Betty Church und der Schrecken von Suffolk - M.R.C. Kasasian - E-Book

Betty Church und der Schrecken von Suffolk E-Book

M.R.C. Kasasian

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Vorhang auf für Inspector Betty Church – charmant, resolut und nie ums richtige Wort verlegen England, 1939: Ein grauenvolles Verbrechen erschüttert das verschlafene Küstenstädtchen Sackwater im County Suffolk. Mitten im Bahnhof wird die Leiche eines Mannes entdeckt. Die Todesursache ist so offensichtlich wie furchteinflößend: Im Hals des Toten befinden sich zwei Einstichstellen. Sofort beginnt der ganze Ort zu rätseln, wer der Vampir von Suffolk sein könnte. Nur die Polizistin Betty Church, jung und tough und frisch aus London hierher versetzt, ist sich sicher: Sie hat es mit einem brutalen und äußerst realen Mörder zu tun.

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Seitenzahl: 657

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M. R. C. Kasasian

Betty Church und der Schrecken von Suffolk

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Johannes Sabinski und Alexander Weber

Atlantik

Für Tiggy, meinen Schatz

1Die Einpassung des Zapfens

Ich wollte schon früh Polizistin werden. Das lag nicht etwa in der Familie. Mein Vater war Zahnarzt wie schon sein Vater, mein Großvater mütterlicherseits verlegte Literatur, die seinerzeit als moderne Lyrik galt, und die Frauen in der Familie waren eben – die Frauen.

Es lag auch nicht an der Uniform. Die Leibgarde sah für mich viel sportlicher aus, und wie alle anderen recht hübschen Mädchen war ich in einen Matrosen verliebt. Aber ein junger Polizist trug mich Huckepack über eine geflutete Straße, als ich noch ganz klein war. Er wurde klatschnass bis zu den Knien, was ihm scheinbar nichts ausmachte. Seit dem Augenblick wusste ich, dass ich wie er sein und den Menschen helfen wollte.

Bis ein Lehrer diese Hoffnungen verspottete, war es mir nie in den Sinn gekommen, dass die Natur meinen Ehrgeiz vereitelt hatte. Nirgendwo in Suffolk würden die Polizeikräfte eine Bewerberin auch nur berücksichtigen – schon die bloße Vorstellung war absurd –, doch so leicht ließ ich mich nicht entmutigen. Ich zog nach London und wurde, was selbst dort noch immer eine Absonderlichkeit war – und für manche ein Gräuel: Polizistin.

Ich hatte dann keinen schlechten Start im hauptstädtischen Polizeidienst, bedenkt man, dass ich ein kurvenreicher Zapfen in einem quadratischen Loch war. Man stellte sich Polizeibeamte groß gewachsen vor, was ich war, aber nicht mit langem blondem Haar wie meinem. Ich schloss die Ausbildung mit Auszeichnung ab und wurde in Marylebone stationiert. Es war der Posten meiner Träume, hatte ich doch in meiner Kindheit viele Stunden auf den Knien meiner Patentante March Middleton in der Gower Street 125 zugebracht, um den Abenteuern Tante Ms und ihres Vormunds, des jähzornigen persönlichen Ermittlers Sidney Grice, gebannt zu lauschen. Bald sechzig Jahre lag es zurück, dass sie zu ihm gezogen war, und beinahe so viele, dass sie ihre Berichte über ihre gemeinsamen Ermittlungen zu veröffentlichen begonnen hatte.

Als ich dann den Alkalibrausenmörder Hay dingfest gemacht hatte, wurde mein Name für eine offene Stelle gehandelt und ich zur eigenen Überraschung und Empörung meiner Kollegen zum Sergeant befördert – landesweit erst die neunte Frau, die diesen Rang einnahm. Und damit hätte es gut sein sollen, worauf ich aber törichterweise die Anführer der Papierkettenbande verhaftete – ein großer Fehler, da er von der Presse als großer Erfolg gefeiert wurde, nachdem es fünf Jahre lang Chief Inspector Heartseases Fall gewesen war.

Feinde hatte ich mir nie machen wollen – ich wollte nur eine gute Polizistin sein –, doch als erfolgreiche Frau ist man auf dem besten mir bekannten Weg, sich Feinde zu machen.

Ich war achtunddreißig, als mir mein Missgeschick widerfuhr, was natürlich bedeutete, dass ich auszumustern sei. Erst nachdem ich das Krankenhaus verließ, wurde mir klar, welche Wahl ich hatte: Ich konnte Selbstmitleid haben und nichts tun oder Selbstmitleid haben und den einen Menschen auf der Welt aufsuchen, der vielleicht helfen könnte.

2Die Löwen und der Flintenstock

In ihrem Tagebuch des Jahres 1882 hatte March Middleton die ersten Eindrücke bei ihrer Ankunft in der Gower Street ausführlich festgehalten, und überraschend wenig hatte sich seither verändert. Rechter Hand ragten noch immer die spitzen Backsteintürme des sechseckigen Krankenhauses in den Himmel. Und gegenüber, etwas zurückgesetzt, stand das University College, weiß und mit Säulen bestanden wie ein griechischer Tempel. Die Straße davor war immer noch mit Holz gepflastert, um den Lärm zu dämpfen, obgleich der Verkehr heute größtenteils auf Gummireifen vorübertuckerte, statt auf eisernen Beschlägen daherzuklappern. Dennoch sah man nach wie vor das ein oder andere Pferdefuhrwerk vorbeirollen: Der Milchmann und der Kohlenkutscher hatten keinen Grund, in einen Verbrennungsmotor zu investieren.

Die Leute hingegen kleideten sich heute anders – niemand in Gamaschen oder Zylinder weit und breit, und die Frauen zeigten so viel Bein, dass Sidney Grice bei ihrem Anblick wohl der Schlag getroffen hätte.

Ich kannte die Gower Street in- und auswendig. In meiner Zeit als Konstabler hatte sie, wenn ich in Bloomsbury Streife ging, zu meinem Revier gehört, und an der Ecke Cable Street war mir meine erste Verhaftung gelungen – ein arbeitsloser Böttcher, der seine Frau mit einem Knüppel verdroschen hatte. Er hatte sich schuldig bekannt, doch als der Richter erfuhr, welch loses Mundwerk die Frau besaß, hatte er den Mann zu meiner Bestürzung lediglich wegen Ruhestörung gerügt, die Frau mit gebrochenem Kiefer und Nasenbein jedoch ermahnt, künftig ihre Zunge zu zügeln.

Die Nummer 125 war ein vierstöckiges Gebäude am Ende einer georgianischen Häuserzeile, und als ich vier der sechs Eingangsstufen erklommen hatte, um zu klingeln, sah ich, dass die schweren Vorhänge rechts der schwarzen Haustür zugezogen waren. Einmal hatte ich March Middleton gefragt, wieso sie die geschnitzten Löwenköpfe an den Türpfosten nie erwähnt hatte, und sie meinte, dass diese ihr bei ihrem ersten Besuch ebenso wenig aufgefallen seien, und dass, wenn Sie die Schnitzereien in ihren späteren Berichten plötzlich beschrieben hätte, man ihr gewiss mangelnde Beobachtungsgabe unterstellt hätte – was Mr Grice ohnehin nur allzu gerne tat.

Bei meinem ersten Besuch, nachdem ich endlich den Helm mit dem berühmten Brunswick Star mein Eigen nennen konnte, hatte mich die alte Haushälterin von Mr Grice mit den Worten begrüßt: »Ich soll Gästen ja immer sagen, dass sie sich die Füße abtreten sollen, aber ich schätz’ mal, Ihre sind sauber, also reicht’s wohl, wenn Sie sich die Stiefel abtreten, Konstabler.« Woraufhin sie die Hand vor den Mund geschlagen und dumpf hervorgestoßen hatte: »Ach herrje, Sie sind ja ’ne Frau – aber ich nehm’ an, das wissen Sie selber.«

»Ich bin’s doch, Molly.«

»Jeder is’ ich für sich selbst«, sinnierte sie, »außer ich für mich. Ich bin einfach Molly.«

Diesmal wartete ich gut zwei Minuten und wollte gerade erneut an dem runden Messingring ziehen, als ich hörte, wie drei Riegel zurückgeschoben wurden. Eine Frau öffnete mir die Tür. Sie war etwa in meinem Alter und trug ein schlichtes schwarzes Kleid mit blütenweißer frisch gestärkter Schürze.

»Na, dann treten Sie doch ein«, stöhnte sie resigniert, als hätte ich bereits die ganze Woche an der Tür gescharrt. »Ich kenne Sie von Ihrer Fotografie. Ich bin Jenny.« Sie führte mich hinein, schloss die Tür und nahm meinen Mantel.

»Hallo, Jenny.« Ich behielt für mich, was Mr G von Hausangestellten hielt, die sich selbst vorstellten. Diese Art der Vertraulichkeit hätte ihn gewiss zur Weißglut gebracht.

Jenny war groß. Ich selbst liege schon weit über dem Durchschnitt, und sie überragte mich noch um einige Zentimeter; doch hatte ich das Gefühl, dass sie schwindelte. Allein ihr langer Hals verschaffte ihr einen unlauteren Vorteil. Er wand sich aus ihrem Kragen hervor wie der Rumpf einer Boa constrictor.

»Ich hatte erwartet, Sie in Uniform zu sehen.« In der Art, wie sie das sagte, dünnlippig und mit emporgereckter Nase, lag etwas Missbilligendes, und es hätte mich kaum verwundert, eine gespaltene Zunge hervorschnellen zu sehen.

Jenny hängte meinen Mantel neben den des großen persönlichen Ermittlers, dessen alter Ulster nach wie vor am hinteren Haken baumelte, direkt neben dem Ständer mit seinen berühmten Gehstöcken. Sidney Grice war nach einer Fehlzündung seines Flintenstocks einmal zeitweise erblindet, und seinen Dornenstock hatte er eines Nachmittags in Kew einem Adligen in den Fuß gerammt. Ich hatte mich oft gefragt, welcher davon wohl sein Säbelstock war, und welcher der mit der Spieluhr, der verwirrende Melodien von sich gab, denn für mich sahen sie alle gleich aus. Aber nachdem ich mit seinem Flammenstock einmal fast das Haus in Brand gesteckt hätte, war mir verboten worden, sie je wieder zu berühren, und es wäre mir falsch vorgekommen, es jetzt zu tun. Ich legte meinen Hut auf den Tisch neben die sieben wie im Schaufenster eines Hutmachers aufgereihten Exemplare meiner Patentante.

»Ich bin außer Dienst.« Ihr würde ich gewiss nicht auf die Nase binden, dass ich womöglich nie wieder im Dienst sein würde.

»Oh.« Und da ihr diese Erklärung nicht zu genügen schien, rollte ich meinen Ärmel hoch. Das Hausmädchen wand ihren Schlangenhals hinab, um die Entdeckung zu begutachten, wich aber, da sie nichts fand, das sich zu verschlingen lohnte, schweren Herzens wieder zurück.

»Wie haben Sie das denn angestellt?«

»Ich habe überhaupt nichts angestellt. Ist Miss Middlet…«

»Hier hindurch«, fiel Jenny mir nickend ins Wort, obwohl dies gar nicht meine Frage gewesen wäre.

Hier hindurch war ein nahezu geheiligter Ort in den Annalen der Kriminologie – Sidney Grice’ legendäres Studier- und Besprechungszimmer. Jenny öffnete die Tür, und ich trat vorsichtig ein.

Es war recht düster in dem Raum, der wie ehedem mit Gas beleuchtet war, und die Glühstrümpfe so niedrig gedreht, dass meine Augen eine Weile brauchten, um sich gut genug an die Dunkelheit zu gewöhnen, dass ich die Umrisse meiner Patentante ausmachen konnte.

»Hallo, Betty«, begrüßte mich March Middleton aus ihrem Sessel links neben einem flackernden Kaminfeuer.

3Das Phantom und die Wölfe

Meine Patentante hatte die Füße auf einem Kissen und niedrigen rechteckigen Tisch liegen und wollte sie herunternehmen, als sie mich eintreten sah.

»Steh doch bitte nicht auf, Tantchen.« Ich ging hinüber, um sie zu küssen, und war bestürzt, wie gebrechlich sie geworden war. Meine Patentante war schon immer klein und zierlich gewesen, doch heute im trüben Lichtschein sah sie winzig aus, und als ihre Hände meine ergriffen, waren sie knochig und zittrig.

Tante M setzte die Füße auf den von Brandlöchern gesprenkelten Perserteppich. »Dreh das Licht auf, Schatz. Lass mich dich ansehen.«

Ich fummelte an den Gashähnen und wünschte, sie ließe sich Strom legen. Diese Lampen gaben bloß schwaches Licht ab – kaum genug zum Lesen – und Dämpfe, die beinahe umgehend meine Kehle und Augen reizten. Mr G hatte es für gefährlich gehalten, Elektronen in sein Haus einzuspeisen, doch schien mir seine Patentochter diese Auffassung nicht zu teilen.

»Wunderschön siehst du aus«, sagte March Middleton, »so groß und anmutig, und dieses Haar – tausend Guineen würde ich für deinen Goldschopf geben und immer noch ein gutes Geschäft machen. Zeig mal deinen Arm.«

Ich krempelte meinen Ärmel auf, damit sie mit Kennerblick den Stumpf an meinem rechten Unterarm begutachten konnte. »Verheilt ziemlich langsam. Tut er noch weh?«

»Wenn er nicht juckt.«

»Und du hast ein Phantomglied«, sagte sie mitfühlend.

»Wie kannst du das wissen?«

»Du hast es beim Vorbeugen ausgestreckt, um dich an der Sessellehne abzustützen, ehe du dir darüber im Klaren wurdest.«

»Manchmal versuche ich immer noch, mit meiner Hand etwas aufzuheben«, gab ich zu.

»Natürlich war es eine viel kleinere Verletzung, aber mir hat ein Hypnotiseur geholfen, als ich meinen Zeh einbüßte.« March Middleton lachte leise. »Was sind wir doch für eine Sippe, du und ich und dazu Mr G ohne sein Auge.«

»Ist der Hypnotiseur noch tätig?«, fragte ich.

»Aber nein, Liebes.« Tante Ms Auge zwinkerte. »Er hat mich behandelt, als ich ihn in der Todeszelle besuchen kam.«

»Der letzte Mann, den ich im Gefängnis besucht habe, wollte mich erwürgen«, erzählte ich ihr. »Was ihm auch fast gelang.« Ich legte die Hand an meine Gurgel. »Aber wie geht es dir?« Zu Lebzeiten ihres Vormunds blieb der Sessel, in dem sie saß, ausschließlich ihm vorbehalten, doch nach seinem Tod übernahm sie das Möbelstück, statt – wie sie es begründet hatte – Fremde darin sitzen zu lassen. Ich muss eines der wenigen Kinder gewesen sein, die den Schoß des großes Mannes jemals erklommen hatten, und so gut wie sicher das einzige mit genug Frechheit, ihn Onkel G zu nennen. Ich nahm einen Stuhl vom runden Tisch, um mich zu ihr zu setzen.

»Mir geht’s gut.« March winkte meine Besorgnis ab. »Alle machen sie Gewese um mich und sollten es von mir aus bleiben lassen.«

Hoffentlich machen die Leute Gewese um mich, wenn ich auf die Achtzig zugehe, dachte ich, sagte aber: »Du siehst nicht gerade gesund aus. Warst du schon beim Arzt?«

»Der werte Dr. Picaday kommt täglich.« March hustete aus der Brust heraus. »Er versucht, meine Zigaretten zu konfiszieren. Er trägt sogar Jenny auf, meinen Gin wegzuschütten, aber ich kenne zu viele grausige Arten, Leute zu ermorden, als dass sie diese Anweisung befolgen würde.«

Ich lachte. »Solltest du nicht das Bett hüten?«

»Hab ich auch gedacht, bis Picaday es anordnete.«

March Middleton war noch nie eine gehorsame Befehlsempfängerin gewesen und hätte wohl andernfalls auch nicht so lange in einer Welt überlebt, die noch mehr für Männer gemacht war als jede mir bekannte.

»Vielleicht kannst du dich ja nachher etwas ausruhen.« Ich legte eine Hand auf ihren schmächtigen Arm.

»Vielleicht.« Meine Patentante runzelte die Stirn. »Ich bin nicht mehr ganz auf dem Laufenden, aber es fehlt nur wenig. Inspektor Franklin kommt noch beinahe jede Woche zu Besuch. Du hast eine schwierige Zeit durchgemacht, Betty.«

»Nicht nur eine«, räumte ich säuerlich ein.

March Middleton hob den Kopf, und die Anstrengung schien sie zu ermüden, doch jene braunen Augen waren flink und scharfsichtig wie eh.

»Du hast dich aber nicht an mich gewandt.«

»Ich wollte dich nicht beunruhigen«, setzte ich zögerlich an, sah meine Patentante so alt und kränklich und dachte, dass es auch nicht anständig wäre, es jetzt zu tun.

March Middleton hüstelte leise, beinahe als würde es ihr behagen. »Ich saß in diesem Zimmer in der Falle mit dem erblindeten Mr G und dieser Kreatur, die darauf aus war, uns alle abzuschlachten, als …« Meine Patentante biss sich auf die Lippe und hustete erneut.

»Sag’s bitte nicht«, flüsterte ich, denn – wenn sie es auch nicht fertigbrachte, eine Schilderung jenes schrecklichen Tags am Grosvenor Square zu veröffentlichen – ich hatte sämtliche Polizeiberichte über die Ereignisse gelesen.

»Glaubst du, was immer du mir zu erzählen hast, könnte mich stärker beunruhigen als das?«

»Natürlich nicht.« Ich senkte den Kopf. »Aber ich will dir keine zusätzlichen Sorgen machen.«

»Schau mich an.« Für eine so kleine Frau strahlte March Middleton große Bestimmtheit aus. Ich gehorchte, und sie nickte. »Erzähl schon«, sagte sie, eben als das Dienstmädchen den Tee hereintrug.

Ich nahm das Kissen fort, damit Jenny das Tablett auf den Tisch stellen konnte, ehe sie daran vorbeischlüpfte, um das Feuer zu schüren und eine ordentliche Schaufel Kohlen nachzulegen.

»Hast du denn nicht gehört, dass es Krieg geben könnte?« March Middleton murrte über ihren verschwenderischen Umgang mit dem Brennstoff.

»Hab ich wohl, Miss«, fauchte Jenny. »Hab auch gehört, dass man sich in der Kälte den Tod holt.«

»Mir ist so schon warm genug«, widersprach ihre Arbeitgeberin. »Am ehesten noch zu heiß.«

»Kann kaum sein.« March Middleton hüllte sich noch immer nach alter viktorianischer Sitte – nur Turnüren trug sie längst keine mehr – in ein Kleid von zugegeben leuchtendem Rosa, das jedoch bis unter ihre Fußknöchel reichte, deren flüchtiger Anblick die Männer ihrer Generation empört oder erregt hätte. Ich besann mich darauf, dass sie in den wilden Zwanzigern sechzig gewesen wäre – ein wenig zu alt für einen modischen Flapper.

»Stimmt das?« Das Dienstmädchen durchbohrte mich mit einem derart argwöhnischen Blick, dass ich mich bald fragte, ob sie mich am Ende noch zu verschlingen erwog.

»Dir ist doch recht kühl«, meinte ich zu meiner Patentante.

»Die Jugend ist nie zufrieden, ehe sie nicht dampft«, konterte sie ohne echte Kratzbürstigkeit. Ihr Blick fiel prüfend herüber. »Es gibt kein Gebäck, nicht mal Plätzchen. Sogar du kannst kaum die ganze Kiste verputzt haben, die mir der Herzog gestern geschickt hat.«

»Ärztliche Anweisung.« Jenny schlüpfte wieder zurück um den Tisch.

»Zahlt Dr. Picaday deinen Lohn?«, erkundigte sich Tante M gereizt.

»Nein.« Jenny richtete sich schlangengleich auf. »Aber werden Sie zu Ihrer Leichenschau kommen und klarstellen, dass ich von Ihnen gezwungen wurde, Sie an Unterkühlung sterben zu lassen oder an lauter ungesundem Essen?«

»Womöglich nicht.« Meine Patentante hustete, und Jenny schlängelte sich von dannen, um die Tür sehr leise zu schließen, als fürchtete sie, uns aufzuwecken. »Mr G meinte ja, ich sei zu weichherzig. Der hätte sie auf der Stelle entlassen.«

»Bin mir nicht sicher, ob sie gehen würde, selbst wenn du’s tätest.«

Tante M schmunzelte.

»Sie macht mir Angst«, gestand ich.

»Und all den Reportern und Sensationshungrigen, die mir aufs Haus rücken.« Tante M spielte mit dem Ring an ihrem Finger. »Das ist ihr größter Vorzug.«

Ich rührte den Tee um. »Dich schreckt sie gar nicht?«

Ich wartete darauf, irrsinnige Geschichten von Mördern zu hören, denen sie in den dunklen Gassen des East End entgegengetreten war, doch March Middleton lachte. »Ein bisschen.«

»Soll ich einschenken?«

»Tu das, aber wag es nicht, mir den Zucker verbieten zu wollen.« Meine Patentante sah mir bei einer Verrichtung zu, die sie – wenn auch zweifellos sachkundiger – am selben Tisch viele Tausend Male vollzogen haben musste. »Also.« Sie hob ihre Tasse und Untertasse mit ruhigerer Hand, als ich erwartet hatte. »Dann erzähl mal.«

Ich holte Luft. »Ich weiß, es klingt verrückt.«

Die Oberfläche ihres Tees erzitterte in konzentrischen Ringen, und meine Patentante sah mich scharf an. »Häufig tun das die besten Ideen.«

»Aber ich will dableiben – bei der Polizei, meine ich, aber …«

»Nur weiter.«

»Keinen Schreibtischposten.«

March Middleton berührte ihr Haar. Es war jetzt grau, aber immer noch kräftig und säuberlich zurückgebunden. »Das hab ich von dir zu hören gehofft.«

»Sie wollen nicht auf mich hören. Kannst du da irgendwas machen?«

»Vielleicht.« Meine Patentante rieb ihren Daumen und zwei Finger aneineinander, als drehte sie sich eine Zigarette.

Die Türklingel schellte, und ich hörte Schritte auf dem Flur.

»Jenny muss gelauscht haben«, bemerkte Tante M und erläuterte dann angesichts meiner Verwunderung: »Ich habe ihr Kleid das Geländer streifen hören, und dann trat sie erst zu laut auf, als sie zurückkam und es wieder streifte.«

»Wir könnten dich bei der Polizei gut gebrauchen«, sagte ich, doch meine Patentante zuckte die Achseln.

»Ist bloß ein kleiner Kniff, den mir Mr G beigebracht hat«, sie lächelte schwach, »durch jahrelange Grausamkeit.«

Ich hörte, wie sich die Haustür öffnete und wieder zufiel, dazwischen leise Stimmen. Fünf Schritte mehr, ehe Jenny neuerlich erschien. »Dr. Picaday«, vermeldete sie.

March Middleton verzog die Miene. »Hoffentlich wird er nicht wieder versuchen, mir etwas einzuspritzen. Seine Nadeln sind wie stumpfe Zimmermannsnägel, und ich bekomme heutzutage doch so schnell blaue Flecke.«

»Ich muss los.« Ich stellte meinen Stuhl zurück an seinen Platz. »Ich ermüde dich.«

»Schon zu leben ermüdet mich jetzt«, gab Tante M zu. »Aber du, Betty Church, bist ein Elixier.«

»Danke, Jenny«, sagte ich. »Ich komme gleich nach draußen.«

Als wir dann allein waren, sagte meine Patentante: »Lass mich mal machen, Schatz. Es gibt immer noch einflussreiche Männer, die Grund haben, mir dankbar zu sein oder mein Wissen zu fürchten, und wozu Fäden in der Hand halten, wenn man nicht gelegentlich daran zieht?«

Ich gab ihr einen Abschiedskuss.

»Sei stark«, mahnte sie mich und umarmte mich so fest, dass ich beinahe in ihrem Schoß landete. »Und sei mutig. Da draußen gibt es Wölfe, aber selbst Wölfe fürchten das Feuer.«

Ich küsste sie noch einmal, diese kleine Frau, die gar nicht mehr so klein wirkte.

*

Ein schwabbeliger Mann mit kurzen Beinen, die auf Höhe seiner Knie unter seinen Wülsten hervorschauten, stand im Flur neben den Kleiderhaken, eine schwarze Ledermappe in der kleinen rosigen Hand.

»March Middleton ist sehr müde«, meinte ich zu ihm.

»Sie ist alt«, teilte er mir durch schlaffe Lippen mit, die mich an eine Speisemuschel erinnerten. »Das ist unheilbar.«

Ich konnte mich hüten, außer durch den Tod anzuhängen, als ich das, was ich an Armen hatte, in meinen blauen Gabardinemantel schob. Der Arzt hatte eine herablassende Art, die mir missfiel.

»Schon großartig, was einem im Medizinstudium beigebracht wird.« Ich nahm meinen Hut vom langen Garderobentisch und versuchte, mich selbst hinauszulassen, doch Jenny hatte sich vor mir an die Tür geschlängelt und sie geöffnet, noch ehe ich meinen Hut links leicht angeschrägt aufsetzen konnte, wie es in jenem schwülen, bangen Sommer 1939 Mode war.

4Vergifteter Kuchen und der öffentliche Feind

Ich erhielt einen Brief von March Middleton. Sie schrieb, sie habe Sir Samuel Hoare, den Innenminister, um eine Unterredung gebeten, und wie es schien, eilte dieser kleinen Frau, die einst als mittellose Waise aus Lancashire nach London gekommen war, ein so eindrücklicher Ruf voraus, dass er ihr einen Besuch abgestattet hatte. Hoare versprach nichts – dazu war er ein zu gewiefter Politiker –, würde meinen Fall aber an Commander Jack Bond weiterreichen, mit der ausdrücklichen Anweisung, mir eine faire Anhörung zu gewähren.

»Du musst ihm ordentlich zusetzen, mit allen erlaubten Mitteln, ein paar unerlaubten obendrein«, gab March Middleton mir mit auf den Weg. Und das tat ich auch. Während Bond mich über ein Schreibpult von der Größe eines Billardtisches hinweg anfunkelte, erwähnte ich ganz nebenbei, wie gern ein gewisser Journalist doch eine Geschichte darüber schreiben würde, dass man mich wegen einer Verletzung suspendiert hätte, die ich in Ausübung meines Dienstes erlitten hatte.

»Wollen Sie mich erpressen, Churrch?« Er hatte einen eigenartigen Akzent, upper-class mit einer Prise Schottland.

»Oh nein, Sir.« Ich mimte einen Ausdruck rechtschaffener Empörung, doch im Schauspielern war ich nie gut gewesen. »Wenn ich Sie erpressen wollte, würde ich drohen, der Presse zu stecken, dass Sie mich von dem Fall mit den vergifteten Rosinen abgezogen haben, kurz bevor ich Sally Spinster verhaften konnte. Wie viele Menschen sind noch mal bei dieser Hochzeit gestorben?«

Bond stierte mich eisig an und schien nicht einmal bemerkt zu haben, dass er den Bleistift in seiner Hand entzweigebrochen hatte.

»Sie stammen aus East Angliarr.«

»Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht.«

»Wusst’ ich doch, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt.« Verwundert beäugte er seinen Bleistift und sah mich vorwurfsvoll an.

»Slackwater, wenn ich mich nicht irre?«

»Sackwater.«

Commander Bond feuerte den Bleistift scheppernd in den Papierkorb, wobei eine Hälfte vom Rand abprallte und auf dem marmornen Boden seines hochherrschaftlichen Kamins landete. Dann zückte er seinen Federhalter. »In Suffolk heulen sie seit Jahren herum, wie unterbesetzt sie doch seien – fordern andauernd Unterstützung von Scotland Yarrd an.«

Er kritzelte etwas Unleserliches auf einen leeren Briefbogen mit offiziellem Briefkopf.

»Da gibt es nur ein winziges Problem, Sir«, ließ ich ihn wissen. »Die Polizei von East Suffolk nimmt keine Frauen.« Und ich war reichlich froh drum.

In gewisser Weise glich Sackwater dem Hochsicherheitsgefängnis von Wormwood Scrubs – es war ein Ort, von dem man rasch zu fliehen versuchte und den Rest seines Lebens hoffte, nie mehr dorthin zurückzumüssen.

»Ach, keine Sorge, heutzutage nehmen die da den letzten Drrreck.«

Bond unterschrieb das Blatt und löschte es ab. »Wer weiß? Vielleicht hat es ja sogar was Gutes. Die können durrchaus jemanden gebrauchen, der den Laden ein wenig aufmischt, ihnen zeigt, an welchem Ende des Strrohhalms sie saugen müssen.«

Die Frage würde ich ihm schwerlich beantworten können, doch ich hatte mein Pulver noch nicht ganz verschossen. Ich legte an und drückte ab. »Aber dazu bräuchte es gewiss jemand Hochrangigeren als einen Sergeant, oder?«

»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen«, versicherte mir der Commander aalglatt, wenngleich sonnenklar war, dass er diesen Trumpf gern auf der Hand behalten hätte. »Ihnen winkt eine Beförrderung, Churrch« – die Stimme schneidend wie eine Rasierklinge –, »wenn Sie gehen, ohne Ärrrger zu machen.« Der Commander legte mehr Gefühl in diese letzten sieben Wörter, als James Cagney es in dreiundachtzig Minuten als öffentlicher Feind vermocht hatte.

»Beförderung.« Ich ließ mir das Wort auf der Zunge zergehen, und der Klang fing an, mir zu gefallen. Im ganzen Großraum London gab es gerade einmal drei Frauen vom Rang eines Inspektors, und eine davon, so hieß es, müsse bald kündigen, um zu heiraten. Außerdem wäre es immer noch besser, ein fetter Fisch in einem stillen Teich zu sein, als ein toter im Haifischbecken unserer Hauptstadt.

Es gab wenig zu überlegen, also tat ich es auch nicht. Ich räusperte mich. »Wann soll ich abreisen?«

Commander Bond löschte seinen Brief ab. »Oh, nur keine Eile.« Dann faltete er ihn zusammen. »Beenden Sie rrruhig noch Ihrrre Schicht.« Er kritzelte eine Adresse auf den Umschlag und hob den Blick. »Auf Wiedersehen.« Ich stand auf. »Sagen Sie doch, nur so aus Neugier«, fragte er, als ich meinem Stuhl zurückschob, »sind Sie Rechts- oder Linkshänderin?«

Ich fixierte ihn, dann schaute ich hinab auf meinen leeren Ärmel. »Sehe ich etwa aus, als hätte ich eine Wahl?«

Ohne den Blick von mir zu nehmen, ließ er den Brief in den Umschlag gleiten. »Sehe ich etwa aus, als würde mich das einen feuchten Drrreck scheren?« Dann schüttelte er die Finger, um mir zu zeigen, dass er noch immer zehn davon besaß – und, um mich damit kurzerhand aus seinem Büro zu jagen.

Ich trat ins Vorzimmer.

»Er ist reizend, nicht wahr?« Mary, Bonds Sekretärin, schwang den Zeilenhebel ihrer Schreibmaschine zur Seite.

»Könnten Sie mir einen Gefallen tun?«, fragte ich und fügte, noch bevor sie ablehnen konnte, hastig hinzu: »Sein Löschpapier müsste gewechselt werden. Meinen Sie, Sie könnten das jetzt erledigen?«

Mary ließ sich meine Bitte durch den Kopf gehen und lächelte – ich hatte sie nicht einmal daran erinnern müssen, wer ihrem Freund einst eine Anklage wegen Bagatelldiebstahls erspart hatte –, doch dann legte sie einen Finger an die Lippen und flüsterte: »Die Tür ist nicht ganz zu – kaputter Riegel.«

Ich drückte die Klinke herunter, um sie ganz vorsichtig etwas weiter zu öffnen – dann rammte ich sie knallend zu.

»Oh.« Mary zuckte zusammen. Zwei Tasten auf ihrer Schreibmaschine hatten sich verklemmt. »Sie haben mich erschreckt.«

»Ich hoffe, ihm ging es ebenso.«

Mary aber grinste nur. »Es braucht schon ein wenig mehr, um Commander Bond aus der Ruhe zu bringen.«

*

Ich erhielt weder ein Abschiedsgeschenk wie Konstabler Graves noch einen Abschiedsumtrunk, den sonst jeder bekam, doch Sergeant Dover ließ sich nie eine Gelegenheit entgehen, eine seiner Reden zu halten.

»Ich möchte Sie gern wissen lassen, Church – und ich glaub’ ausnehmungslos für alle hier Zugegenseienden zu sprechen –, dass wir Sie nie wirklich gehasst haben«, er stockte, während er nach dem richtigen Wort suchte, »nicht persönlich jedenfalls. Im Grunde«, er gewann an Fahrt wie ein klappriger Karren, der eine Anhöhe überwunden hatte, »hätten Sie echt ’nen feinen Kerl abgegeben, wenn Sie nun mal keine Lady gewesen wären.«

Der Chor der Versammelten pflichtete ihm brummend bei.

»Ich habe mich nach Kräften bemüht«, versicherte ich ihm, »es nicht zu sein.«

5Tee, Tennis und Zyankali, vergessene und erinnerte Namen

So kehrte ich also zurück. Viel hatte sich nicht verändert, aber das tat es an dem langsamen Tod nie, der in Sackwater als Leben durchging. Der alte Mr Bell war noch immer links in der Gepäckaufgabe, als ich meine Koffer unterstellte. Er war der alte Mr Bell gewesen, als er mich dort drin als Kind aushelfen ließ. »Auf und davon biste und hast den ganze Trubel verpasst, nich’ wahr.« Er reichte mir einen Abholschein. »Mrs Freeman ihr Hund is’ los, den Kater von Mrs Darwin anfallen hatter und musste genäht werden, der Hund, mein ich.«

Das war alles? Das war der ganze Trubel? Das war, was ich verpasst hatte?

»Menschenskind«, hauchte ich. »Reichen Sie doch mal das Riechsalz.«

Der alte Mr Bell stöberte in einem Sortierfach. »Augenblick.« Dann gab er mir ein Fläschchen.

*

Ich hatte noch Zeit und schlenderte umher. Wenigstens hatte die Sonne das Scheinen nicht verlernt. Die High Road East fiel immer noch zum Meer hin ab. Green and Green’s bot immer noch Badeanzüge, Angelruten und Postkarten an, auf denen die Nordsee wie das Mittelmeer im August aussah. Der Souvenirhändler hielt immer noch in Stoke hergestellte bemalte Aschenbecher, Südseemuscheln und australische Korallen vorrätig – lauter dazu nötige Dinge, einen an die Ferien an der Küste von Suffolk zu erinnern. Mrs Grundys Süßwarenladen verkaufte immer noch nichts anderes als weiße Stangen mit Pfefferminzgeschmack und roter, von Buchstaben durchzogener Glasur, in die das erste A so schlecht eingeprägt war, dass sich der Schriftzug wie »Sickwater« las. Die Scherze in Joes Scherzartikelgeschäft waren immer noch verstaubt und immer noch nicht lustiger, und Howlands Café war immer noch Geöffnet, wenn es Geschlossen war – wie nahezu ständig.

Doch nun sahen alle diese Schaufenster aus wie in falschem Tudorstil, waren kreuz und quer mit schwarzen Papierstreifen beklebt, um Scherben hoffentlich daran zu hindern, nach innen zu splittern. Draußen vor der Stadtverwaltung stapelten sich Sandsäcke wie beim Hochwasser von 1912, diesmal aber gegen eine andere Form von Sintflut. Das alles für einen Krieg, von dem uns Mr Chamberlain weiterhin erzählte, er werde nicht stattfinden.

Ich schaute kurz bei Sammys Süßwaren rein. Das Geschäft gab es schon seit meiner Kindheit, und ich hatte mir manche Stunde die Nase an der Fensterscheibe platt gedrückt und die Vorzüge von Dropsmischung oder Minzbonschen erwogen, ehe ich meine Sixpence Taschengeld anbrach.

Sammy Sterne stand immer noch hinter der Theke in seiner braunen Schürze, klein und glatzköpfig bis auf ein paar schüttere Haarbüschel, die zuoberst schwebten. Hinter ihm reihten sich große Glaskrüge mit Schraubdeckel in den Regalen, die gesiedeten Zucker in jeder erdenklichen Form, Farbe und Geschmacksrichtung enthielten – genug davon, um meinen Vater sein Lebtag lang in Arbeit zu halten.

»Betty«, begrüßte Sammy mich. Zwar war ich eher zum Hallosagen eingetreten als zum Erwerb von Erzeugnissen, doch sein einladendes Grinsen schwand auf der Stelle. »Es tut mir so leid, ich sollte Sie wohl Sergeant nennen.« Sein Akzent war so stark wie an jenem Tag, als er von der Fähre aus Hamburg gestiegen war.

»Genau gesagt heißt es jetzt Inspektor«, teilte ich ihm mit, »aber unter uns bin ich immer noch Betty.«

Das breite Lächeln kehrte zurück. »Bist du auf Urlaub hier?«

»Ich bin jetzt hier stationiert«, erläuterte ich, und Sammy schüttelte die Finger und pustete darauf, als hätte er sie sich verbrannt.

»Das wird sie mal ein wenig wachrütteln«, gluckste er und wog bereits ein Viertelpfund Aniskugeln ab, um sie aus der Waagschale in einen weißen Papierkegel zu schütten. Ich holte mein Portemonnaie hervor, doch er wies meine Münzen zurück. »Ein Willkommensgeschenk.« Er drehte das Ende zusammen und reichte das kleine Päckchen herüber.

*

Noch flatterten die Fahnen hoffnungsvoll an ihren Masten vor dem Grand Hotel – so viele Nationen, von denen so wenige je Besucher beigesteuert hatten –, doch die deutsche Reichsflagge mit Hakenkreuz war schon entfernt worden.

Für ein noch im Frieden befindliches Land liefen viele Militärangehörige herum, vorwiegend Mannschaften vom Fliegerhorst Hadling Heath in ihrem schicken Graublau – ein großer Schritt hinaus über die Scharen von Fischern, die nach Makrelen rochen. Vereinzelt mischten sich auch Handelsmatrosen darunter, da Anglethorpe nördlich der Flussmündung einen kleinen betonierten Hafen hatte, wenngleich Gerüchte besagten, dass die Marine die Zufahrt mit Minen blockieren werde. Trauben aus Männern in Olivgrün wurden von der schwindenden Hoffnung angetrieben, einen Ausschank außerhalb der Öffnungszeiten zu finden, zumal seit dem Wiedererstarken der SLAG – ursprünglich die schnapsabstinente Suffolk League Against Gin, jetzt jedoch weniger wählerisch darin, was sie verdammte.

Es ermutigte mich sehr, die ersten WAAF-Luftwaffenhelferinnen die Straße emporkommen zu sehen. Vielleicht würde ja der Anblick einer uniformierten Frau – anders als von der Heilsarmee, die nicht wirklich zählte – bald keine so große Kuriosität mehr sein.

Die Reihenhausgärten fielen wie seit jeher zur Promenade hin ab, und eine salzige Brise wehte, wie sie es schon vor der Ankunft der Menschheit getan haben musste. Die Wellen hatten nicht aufgehört, sich zu dehnen und zusammenzuziehen in ihrer sinnlosen Mühe, den Kies an sich zu raffen und mitzuzerren und wieder zurück an seinen Platz zu werfen wie jener Grieche, der die Götter ärgerte, wie immer er auch hieß. Der Sand war zum Großteil 1929 von einer Sturmflut fortgespült und beim Rivalen Anglethorpe abgelagert worden, und keiner der vielen Stürme seither hatte die Freundlichkeit besessen, ihn zurückzubringen.

Ein Lieferjunge flitzte vorbei, der Korb vorn an seinem Fahrrad übervoll mit Paketen aus braunem, mit weißer Schnur zusammengebundenem Papier.

Der ausgebrannte Pavillon auf der Seebrücke stand noch, ihr breiter Steg war jedoch kaum die Hälfte seines einstigen Selbst, nachdem ihn im selben wunderbaren Jahr der Blitz getroffen hatte. Alle stimmten darin überein, welch große Schande das war, doch keiner stimmte zu, für seinen Wiederaufbau zu zahlen. Jetzt war davon die Rede, das Ganze abzureißen für den Fall, dass Hitler eine Fahrt mit der Schmalspurbahn machen wollte.

Ich aß im Lyons’ Tea House in Mafeking Gardens zu Mittag. An den kleinen runden Tischen mit ihren gestärkten weißen Leintüchern hatte sich nichts geändert. Die uralten Kellnerinnen schwebten noch immer humpelnd durch den Raum, nun aber so zitterig, dass ich sie beinahe meinerseits bedienen wollte. Liebevoll wurden sie »Flitzchen« genannt, aber es war schon lange her, seit sie irgendetwas Flitzenähnliches getan hatten. Das Radio in der Küche spielte »Keep Smiling« mit Reginald Foort an der Wurlitzer-Orgel.

Ich hatte Kabeljau mit Fritten – was sonst an der Küste? – und ging dann wieder hügelaufwärts den langen Weg über die Tennyson Road.

Ein junger Mann in einem hellen Anzug, der vor fünf Jahren in London als schnittig gegolten haben mochte, hielt einem Mädchen eine Strafpredigt, während ich mich näherte. Es ging mich nichts an, daher hörte ich hin.

»Dämliche Kuh«, zischte er sie unter seinem breitkrempigen Filzhut an. »Was zum Teufel fährt in dich, dass du so was tun willst?«

»Ich hab’s nicht allein getan«, begehrte sie auf. Offenbar hatte sie geweint.

Sie war eine kleine Rotblonde in einem hübschen geblümten Rock, der mein nüchterneres hellbraunes Kleid eindeutig altbacken aussehen ließ.

Der Mann stieß sie mit einer Hand um ihre Gurgel gegen die Mauer. »Mach’s einfach weg.«

»Ich kann nicht.« Sie rang nach Atem. »Ich will nicht.«

Sein Gesicht hatte etwas Rattiges an sich, lief spitz zu mit langen Schneidezähnen über einem fliehenden Kinn, aber sie hatte vermutlich etwas an ihm gefunden – womöglich seinen leichtherzigen Charme.

»Mach das.« Beinahe löste er ihre Füße in den neuen zweifarbig blauen Schuhen vom Boden, und ganz schnell ging es mich etwas an. »Warum landen meine Schlampen allesamt in diesem Klub?«

Das Mädchen fing an zu würgen.

»Alle?«, brachte sie heraus, doch ihre Gesichtsfarbe gefiel mir gar nicht.

Ich eilte hinüber. »Bitte lassen Sie sie los, Sir.«

»Verpiss dich.« Er nahm die Augen nicht von dem Mädchen, und ich sah ihren Hals unter dem Druck weiß werden. Er hatte einen Siegelring mit schwarzem Totenkopf am linken kleinen Finger. Ich griff nach diesem Finger und bog ihn gewaltsam zurück.

»Was zum Henker?« Er ließ los, und das Mädchen schnappte nach Luft.

»Sie können mich angreifen, wenn ich loslasse.« Ich bog den Finger noch etwas weiter zurück, und der Mann knickte unter Stöhnen ein. »Aber wenn Sie das tun, wird der Schmerz, den Sie jetzt erleiden, nichts sein verglichen mit dem, den ich zuzufügen imstande bin.« Ich war mir unsicher, ob das stimmte. Er war schmächtig und ich die Größere von uns beiden. Doch ich wusste aus Erfahrung, dass kleine Männer härter und schmutziger kämpfen – weil sie es hatten lernen müssen –, und mir fehlte die Autorität meiner Uniform, um mich zu schützen. »Sind Sie jetzt brav?« Ich übte etwas mehr Druck aus.

»Okay, okay.« Jetzt quiekte er beinahe.

Ich stieß ihn weg, ehe ich losließ, und er strauchelte rückwärts und hielt sich die Hand. Sein Hut fiel umgedreht zu seinen Füßen auf den Gehsteig, und ich war versucht, einen Penny hineinzuwerfen.

»Schlampe«, spie er aus – was wahrscheinlich seine Meinung über alle Frauen war – und hängte dann recht weltanschaulich, wie ich fand, an: »Es sollte so ’ne Tablette dagegen geben, dass sich blöde Tussen aufpumpen lassen.«

»Die gibt’s«, teilte ich ihm mit. »Sie heißt Zyankali und wird dem Mann verabreicht. Kommen Sie.« Ich legte dem Mädchen einen Arm um die Schulter und wappnete mich dafür, ihm den Rücken zu kehren. Nach sechs Schritten holte ich meine Puderdose hervor, um in den Spiegel zu schauen. Der Mann wandte sich gerade ab.

»Ich wollte doch nur, dass er das Richtige tut«, jammerte das Mädchen.

»Das Richtige würde er tun, wenn er diese Tablette nimmt«, gab ich zurück. »Wer ist er?«

»Freddy Smart. Ihr Glück, dass er sein Rasiermesser stecken gelassen hat.«

»Aus der Smartbande?«

Ich kannte sie von früher. Freddys Vater hatte nach dem Weltkrieg neben anderen Machenschaften Schutzgelder erpresst, nur dachte ich, dass seine Bande verscheucht worden sei.

»Ich wusste schon immer, dass er gewalttätig war«, das Mädchen knetete sich den Nacken, »aber es fühlte sich so aufregend an, bis er mich anging.«

»Wie heißen Sie?«

»Millicent.«

Ich hatte einmal sehr unter einer Schwester Millicent zu leiden gehabt, aber daran konnte ich diesem Mädchen kaum die Schuld geben.

»Millicent wer?«

»Smith. Warum?«

Wir erreichten das Ende der Straße.

»Halten Sie sich von ihm fern, Millicent. Sollte er Ihnen irgendwelchen Ärger machen, wenden Sie sich an die Polizei und fragen nach Inspektor Church.«

Sie rieb sich den Hals. »Wird er mir helfen?«

»Ja, das werde ich«, versprach ich und setzte meinen Weg zur Highroad West fort.

Jener Grieche, fiel mir im Vorbeigehen an einem Haus wieder ein, in dem der nächste Benny Goodman Tonleitern auf einer Klarinette übte, war Sisyphus.

6Der Schmetterling, der Tresen und die Leiche

Die Hauptwache von Sackwater war die einzige Polizeistation der Stadt, hielt sich aber anscheinend für den Mittelpunkt einer Metropole. In meiner Erinnerung sah ich noch immer ein hübsches zweigeschossiges Backsteingebäude vor mir, heute aber waren die langen einstmals schneeweißen Schiebefenster so vergilbt, als hätte man sie mit Butter eingerieben, während die blaue Eingangstür den Eindruck erweckte, als hätte sie mit Mühe und Not einer Attacke der eigenen Beamten standgehalten. Das Gebäude stand etwas zurückgesetzt hinter einem gepflasterten Vorplatz, der sich allmählich in einen annehmbaren Bowling-Rasen verwandelte.

Ich atmete tief durch, steckte mein Haar unter den braunen schrägsitzenden Hut und ging hinein.

Der Eingangsbereich lag im Dunkeln. Bis auf eine kleine rechteckige Milchglasscheibe in der Ecke waren sämtliche Holzläden geschlossen, und ohne Beleuchtung brauchte ich einen Augenblick, bis sich meine Augen an den Dämmer gewöhnt hatten und ich überhaupt etwas ausmachen konnte. Die Wache schien wie ausgestorben – weder saß ein Beamter am Tresen noch rutschte auch nur ein Verdächtiger ungeduldig auf einer der drei Bänke herum, die davor aufgepflanzt waren wie Kirchenreihen ohne Lehne. Die Wände – soweit ich dies im von hinten einfallenden Sonnenlicht erkennen konnte – hatten die Farbe von scheckigem Kaffee, und der Boden bestand aus abgetretenem schlammbraunem Linoleum, das sich in der Mitte, wo zwei Rollen aufeinanderstießen, zu einem kleinen Hügel wölbte.

Ein Schmetterling floh über meine Schulter ins Freie.

»Hallo«, rief ich zaghaft. Diese Stille zu durchbrechen, kam mir respektlos vor, und ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich zum ersten Mal hier hereingekommen war, um mir für den vermeintlichen Diebstahl eines Polizeihelms eine Standpauke abzuholen – obwohl ich den Helm nur hatte anprobieren wollen.

Der Schmetterling flatterte wieder herein.

Ich trat an den Tresen. Es war einer dieser hohen Polizeitresen, die an eine Kneipe erinnerten, und hinter dem sich eine niedrigere Arbeitsfläche verbarg. Dahinter lag eine angelehnte Tür, und rechts wie links des Tresens führten Gänge ins Hintere des Gebäudes.

Ich neigte mich gerade über das Arrestbuch und wollte einen Blick hineinwerfen, als ich die Leiche sah.

7Vogelscheuchen und der Leierkastenmann

Vor mir befand sich die Leiche eines Mannes, den ich auf weit über sechzig einschätzte, zusammengesackt auf dem Stablehnstuhl. Seinem Aussehen und dem Verwesungsgeruch nach war er vor einigen Tagen gestorben. Seine Haut war grau und unter den Wangenknochen eingesunken. Sein Kopf war zurückgefallen mit herabhängendem Unterkiefer, was die Stümpfe einer einstmaligen unteren Zahnreihe entblößte.

Bekleidet worden war er – anscheinend in Eile – mit der alten Uniform eines Polizeisergeant, aber es war offensichtlich nicht seine, so schlaff hing sie an diesem abgezehrten Leib, und man hatte sich auch keine echte Mühe gegeben, ihm ordentlich das Hemd anzuziehen oder die Krawatte umzubinden.

March Middleton hatte einmal zu mir gemeint, man sollte sich eher vor den Lebenden als den Toten fürchten, doch gerade in diesem Augenblick wäre ich wohl lieber unter den Lebenden gewesen.

Ein flacher grüner Lampenschirm hing an einem geflochtenen Kabel über dem Toten von der Decke. Ich langte hinüber und zog, indes ich den Schmetterling fortwedelte, an der kurzen Schnur. Das Licht ging klickend an.

»Bwaff.« Der Tote öffnete die Augen. »Was ist los?« Er kämpfte sich in einen nahezu aufrechten Sitz, blinzelte heftig und sah mich dann mit verschwommenem Blick an. »Können Sie nicht sehen, dass wir geschlossen haben?«

»Kann ich nicht, weil Sie’s nicht sind«, entgegnete ich und versuchte zu verhehlen, dass mir das Herz beinahe aus dem Brustkorb geplatzt war.

»Hä?« Er entrußte seine Kehle.

»Inspektor Church«, verkündete ich.

Er, der weniger tot war, als ich gedacht hatte, ging daran, seine Brust auszuleeren, ein langwieriger, aber ergiebiger Vorgang.

»Er’s noch nicht gekommen«, krächzte er schließlich und sah dabei immer noch aus, als hätte er anständig begraben worden sein müssen.

»Inspektor Church ist hier«, versicherte ich ihm, »nur ist er eine sie, und diese sie bin ich.«

Er spuckte etwas in ein zusammengeknülltes Taschentuch. »Hä?«

Ich zückte meinen Polizeiausweis wie ein Pokerspieler, der das entscheidende Ass aufdeckt, und der Untote schnaufte. Er schaufelte die Karte mit einer unschön konservierten Hand auf und hob sie durch den Schummer ins Licht über seinem Kopf.

Der Sergeant – ich fand mich langsam damit ab, dass er ein solcher war – kratzte sich an den Überresten dessen, was zu seinen Lebzeiten wahrscheinlich ein kräftiger Haarschopf gewesen war, jetzt aber aussah, als hätte der Bestatter hastig ein paar aufgefegte Flusen angeklebt. Die geplätteten Büschel zeigten in beliebige Richtungen mit ziemlich großen Lücken dazwischen und variierten in der Farbgebung von altes Stroh bis schmutziges altes Stroh. »Sieht echt aus«, räumte er ein.

»Ist er«, beteuerte ich mit viel Gefühl, denn kein Mann könnte je erahnen, wie mühselig ich ihn mir verdient hatte.

Der Sergeant lehnte sich zurück, und ich war mir nicht sicher, ob er oder sein Stuhl so geräuschvoll knarzte.

»Na, leck mich am Arsch«, hauchte er verwundert.

»Hüten Sie Ihre Zunge«, schalt ich, wenngleich ich Schlimmeres gehört und häufig ausgesprochen hatte.

»Wissen schon.« Der Sergeant reckte den dürren Hals im übergroßen Kragen wie eine Schildkröte, die aus ihrem Panzer zu kommen versucht. »Hab bis jetzt noch nie nich ’ne Polizistin gespechtet.«

»Hätten Sie auch nicht«, ließ ich ihn wissen. »Jedenfalls nicht in Suffolk. Ich bin die erste … von hoffentlich vielen.«

»Herrje.« Er fuhr sich mit vier Fingern unter den übergroßen Kragen. »Lassense uns doch erst mal über Sie drüberwegkommen.«

»Oh, das werden Sie niemals«, versicherte ich ihm und hoffte, nicht anzüglich zu klingen.

»Und ’n Inspektor sindse auch noch«, sagte er nachdenklich. »Was werden die wohl als Nächstes aushecken?«

»Das zwanzigste Jahrhundert könnte nun jederzeit anbrechen«, warnte ich und fügte hinzu, ehe er es sich mit dem Gedanken an mich allzu gemütlich machte: »Ist das die Art, auf die man hier eine Vorgesetzte begrüßt?«

Der Sergeant schloss den Mund, als hinge der in rostigen Scharnieren, rappelte sich auf die Beine – es schien ein Wunder, dass er es konnte – und salutierte. Mir war schon mal schludriger salutiert worden, jedoch vom Äffchen eines Leierkastenmanns. »Sorry, Sir.«

»Ma’am«, berichtigte ich ihn und hob die Stimme. »Stecken Sie Ihr Hemd rein, Sergeant, und richten Sie Ihre Krawatte. Sie sehen zerfleddert genug aus, um eine Vogelscheuche zu erschrecken.« Mein einst vorgesehener Schwiegervater hatte mir erzählt, wie sein Erster Offizier mit einfachen Matrosen redete, und das erwies sich nun als nützlich.

»Ja, Madam.« Diesmal ließ ich es durchgehen, während er einen hastigen Versuch unternahm, mehr von seinem Hemd in die lose sitzende Hose zu stopfen, doch je weiter er eine Seite feststeckte, umso mehr rutschte die andere heraus.

»Wie heißen Sie?«

»Frank Briggs, Madam.« Der Sergeant setzte zu erneutem Salutieren an, überlegte es sich dann aber anders. »Ma’am.«

»Das wird Mäm ausgesprochen statt Marm«, unterrichtete ich ihn mit wachsendem Argwohn, in den Wind zu reden. »Und daran sollten Sie klugerweise denken, wenn Sie nächstes Mal der Queen begegnen.«

»Mäm«, formte er zweifelnd mit den Lippen. »Heut Abend kommtse aber besser nicht. Da hab ich doch noch ein Dartspiel laufen im Unicorn.«

»Wie nennen die anderen Sie?«, fragte ich. »Von Angesicht zu Angesicht, meine ich.«

»Tjaaa«, er kaute sich die Wangeninnenseite, »die Jungs nennen mich wohl Dusty.«

Da ich dort aufgewachsen war, wusste ich, dass ein Junge in Suffolk irgendwas zwischen einem Tag und hundert Jahren alt und nicht unbedingt männlich war.

»Müsste es dann nicht Dusty Miller heißen nach der Pflanze?«

Der Sergeant schaute gekränkt drein. »Für mein’ Nachnamen kann ich nichts«, murmelte er.

»Ich dachte bloß, so was wie Brigsy läge näher.«

»Daran hab ich noch nie gedacht.« Briggs sann über das Wort nach. »Ich glaub aber, das gefällt mir.« Er kratzte sich am Ohr. »Brigsy.« Er schluckte und verdaute den Namen. »Schlau.« Er leckte sich die blassgrauen Lippen.

Briggs hatte eine Rußschliere auf der Lippe, die ich ihm eben auftragen wollte abzuwischen, als mir aufging, dass sie ein Schnurrbart sein sollte. Es gibt zwei Arten von Polizeivorschriften – die schriftlich gefassten und jene, denen alle gehorchen. Zur zweiten Kategorie zählt die Regel, dass jeder Sergeant einen Schnurrbart haben soll, je größer und borstiger, desto besser. Sie gehört nicht zu den Regeln, an die ich mich je gehalten habe, aber mir war von zwei weiblichen Sergeanten bekannt, dass sie tapferere Versuche angestellt hatten als Sergeant Brigsy Briggs.

»Ich soll mich bei einem Superintendent Vesty melden«, unterbrach ich unsere Tagträume.

»Der Superintendent? Ach, der schaut heutzutage nicht oft vorbei.«

»Warum nicht?«

Sergeant Briggs zuckte die Schultern. »Nich viel Grund für, schätz ich, seitse die meisten von uns hoch nach Ainnnglethorpe verlegt haben. Da sindse hin und haben ’ne neue Wache bekommen.«

»Ist sonst noch wer hier?« Ich sah mich um. Würden gleich alle rausspringen und Überraschung rufen? Unwahrscheinlich, da ich noch nicht erwartet wurde und der durchschnittliche Konstabler nicht reif genug war, um sich wie ein Dreijähriger zu verhalten.

»Tjaaa«, meinte Brigsy gedehnt. »Inspektor Sharkey war schon, jetzt aber nich’.«

»Wie ist der so?«

Der Sergeant rümpfte die Nase. »Is’n Haifisch wie sein Name, schätz ich.«

Um nicht außen vor zu stehen, rümpfte auch ich die Nase. »Warum riecht es hier nach Gammelfleisch?«

Brigsy schnüffelte wie ein alter Bluthund, der die eigene Fährte sucht. »Wird wohl Konstabler Walkers Wurstbrot sein. Is’ ihm doch so vor ein, zwei Wochen hintern Aktenschrank geplumpst.«

Über jenem Aktenschrank hing ein Brecheisen an der Wand.

»Er soll es entplumpsen«, befahl ich. »Morgen früh will ich als Erstes dieses Brot auf meinem Schreibtisch sehen.« Den letzten Teil hätte ich lieber nicht gesagt, doch es war zu spät. Vorgesetzte können eine Menge sagen, aber nichts davon absagen. Das sähe schwach aus, und man darf zwar schwach sein, aber nicht so wirken. »Wo ist überhaupt mein Büro?«

Briggs deutete über seine Schulter. »Das Zimmer da hinten hinter mir, das was das Hinterzimmer is’.« Er wies den weiß getünchten Flur zu seinen Linken hinunter. »Wo die Zellen und Verhörräume da runter sind. Dieser Flur da«, sein rechter Arm schwenkte aus, der Finger gekrümmt wie bei einem alttestamentarischen Propheten, »geht auf vier Paar Büros und eines. Das letzte gehört Superintendent Vesty, weil, es tut auf den Garten rausblicken. Er pflegt doch gern seine Rosen, aber nur, wenn er wo da is’.«

»Na, er kann nicht, wenn er’s nicht ist«, schlussfolgerte ich, und der Sergeant setzte sich eine große eckige Hornbrille von der Sorte auf, wie sie kleine Jungs in Joes Scherzartikelgeschäft kaufen, um so zu tun, als hätten sie Röntgenaugen.

»Da weiß ich nich’ recht«, entschied Brigsy schließlich und polierte die Brillengläser an seiner Hemdtasche, um mich wieder anzusehen. »Was ist mit Ihrem Arm passiert?« Als er sich dann auf seine Stellung besann, heftete er an: »Wenn ich fragen darf.«

Er durfte und hatte, und ich war es inzwischen gewohnt. »Wurde von einem Krokodil erwischt«, teilte ich ihm mit, »auf dem Trafalgar Square.«

»Da biste baff«, schnaufte Brigsy. »Gibt’s die da im Brunnen?«

»Nicht mehr.« Ich steckte den Ärmel wieder ordentlich fest. »Ich hab es erschossen.«

»Na, leck mich am Arsch.«

»Das werde ich nicht tun.«

»Oh, nein, ich hab nicht gemeint …« Sergeant Briggs richtete sich auf. Gut sah er noch immer nicht aus, aber nicht annähernd so schlecht wie als Toter. »Tasse Tee gefällig, Madam?«, fragte er mit Na-klar-doch-Fältchen um die Augen, und da wusste ich, dass er und ich womöglich miteinander auskommen würden.

8Pooky und die Spitfires

»Oh, Betty«, begrüßte mich meine Mutter, als ich meinen Koffer abstellte. »Als du uns schriebst, du würdest nach Hause kommen, habe ich gehofft, dass du dir endlich einen anständigen Beruf zulegen würdest.«

Meine Mutter war fast so groß wie ich – oder wäre es zumindest, wenn sie sich nicht immer so gebeugt halten würde. Vielleicht zog sie ihr allzu üppiger Busen herunter. Oder aber das Leben mit meinem Vater. Ihr Haar glich in Farbe wie in Beschaffenheit einem Wirrwarr gewundener Drähte, weshalb sie es mit einem Reif nach hinten zwang, und damit wie eine früh gealterte Schulsprecherin aussah.

Die Tür ging auf, und ein Mann taumelte wacklig durch die Diele, Blut rann ihm das Kinn hinab.

»Bettyboo«, hieß mein Vater mich wie immer willkommen, wenngleich ich mir wie immer wünschte, er würde es nicht tun. Er wandte sich an den Mann. »Nehmen Sie im Wartezimmer Platz, Mr Freeman. Und beißen Sie weiter fest auf den Bausch.«

Mein Vater war einige Zentimeter kleiner als wir beide, machte dies aber spielend durch seine Körperfülle wett. Er hielt sich stets für einen Meter dreiundsiebzig, ich gab ihm aber höchstens eins sechsundsechzig und ein paar Zerquetschte. Sein Gesicht erinnerte mich stets an das einer unvollendeten Tonfigur: schlampig modelliert, hier und da noch immer eingedellt vom Daumen des Künstlers.

»Oh, er hat mir den schönen sauberen Boden vollgeblutet«, klagte meine Mutter. Es war tatsächlich ein schöner Boden – ein Schachbrett aus viktorianischen Fliesen, über die ich einst mit meinen Rollschuhen geflitzt war –, aber sauber waren sie schon lange nicht mehr. Putzen fiel schließlich unter die Aufgaben unseres Dienstmädchens Pooky. Aber Pooky war fort, um Spitfires zu bauen. Wir würden die Flugzeuge bald brauchen.

Der Duftcocktail, der aus dem Behandlungszimmer drang, war ebenso unangenehm wie unverkennbar – eine Mischung aus Lachgas, vom Bohren angesengtem Zahnbein und Antiseptikum –, doch dies waren die Gerüche, die ich stets mit meinem Elternhaus in Verbindung bringen würde.

Ich schielte hinüber zu den leeren Stühlen im Wartezimmer. »Ruhiger Tag heute?«, fragte ich. In letzter Zeit hatte er allzu viele davon.

»Hamish Peatrie ist nicht aufgetaucht«, brummte er. »Das ist jetzt schon das zweite Mal in Folge.«

»Das sieht ihm aber gar nicht ähnlich«, bemerkte ich, denn ich kannte Hamish schon mein ganzes Leben. Ihm gehörte der Ramschladen unserer Stadt.

»Niemand sieht sich heutzutage noch ähnlich«, sinnierte meine Mutter. »Oh«, erst jetzt schien ihr mein Gepäck aufgefallen zu sein, »hast du etwa vor zu bleiben?«

»Aber natürlich.«

»Nun, dann wirst du dein Zimmer wohl teilen müssen«, warnte mich mein Vater. Den Witz brachte er jedes Mal, wenn ich zu Besuch kam, selbst wenn er als Einziger darüber lachte. »Diesmal meine ich es ernst. Wir haben eine Einquartierung – ein Dutzend Evakuierte aus London. Sie kommen morgen mit der Fähre.«

»Aber die Evakuierungen haben doch noch gar nicht begonnen«, wandte ich ein und versuchte, nicht auf den geriffelten weißen Sockel zu schauen, der leer stand, seit ich vor achtundzwanzig Jahren die dazu passende Urne zerdeppert hatte. Meine Eltern ließen ihn zu keinem anderen Zweck dort stehen, als mich auf ewig an meine Schuld zu erinnern. »Es sei denn, sie haben den Krieg erklärt, während ich die Straße hochmarschiert bin.«

»Man hat uns für eine Übung ausgewählt«, erklärte meine Mutter so stolz, als wäre sie zu einer königlichen Gartenparty eingeladen worden.

»Hast du denn irgendeine Vorstellung, was zwölf Kinder aus dem East End hier anrichten werden?«, fragte ich, weil ich es mir recht gut vorstellen konnte.

»Ach, ich schätze, sie werden ein wenig ungehobelt daherkommen«, winkte mein Vater sorglos ab. »Wahrscheinlich werden wir ihnen beibringen müssen, wie man mit Messer und Gabel umgeht.«

»Glaub mir«, versetzte ich drohend, »sie werden ganz genau wissen, wie man mit einem Messer umgeht.«

»Außerdem kriegen wir sieben Schillinge und Sixpence pro Nase.« Meine Mutter hätte fast einen Luftsprung vollführt. »Das sind sieben Pfund und sechs Schillinge pro Woche.«

»Acht Pfund und fünf Schillinge«, verbesserte sie mein Vater.

»Vier Pfund und zehn Schillinge«, korrigierte ich sie beide.

»Das kann unmöglich stimmen«, beteuerte meine Mutter. »Daddy hat es mit einem Bleistift auf seinem geprägten Briefpapier ausgerechnet.« Ich Dummerchen. Auf Daddys edlem Briefpapier konnte man sich unmöglich verrechnen. Ich schnappte mir meinen Koffer. »Wo willst du hin?«

»Ich muss noch mal zurück, um den Superintendent zu treffen.«

»War früher mal ein Patient von mir«, sagte mein Vater, aber das war hier so gut wie jeder.

»Ich werde bei Kapitän Sultana übernachten«, erklärte ich bereitwillig, da sie mich wohl nicht darum bitten würden.

»Bei diesem schrecklichen Mann auf seinem schrecklichen Boot?« Meine Mutter verrieb mit dem Schuh einen Speichelfleck auf dem Boden.

Als wir uns kennenlernten, fand ich Adams Nachnamen urkomisch, bis er mir erklärte, dass Sultana auf Malta recht geläufig sei und ich mich besser daran gewöhnte, falls wir einmal heiraten wollten. Doch das haben wir nie. Polizistinnen durften nicht heiraten. Und da er ständig in irgendwelchen hochoffiziellen Nacht-und-Nebel-Aktionen unterwegs war, hätte mich wenig dafür entschädigt. Kapitän Carmelo Sultana wäre um ein Haar mein Schwiegervater geworden, und er behandelte mich noch immer wie eine Tochter, auch nachdem ich mich von seinem Sohn getrennt hatte. Fast ein Jahr war das nun her, wie mir klar wurde.

»Nur fürs Erste.« Ich sah meine Eltern an und stellte mit Bestürzung fest, wie klein und alt sie wirkten, viel älter als sie tatsächlich waren. »Wenn ihr Schwierigkeiten mit ihnen habt, könnt ihr jederzeit bei Dr. Gretham anrufen.«

Ich nannte ihn schlicht Tubby – aber meine Eltern fanden das einem Arzt gegenüber respektlos, selbst als er seine Zulassung verloren hatte –, und er war der dem Boot nächstgelegene Nachbar, der ein Telefon besaß.

»Ach, das kriegen wir schon hin«, erklärte mein Vater unbekümmert. »Immerhin habe wir ja auch dich großgezogen.«

»Na, wenn du meinst.« Ich gab meiner Mutter einen Abschiedskuss und wollte auch meinen Vater küssen, als dieser jäh ins Wartezimmer stürzte, das uns außerhalb der Sprechstunden auch als Wohnzimmer diente, da es als einziges über einen Gasofen verfügte.

»Steck die Watte wieder rein, du alter Narr«, donnerte er, »und hör auf zu sabbern.« Und als die Rechnungen kamen, und das Geld knapp wurde, wunderte er sich, wieso die Patienten ausblieben.

9Die Blase am Gehirn

Superintendent Vesty war ein großer Mann – weit über eins achtzig – und hatte eine gewisse verblichene Eleganz an sich. Seine Uniform mit der goldenen Krone auf den Schulterklappen war gut geschnitten, aber recht abgetragen. Seine Schuhe waren hochglanzpoliert ebenso wie seine Silberknöpfe. Sein dinarisches Gesicht wies eine scharf gebogene Nase auf, Augenwülste und schmale, herabhängende Lippen, und er war ungewöhnlich tief gebräunt für Suffolk – im Gegensatz zu seinem bleichen Handgelenk, das sichtbar wurde, wenn er den Arm hob, um an seinem Ohrläppchen zu ziehen. Am auffälligsten am Superintendent war die rechteckige Vertiefung, die den größten Teil seiner Stirn einnahm, wo – wie Brigsy mir erzählt hatte – eine Stahlplatte eingesetzt worden war und eine im letzten (wie wir immer noch hofften) aller Kriege überhaupt erlittene Verwundung abdeckte. Es fiel mir schwer, nicht nur darauf zu starren.

Er streckte eine Hand aus. »Willkommen in Sackwater, Inspektor.« Er hatte einen festen Händedruck, doch sein Blick schweifte ab.

»Danke, Sir.«

»Schon eingelebt?« Sobald er den Kopf neigte, beulte sich die Haut wie zu einer riesigen Blase aus, und mir kam der grässliche Gedanke, dass, falls Brigsy sich bezüglich der Stahlplatte täuschte, einen kaum etwas davon abhalten könnte, dem Superintendent ins Hirn zu stupsen.

Ich zwang mich wegzusehen. »Ich fange gerade damit an.«

»Gut, gut. Briggs behandelt Sie gut?«

»Seit er über den Schock hinweg ist.«

»Ist es nicht gewohnt, eine Frau hierzuhaben«, meinte er mitfühlend und verdarb es dann durch den Zusatz: »Zumal eine so bezaubernde wie Sie.«

»Ich finde, meine Aussehen sollte dabei keine Rolle spielen, Sir.«

»Ganz recht, ganz recht.« Vesty zog wieder an seinem rechten Ohrläppchen. Vermutlich machte er das sehr häufig, es wirkte länger als das linke. »Kann man aber auch keinem Burschen verübeln, eine hübsch geformte Fessel zu bewundern.«

»Wobei, ich kann.«

Mein Vorgesetzter legte den Kopf schräg, als lauschte er auf etwas anderes.

»Zu schade um den Arm, was?« Der Superintendent fasste sich an die Stirn. »Schmerzt noch immer, wissen Sie.« Er strich mit den Fingerspitzen über die Delle. »Tja, ich sollte mich jetzt wohl besser ausruhen.«

Mein Vorgesetzter sank behutsam auf seinen Stuhl, als rechnete er damit, dieser könnte andernfalls unter seinem Gewicht zusammenbrechen, und schloss die Augen.

»Wäre das alles, Sir?«, fragte ich unschlüssig, doch Superintendent Vesty war fest eingeschlafen.

Ich ließ ihn schlummern und traf Brigsy dabei an, wie er einen Bleistift auf der Spitze auf seiner Fingerkuppe zu balancieren versuchte.

»Fährt Joe Paradise noch immer sein Taxi?«, fragte ich.

Es war erst fünf Uhr nachmittags, doch ich hatte einen langen Tag gehabt und drei Kilometer zu Fuß mit einem Koffer vor mir.

»Der olle Joe is’ noch immer rüstig dabei«, versicherte mir mein Sergeant.

»O wie schön.«

»Bloß sein Taxi nich’«, sagte Brigsy so kummervoll, als hätte er einen Trauerfall vermeldet. »Da is’ Salzfraß rein bis in die Aufhängung. Die Seeluft dringt ja überallhin, nich’.«

»Gibt es noch einen anderen Fahrdienst?«

»Natürlich«, Brigsys Laune hellte sich auf, »nich’. Aber wennse keine Lust auf Laufen haben«, überlegte er, »könnt ich mir denken …«

»Ah ja?«

»Könnt ich mir denken, Sie werden’s müssen«, beendete er seinen Satz.

Also ging ich zu Fuß. Kaum in die Gordon Road eingebogen, sah ich eine bereits vertraute Gestalt in ihrem Sommerrock und den Schuhen in unterschiedlichen Blautönen. Sie stand an der Bushaltestelle.

»Millicent?« Mir gefiel die Art nicht, auf die sie sich vornüberbeugte.

Millicent Smith wandte sich nach mir um. Sie hielt sich ein großes, rotfleckiges Taschentuch als Knäuel unter die Nase.

»Gehen Sie weg.« Ihr linkes Auge war blutunterlaufen, ihre Wange grün und blau.

»Hat er …?«, setzte ich blödsinnig an.

»Ja, er hat.« Sie riss das Taschentuch fort, und ich sah, dass ihre Unterlippe aufgeplatzt und geschwollen war und ihr linker Vorderzahn fehlte. »Zufrieden?«

Ich stellte meine Koffer ab.

»Wenn Sie eine Aussage machen, können wir …«

»Was können Sie?«, heulte sie auf. »Die ganze Familie verhaften? Werden Sie die alle für immer wegsperren? Das müssten Sie nämlich tun, wenn ich einen von denen verpfeifen würde.« Millicent schlotterte heftig. »Warum können Sie mich nicht einfach allein lassen?«

»Ich kann Ihnen helfen«, versuchte ich es erneut. »Es muss doch ein Asyl für gefährdete Frauen in der Grafschaft geben.«

»Glauben Sie etwa, die Smarts wissen nicht, wo das ist?« Millicent verbarg ihren Mund. Ihre Worte waren gedämpft. »Ich weiß, du meinst es gut«, hörte ich, »und jetzt verpiss dich.«

10Der verrückte Admiral

Die strahlend grünen Augen der Cressida sahen zu, wie ich mich ihr durch das Unterholz näherte. Es war eine alte maltesische Tradition, den Bug von Schiffen derart zu verzieren. Fast neun Meter ragt sie bis zum Steuerhaus in die Höhe, und lag, gestützt von einem Gerüst aus Eisenbahnschwellen, mitten auf der Brindle Bar, einer Sandbank in der Flussmündung, die im Grunde eine winzige Insel vor der Shingle Cove war, außer bei Ebbe.

Im Winter konnte man sie vom Flussufer aus gut erkennen, im Hochsommer war sie jedoch kaum zu sehen. Am stromabwärts gelegenen Ende der Sandbank befand sich ein Dickicht aus Silberbirken und Rhododendronbüschen, die etwas Schutz vor dem kühlen Ostwind boten. Zur besten Tarnung aber verhalf einem das dichte Schilf, das im Sommer in die Höhe schoss und erst langsam verdorrte, wenn die Nächte wieder länger und dunkler wurden.

Niemand wusste, wieso er genau hier ein Hausboot gebaut hatte, war es doch so gut wie aussichtslos, eine derart massige Konstruktion jemals zu Wasser zu lassen. Vielleicht hatte er ja gedacht, die Flut würde das Boot einfach mit sich reißen, aber ich vermutete eher, dass er nur ein Zuhause suchte, und es kam mir ungehörig vor, ihn danach zu fragen.

Der Kapitän hatte zwei Sprechrohre installiert: Eins führte zum Sommerhaus der White Lodge, Tubby Grethams Familiensitz auf dem Hügel, das andere zu einem Pfosten in Ufernähe, doch brauchte ich keines davon zu benutzen.

»Ahoi«, donnerte Kapitän Sultana, als ich ihm vom Ufer aus zuwinkte, woraufhin er die Holztreppe hinunterrannte, die entlang der Steuerbordseite verlief, durch ein Dutzend wild auseinanderstiebender Hühner hinab zum Boot preschte und es losband, um mir über den knapp fünfzehn Meter breiten Sund träge fließenden Wassers entgegenzurudern. »Qalbi.« Er hüpfte auf den kleinen Anleger und schloss mich in die Arme. »Mein Herz.« Das Wort hätte keiner Übersetzung bedurft. Adam hatte es mir in glücklicheren Zeiten beigebracht.

Schwankend hievte Carmelo meinen Koffer auf die Bootsbank, und ich zwängte mich daneben.

»Madonna – heilige Mutter Gottes.« Obwohl er von meinem Missgeschick gehörte hatte, sah der Kapitän es nun erstmals mit eigenen Augen. »Ich werde dir beibringen, einhändig zu rudern. Das geht. Du bist stark.«

In all den Jahren, die ich Sultana nun kannte, hatte er sich nie das Haar geschnitten, sondern trug es in einem langen Pferdeschwanz unter seiner alten Kapitänsmütze.

Die Einheimischen hatten ihn einst freundlich willkommen geheißen, denn er war ein Mann der See. Das rang ihnen Respekt ab. Doch hinter seinem Rücken nannten sie ihn nur den verrückten Admiral – und das würde er für sie wohl auch zeitlebens bleiben.