenes Kapitel. Mir geht es heute vor allem um die Prozession, um das Unterwegssein, um meine geistliche Reise.

Ich habe in den letzten Tagen im Internet recherchiert, wo in der Nähe Fronleichnamsfeiern angeboten werden, und mich für diejenige auf dem Frankfurter Römerberg entschieden. Das wird wohl die größte. Und „groß“ ist auf alle Fälle schon mal vielversprechend, oder? Tatsächlich: Scheinbar ist das gesamte katholische Frankfurt unterwegs, denn mehrere Tausend Gläubige haben sich an diesem frühsommerlichen Morgen versammelt. Die Kulisse ist hochfeierlich: Trompeten, Fahnen und Uniformen, wohin das Auge blickt. Mitten auf dem Platz befindet sich eine geschmückte Bühne, umgeben von rund einem Dutzend Priestern, bunt gewandeten Ordensleuten und später auch Kindern. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht – von prächtigen Blumengestecken umrahmt – der sogenannte „Himmel“, ein mit edlem Stoff bezogener Baldachin. Er beschirmt ein etwa 20 Zentimeter hohes Goldkreuz mit Sichtfenster – „Monstranz“ genannt –, in der sich die bereits erwähnte Oblate befindet beziehungsweise nach katholischer Vorstellung eben der Leib Christi. Die Sonne scheint und es ist ein echtes Fest für die Sinne. Ich tauche ein in viele bunte Farben, eine Band spielt Sakro-Pop und das Ganze hat viel Bewegung. Der Gottesdienst ist kurzweilig und erstaunlich locker. Ist das gleich die erste sakrale Neuentdeckung für mich?

Denke ich. Doch dann beginnt die Prozession. Der diensttuende Weihbischof und eine Gruppe von Priestern laufen mit der Monstranz unter dem „Himmel“ voran und etwa 3000 Gläubige folgen ihnen auf dem gut anderthalb Kilometer langen Rundweg zum Frankfurter Dom. Seltsam: Sosehr ich mir auch vor Augen halte, dass ich hier gemeinsam mit anderen Gläubigen das Unterwegssein praktiziere, meine „spirituellen Sensoren“ wollen sich einfach nicht auf Empfang stellen. Vielmehr ertappe ich mich dabei, wie mein Blick an einem Brezelstand am Straßenrand heften bleibt. Schlagartig fällt mir ein, dass ich nichts gefrühstückt habe, weil ich sonst meine S-Bahn verpasst hätte. Wie kommt so ein Stand eigentlich hierher? Und: Ob es wohl sehr auffallen würde, wenn ich den Zug kurz verließe, um mir eine dieser schrecklich lecker duftenden Laugenteile zu holen? Ich stelle mir nur vor, wie ich die Straßenseite wechsle, um mir eine Brezel zu kaufen, und plötzlich bleiben alle stehen und gucken mich groß an: „Das ist aber das falsche Brot, dem du folgst, Bruder!“

Auf einmal schallt uns von einer Seitenstraße ein Mordsgegröle entgegen: Sprechchöre, Tröten, Trillerpfeifen. Das irritiert mich vollends in meiner Andacht, mit der ich ohnehin Mühe habe. Sind es Rechtsradikale? Globalisierungsgegner? Protestiert der Atheistenbund? Aber es handelt sich nur um Schlachtenbummler, denn heute Abend findet in Frankfurt ein Fußball-Länderspiel statt. Es sind nicht sonderlich viele Fans, aber dafür machen sie ein ziemliches Spektakel. Es ist irgendwo witzig: Fahnen hier, Fahnen dort. Die einen grölen: „Deutschland!“ (schrecklich falsch). Die anderen singen: „Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose erblüht“ (ziemlich falsch). Die skurrile Begegnung währt nur kurz, da trollen sich die Fans (die anderen) und verkrümeln sich in irgendwelche Seitengassen. Sie folgen dem Ball, wir der Oblate.

Doch auch nach diesem Zwischenfall gelingt es mir irgendwie nicht, mich in das Geschehen einzuklinken. Ich fühle mich einfach nicht wohl. Vielleicht liegt es daran, dass ich Umzüge und Aufmärsche nicht sonderlich mag, egal, in welcher Form. Es hat mich nie gereizt, bei so etwas länger zuzuschauen, geschweige denn mitzumachen. Und ich merke, dass ich auch heute eher die Position eines Zuschauers einnehme, als mich wirklich in das Geschehen zu integrieren. Allerdings spüre ich, dass sich mein Unbehagen nicht ganz so einfach auf den Punkt bringen lässt. Während ich neben den anderen hertrotte und überlege, was mich stört, komme ich nach und nach darauf: Es ist nicht so sehr nur das äußere Drum und Dran der Prozession mit ihren Fahnen, Farben und Symbolen, das mir fremd ist. Es sind die vielen Menschen. Ich suche nach Gott – und es fällt mir sehr viel leichter, mich auf diese Suche zu konzentrieren, wenn ich allein bin.

Im Verlauf der gut halbstündigen Route ertappe ich mich dabei, dass ich mal vorne, mal hinten, mal links und mal rechts an dem Zug entlanglaufe. Erst will ich mir die vom Weihbischof durch die Straßen getragene Monstranz näher anschauen, dann nehme ich Abstand von einer Gruppe leicht euphorisierter Gläubiger, die ausgesprochen laut und demonstrativ singt. Während ich so mit der Menschenmenge weiterlaufe und dabei klammheimlich nach einem weiteren Brezelstand Ausschau halte, merke ich mehr und mehr: Ich bin einfach kein Herdentier. Im Grunde ist das auch völlig okay. Es ist eine Frage der Persönlichkeitsstruktur. Ich bin ein eher introvertierter Mensch, der seine „inneren Batterien“ lieber dadurch auflädt, dass er sich von Menschen fernhält, als dass er mit anderen zusammen ist.

Das ist an sich nichts Schlimmes, aber Menschen wie ich müssen aufpassen, dass sie sich nicht allzu sehr von anderen abkapseln. Wie sagt Dietrich Bonhoeffer: „Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor der Gemeinschaft. Und wer nicht in der Gemeinschaft steht, der hüte sich vor dem Alleinsein.“ Ersteres ist für mich kein Problem. Letzteres ist für mich die Herausforderung schlechthin – auch auf spirituellem Gebiet. Denn anders als beispielsweise die fernöstlichen Religionen ist das Christentum auf Gemeinschaft angelegt. Es geht nicht nur um das Verhältnis zwischen mir und Gott. Wenn ich versuche, nur für mich selbst Christ zu sein, werden mir wesentliche Aspekte des christlichen Glaubens letztlich verschlossen bleiben. Das Gebet, das Jesus uns gelehrt hat, heißt mit gutem Grund „Vater unser“ und nicht „Vater mein“. Glaube, so wie er ihn verstand und vermittelte, ist zwar eine sehr persönliche, aber eben keine private Angelegenheit.

Und doch will es mir heute einfach nicht gelingen, mich auf die vielen Leute wirklich einzulassen. Im Lauf der gut zweieinhalb Stunden, die ich an diesem Vormittag in Frankfurt verbringe, gibt es für mich persönlich nur einen einzigen spürbaren spirituellen Moment: Im Frankfurter Dom findet nämlich das große Finale statt. Während ich zusammen mit Tausenden von Pilgern dieses gewaltige Gotteshaus betrete, umtost mich ein Orgelspiel, das mich wirklich umhaut. Es ist der absolute Hammer, was der Organist da bringt! (Und das sage ich als jemand, der diese Art von Musik überhaupt nicht mag.) Vielleicht liegt es ja daran, dass ich nichts im Magen habe, aber mir wird fast schwindlig, als ich in diesem lichtdurchfluteten gigantischen Dom unter Tausenden von Gläubigen dieses grandios brausende Orgelstück höre. Es geht mir durch und durch. So sehr, dass ich glatt verpasse, wie uns der Weihbischof mit der erhobenen Monstranz segnet.

Und dann ist plötzlich alles vorbei. Tausende Menschen strömen nach draußen und in alle Himmelsrichtungen davon. Während ich herzhaft in meine frisch erworbene Brezel beiße, überlege ich, welchen geistlichen Nährwert meine heutige Erfahrung hatte. Beim besten Willen kann ich nicht behaupten, dass ich in irgendeiner Weise Gott begegnet wäre. Stattdessen stieß ich ständig auf mich selbst: auf meine inneren Blockaden, Beschränkungen und Grenzen. Was genau genommen nichts über diese Art des Betens, sondern nur etwas darüber aussagt, dass sie bei mir eben nicht „anschlug“. Doch nur weil ich nichts mit diesem Event anfangen konnte, war er doch – den Gesichtern der Menschen um mich herum nach zu urteilen – für andere eine durchaus hilfreiche Veranstaltung. Jedenfalls schienen viele Leute um mich herum etwas zu erleben, das mir leider verschlossen blieb. Aber das ist ja die Grundthese dieses Buches: Gebetsformen, die für die einen gut sind, müssen dies nicht unbedingt für die andern sein.

Hat mich mein heutiges Gebetserlebnis also weitergebracht? Oberflächlich gesehen, nein. Ich bin mir nicht mal sicher, ob es für mich überhaupt „Gebet“ war. Aber ich habe etwas Wichtiges erkannt: Menschenmengen irritieren mich mehr, als dass sie meine Spiritualität fördern. Darum werde ich im Verlauf meines Selbstversuchs überwiegend Gebetsformen ausprobieren, die ich als Individuum praktizieren kann. Aber ich werde trotzdem auch das Gebet mit anderen suchen. Denn ich spüre, dass ich ganz bestimmte Erfahrungen mit Gott nicht allein, sondern nur in Gemeinschaft machen kann. Die Prozession war ganz sicherlich nicht „meins“ und wird es wohl auch nie werden. Aber es gibt ja noch andere Weisen, zusammen zu beten. Davon werde ich einige ausprobieren. Und darauf hoffen, dass sich wenigstens hier und dort eine Tür öffnet, hinter der mir Gott begegnet. Ich habe ja noch 49 Tage Zeit.

. . . . . . . Prozession

Religiöses Ritual, bei dem eine Menschengruppe einen nach bestimmten Regeln geordneten feierlichen Aufzug, meist zu Fuß, vollzieht.

Kategorie

Gemeinschaftliches Gebet; Beten mit Leib und Seele; tätiges Gebet (Bekenntnis)

Verwandte Formen

Abendmahl; Pilgerweg; Gebetsspaziergang; Jesus-Marsch; Stationenweg

Auf drei gezählt

Eine Prozession kann man nicht für sich alleine durchführen. Also:

1. Gucken, wo und wann so etwas angeboten wird.

2. Hingehen.

3. Mitmachen und schauen, was passiert. (Und vorher was essen!)

Zeitaufwand

Unterschiedlich; hier: ca. 2 ½ Stunden

Benötigte Hilfsmittel

Feste Schuhe, je nach Jahreszeit Sonnen- oder Regenschutz, ggf. eine Flasche Wasser

Meine Erkenntnis

Ich bin kein Herdentier.

Note: 4

Gott gesucht und dabei hart auf mich selbst gestoßen.

Tag 2: Hurra, ich habe Durst!

Beten voller Sehnsucht

Wunderbar: Heute kann ich für mich alleine beten – und dabei Thema und Tempo selbst bestimmen. Das ist gut so. Denn im Grunde ging mir das gestern einfach zu schnell. Ich habe mich – weil es der Kalender so vorgab – weitgehend unvorbereitet aus einem ziemlich stressigen Arbeitsalltag in die extravagante Erfahrung einer Fronleichnamsprozession hineingestürzt. Da muss ich mich nicht wundern, wenn meine gestrige Übung weitgehend an mir vorübergegangen ist. Heute werde ich einen oder zwei Gänge zurückschalten und ganz elementar beginnen. Ich suche nach einem neuen geeigneten Ausgangspunkt für meinen Selbstversuch.

Also noch mal ganz von vorne: Warum mache ich das Projekt überhaupt? Äußerlich betrachtet löse ich damit jenes Versprechen ein, das ich bereits in meinem Vorwort erwähnt habe. Es gibt aber auch einen inneren Grund, warum ich das gerade jetzt tue. Ich befinde mich nämlich in einer spirituell ziemlich ausgetrockneten Phase meines Lebens. Ich blicke auf eine 25-jährige Berufstätigkeit als Pfarrer zurück, die mich geistlich derart ausgepowert hat, dass ich für ein knappes Jahr einen Job im Personalwesen angenommen habe. Ernsthaft! Hätten Sie mir das vor zehn Jahren prophezeit, ich wäre vor Lachen vom Stuhl gefallen. Aber dann wollte ich den Boden tatsächlich einfach mal brachliegen lassen und mich neu sortieren. Für diese Erfahrung bin ich sehr dankbar, merke aber andererseits, wie viel Mühe es macht, ein geistliches Leben zu führen, wenn man in die Tretmühle eines Büroalltags eingespannt ist und dazu noch 90 Minuten am Tag pendelt. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich hänge, gebetstechnisch gesehen, gerade ziemlich durch. Ich habe 25 Jahre lang zu viel gegeben und ein Jahr lang zu wenig genommen. Mein spiritueller Tank steht auf „Reserve“. Ich fühle mich Gott zwar nicht fern, aber auch nicht besonders nahe. Ein idealer Zeitpunkt also für mein Gebetsprojekt, das ich so lange vor mir hergeschoben habe. Und letztlich ist das auch der tiefste Grund, warum ich die Form eines Selbstversuchs wähle: weil ich Sehnsucht habe, Gottes Gegenwart wieder stärker zu spüren.

Am Anfang meines Projektes steht also eine Sehnsucht. Ein großer Durst. Und statt mir gleich so ein Kulturschockerlebnis wie eine Fronleichnamsprozession auszusuchen, hätte ich wahrscheinlich besser daran getan, zunächst dieser Sehnsucht nachzuspüren und ihr Ausdruck zu verleihen. Was heißt „Sehnsucht“? Laut meinem Wörterbuch ist ein sehnsüchtiger Mensch „krank vor liebendem Verlangen“. Das Wort „krank“ gefällt mir in diesem Zusammenhang nicht, denn genau genommen halte ich die Sehnsucht nach Gott für grundgesund. Auf der anderen Seite reagiert mein Körper tatsächlich krank, wenn ihm lebenswichtige Stoffe entzogen werden. Das heißt: Nicht die Sehnsucht als solche ist krankhaft, sondern der Mangelzustand, der zu meiner Sehnsucht führt. Letztere ist lediglich ein Symptom, ein Weckruf meiner Seele, den beunruhigenden Missstand endlich zu beseitigen.

Die alten Hebräer wussten, dass es einen engen inneren Zusammenhang zwischen unserem leiblichen Durst und der Sehnsucht nach Gott gibt. Ihr Wort für „Seele“ bedeutet seinem ursprünglichen Sinn nach so viel wie „Kehle“. Die Seele des Menschen ist dieser Vorstellung zufolge jener Ort, an dem wir Durst nach Gott empfinden. Ich kann nicht für andere sprechen, aber meine Seele dürstet definitiv nach Gott. Dieser Zustand wird zwar oft von allem Möglichen überlagert – Sorgen, Wünschen, Plänen, dem täglichen Kleinkram. Aber immer, wenn ich wesentlich werde, kann ich meinen Durst nach Gott spüren. Ich kann ihn ab und zu überspielen oder betäuben, aber nicht gänzlich abstellen. Er kommt immer wieder nach oben.

Manche haben in der Tatsache, dass der Mensch sich nach Gott sehnt, so etwas wie einen „Gottesbeweis“ gesehen. Sie sagen: So wie der leibliche Durst auf die Existenz von Wasser hinweist, so weist der Durst unserer Seele auf die Existenz Gottes hin. Ich finde, das ist ein durchaus erwägenswertes Argument. Wobei ich mir sehr wohl bewusst bin, dass nicht jeder Mensch diesen Durst in gleichem Maße empfindet. Darum sehe ich bereits die Sehnsucht nach Gott als ein Geschenk beziehungsweise theologisch gesprochen: als eine Gnade an, denn sie lässt unsere Seele Ausschau halten nach etwas, das diese Leere ausfüllen kann. Durst ist nicht schön, aber wenn wir nie durstig wären, würden wir wahrscheinlich auch nie etwas trinken. Auch der Durst nach Gott kann ein sehr unangenehmes Gefühl sein, doch wenn wir ihn nicht spüren könnten, würden wir früher oder später spirituell völlig austrocknen. Vielleicht sagt Jesus auch deswegen: „Selig sind die Dürstenden.“ Ich jedenfalls bin dankbar, dass ich diese Trockenheit in mir fast schon schmerzvoll empfinde. Hurra, ich habe Durst! Denn wäre das ganz und gar nicht der Fall, hätte sich mein Herz wohl schon in Stein verwandelt.

Der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal hat einmal gesagt: „Wir würden Gott nicht suchen, wenn er uns nicht schon gefunden hätte.“ Wenn wir Gott voller Sehnsucht suchen, ist dies ein Zeichen dafür, dass er bereits begonnen hat, zu unserer Seele zu sprechen. Im biblischen Buch Jeremia (29,13–14) heißt es: „… denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen …“ Das Gebet der Sehnsucht steht darum oft am Anfang unserer Kontaktaufnahme mit Gott. Gebet wird immer dann lebendig, wenn es nah am eigenen Herzschlag ist. Im Folgenden versuche ich daher, meine Sehnsucht in Worte zu fassen. Einige Zeilen habe ich aus einem Gebet von Thies Gundlach übernommen und es mit meinen eigenen Gedanken eingeleitet und ergänzt. Ob wir für unser Gebet der Sehnsucht eigene Worte formulieren oder uns an Worte anderer anlehnen, ist übrigens völlig zweitrangig. Nur fremd sollten uns die Worte nicht sein.

Mein Gebet der Sehnsucht

Gott – kannst du mich hören?

Verzeih, dass ich daran zweifle, aber ich selbst höre dich nicht.

Ich habe mich verrannt in meinem Alltag,

meinen Sorgen und Ambitionen;

habe mich verheddert in Belanglosigkeiten und sinnlosen Streitereien.

Mein Kopf ist voll, in meiner Seele tosen tausend Stimmen.

Es ist kein Platz für dich in meinem Herzen.

Ich höre dich nicht mehr – kannst du mich hören?

Ich sehe dich auch nicht mehr – sehe nicht die Spuren, die du in meinem Leben hinterlässt.

Wie soll ich da glauben, dass du mich siehst?

Ich habe mich von dir entfernt und glaube deswegen, dass du mir fern bist.

Wie ein Kind, das die Augen verschließt und darum denkt,

Vater und Mutter könnten es nicht sehen.

Ich sehe dich nicht. Ich höre dich nicht. Ich spüre dich nicht.

Doch halt: Irgendetwas spüre ich. Hunger. Sehnsucht. Durst.

Wenn ich innehalte und tief in mich hineinhorche,

merke ich, dass ich mich nach dir sehne:

Wie der Wüstenwanderer nach Wasser.

Wie der Wächter nach dem Morgen.

Wie der Bräutigam nach seiner Braut.

Gott, finde mich, wenn ich dich suche.

Und suche mich, wenn ich dich nicht finde.

Berühre meine Zweifel mit deiner Tiefe,

bringe Licht in mein Fragen

und lege Segen auf meine Sehnsucht.

Segne mich mit der Erfahrung deiner Nähe,

dass ich wachsen kann hin zu dir.

Amen.

. . . . . . . Das Gebet der Sehnsucht

Sehr elementare Form des Betens, besonders geeignet für Menschen, die in ihrem Herzen mehr Sehnsucht als Fülle, mehr Fragen als Antworten und mehr Zweifel als Gewissheit empfinden.

Kategorie:

Persönliches Gebet; Grundgebetsart

Verwandte Formen

Bußgebet; Psalmgebete

Auf drei gezählt

1. Sich in die eigene Sehnsucht hineinspüren.

2. Entweder ein eigenes Sehnsuchtsgebet formulieren.

3. Oder ein von anderen formuliertes Gebet zur Hand nehmen, an das man sich anlehnt (siehe Tag 22), zum Beispiel einen Psalm.

Zeitaufwand: 30–60 Minuten

Benötigte Hilfsmittel

Hunger und Durst nach Gott, aufrichtige Zweifel, Sehnsucht; evtl. ein Gebetbuch

Meine Erkenntnis

Innere Trockenheit kann ein Geschenk sein.

Note: 2

Gar nicht so schlecht.

Tag 3: Das Erinnerungsvermögen der Seele

Beten voller Dank

Auch heute nehme ich mir eine Grundform des Betens vor: das Dankgebet. Ich finde: Danke zu sagen ist auf jeden Fall ein guter Anfang. Denn in meinen Augen ist die Dankbarkeit einer der wichtigsten Schlüssel zu innerer Gesundheit und einem glücklichen Leben. Außerdem ist sie eines der wichtigsten inneren Tore zum Herzen Gottes. Wer viel und oft Danke sagt, kommt gar nicht umhin, darüber nachzudenken, wem er denn das Gute in seinem Leben verdankt. Allein schon darum ist das Dankgebet eine der grundlegenden Gebetsformen. Von Meister Eckhart, dem großen Mystiker des Mittelalters, stammt der schöne Satz: „Wäre das Wort ‚Danke‘ das einzige Gebet, das du je sprichst, so würde es genügen.“ Ich könnte mir vorstellen, dass einige religiöse Hardliner das anders sehen, aber mir gefällt dieser Ansatz. Er ist lebens- und menschenfreundlich – und er stellt Gottes Güte in den Mittelpunkt.

Manche denken, wenn sie glücklich wären, wären sie auch dankbar. Das Umgekehrte scheint mir viel eher zuzutreffen: Nur wer für das, was ihm geschenkt wurde, dankbar ist, kann auch Glück empfinden. Dankbarkeit ist also so etwas wie das Erinnerungsvermögen der Seele an das Gute, das uns im Leben widerfahren ist. Mit einer Gruppe von Jugendlichen habe ich einmal eine Übung gemacht: Jeder sollte zehn Dinge aufschreiben, für die er oder sie dankbar war. Ein Mitglied dieser Gruppe war ein Mädchen, das, von außen betrachtet, eher auf der Schattenseite des Lebens aufgewachsen war: Sie war Sonderschülerin, die Eltern Alkoholiker, sie lebte in sehr armen Verhältnissen, und ich hatte die starke Vermutung, dass sie regelmäßig geschlagen wurde. Erstaunlicherweise war dieses Mädchen aber am schnellsten mit ihrer Liste fertig. Als Erstes schrieb sie: „Dass ich nicht blind bin.“ Dann: „Dass draußen die Sonne scheint und die Vögel singen.“ Und: „Dass ich diese tolle Gruppe hier habe.“ Das hat mich damals tief bewegt. In der Gruppe waren etliche Kids, die sehr viel besser situiert und trotzdem deutlich unzufriedener mit ihrem Leben waren.

An diese Übung möchte ich mich heute anlehnen. Und weil ich nicht kleckern, sondern klotzen will, habe ich mir vorgenommen, an einem Tag 100 Gründe zu finden, für die ich Gott in meinem Leben DANKE sagen will. Sie finden das ambitioniert? Ich, ehrlich gesagt, auch. Aber heute habe ich Zeit. Und da ich Gott wirklich dankbar bin, möchte ich ihm das auch mal in aller Ausführlichkeit sagen. So sitze ich also draußen auf einer Bank im Grünen und überlege, wie ich die Sache anpacke. Es ist mal wieder die alte Frage: „Wie verspeist man einen Elefanten?“ Die Antwort lautet nicht: „Mit viel Ketchup“, wie mir mal jemand empfahl, sondern: „Scheibchenweise.“ Ich lege mir also mein Tagesprojekt zurecht, indem ich es in kleine Portionen unterteile. Ich wähle mir zehn Bereiche meines Lebens aus, denen ich jeweils zehn Punkte zuordne, für die ich dankbar bin. Ich werde Sie nicht damit langweilen, alle meine 100 Gründe aufzulisten, sondern mich darauf beschränken, Ihnen eine Anregung zu geben, wie Sie eventuell selbst vorgehen können.

1. Als Erstes wähle ich den Bereich Ehe bzw. Partnerschaft. Ob ich wohl zehn Gründe finde, für meine Frau dankbar zu sein? Kein Problem, das dauert keine 30 Sekunden. Genau gesagt, so schnell kann ich gar nicht schreiben, wie mir hier Dinge einfallen. Und ich merke einmal mehr, wie super glücklich ich mit meiner Ehe bin.

2. Dann kommt der Bereich Familie. Die ist bei mir nicht sehr groß, aber für die wenigen Menschen, die ich dazuzähle, fallen mir gleich mehrere Gründe zur Dankbarkeit ein. Und registriere ein kleines Wunder: Ich gehöre zu den wahrscheinlich recht wenigen Menschen, die für ihre Schwiegereltern dankbar sind!

3. Als Drittes wähle ich den Bereich meiner Freundschaften. Ich habe wenige wirklich enge Freunde, aber Gott sei Dank: Ich habe welche! Und auf zehn Leute, denen ich mich freundschaftlich verbunden fühle, komme ich spielend. Dazu fallen mir noch die einen oder anderen guten sozialen Kontakte ein, für die ich ebenfalls dankbar bin.

4. Als Viertes blicke ich auf meine Begabungen. Meine Auffassungsgabe, meine Freude am Formulieren, meine Fähigkeit, Menschen zu motivieren, mit der ich behutsam umgehen möchte. (Nicht zu vergessen meine große Bescheidenheit, die mich das alles hier hinschreiben lässt, ohne rot zu werden.) Ich rede bewusst von „Begabungen“, denn ich verstehe diese Fähigkeiten in erster Linie als Geschenk. Und als Berufung, damit etwas anzufangen, das anderen Menschen dient.

5. Fünftens schaue ich mir meinen Beruf an. Das fällt mir ein bisschen schwer, weil ich im Moment gar nicht in meinem eigentlichen Beruf arbeite. Teils schaue ich also auf erfüllte Jahre in der Vergangenheit, teils auf gegenwärtige Herausforderungen beziehungsweise Chancen und zukünftige Perspektiven. Und komme alles in allem zu der schönen Erkenntnis: „Ich bewege etwas – DANKE!“

6. Damit bin ich schon beim nächsten Punkt: mein Wirkungsradius. Der geht bei mir – wie wahrscheinlich bei vielen Menschen – deutlich über das Familiäre und Berufliche hinaus. Es gibt Anliegen und Themen, für die ich mich engagiere, sowie Projekte, zu denen ich einen Beitrag leiste, und die Tatsache, dass Sie und andere dieses Buch lesen, gibt mir ebenfalls das Gefühl, dass ich einiges hoffentlich Positive im Leben anderer Menschen bewirken kann. Daneben gibt es zweifellos auch viel Fragwürdiges, aber damit beschäftige ich mich an einem anderen Tag.

7. Der nächste Bereich ist der äußere Wohlstand, in dem ich lebe. Ich bin zwar nicht reich, habe aber genug, um das Leben zu genießen, und vor allem: keine Not. Ich lebe in einem gutsituierten, freien, weitgehend sicheren Land in einer der schönsten Gegenden Deutschlands. Mir geht es wirklich gut – Gott sei DANK!

8. Auch der Bereich Körper und Gesundheit gibt Anlass zur Dankbarkeit. Ich kann sehen, hören, tasten, schmecken, riechen. Ich bin körperlich fit, habe keine größeren Zipperlein, bin zufrieden mit meinem Aussehen und habe – abgesehen von meiner Frau – keine größeren Süchte. All das empfinde ich als Geschenk, für das ich dankbar bin.

9. Auch mein seelisches Befinden ist frei von großen Komplikationen. Ich bin ein recht ausgeglichener Mensch, kann vergeben und vergessen, lache viel und herzlich, liebe und genieße das Leben, empfinde tief und bin – abgesehen von einigen sinnlosen Sorgen, die ich mir manchmal selbst mache – rundum glücklich, dankbar und zufrieden.

10. Der letzte Bereich, den ich mir aussuche, sind die großenWeichenstellungen in meinem Leben. Staunend stehe ich vor Begegnungen und Fügungen, ohne die mein Leben ganz anders verlaufen wäre. Dazu gehören nicht nur positive Dinge. Aber wenn ich manches Negative nicht erlebt hätte, wäre ich nicht der, der ich heute bin. Und das fände ich eigentlich schade. So kann ich auch für manches negative Ereignis in meinem Leben, wenn auch leise, DANKE sagen.

So. Meine Aufstellung ist fertig. Und ich finde, dass ich ein ziemlicher Glückspilz bin. Das war ich sicherlich auch schon vor dieser Übung, aber jetzt bin ich mir dieser Tatsache ganz intensiv bewusst. Und mal ehrlich: Nur Glück, das ich auch empfinde, ist wirklich Glück, oder? Selbst mit nur halb so vielen Punkten auf meiner Liste hätte ich viel Grund zur Dankbarkeit. Die ersten 50 Gründe habe ich innerhalb von zehn Minuten aufgeschrieben. Für die anderen 50 brauchte ich zugegebenermaßen etwas länger. Aber auch nicht wirklich lang. Nun nehme ich mir Zeit, meine Notizen noch einmal durchzugehen und mich bei Gott für jeden einzelnen Punkt zu bedanken. Ich registriere, wie ich gegen Ende der Übung breit lächelnd über meinem Tagebuch sitze. Das war nun wirklich prima! Das Projekt, das mir anfangs so groß vorgekommen war – nämlich 100 Gründe zum Danken zu finden –, erscheint mir nun, nach vollbrachter Tat, vergleichsweise klein. Ich habe den starken Eindruck, nur die Oberfläche angekratzt zu haben und dabei schon auf pures Gold gestoßen zu sein. Letztlich gebührt Gott tausend Dank – und noch viel mehr. Und je mehr wir dem auf die Spur kommen, desto glücklicher sind wir. Eine spannende Erkenntnis: Wenn wir Gott danken, erfreuen wir nicht nur Gott, sondern auch uns selbst.

. . . . . . . Dankgebet

Das Dankgebet erwächst aus einer Herzenshaltung, die gezielt die positiven Dinge des Lebens in den Blick nimmt und sie auf Gott zurückführt.

Kategorie

Grundform des Gebets; auch als Gemeinschaftsgebet möglich

Verwandte Formen

Lob/Lobpreis; Zehn-Finger-Gebet; Bohnengebet (siehe Tag 8)

Auf drei gezählt

1. Gründe zur Dankbarkeit aufschreiben (wir vergessen sonst so schnell).

2. In jeder schönen Situation des Lebens von Herzen Danke sagen.

3. Jeden Tag bewusst mit ein paar Minuten des Dankes beginnen und/ oder beenden.

Zeitaufwand

Je nach Umfang der Liste 5–10 Minuten; hier: rund 1 Stunde

Benötigte Hilfsmittel

Evtl. Stift und Papier

Meine Erkenntnis

Wenn wir Gott danken, erfreuen wir nicht nur Gott, sondern auch uns selbst.

Note: 2+

Macht das Herz weit!

Tag 4: Erbauliche Gedanken vor Mitternacht

Beten in einer alten Kirche

Durch einen glücklichen Zufall kann ich mir heute für eine Nacht den Schlüssel zu einer 1000 Jahre alten Klosterkirche ausleihen. Eigentlich habe ich vor, bis zum nächsten Morgen zu bleiben, blicke aber auf einen anstrengenden Tag zurück und bin mir nicht sicher, ob ich das schaffe. Doch ein paar Stunden will ich mir wenigstens Zeit nehmen und mich inspirieren lassen von den einzelnen Gegenständen und Kunstwerken, die überall in diesem Gotteshaus zu finden sind. Mal schauen, wie lange die Inspiration mich durch die Nacht trägt. Und ob sie mir hilft, Gott näherzukommen.

Viele Menschen lieben alte Kirchen. Ich selbst bin da innerlich gespalten. Die meisten Kirchen sind mir atmosphärisch zu düster und oft auch zu kalt. „Eure Kirchen sind wie Gräber und Grüfte Gottes für mich“, hat Friedrich Nietzsche einmal gesagt, und ich verstehe, was er damit meint. Ob alt oder modern – leider strahlen die allerwenigsten Gotteshäuser jene Lebenslust und Lebensfreude aus, die man eigentlich angesichts des christlichen Auferstehungsglaubens erwarten sollte. Freilich gibt es auch Kirchen, die ich sehr schön finde, und die, die ich heute besuche, gehört definitiv dazu.

Als ich abends gegen 20:30 Uhr die Kirche betrete, staune ich, wie viele Menschen noch dort sind. Hey, was suchen all die Leute – auch solche, die mit dem christlichen Glauben an sich nicht viel anfangen können – in alten Kirchen? Sind es die vielen Kunstwerke, die sie hierher ziehen, oder ist es doch etwas anderes? Ich warte geduldig ab, bis die Letzten gegangen sind und die Küsterin abschließen möchte. Sie schaut ein wenig skeptisch, nein: total skeptisch, als ich ihr erkläre, dass ich hier die nächsten Stunden verbringen möchte, einen eigenen Schlüssel habe und das auch darf. Offensichtlich sehe ich aber nicht aus wie jemand, der irgendwelche Kirchenschätze rauben will (wie sehen solche Leute eigentlich aus?), darum sagt sie: „Na dann – auf Treu’ und Glauben!“, und überlässt mir die Kirche. Vermutlich ist sie diejenige von uns beiden, die früher anfängt zu beten. Oder sie observiert mich heimlich von draußen.

Die Klosterkirche ist groß, und ich nehme mir rund eine Stunde Zeit, um mir alles erst mal in Ruhe anzuschauen: das Kreuz, den Altar, die bunten Glasfenster, die Gemälde usw. Wir haben Mitte Juni, das heißt, die Tage sind lang, und noch spät erhellt warmes Tageslicht das Innere des großen Raumes. Ehrfürchtig bleibe ich vor einem alten Relief mit Darstellungen verschiedener Stationen aus dem Leben Jesu stehen. Ich schaue nach: Wer dieses wunderbare Kunstwerk erschaffen hat, ist nicht bekannt. Sprich: Der Künstler tritt völlig hinter die Botschaft zurück, die er verkündigen will. Kein Mensch kennt mehr seinen Namen, aber seit rund tausend Jahren erzählt er den Menschen die Geschichte von Jesus Christus. Ob er das wohl geahnt hat? Ich stelle mir vor, wie es sich für mich anfühlte, wenn ich wüsste, dass die Leute in 1000 Jahren noch meine Bücher lesen, dabei aber meinen Namen längst nicht mehr wüssten: „Verfasser unbekannt. Frühes 21. Jahrhundert.“ Oder, schlimmer noch: Das Buch würde einem meiner Autorenkollegen zugeschrieben. (Ups!)

Das Verhältnis von Kunst und Religion war im Lauf der Kirchengeschichte immer wieder Gegenstand teils erbitterter Auseinandersetzungen. Schließlich heißt eines der Zehn Gebote: „Du sollst dir kein Bild von Gott machen.“ Weitgehend durchgesetzt hat sich im Endeffekt die Auffassung, dass Gott selbst zwar nicht abgebildet werden darf, wohl aber Jesus Christus und auch das Wirken Gottes durch einzelne Menschen, die man als „Heilige“ bezeichnet. Auch Martin Luther, der an sich ein großer Gegner der Heiligenverehrung war, machte sich diese Ansicht zu eigen. Da die meisten Menschen damals nicht lesen und schreiben konnten, waren die bebilderten Kirchen oft die einzige „Bibel“, die die Menschen lasen. Ich selbst kann mich erinnern, wie ich als Kind in einer großen Kirche so manche sterbenslangweilige Predigt ertrug, indem ich mir die großen Bilder an der Kirchendecke anschaute. Sie haben meine Vorstellung von Christus sicherlich mehr geprägt als die Worte des Pfarrers.

Ich gehe weiter und schaue mir die bunten Glasfenster an. Einige sind gegenständlich – das heißt, man kann erkennen, was sie darstellen sollen –, andere hingegen ungegenständlich, sprich: „moderne Kunst“. Ich schätze eher die ungegenständliche Kunst, denn sie lässt mir Raum für eigene Bilder und Fantasien. Von gegenständlichen Darstellungen hingegen – vor allem bei religiösen Motiven – bin ich häufig enttäuscht, weil in meinem Inneren oft ganz andere Vorstellungen existieren. Auch hier in der Klosterkirche sprechen mich die modernen Kirchenfenster viel mehr an als die alten. Ich lese den Titel des Kunstwerks, der auf einer Tafel angebracht ist, und versuche zu verstehen, was den Künstler wohl bewogen hat, ausgerechnet diese Farben und jene Symbole zu verwenden, und bringe das in Beziehung zu den Bildern und Formen, die in meinem Inneren vorhanden sind. Ob das Gebet ist, weiß ich nicht, aber es ist ein durchaus intensiver innerer Prozess.

Langsam wird es dunkel. Bei meiner Runde durch die Kirche komme ich in einen ziemlich finsteren Seitengang, in dem sich eine Krypta befindet. Hier werden in einem mächtigen Steinsarg die Gebeine eines Heiligen verwahrt beziehungsweise das, was von ihm übrig geblieben ist, denn wer im Mittelalter heiliggesprochen wurde, hatte nicht viel zu lachen. Nicht nur, weil man dazu tot sein musste, sondern vor allem wegen des frommen Glaubens an die Wundertätigkeit selbst der kleinsten Reliquie. Einzelne Körperteile des oder der Toten wurden quer über den Erdball verstreut in kirchliche Altäre eingebaut: hier ein Finger, dort ein Zahn, andernorts ein ganzer Oberschenkelknochen. Ich kann also gut und gerne davon ausgehen, dass das, was dort in dem Steinsarg ruht, buchstäblich nur ein Bruchteil der sterblichen Überreste jenes Heiligen ist, dessen Name in verwitterten Lettern auf den Sarg gemeißelt steht.

Kerzenlicht flackert im Gewölbe, und ich frage mich, ob ich das jetzt gerade gruselig finde, merke aber andererseits, dass mich dieser Ort unzweifelhaft anspricht. Also setze ich mich, schaue mir den Steinsarg an und denke über den darinliegenden Toten und den Tod im Allgemeinen nach. Über den Toten: Uns Lebenden und unserem frommen Zugriff merkwürdig ausgesetzt kommt er mir vor. Ob er wohl – wovon der Katholizismus ausgeht – tatsächlich hören kann, was sich da über die Jahrhunderte hinweg an seinem Grab an Gedanken, Gebeten, Geschichten und Glaubensvorstellungen angesammelt hat? Angefangen von herzzerreißenden Bitten bis hin zu den merkwürdigsten Absurditäten – es scheint mir mehr, als ein Mensch ertragen kann. Und unwillkürlich fange ich an, für seinen Seelenfrieden zu beten, obwohl es nach katholischer Lehre eigentlich seine Aufgabe wäre, dies für mich zu tun.

Auf der anderen Seite bin ich es, der Lebende, der sich an diesem wunderschönen Sommerabend der Wirklichkeit des Todes aussetzt. Während draußen das Leben pulsiert und blüht, sitze ich in einer düsteren Krypta und sinniere über den Tod. „Memento mori – sei dir deiner eigenen Sterblichkeit bewusst!“, sagten die Lateiner. Oder wie es die Bibel ausdrückt: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ In der Tat: Nirgends erkennen wir deutlicher, was in unserem Leben wirklich wichtig ist und was nicht, als dann, wenn wir uns vor Augen führen, dass wir eines Tages sterben müssen. Es ist sicherlich eine Frage der Dosis, aber das Nachdenken über den Tod kann uns tatsächlich helfen, unser Leben klüger auszurichten, ja, sogar besser zu genießen. Zumindest, wenn es keinen konkreten Anlass zur Sorge gibt. Jedenfalls bin ich, als ich etwa 20 Minuten später aufstehe, keineswegs morbid oder depressiv gestimmt, sondern fühle mich heiter und gelassen.

Ich nehme im hinteren Teil der Kirche Platz und lasse – da ich einzelne Kunstwerke nicht mehr erkennen kann – mit dem Restlicht des Tages das Gesamtbild der Architektur auf mich wirken. Es ist ein gigantischer Bau mit klaren, strengen Formen. Ich frage mich: Gibt es so etwas wie „heilige Räume“? Die Christenheit kam bis ins 4. Jahrhundert hinein ganz offensichtlich ohne Kirchen aus, und das waren nicht ihre schlechtesten Zeiten. Große Kirchengebäude wurden erst gebaut, als das Christentum Staatsreligion geworden war und entsprechend viele Menschen untergebracht werden mussten. Bis dahin trafen sich die Christinnen und Christen auf öffentlichen Plätzen oder in Privathäusern. Kirche im Sinne des Neuen Testaments besteht jedenfalls aus Menschen und nicht aus Steinen. Entsprechend wird der Begriff „heilig“ dort ebenfalls ausschließlich auf Menschen und nicht auf Gegenstände oder Orte verwandt.

Ich habe Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass es Orte gibt, die heiliger sein sollen als andere. Das Alte Testament ist zwar voll von dieser Vorstellung, im Neuen Testament aber sehe ich da eher kritische Einwände. Was ich allerdings glaube, ist, dass es Orte gibt, die es uns leichter machen, mit Gott in Berührung zu kommen. Ich kann an einer sprudelnden Quelle besser beten als auf einer Baustelle. Ein Gebäude wie diese alte Kirche, die bewusst in Gebet und Hingabe zu Gott gebaut und ausgestaltet wurde, hilft mir besser, mit eben diesem Gott in Berührung zu kommen, als beispielsweise die Betonfassade eines Plattenbaus. Schwierig wird es für mich allerdings dann, wenn man mich vor die Wahl zwischen einer Kirche und einer Quelle stellt. Ich glaube, für mich alleine würde ich die Quelle wählen, um dort zu beten. Vielleicht, weil Kirchen zwar für Gott, Quellen, Berge, Bäume und Seen aber von Gott gemacht sind?