Bettlägerige Geheimnisse - Mirjam Richner - E-Book

Bettlägerige Geheimnisse E-Book

Mirjam Richner

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Beschreibung

In den vier Geschichten dieses Bandes geht es um Schlüsselerlebnisse, die dazu führen, dass die Hauptfiguren ihr Leben neu gestalten und endlich zu ihrem wahren Ich finden. Es geht um die Befreiung von gesellschaftlichen Normierungen und um Fragen, die uns alle beschäftigen: das Leben kurz vor dem Tod, das Menschsein in all seinen Schattierungen, die eigene Identität, innere Spannungen bis hin zum großen Vakuum, die Suche nach dem, was hinter bestimmten Grenzen liegt. Kurz gesagt: Mirjam Richner hat bewegende Geschichten an der Baumgrenze des Seins geschrieben.

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für Elena

INHALT

Verleumdung

Gelb

Die Dame

Bettlägerige Geheimnisse

Verleumdung

oder

Rost in den Augen,

Moos auf den Finken

an der baumgrenze

meines seins

sitze ich

und erkenne:

dem leben

schenke ich

den gedanken

dem tod aber

das gehirn

Die Ziege stand mitten auf der schlammigen Strasse und starrte mich aus verständnislosen Augen an. Ich senkte den Blick. Einige Meter entfernt schrie ein Baby, und wie als Antwort darauf erklang aus einer anderen Richtung ein trockenes, abgehacktes Husten.

Der Hauseingang war dunkel und stickig; der Geruch nach Fäkalien und Erbrochenem raubte mir den Atem. Ich presste meine Tasche an mich und versuchte, keinen der auf der Treppe sitzenden Menschen zu berühren. Auf dem fünften Treppenabsatz sass eine Frau, die mich anstarrte – ich erwiderte ihren Blick und schüttelte kaum merklich den Kopf. Als ich eine Stufe über ihr war, streckte sie blitzschnell die Hand aus und ergriff mein Fussgelenk. Mit einer ruckartigen Bewegung versuchte ich mich zu befreien, doch die Frau liess nicht los. Unangenehm klamm lagen ihre Finger auf meiner Haut. Der Griff einer Todgeweihten; wir wussten es beide. Ohne die Frau anzublicken, bückte ich mich und begann, ihre Finger einzeln von meinem Fussgelenk zu lösen. Sie gab einen Laut von sich, der mir die Tränen in die Augen trieb, und kippte dann – plötzlich kraftlos – zur Seite. Ich hastete die restlichen Stufen bis zu meinem Dachzimmer hinauf.

Mein Zimmer mass fünf mal vier Meter. Das Satteldach verhinderte jegliche effiziente Raumnutzung: Direkt unter dem Dachkamm war es mir möglich, aufrecht zu stehen, doch zu den beiden Seitenwänden hin verringerte sich die Raumhöhe bis auf einen halben Meter. Durch zwei Fenster fiel Licht in den Raum: durch das Dachfenster zu meiner Linken und durch eine kleine, vergitterte Öffnung auf Bodenhöhe zu meiner Rechten. Unter dem Dachfenster lag eine schmutzige Matratze. Manchmal, wenn der Nebel aufriss, konnte ich vor dem Einschlafen die Sterne sehen. An der Rückwand des Zimmers hing ein Spiegel, daneben stand eine hölzerne Truhe mit meinen Habseligkeiten.

Arno sprang auf, als er mich kommen sah. Er lachte, und wie immer schien dabei etwas in mir zu zerbrechen. Ich streichelte ihm über die schmutzige Wange. Zarte, weiche Kinderhaut. Verschwendet.

»Schau!« Er streckte mir zwei Äpfel entgegen. »Vom Markt.«

Ich hasste es, wenn er alleine stehlen ging. Zweifellos war er sehr flink und von einer unglaublichen Geschicklichkeit, doch tief in mir wurzelte der unlogische Gedanke, dass ihm diese Flinkheit abginge, wenn ich mich nicht in Rufweite befände.

Der Apfel in seiner rechten Hand war bereits schrumpelig und angefault, der andere wirkte knackig. Ich wollte nach dem verschrumpelten Apfel greifen, doch Arno zog die Hand rasch zurück.

»Nimm den anderen«, sagte er.

Ich schüttelte den Kopf. Arno zögerte kurz und reichte mir dann mit sichtlicher Erleichterung das angefaulte Obst.

Arno kniete vor der Fensterluke und starrte auf den Hafen hinunter.

»Sie bringen Neue«, flüsterte er. Ich kauerte mich neben ihn.

Eine endlose Kolonne abgemagerter, schmutziger Wesen, schwankend vor Erschöpfung. Ich fragte mich, wo das Menschsein aufhörte und was hinter dieser Grenze lag. Schweigend schauten wir diesen elenden Gestalten zu – jeder ihrer Schritte schien ein Kampf zu sein, schmerzend in seiner Aussichtslosigkeit. Die Gefangenen wurden auf Schiffe getrieben. Bewegten sie sich zu langsam, schlugen die Soldaten mit ihren Gewehrkolben zu. Wer fiel, wurde brutal wieder auf die Füsse gerissen. Oder erschossen, wenn er zu alt oder zu jung war. Manche der Soldaten hatten schöne, noble Gesichter.

»Wir müssen nicht hinschauen«, sagte ich.

»Ich sehe sie auch durch die geschlossenen Lider hindurch«, sagte Arno. Ich hasste Phantasie. Rasch zog ich Arno von der Luke weg und sprach:

»Es reicht nicht, die Augen zu schliessen. Man muss das Gehirn schliessen. Irgendwie.«

Er nickte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Dann zog er ein Fläschchen voller Ameisen aus seiner Hosentasche und trat damit zum Marmeladenglas, um die Kammspinne Lynn zu füttern. Mit ihrem Biss hatte sie meine Grossmutter getötet. Weshalb ich die Spinne weiterhin in meiner Nähe behielt, war mir nicht klar. Vielleicht war es die Hochachtung vor ihrer Fähigkeit, trotz der Schuld weiter zu existieren. Ihre Fähigkeit, so zu tun, als sei das eigene Leben durch den Mord nicht verkümmert.

Ich liebte Arno – und zugleich liebte ich die Momente seiner Abwesenheit. Das Alleinsein in seiner ganzen Pracht. Ich entkleidete mich und stellte mich vor den Spiegel. Meine Füsse waren in Ordnung. Wenn ich mich so hinstellte, dass sich die Fussknöchel berührten, berührten sich auch die Oberschenkelinnenseiten ganz sachte. Die Taille war schmal, die Brüste klein. Auf der leichten Wölbung des Bauches sassen vier Muttermale nahe beisammen: eine Familie dunkelbrauner Punkte; jeder Punkt ein bisschen anders geformt und den andern doch zum Verwechseln ähnlich.

Es gibt verschiedene Arten von Hübschsein. Es gibt zum Beispiel das aufregende, erotische Hübschsein. Oder das kindliche, unschuldige Hübschsein. Oder – und so war ich – das brave, beinahe schon langweilige Hübschsein, ganz dicht vor dem Abrutschen ins Gewöhnliche.

Die Haare waren schön; ein glatter, pechschwarzer Strom bis zu den Ellenbogen.

Manchmal stellte ich mich auch mit dem Rücken zum Spiegel hin und versuchte, so weit wie möglich über die Schulter zu blicken. Über dem Gesäss waren zwei kleine Kerben; ich fragte mich, ob alle Menschen diese beiden Einbuchtungen besassen.

Dieses Betrachten vor dem Spiegel war meine Zelebrierung des Menschseins: So war ich ohne Kleider. Ohne die sichtbare gesellschaftliche Entartung, einfach so. Ein junger Mensch. Ich dachte mir, dass sich das Menschsein zu oft anfühlte wie ein schwerer, mit allerlei Metall und Steinen verzierter Mantel. Man konnte kaum einen Schritt auf einen andern zugehen, ohne unter dem Gewicht des Mantels zu taumeln.

Ich öffnete die Truhe, holte frische Kleider hervor und zog sie an. Die schmutzigen Kleider würde ich später mit denjenigen von Arno im eiskalten Wasser des Flusses hinter den Wohnblöcken waschen. Zuunterst in der Truhe sah ich etwas Rechteckiges liegen, ich griff danach: ein Buch von Tolkien. »Das Silmarillion«. Noch nie zuvor hatte ich dieses Buch gesehen, Arno musste es vor kurzem gestohlen haben. Aber Arno konnte nicht lesen.

»Ich wollte nicht …« Arnos Stimme liess mich herumschnellen. Ich fragte mich, wie lange er schon dagestanden hatte.

»Ich wollte das Buch eigentlich nicht. Was soll ich damit? Aber ich dachte mir, vielleicht könntest du mir daraus …«

»Ich bin froh, dass du es genommen hast«, sagte ich. Ein Kind, das nicht lesen kann und ein Buch stiehlt.

»Warum? Eigentlich hab ich nur zugegriffen, weil es gerade da lag. Aber ich kann alleine nichts damit anfangen.«

»Bücher sind heilig«, sagte ich und setzte mich auf den Boden. Arno zog rasch die Tür zu und setzte sich mir mit unterschlagenen Beinen gegenüber.

»Heilig?«

»Vor dem Krieg hatten wir viele Bücher. Meine Eltern besassen ganze Regale voll davon, auch meine Geschwister und ich.« Es kam mir vor, als lägen Milliarden von Jahren zwischen damals und heute.

»Erzähle mir deine liebste Geschichte«, bat Arno.

Ich dachte an Kafka. Beim Lesen hatte jeder seiner Sätze in mir Ekel und Erheiterung zugleich geboren, ein irrer Tanz des Ambivalenten, das mit langen, gekrümmten Fingernägeln am Hirn zu kratzen gepflegt hatte. Jedes Wort hatte mich angesprungen, sich in meine Augäpfel verkrallt, bis sie geblutet hatten und danach endlich zu einer völlig neuartigen Qualität des Sehens befähigt gewesen waren.

»Wenn ich einen Wunsch frei hätte«, sagte ich zu Arno, »so würde ich mir einen Spaziergang mit Kafka wünschen.«

Arno schwieg.

»Ich würde ihn nicht über seine Texte ausfragen, vielmehr würde ich mit ihm über Alltäglichkeiten sprechen. In der tröstlichen Gewissheit, dass ich nach dem Gespräch mit ihm seine Texte noch weniger verstehen würde. Aber mit einem, der schreibt, darf man nie über seine Texte sprechen. Man macht sie dadurch nur unnötig klein und lesbar.«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte Arno.

Ich erzählte Arno Kafkas Geschichte »Die Verwandlung« aus der Erinnerung. Nur, dass ich Gregor Samsa zuerst einen Käfer und dann einen Menschen sein liess.

»Wie findest du heraus, wie ein Mensch ist?«, fragte Arno. Er bohrte in der Nase und formte den Fang zwischen Zeigefinger und Daumen zu einem kompakten Kügelchen.

»Innerlich«, sagte ich, »ist der Mensch wie ein endloser Strand. Ich weiss nicht, welcher Strandabschnitt seine geistige Einheit am besten repräsentiert. Ich weiss nicht einmal, wie viel Sand ich von ihm nehmen und an meinen eigenen Strand tragen darf. Auch kann ich nicht abschätzen, was mir mit jedem herunterfallenden Korn entgeht. Trotzdem … Immer vergrabe ich wahllos die Hand im Sand eines anderen, balle sie zur Faust und sage mir, der Sand in meiner Faust sei dieser andere Mensch – selbst dann noch, wenn mir alle Körner entronnen sind und meine Hand wieder leer ist. Oder selbst wenn der Sand des andern ununterscheidbar in der Sandwüste meines eigenen Seins liegt.«

Arno streckte sich auf dem nackten Fussboden aus und starrte an die Decke.

»Vielleicht«, sagte er, »vielleicht hat nach der Geburt noch gar niemand seinen eigenen Sand. Vielleicht ist jeder als Kind leer und beginnt dann, diese Leere mit Körnern aus den Sandstränden anderer zu füllen.«

Das Denken als die neuartige Kombination aus bereits Bestehendem. Ich wusste nicht, ob mir dieser Gedanke gefiel. Er implizierte, dass es das vollkommen Neue in Gedanken und im Sein nicht gäbe.

»Ich finde heraus, wie ein Mensch ist«, sagte Arno, »wenn ich ihm einen für mich und ihn wertvollen Gegenstand leihe und diesen Gegenstand wieder unbeschädigt zurückerhalte. So einfach.« Er lachte und strich den Popel an den Hosen ab.

Jemand hatte Arno einige Jahre aus dem Leben herausgeschnitten. Seit bald zwei Jahren versuchte ich die ausgefransten Enden, die dieses Loch umgaben, sorgfältig miteinander zu verknoten.

Ich war achtzehn und Arno zwölf.

»Ich schäme mich«, sagte Arno.

Ich öffnete die Augen. Bis jetzt hatte ich wach gelegen und auf den Schlaf gewartet.

»Ich schäme mich, weil ich im ersten Moment keine Trauer empfand beim Tod meiner Eltern und meiner Schwester. Ich hatte Angst vor dem eigenen Sterben. Die anderen waren mir egal. Ich war ihrer Liebe nicht würdig.« Arnos Stimme klang hohl.

»Sei nicht so melodramatisch«, sagte ich. Ich spürte die Nässe meiner Tränen an der Wange und am Hals. Arno erhob sich von der Matratze und kniete an die Luke.

»In der Nacht könnte man meinen, der Hafen sei geheimnisvoll. In diesem positiven Sinne, weißt du?«

»Was ist dein grösster Wunsch? Abgesehen vom Spaziergang mit Kafka?«, hob Arno nach einer Weile von neuem an.

Ich wünschte mir, in ein Boot steigen zu können und aus eigener Kraft so weit zu rudern, bis ich um mich herum nur noch Wasser sähe. Dann gelänge es mir vielleicht, mich zu entrümpeln und ganz neu einzurichten. Was danach käme, wäre irrelevant.

»Gebratenes Huhn«, sagte ich.

»Schokolade«, sagte er. Die Lüge schmerzte mich. Leben mit Arno war wie das Gehen in Schuhen, die zu eng waren. Aber zugleich zu schön, um nicht getragen zu werden.

»Lass uns an den Hafen hinunter gehen«, schlug ich vor. Manchmal fragte ich mich, wie es wäre, wenn Arno und ich je fünfzehn Jahre älter wären. Die Bedeutsamkeit von Altersunterschieden scheint mit zunehmendem Alter zu schrumpfen.