Der Fluch des Hauses Foskett - M.R.C. Kasasian - E-Book

Der Fluch des Hauses Foskett E-Book

M.R.C. Kasasian

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Beschreibung

Sidney Grice ist zurück, und seine Laune ist nicht besser geworden! Die Stimmung in der Gower Street 125 ist mies. Seit Sidney Grice durch seine Ermittlungen einen unschuldigen Mann an den Galgen gebracht hat, laufen die Geschäfte schlecht. Der scharfsinnigste Detektiv des viktorianischen England liegt stundenlang apathisch in der Badewanne. Selbst zum Einsetzen seines Glasauges fehlt ihm die Kraft. March Middleton, Sidneys Patentochter, langweilt sich zu Tode ... Bis zu dem Tag, an dem ein Mitglied des bizarren Clubs »Finaler Sterbefallverein« sein Leben aushaucht – mitten in Sidneys Wohnzimmer. Immerhin haben Sidney und March endlich wieder etwas zu tun. Und das nicht zu knapp, denn es bleibt nicht bei dieser einen Leiche. Die Ermittlungen führen das ungleiche Paar von London bis nach Kew in ein unheimliches Herrenhaus, dessen Eigentümerin, die enigmatische Baroness Foskett, eine alte Bekannte Sidneys ist. Dies ist Band 2 der historischen Krimireihe mit Sidney Grice. Weitere kuriose Fälle gibt es hier: Band 1 - Mord in der Mangle Street Band 3 - Tod in der Villa Saturn Band 4 - Die Geheimnisse der Gaslight Lane

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M.R.C. Kasasian

Der Fluch des Hauses Foskett

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Johannes Sabinski und Alexander Weber

Atlantik

Für Robert, in Liebe

Einleitung

Vor bald einem Jahr schrieb ich die Einleitung zu Mord in der Mangle Street, dem ersten Band meiner Erinnerungen an meinen Vormund Sidney Grice. Dessen beachtlicher Erfolg trotz der gegenwärtigen Papierknappheit hat mich ermutigt, von unserem nächsten großen Fall zu berichten, der Kette furchtbarer Ereignisse im Herbst 1882.

Zuletzt schrieb ich im Schutz des Kellers von Gower Street Nummer 125, während London von Hitlers Bomben in Schutt und Asche gelegt wurde. Der Luftkrieg über England dauert an, wenn auch mit verminderter Schärfe. Die Nazis haben erkannt, welche Torheit es war, Angriffe bei Tageslicht zu fliegen. Doch sind wir noch immer von einer Invasion bedroht, und der Anblick alter Männer und abgemagerter Jugendlicher, die für den Heimatschutz üben, ist uns bewegende Mahnung daran, jedem Eroberungsversuch entschlossen zu trotzen.

Der Fall, den ich hier darlege, kostete meinen Vormund beinahe das Leben, aber er brachte auch eine wesentliche Verschiebung in unserem Verhältnis mit sich. Als Sidney Grice diese Ermittlungen aufnahm, kamen wir stillschweigend überein, dass ich an seiner Seite sein würde. Und das war ich, abgesehen von unserem großen Zerwürfnis, bis an den Tag seines Todes.

M.M., 3. September 1942

1Der Fluch der Fosketts

Man munkelte, ein Fluch laste auf dem Hause Foskett. Giles, der erste Baron Foskett, so hieß es, habe zur Zeit der Rosenkriege bei der Belagerung von Bowfield im Jahre 1417 mitgekämpft und die zweite Angriffswelle durch die erstürmten Festungsmauern angeführt. Die Verteidiger, so die Legende weiter, hatten ihre Frauen und Kinder in der Kirche St. Oswald in Sicherheit gebracht, doch die Angreifer waren in einen Blutrausch geraten, drangen mit Gewalt in das Gotteshaus ein und metzelten alle nieder, die dort Schutz gesucht hatten.

Doch nicht genug des Frevels: Als Baron Giles eine junge Nonne entdeckte, die sich in einer der Jungfrau Maria geweihten Kapelle versteckt hielt, schändete und meuchelte er sie auf dem Seitenaltar. Mit ihrem letzten Atemzug verfluchte die Nonne ihn und seine Nachkommen, und just in dem Moment, als Baron Giles die Kirche verließ, fiel ihn eine Meute tollwütiger Hunde an und riss ihn in Stücke.

Baron Giles’ Sohn und Stammhalter war dem Vernehmen nach ein guter Mensch. Er spendete großzügig für die Armen, ließ St. Oswald wieder aufbauen und eine Gedenkstätte für die Opfer seines Vaters errichten. Doch sein frommes Leben vermochte ihn nicht zu retten. Kaum war die Kapelle neu geweiht, stürzte die Statue der heiligen Jungfrau auf ihn herab und spaltete ihm den Schädel. Zehn Tage später starb er unter Höllenqualen.

Und auf diese Weise – mit Hinrichtungen, Pfählungen, Ausweidungen – setzte sich die Geschichte fort, in der zahlreiche Fosketts ein unzeitiges und gewaltsames Ende fanden. Zuweilen übersprang der Fluch ein paar Generationen, doch früher oder später brach er sich wieder Bahn. Und er traf keineswegs nur die männliche Seite der Familie. So ertrank Baronesse Agatha im Alter von fünfundneunzig Jahren in einer Zisterne, und Lady Mathilda, die Tochter Baron Alfreds, wurde am Strand von Brighton enthauptet.

Im Jahr 1724, nach der unbeabsichtigten Selbsteinäscherung Baron Colins’ im Vesuv, war der Titel verwaist, und so blieb es bis 1861, als Reginald, entfernter Abkomme eines Neffen von Baron Giles, erfolgreich darum ersuchte, ihn anzunehmen. Wenig Gutes sollte daraus erwachsen. Keine sechs Jahre nach seiner Erhebung in den Adelsstand traf ihn eine Treppenstange ins Auge und bohrte sich bis in sein Hirn. Die Wunde eiterte und er schied, rasend vor Schmerz, dahin.

Kurz darauf berichtete die Times, dass ihm sein Erbe Rupert auf einer Südseeinsel mit dem Ableben zuvorgekommen sei, womit der Fluch nun drohend über dem Haupt von Reginalds Witwe schwebte, Lady Parthena Foskett.

2Der Staub und der Traum

Der Fall Ashby hatte noch keinen Staub angesetzt, und man war der Auffassung, Sidney Grice habe einen seiner eigenen Klienten, noch dazu einen unschuldigen Mann, an den Galgen gebracht. Das war schlecht fürs Geschäft und zwar dermaßen, dass nicht Sidney Grice zur Wiederauffindung des Siegelrings bestellt wurde, den der Prinz von Wales in einem Freudenhaus verloren hatte, sondern Charlemagne Cochran. Dass der Ring im Nu gefunden wurde, vertiefte nur noch die Niedergeschlagenheit meines Vormunds.

Ein paar Fälle fielen ihm zwar zu – die Rettung der Tochter eines reichen Industriellen aus dem Norden, die von rätselhaften blauen Furunkeln befallen war, und die Aufdeckung eines betrügerischen Vereins für Männer mit rotbraunem Haar –, doch lastete in jenem Sommer nur wenig Arbeit auf meinem Vormund, und als die Tage kürzer wurden und die Blätter in den windzerzausten Londoner Parks zu Boden fielen, versiegte sie beinahe vollends.

Stundenlang lag Sidney Grice nun in seiner Badewanne, kletterte abends auf etwas trockenen Toast und reichlich Tee heraus, um bald wortlos treppauf zu humpeln und sich in seinem Schlafzimmer einzuschließen. Er machte sich nicht die Mühe, sein Glasauge einzusetzen, sondern trug immerzu eine schwarze Augenklappe. Gewöhnlich ein unersättlicher Leser, schlug er kein einziges Buch auf und nahm nicht einmal mehr eine seiner fünf Tageszeitungen zur Hand, was vermutlich zu seinem Besten war. Anfechtungen stießen meinem Vormund stets übel auf, und daran herrschte kein Mangel in der Presse und den Schmähbriefen, die mehrmals täglich zugestellt wurden.

Meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben. Mein Vater war ihr im Sommer ’81 gefolgt und hatte mir das Grange hinterlassen, unser Familienanwesen in Parbold, nicht aber die Mittel zu dessen Unterhalt. Von meinem Patenonkel Sidney Grice hatte ich bis dato nichts gehört, doch meine Anwälte versicherten mir, er sei ein Gentleman von untadeligem Ruf, sodass sein Anerbieten, mich unter seine Fittiche zu nehmen, ein Geschenk des Himmels zu sein schien. Inzwischen, sechs Monate später, fragte ich mich jedoch, ob ich mein Zuhause nicht leichtfertig aufgegeben hatte.

An vielen Abenden speiste ich allein, schob mit der Gabel einen aufgewärmten Gemüsebrei auf meinem Teller herum und knabberte an kreidigem Brot. Hinterher ging ich in den winzigen Garten, um zwei türkische Zigaretten unter dem knorrigen Kirschbaum zu rauchen, und dann nach oben zum Tagebuchschreiben. Ich nahm mein Schreibkästchen und drückte auf den Knopf unter dem Tintenfass, um das Geheimfach zu öffnen und die Schleife um mein kostbares Bündel aufzuziehen.

Deiner Briefe sind so wenige, und ich kenne einen jeden auswendig, aber deine lieben Hände hielten sie, wie meine sie jetzt halten.

Ich träumte von dir in jener Nacht. Wir trieben in einem Ruderboot einen palmgrünen Fluss hinunter, die Sonne gleißend am indigoblauen Himmel, die Fischreiher flogen in loser Folge über uns hinweg. Wir hatten einen Picknickkorb zu unseren Füßen, eine Flasche Champagner im Wasser hängen und lagen ausgestreckt da, hielten uns bei den Händen und waren glücklich. Alles war so schön bis zum Schluss. Daran werde ich nie etwas ändern können.

Ich habe deinen letzten Brief vernichtet.

Dann, am ersten Dienstag im September, kam mein Vormund zum Frühstück herunter. Zur Begrüßung beehrte er mich mit einem Grunzen. Wir saßen an entgegengesetzten Enden des Tisches, und ich betrachtete ihn mitsamt seiner unaufgeschlagenen Ausgabe von Simpkins Erkrankungen des menschlichen Fußes.

»Ich brauche einen großen Fall«, sagte er auf einmal, »sonst wird mein Gehirn noch so träge wie Ihres.«

»Wird sich schon was finden«, sagte ich, aber er schüttelte den Kopf.

»Wer würde noch um meine Dienste nachsuchen? Kaum zeige ich mich auf der Straße, werde ich verspottet und beschimpft.«

Ich klopfte mein Ei auf und schob es hastig beiseite. Der Schwefelgeruch war abscheulich. »Vielleicht sollten Sie für eine Weile verreisen.«

»Wozu?« Er nahm sich einen Toast, ohne Rinde und verkohlt, so war es ihm am liebsten.

»Machen wir doch Ferien.«

»Welch absurder Einfall. Können Sie sich vorstellen, wie ich in einem gestreiften Blazer über kunterbunte Strandpromenaden flaniere und Muscheln aus einem Papierhörnchen esse?«

Zugegeben, das konnte ich nicht, war aber erfreut, ihn so lebhaft zu sehen. Er beugte sich vor, streckte einen Arm aus, um meinen Eierbecher mittels der ausziehbaren original Grice’schen Fliegenklatsche zu sich zu ziehen, und schnüffelte leicht verschnupft – er war erkältet gewesen –, aber sehr genüsslich daran.

»Wir könnten einen Freund besuchen«, schlug ich vor.

»Einen Freund?« Er zuckte angewidert zusammen. »Ich habe keinen Freund, und wozu in aller Welt sollte ich einen haben wollen?« Ihn schauderte. »Es ist wahrlich schlimm genug, March, Ihr schrilles Gequassel Woche für Woche, tagein, tagaus zu ertragen.« Sidney Grice löffelte begierig sein Ei aus.

Ich warf meine Serviette hin. »Ich habe mich unter Menschen bewegt, die die meisten Engländer als unwissende Wilde bezeichnen würden, und bin dabei größerer Höflichkeit begegnet, als Sie aufbringen können.«

»Was heißt das schon – Höflichkeit?« Mein Vormund tupfte sich die Lippen. »Falschheit, die vor Lüge strotzt. Wäre ich höflich, müsste ich Ihnen sagen, Sie sähen hübsch aus, obwohl das meines Wissens nie der Fall war und vermutlich auch nicht sein wird.«

»Sie sind der größte Rüpel, der mir je untergekommen ist.«

»Das hoffe ich um Ihretwillen«, gab er zurück. »Ein größerer Rüpel könnte seiner Meinung über Ihre geringe Intelligenz oder Ihre plumpe Haltung Ausdruck verleihen.«

»Die meisten Mädchen gleiten dahin wie Standbilder auf Rollen«, meintest du zu mir, »doch du wiegst und bewegst dich wie eine Frau. In deinen Adern fließt Blut und kein dünner Tee.«

Ich spielte mit dem Gedanken, meinen Teller nach ihm zu werfen, hatte aber Hunger, und in seinem Haus gab es wenig genug zu essen.

»Ich glaube, Ihr Schweigen war mir lieber.«

»Mir auch.« Sidney Grice zermahlte seinen verbrannten Toast zu Pulver und streute es in seinen Pflaumensaft.

In der Ferne schellte die Türglocke.

»Molly hat etwas vergessen.« Er legte seine zerknüllte Serviette auf die Tischdecke.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Indem ich tue, wozu ich Sie nicht bewegen kann – meine Ohren gebrauchen. Sie geht in ihren schweren Straßenstiefeln zur Tür. Folglich muss sie eine dringende Besorgung vorhaben.«

Ich lauschte, hörte aber nichts, bis das Dienstmädchen die Treppe zum Speisezimmer im ersten Stock heraufkam.

»Sie haben Besuch, Sir, ein Herr.« Fuchsrote Strähnen lösten sich zu beiden Seiten ihres gestärkten Häubchens. »Er sagte, er müsse Sie in …«, sie verzog das Gesicht vor lauter Anstrengung, sich zu entsinnen, »… einer äußerst wichtigen Angelegenheit sprechen.«

»Hat er dir seine Karte gegeben?«

»Ja, Sir.« Molly trug ihre Straßenstiefel, ganz wie mein Vormund gefolgert hatte.

»Wo ist sie?«

»In meiner Tasche.«

»Warum nicht auf einem Tablett? Na schön. Gib sie mir.«

Molly reichte ihm die Visitenkarte, und ihr Dienstherr schnappte sie sich.

»Mr Horatio Green.« Er schüttelte sich. »Welch ein abstoßend bäurischer Zuname. Wo ist er jetzt?«

»Draußen, Sir. Sie haben gesagt, ohne Ihre Erlaubnis soll ich niemanden reinlassen.«

Sidney Grice erhob sich. »Dann führ ihn umgehend in mein Studierzimmer.« Er nahm seine Augenklappe ab. »Dämliches Ding. Nie befolgst du meine Anweisungen.« Er fischte ein stahlblaues Glasauge aus dem Samtbeutel in seiner Westentasche, zog seine Lider auseinander und drückte es in seine rechte Augenhöhle, richtete seine Krawatte im Spiegel über dem Kaminsims und strich mit der Hand sein dichtes schwarzes Haar zurück. »Sie kommen besser mit, March. Vom vielen Trübsalblasen sind Sie noch verdrießlicher und unleidlicher geworden.«

3Ein Gast und ein paar Kunststücke

Ich folgte ihm die Treppe hinab in sein Studierzimmer. Mit jedem Schritt seines linken Fußes senkte sich ruckartig seine Schulter. Ein fülliger Herr mittleren Alters in marineblauem Jackett und dunkelgrauen Hosen hatte bereits rechts vom Kamin Platz genommen und hielt sich die Wange. Für gewöhnlich war dies mein Platz, doch Molly hätte sich niemals erdreistet, einem Besucher den Sessel ihres Brotherrn anzubieten. Kaum waren wir eingetreten, sprang unser Gast auf und ergriff Sidney Grice’ Hand.

»Mr Grice. Wie aufregend! Ich habe schon so viel über Sie in der Zeitung gelesen.«

»Dann werden Sie schwerlich auch nur ein Jota Wahrheit erfahren haben«, entgegnete Sidney Grice.

»Und Sie müssen Miss Middleton sein.« Mr Green begrub meine Hand in seiner und drückte beherzt zu. »Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie Mr Grice bei der Aufklärung der Ashby-Morde geholfen.«

Mein Vormund rückte sein Auge zurecht. »Sie mag an meiner Seite gewesen sein, aber ich darf Ihnen versichern, dass sie mir kaum dienlicher war als ein Klotz an meinem Bein. Läuten Sie nach Tee, Miss Middleton.«

»Ich werde all meine Dummheit darauf verwenden.« Ich zog zweimal an der Klingelschnur, während die beiden Herren einander gegenüber Platz nahmen, und zog vom Tisch in der Zimmermitte einen Stuhl für mich heran.

»Nur zu.« Mr Green errötete vor Erregung, und Sidney Grice kniff die Augen zusammen.

»Wie bitte?«

»Los, stellen Sie genialische Beobachtungen über mich an.«

Mein Vormund rekelte sich. »Ich führe keine Kunststücke zur allgemeinen Belustigung auf.«

Unser Gast beugte sich vor »Ach, kommen Sie schon. Erzählen Sie mir etwas über mich.«

Sidney Grice winkte gelangweilt ab. »Ungeachtet der Tatsache, dass Sie Apotheker sind …«

Mr Green fuhr sich an die rechte Wange. »Wie zum Teufel … Das grenzt ja ans Übersinnliche. Habe ich etwa noch Spuren von Chemikalien an den Händen?« Er begutachtete seine Finger. »Nichts zu sehen.«

»Es steht auf Ihrer Visitenkarte«, erwiderte mein Vormund.

»Nun ja, dann ist das wohl kein Kunststück, oder? Versuchen Sie’s noch einmal.«

»Sie leiden an Ohrenschmerzen«, beschied ihn Sidney Grice, »wenngleich weniger schwer, als ich es Ihnen wünschte.«

Mr Green strich sich bestätigend übers linke Ohr. »Diese Geißel plagt mich seit meinem vierzehnten Lebensjahr, als mir ein Ohrenkneifer das Trommelfell zerstach.«

Ich lachte auf. »Dass Ohrenkneifer tatsächlich in Ohren kriechen, ist doch gewiss ein Ammenmärchen?«

Mr Green blickte bekümmert drein. »Ich bin der lebende Beweis, dass dem nicht so ist.« Er legte die Fingerspitzen an seine linke Schläfe. »Jedes Kind hätte das aus der Watte in meinem Ohr schließen können. Sagen Sie etwas Schlaueres.«

Sidney Grice kratzte sich erzürnt am Kopf. »Wie könnte ich wohl wissen, was einem Mann von Ihrer beschränkten Geisteskraft offensichtlich erscheint, wenn für mich alles an Ihnen offensichtlich ist? Zum Beispiel, dass Sie Junggeselle sind.«

Mr Green sann kurz darüber nach, um schließlich zu entgegnen: »Nun gut. Ich gebe mich geschlagen. Wie haben Sie das herausbekommen?«

»Drei Gründe«, erläuterte mein Vormund. »Erstens: Die Knopfsteppung Ihrer Weste ist seit mindestens vier Jahren außer Mode – fünf, falls Sie in einer gehobenen Gegend residieren, was Sie nicht tun –, und keine Frau der Welt würde ihren Mann derart gekleidet vor die Tür lassen. Zweitens …«

»Ja, aber was, wenn ich mir nichts aus der neuesten Mode mache und meine Frau nicht wagt, mich daran zu hindern?«

Sidney Grice lachte schneidend. »Was abermals belegt, dass Sie nicht verheiratet sind. Anscheinend haben Sie Mr Dickens’ kleingeistiges Geschreibsel gelesen, da Sie glauben, jenseits der Buchdeckel seiner rührseligen Romane existiere so etwas wie eine untertänige Gattin. Zweitens also tragen Sie keinen Ehering – was zwar für viele verheiratete Männer gilt –, da Sie aber Katholik sind …«

»Rieche ich nach Weihrauch?«

»Ich rieche da wirklich etwas«, sagte ich, man schenkte mir aber keine Beachtung.

»Ein Rosenkranz hängt aus Ihrer Jackentasche«, stellte Sidney Grice fest. »Und der dritte, wohl schlüssigste Grund lautet, dass Sie ein derart unerträglicher Mensch sind, dass sich keine zurechnungsfähige Frau mit Ihnen vermählen würde – und geisteskranken Damen ist die Eheschließung von Rechts wegen verboten.«

Mr Greens Miene verhärtete sich, und er erhob sich aus seinem Sessel. Mit mahlenden Kiefern rang er verzweifelt nach Widerworten. Dann trat ein breites Lächeln auf sein Gesicht, und herzhaft lachend ließ er sich zurückfallen. »Herrlich. Herrlich. Ihre Grobheiten sind ebenso berühmt wie Sie selbst, Mr Grice, und nun kann ich all meinen Kunden berichten, dass auch ich in ihren Genuss gekommen bin.«

»Ich habe noch einiges mehr auf Lager, was Sie herumerzählen können«, schnaubte mein Vormund. »Ich könnte mich zum Beispiel in aller Ausführlichkeit über Ihr schwachsinniges Grinsen auslassen.«

Mr Green errötete abermals. »Ich verstehe ja eine Menge Spaß, aber …«

»Nun, wie war Ihr Besuch beim Zahnarzt?«, fragte ich, und mein Vormund sah mich irritiert an.

»Aber …«, sagte Mr Green erneut.

»Ich kann es riechen«, erklärte ich, »außerdem fassen Sie sich ständig an die rechte Wange.«

Mr Green klatschte in die Hände. »Nicht schlecht. Da werden Sie Ihren Vormund wohl bald arbeitslos machen. Ich …«

»Könnten Sie mir vielleicht sagen, wieso Sie meine Zeit in Anspruch nehmen?«, fiel ihm Sidney Grice ins Wort, worauf das Lächeln unseres Gastes jäh erlosch.

»Eine schlimme Angelegenheit, Mr Grice«, begann er, während Molly hustend mit dem Tee hereinkam.

4Der Narrenverein

»Eine ganz üble Geschichte«, fuhr Mr Green fort, als Molly das Zimmer verlassen hatte. »Haben Sie schon einmal von Finalen-Sterbefall-Vereinen gehört, Mr Grice?«

»In meinen Akten finden sich drei derartige Klubs«, sagte Sidney Grice, »und in einem jeden wurden Mitglieder ermordet oder starben unter höchst dubiosen Umständen. Da ich jedoch nicht hinzugezogen wurde, blieben diese Fälle ungelöst.«

Ich schenkte uns Tee ein.»Was genau ist ein Finaler-Sterbefall-Verein?«

»Ein Verbund von Narren«, sagte mein Vormund, »mit großem Vermögen und mikroskopisch kleinen Spuren gesunden Menschenverstands.«

Unser Gast richtete sich ungehalten auf. »Lassen Sie es mich weniger gefühlsbetont beschreiben«, setzte er an.

Nun war es an Sidney Grice zu stutzen. »Alle Welt weiß, dass ich keine Gefühle habe außer meiner zwiefachen Liebe – zu Besitztümern und zur Wahrheit.«

»Milch und Zucker?«, fragte ich, und Mr Green nickte.

»Solche Vereine sind meist reine Männerbünde«, erläuterte er, »wenngleich dem unseren auch zwei Damen angehören –, deren Mitglieder entweder keine Erben haben oder solche, an denen ihnen nichts liegt. Ihre Testamente sehen nun einen Geldbetrag vor, der gewöhnlich auf dem Gesamtvermögen des ärmsten Mitglieds fußt, wobei alle einer unabhängigen Buchprüfung unterzogen werden. Diese Testamente werden einem gemeinsam bestellten Advokaten ausgehändigt, der dann jeweils im Todesfall den Nachlass einziehen und verwalten wird, um das vereinte Kapital an das letzte überlebende Mitglied auszuschütten. Für seine Dienste erhält der Advokat einen Anteil von zwanzig Prozent an jeglicher Mehrung des Vermögenswerts. Das …«

»Mit anderen Worten«, unterbrach ihn Sidney Grice, »es liegt im ureigenen Interesse jedes Mitglieds, ein vorgängiges Ableben seiner Gefährten sicherzustellen.«

»Und deshalb trete ich an Sie heran.« Horatio Green hob mit beiden Händen vorsichtig seine Teetasse. »Schauen Sie, zu siebt haben wir den Verein gegründet und dem Fonds je elftausend Pfund zugesichert, sodass dem letzten Mitglied ganze siebzigtausend Pfund zuzüglich Zinsen zufallen.«

»Und wer bekommt die verbleibenden siebentausend Pfund?«, erkundigte sich mein Vormund.

»Na Sie, Mr Grice.«

Sidney Grice sah auf seine Taschenuhr. »Erklären Sie.«

Mr Green nippte an seinem Tee. »Wir sind nicht so leichtsinnig, wie Sie vermuten, Mr Grice. Zunächst einmal haben wir nur den charakterlich Höchststehenden Beitritt zu unserem Verein gestattet, außerdem sind wir auf die List verfallen, den Tod jedes Mitglieds zu untersuchen, ganz gleich, wie natürlich sein Verscheiden wirken mag. Zu diesem Zweck kamen wir überein, den fähigsten unabhängigen Ermittler im ganzen Empire zu engagieren.«

»Dann sind Sie an der richtigen Adresse«, sagte mein Vormund.

»Allerdings«, fuhr Mr Green fort, »war Mr Cochran unwillens, diese Herausforderung anzunehmen. Also bin ich zu Ihnen gekommen.«

Sidney Grice fasste sich an sein Auge. »Bin ich eine Taube, die Brosamen dieses eitlen Hochstaplers aufzupicken?«

Mr Green stellte glucksend seine Tasse ab. »Reingelegt, Mr Grice. Wie Sie sehen, sind Sie nicht der Einzige, der grob sein kann. Sie sind selbstverständlich unsere erste und alleinige Wahl.«

»Ich betrachte es weiterhin als ein Unding, dass man mich nicht eher aufgesucht hat.« Mein Vormund schenkte Mr Green einen eisigen Blick. »Sollte ich das Mandat annehmen, Mr Green« – er pochte auf seine Uhr und stellte den Minutenzeiger vor –, »so nur deshalb, weil mir die Aussicht auf eine Untersuchung Ihres Todes grenzenloses Vergnügen bereiten dürfte. Hoffen wir, dass ich nicht allzu lange darauf warten muss.«

Mr Green hakte beide Daumen in seine Westentaschen und ließ die Finger darauf tänzeln. »Tja, was auch kommen mag, ich werde nicht der Erste sein. Wir haben uns erst vor einer Woche gegründet und schon ein Mitglied verloren.«

»Es tut mir zutiefst leid«, sagte mein Vormund.

»Vielen Dank, aber …«

»Dass ich diesen nutzlosen Trampel eingestellt habe«, fuhr Sidney Grice fort. »Dieser Tee ist so lasch wie ein Franzose, und was treibt sie da eigentlich in der Diele?«

»Ich höre nichts«, sagte ich.

Mr Green legte den Kopf schräg. »Ich auch nicht.«

»Stumpfe Geister haben stumpfe Sinne«, beschied uns mein Vormund und zog zweimal scharf an der Klingelschnur. »Dann sollten Sie mich wohl mit den Einzelheiten vertraut machen.«

»Er hieß Edwin Slab«, setzte Mr Green an, doch mein Vormund brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen.

»Sie werden mir dann Auskunft geben, wenn ich darum bitte. Alsdann …« Er nahm einen kleinen Ledereinband vom Tisch neben seinem Sessel und zog seinen versilberten mechanischen Bleistift Marke Mordan aus der Innentasche seiner Jacke. »Welchen Namen trägt Ihr alberner Verein?«

»Wir haben ihn ›Klub des letzten Todes‹ getauft.«

»Wie originell«, murmelte mein Vormund. »Und wer sind die übrigen Mitglieder?«

»Ich habe eine Liste mit Namen, Anschrift, Beruf und Alter aufgestellt.« Mr Green hielt ihm einen gefalteten Bogen Papier hin. Sidney Grice lehnte sich zurück, schloss die Augen und sagte: »Lesen Sie vor. Fürs Erste bloß Namen und Alter.«

Unser Besucher faltete den Bogen auseinander, hängte sich eine Hornbrille um die Ohren und begann: »Edwin Slab, einundachtzig Jahre.«

Mein Vormund hob eine Braue. »Kein wahrscheinlicher Sieger also.« Mr Green widersprach.

»Wir haben darauf geachtet, dass sämtliche Mitglieder ähnliche Lebenserwartungen haben. Die Slabs blicken auf Generationen von Hundertjährigen zurück, und bis gestern war Edwin bei bester Gesundheit.«

»Sie waren befreundet?«

»Herzlichst. Ich habe ihn in den Verein eingeführt.«

»Und wie ist Mr Slab nun auf Platz eins gelandet?«

Es schepperte laut, und Sidney Grice schnellte herum. »Dreckige Gassenlümmel. Haben diese Bengel nichts Besseres zu tun, als Steine gegen meine Fenster zu werfen? An rostigen Röhren, die man sie runterschicken könnte, mangelt es ja nicht.«

»Und nicht an Ratten und Krankheiten, die sie da unten befallen würden«, wandte ich ein. Mein Vormund blieb ungerührt.

»Es ist kein Schaden entstanden«, bemerkte Mr Green. »Sie hätten mal sehen sollen, was die gestern Abend in meiner Apotheke angerichtet haben. Als ich gerade schließen wollte, stürmte eine ganze Horde rein und fing an, Ware von den Regalen zu fegen. Ich wollte die Burschen aufhalten und wurde zu allem Ärger noch umgerissen. Ich wage nicht, daran zu denken, was noch hätte geschehen können, wäre nicht ein Pfarrer mit seiner Tochter aufgetaucht und hätte sie verscheucht.«

»Haben sie etwas gestohlen?«, fragte ich.

»Dazu hatten sie keine Gelegenheit. Ein paar Dinge gingen zu Bruch, mehr nicht. Der Pfarrer hob das meiste auf, und ich stellte es zurück in die Regale, während seine Tochter um Fassung rang. Damen tun sich schwer mit Erregung.«

»Sie erleben so selten welche«, teilte ich den beiden mit.

Sidney Grice, der sich erneut mit geschlossenen Lidern zurückgelehnt hatte, schlug die Augen auf und fragte: »Wie viele?«

»Sechs oder sieben.«

»Was denn nun?«

»Spielt es eine Rolle?«

»Käme es zur Verhandlung, würde es für den siebten Bengel eine ungeheure Rolle spielen. Sind Sie diesem Pfarrer vorher schon einmal begegnet?«

Mr Green zuckte zusammen und fuhr sich ins Gesicht. »Ich kenne ihn von einem vorherigen Besuch – ein Pastor Golding von der Sankt-Agatha-Kirche. Er hat selber ein Ohrenleiden und bat mich um Rat.«

»Das bemerkenswerteste Bagatellvergehen, das mir in den vergangenen vier Jahren untergekommen ist.« Mein Vormund wedelte mit einer Hand. »Fahren Sie fort.«

»Nun, ich riet ihm, nach dem Frühstück …«

»Nicht mit diesem Gewäsch. Erzählen Sie mir von Mr Slab.«

Mr Green plusterte sich auf, aber nur für einen Augenblick. »Der Arzt geht von einem Anfall aus.«

»Sie zweifeln daran?«

Mr Green breitete die Arme aus, als wollte er zeigen, dass seine Hände leer waren. »Ich habe keine eigene Meinung in der Sache, Mr Grice, aber die Vereinsregeln verpflichten mich, Sie um eine Untersuchung zu bitten.«

Mein Vormund gähnte. »Ich kann mich derzeit kaum vor Arbeit retten.«

»Es gibt jedes Mal eintausend Pfund, Mr Grice, und noch einen Bonus von zweitausend Pfund, sollten Sie beweisen können, dass ein Mitglied von einem anderen ermordet wurde.«

»Wann fällig?«

»Nach dem Tod des letzten Mitglieds.«

»Und wenn ich vorher sterbe? Bleibt das Geld dann im Vereinsvermögen? Falls ja, setze ich mich derselben Gefahr aus, wie Sie es dämlicherweise tun.«

»Das haben wir bedacht. Sollten Sie vor uns allen sterben, wird das Geld für jeden von Ihnen untersuchten Fall derjenigen Person hinterlassen, die Sie als Erben eingesetzt haben.«

»Es gibt aber niemanden, dem ich Geld hinterlassen wollte. Vom Kinderfluch bin ich verschont geblieben.«

»Sie haben eine Mutter«, sagte ich. Er zuckte mit den Schultern.

»Ein paar tausend Pfund würden ihr nichts bedeuten. So viel gibt sie vermutlich jeden Monat aus, um bröcklige Steinklumpen von diesem alten Tempel in Athen mitgehen zu lassen.«

»Jemand anderes im Kreis Ihrer Verwandten und Freunde, an dem Ihnen liegt«, schlug Mr Green vor, doch mein Vormund blickte finster drein.

»Da gibt es niemanden.«

»Was ist mit Miss Middleton?«

»Sie fällt unter keine dieser Kategorien.«

Molly kam mit einer Kanne frisch aufgebrühten Tees herein.

»Vielleicht könnten Sie das Geld mit ins Grab nehmen.« Ich schenkte uns ein und freute mich, es ausnahmsweise dampfen zu sehen, während Molly sich an einem kunstvollen Knicks versuchte und zur Tür hinausstolperte.

»Endlich etwas Vernünftiges aus Ihrem Munde, zumal ich mich verbrennen lassen will.«

Mr Green lachte unsicher, doch Sidney Grice streckte nur die Hand aus und sagte: »Geben Sie mir die Liste.«

Mr Green überreichte das Papier, und mein Vormund klemmte sich seinen Zwicker auf den langen schmalen Nasenrücken.

»Horatio Green«, las er laut vor, als hätte der Name neue Bedeutung für ihn gewonnen. »Edwin Slab, Gentleman; Primrose McKay – eine abscheuliche junge Dame, falls nur etwas an den Geschichten über sie dran sein sollte.«

»Hat sie etwas mit McKays Wurstwaren zu tun?«, fragte ich. Er nickte.

»Einem Bericht zufolge nahm ihr Vater sie an ihrem zehnten Geburtstag zum Schlachthof mit, und sie amüsierte sich prächtig. Größtes Vergnügen bereitete es ihr, einer Sau die Kehle durchschneiden zu dürfen.«

»Wie grauenhaft.« Ich kämpfte gegen die Übelkeit an.

Sidney Grice schnäuzte sich die Nase. »Und keineswegs das Schlimmste, was ich über sie gehört habe.« Er kratzte sich am vernarbten Ohr. »Sie ist sehr jung.«

»Neunundzwanzig«, bestätigte Mr Green, »aber seit es Aufzeichnungen darüber gibt, ist keiner ihrer weiblichen Vorfahren älter als fünfunddreißig geworden. Vielmehr –«

»Der ungemein equestrisch klingende Warrington Gallop, Inhaber von Gallops Schnupftabakgroßhandel«, fuhr mein Vormund fort. »Pastor Enoch Jackaman, Pfarrer an der Sankt-Hieronymus-Kirche – ich bin seinem Bruder einmal auf der Überfahrt nach Calais begegnet; der Träger des verschrobenen Namens Prometheus Piggety, ein selbsternannter Unternehmer.« Seine Stimme war wohltuend gesunken, hob sich nun aber jäh. »Baronin Foskett«, sagte er laut, und Mr Green setzte sich auf. »Sie kennen die Baronin?«

»Seit nunmehr anderthalb Jahrzehnten hat niemand etwas von ihr gehört. Mein Vater war ein enger Freund des seligen Barons Reginald, und als Kind habe ich oft in Mordent House, dem Stammsitz in Kew, mit ihrem seligen Sohn gespielt, dem Ehrenwerten Rupert. Was gibt es da zu lachen, Miss Middleton?«

Ich verbarg meinen Mund. »Tut mir leid. Aber die Vorstellung, dass Sie spielen …«

Mein Vormund runzelte die Stirn. »Ich war ein vollkommen normaler Junge und Rupert nur dreizehn Jahre älter. Welch ungestüme Freude doch darin lag …«, ein wehmütiger Ausdruck huschte über sein Gesicht, »… spielten wir Schach; und war uns alberner zumute, gaben wir uns mathematische oder syllogistische Rätsel auf.«

Mr Green zwinkerte mir zu. »Ein rechter Rotzlöffel also.«

Sidney Grice grunzte. »Mich verblüfft, dass Baronin Foskett sich an solch einem leichtfertigen und törichten Unterfangen beteiligt.«

»Sie ist ganz begeistert davon.« Mr Green nahm sich etwas Zucker, und ich goss Milch hinzu. »Das hat sie mir selbst gesagt.«

»Ich glaubte, sie sei noch in tiefer Trauer und empfange niemanden.« Mein Vormund beugte sich vor. »Sie haben sie getroffen?«

Mr Green trank einen Schluck. »Nun, sozusagen«, sagte er und verzog das Gesicht. »Dieser Tee schmeckt eigenartig.«

Mein Vormund probierte seinen. »Etwas blumig vielleicht. Eine neue Mischung von den unteren Osthängen des Himalaja.«

»Eigenartig«, wiederholte Mr Green und nahm einen weiteren Schluck. Er zuckte zusammen. »So heiß.«

Sidney Grice zog die Nase kraus, schaute kurz verdutzt, dann warf er im Hochschnellen seine Tasse und Untertasse hin. »Halt!« Er warf den Tisch um, zertrümmerte dabei das Porzellan und bespritzte mein Kleid mit heißem Tee. »Spucken Sie’s aus, Mann. Spucken Sie’s aus.«

Unser Besucher blickte in die Runde.

»Irgendwohin! Auf den Boden!«, rief mein Vormund.

Mr Green schluckte. »Das könnte ich nicht.« Er leckte sich die Lippen und verzog das Gesicht. »Liebe Güte, wie das brennt.«

»Sie Dummkopf! Das war …«

»Blausäure«, flüsterte Mr Green verwirrt und ließ die leere Tasse in seinen Schoß fallen. Er wurde blass, und zahllose kleine Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Sein Kopf fiel ruckartig zurück, er riss den Mund auf, verkrallte sich in den Sessellehnen, hob die Schultern und wölbte die Brust, um tief durchzuatmen.

Ich stürzte zu ihm, löste seine Krawatte und knöpfte ihm den Hemdkragen auf. Der Schweiß rann nun seine Schläfen hinunter. Mr Green atmete schwer aus und holte neuerlich bebend Luft, sein Gesicht blutrot angelaufen, die Augen vor Schreck geweitet.

»Helfen Sie mir.« Die Stimme versagte ihm. »Bitte.«

»Tun Sie was«, bellte mein Vormund. »Sie sind diejenige mit medizinischer Erfahrung.«

Mr Green umklammerte seinen Hals. Er hechelte, und ich konnte hören, wie sich seine Lunge mit Wasser füllte. Seine Haut färbte sich dunkelblau.

»Beugen Sie sich vor.« Ich fühlte mich, als würde eine andere die Anweisungen geben. »Und versuchen Sie, langsam zu atmen.« Doch ich wusste, dass vergebens war, was immer ich sagte.

Horatio Greens Gesicht war nun schwarz, während er um Luft rang.

»Sterben Sie ja nicht in meinem Haus«, sagte Sidney Grice. »Ich untersage es Ihnen nachdrücklich.«

Horatio Green knickte ein, und Flüssigkeit gurgelte in seiner Brust. Mit ungeheurer Anstrengung kämpfte er sich noch einmal auf die Beine. Seine linke Hand fuhr nach unten, verfehlte aber die Sessellehne, und er rutschte seitlich weg. Ich bekam seinen Arm zu fassen, und er packte den Ärmel meines Kleides und kniff mir so fest in die Haut, dass ich aufschrie.

»Bleiben Sie bei Bewusstsein«, befahl mein Vormund.

»Ist schon gut«, sagte ich. Ich fand mein Gleichgewicht wieder. »Ist schon gut«, sagte ich noch einmal langsam. »Ich halte Sie und werde Sie nicht loslassen.«

Sein verzweifelter Blick. Ich kannte diesen Blick und hatte gehofft, ihn nie wieder zu sehen.

»Gott segne Sie«, sagte ich, als seine Beine wegsackten. Er war zu schwer für mich.

Mein Vormund packte ihn unter den Achseln, und wir gerieten alle drei aus dem Gleichgewicht. Horatio Green sog ein letztes Mal flach und gurgelnd Luft ein, ehe sie ein letztes Mal aus ihm herausströmte und er rückwärts in seinen Sessel kippte. Ich fühlte ihm den Puls. Nichts. Ich hielt ein Ohr an seine Nase und horchte nach etwas, das zu hören ich keine Hoffnung hatte.

»Verflixt und zugenäht.« Sidney Grice fuhr sich an die Stirn. »Nun habe ich schon wieder einen Klienten verloren.«

5Der tanzende Totenschädel

Ich trat einen Schritt zurück, atmete tief ein und langsam wieder aus, um mich zu beruhigen. »Sie haben einen Klienten verloren? Ist das alles?«

»Für mich schon.«

»Es geht Ihnen also nur ums Geld?«

Sidney Grice sah mich kühl an. »In finanzieller Hinsicht gilt – wie Sie ja wissen – die Devise: Je früher alle sterben, desto besser«, sagte er. »Aber mein Ruf ist äußerst ramponiert, und das hier wird ihm den Rest geben.«

Ich bahnte mir einen Weg um den umgestürzten Tisch und die Scherben unseres Teeservice herum und zog an der Klingelschnur. Der elfenbeinerne Totenschädel vollführte ein makabres Tänzchen. »Was tun Sie da?«

»Ich rufe Molly.« Irgendetwas Scharfes hakte in meiner Brust. »Wir müssen die Polizei rufen.«

»Nein.« Sidney Grice strich sich das Haar zurück und zögerte. »Ja, gewiss.« Er hockte sich hin, um Horatio Greens hervorquellende Augen zu betrachten. »Aber wie haben Sie das Gift zu sich genommen?«, fragte er. »In der Teekanne war es nicht, und Sie haben nichts gegessen.« Er hüstelte.

Der Geruch von Bittermandeln erfüllte den Raum. Ich trat ans Schiebefenster. Es ließ sich kaum bewegen. Womöglich war es seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. Plötzlich drang der Tumult der Gower Street, das Klappern der Hufe und Rattern der Räder, lärmend zu uns herein.

»Die Milch oder der Zucker können es ebenso wenig gewesen sein. Davon hatte ich ebenfalls«, entsann ich mich. »Und Pillen waren es auch keine, es sei denn, er hat sie sich in den Mund gesteckt, als wir gerade wegschauten.«

»Das hätte ich bemerkt.«

Molly kam hereinspaziert, ihren Staubwedel wie einen Sonnenschirm über die Schulter geworfen. Dann blieb sie jäh stehen und öffnete den Mund. Sidney Grice zeigte mit dem Finger auf sie. »Nicht schreien!«

Sie schloss den Mund, machte nervös einen Schritt nach vorn und blickte zu Boden. »Ist er« – sie schob sich eine Haarlocke zurück unter die Haube –, »tot?«

»Ich fürchte, das ist er«, sagte ich, woraufhin sie sich nach der Zuckerschale bückte, die in die Mitte des Zimmers gerollt war.

Sidney Grice hob die zerschmetterte Tasse unseres Gastes auf und hielt sie sich unter die Nase. »Keine Spur von Blausäure.« Er stellte sie wieder hin und inspizierte die Sohlen von Mr Greens Stiefeln.

Molly starrte ihn fragend an. »Hätten Sie gern welche, Sir?«

»Nein, Molly«, erklärte ich. »Das ist ein Gift.«

»Oh, Sir« – wieder entwischte eine Strähne ihrer Haube – »als ich ganz zufällig an der Tür stand und hörte, wie Sie zu Ihrem Gast sagten, dass Sie hoffen, er würde bald sterben, da hätt ich nicht gedacht, dass Sie ihn gleich auf der Stelle ermorden.«

Worauf ihrem Dienstherrn just das Auge herausfiel. Behände fing er es auf und verstaute es in seiner Westentasche. »Ich habe Mr Green nicht umgebracht.«

Anschließend nahm er Horatio Greens rechte Hand, drehte die Handfläche erst nach oben, dann wieder zurück und inspizierte die Fingernägel. Er hielt sie sich unter die Nase, als wollte er den Duft einer wohlriechenden Blume aufsaugen, und ließ sie dann wieder zurück auf das Bein des Toten fallen.

»Wie Sie meinen, Sir.«

Sidney Grice richtete sich auf. »Wieso bin ich eigentlich nur von Toten und Schwachsinnigen umgeben?« Er stiefelte zu seinem Schreibtisch.

»Tote gehören nun mal zu Ihrem Beruf, und wenn es irgendwelche Schwachsinnigen in diesem Zimmer gibt, dann haben Sie sie hergebracht.«

Aber mein Vormund hörte mir nicht mehr zu. Er hatte den patentierten selbstfüllenden Füllfederhalter gezückt, saß vornübergebeugt da und schrieb einen Brief.

»Nun, Molly, vielleicht ist das zu viel verlangt, aber hör gut zu.« Er löschte die Tinte, faltete das Schreiben und schraubte die Feder wieder in den Schaft. »Du wirst jetzt in die Diele gehen und die Flagge hissen. Sobald ein Hansom anhält, lässt du dich auf direktem Weg zur Polizeiwache von Marylebone bringen.« Er ließ den Brief in einen weißen Umschlag gleiten, tunkte einen Pinsel in den Leimtopf und verklebte die Lasche. »Halt nicht an, um in Schaufenster zu glotzen oder mit deinen speckigen Tellerwäscherfreunden zu schwatzen. Frag am Tresen nach Inspektor Pound. Unter keinen Umständen darfst du diesen Brief jemand anderem geben. Hast du das verstanden?«

»Und was mach ich, wenn er nich da is?«

»Dann kommst du schnurstracks nach Hause zurück und sagst es mir. Hier hast du zwei Schillinge und vier Pennys. Das sind ein Schilling für die Fahrt und je zwei Pennys für das Trinkgeld pro Strecke.« Er ließ die Münzen in die Zuckerschale fallen. »Los!«

»Die sind nicht speckig«, raunte Molly im Gehen vor sich hin. »Na ja, nicht sehr.«

Ich richtete den Tisch auf. »Und wenn das Gift schon in seinem Mund war?«, mutmaßte ich. »Vielleicht hat er irgendetwas gegen die Zahnschmerzen gelutscht.«

Sidney Grice schnippte mit den Fingern. »Baumgartner«, stieß er hervor.

»Was ist das?«

Mein Vormund marschierte an seinem Schreibtisch vorbei hinüber zu den Aktenschränken, die rechterhand an der Wand standen, und zog die unterste Schublade eines Schranks halb heraus. Während seine Lippen stumm die Schlagwörter aufsagten, flogen seine Finger behände über die Ränder der eng gestapelten braunen Umschläge hinweg.

»Hier haben wir’s.« Er fischte eine Akte heraus, öffnete sie und brachte ein Bündel handschriftlicher Notizen und Zeitungsauschnitte zum Vorschein. »Nicht was, sondern wer.« Er reichte mir die vergilbte Ausgabe einer Gazette – Wiener Zeitung stand dort zu lesen. »Otto Baumgartner war ein österreichischer Zahnarzt, dessen Klientel auch zahlreiche Mitglieder des Habsburger Königshauses umfasste. Im Sommer ’54 kam es unter seinen Patienten zu rätselhaften Todesfällen, nur wenige Tage, Stunden oder, in einem Fall, gar Minuten nach der Behandlung. Nachdem auch der Erzbischof von Wien vor dem Hauptaltar seiner Kathedrale tot umgefallen war, orderte Kaiser Franz Joseph höchstpersönlich eine Untersuchung an.« Die Zeitung war staubtrocken und knisterte beim Umblättern. »Doch erst Monate – und weitere Todesfälle – später gelang es der Polizei, einen Zusammenhang zu den Zahnarztbesuchen herzustellen«, fuhr Sidney Grice fort. »Bei der Durchsuchung von Baumgartners Praxis fand man eine Flasche Strychninpulver – genug, um die halbe Stadt auszulöschen. Baumgartner legte ein umfassendes Geständnis ab. Er hatte die Löcher in den Zähnen seiner Patienten mit dem Pulver gefüllt und dann die Plomben darüber so gelockert, dass sie herausfielen, sobald der Patient eine Mahlzeit oder auch nur ein heißes Getränk zu sich nahm.« Ich begutachtete eine Skizze, die ein Künstler von dem Mörder gemacht hatte, ein rundlicher, vergnügt aussehender Bursche mit Backenbart. »Man schätzt, dass Otto Baumgartner über vierzig seiner Patienten getötet hat.« Sidney Grice nahm die Zeitung wieder an sich. »Doch die tatsächliche Opferzahl wie auch sein Motiv wird man wohl nie eruieren, da es ihm vor seiner Festnahme gelungen war, sämtliche Aufzeichnungen zu vernichten, und er sich mitten im Prozess seine eigene Medizin verabreichte.« Sidney Grice ließ die Akte auf den Schreibtisch fallen. »Helfen Sie mir, ihn auf den Boden zu legen, March.«

»Sollten wir das nicht lieber der Polizei überlassen?«

»Wo immer das Verbrechen begangen wurde, hier war es nicht. Also, ich packe die Leiche unter den Armen …«

»Er hatte einen Namen.«

»… und hebe sie an, dann können Sie …«

Ich zog den Sessel weg. Für seine Größe war Sidney Grice überraschend kräftig. Er ließ Horatio Green nahezu geräuschlos zu Boden sinken. »Drehen Sie das Gas auf.«

Die weißen Flammen hoch oben an der Wand änderten kaum etwas am mittäglichen Dämmer. Mein Vormund setzte seinen Zwicker auf, kniete sich neben den leblosen Körper, öffnete Mr Greens Kinnlade und bewegte den Kopf des Toten hin und her, um das Licht einzufangen. Anschließend zog er ein weißes Taschentuch hervor, wischte über den offenen Mund und begutachtete den blutigen Stoff, bevor er ihn in den kalten Kamin schleuderte.

»Was halten Sie davon, March?«

Ich hockte mich auf der anderen Seite hin und schaute mir Horatio Green genauer an, der beißende Geruch brannte mir in den Augen und machte mich benommen.

»Er hat sich böse auf die Zunge gebissen, und seine Kehle ist vereitert. In seinem Gebiss« – ich zählte nach –, »fehlen sieben Zähne. Die beiden großen Backenzähne unten links sind erst kürzlich mit Silberamalgam gefüllt worden, und oben stecken ebenfalls drei Plomben, aber die sehen allesamt unversehrt aus.« Ich beugte mich vor, um ihn von der anderen Seite zu betrachten. »An der Rückseite seines oberen rechten Eckzahns ist ein großes Loch. Vielleicht war dort eine Füllung.«

»Möglich.« Mein Vormund klang wenig überzeugt. »Sehen wir mal in seiner Jacke nach.«

In der linken Innentasche steckte eine Brille und in der rechten eine kalbslederne Brieftasche mit zwei Fächern. Das eine enthielt drei säuberlich gefaltete Ein-Pfund-Noten sowie sechs von Mr Greens Visitenkarten. Die andere Seite war prall gefüllt mit diversen anderen Karten, und Sidney Grice las sie laut vor, während er eine nach der anderen zu Boden fallen ließ.

»Auktionator. Weinhändler und – na also – Mr Silas Braithwaite, Zahnarzt, Tavistock Square 4. Ich denke, es könnte sich lohnen, Mr Braithwaite einen Besuch abzustatten.« Er stopfte die Karten zurück in die Brieftasche und ließ sie wieder in der Jackentasche des Toten verschwinden. Dann rappelte er sich auf und klopfte sich die Hosen ab. »Vorher benötige ich aber etwas Ruhe zum Nachdenken.«

Mein Vormund ging zurück zu seinem Sessel, setzte sich vorn auf die Kante, den Blick unverwandt auf die Leiche zu seinen Füßen gerichtet. Er fischte zwei Halfpence aus seiner Westentasche und schnippte sie zwischen den Fingern seiner Linken hin und her. Ich hörte jemanden Banjo spielen und trat ans Fenster. Auf dem Gehsteig stand ein junger Mann. In einem hellen Tenor sang er zur Melodie von My Bonny:

Am Montag hatt’ ich Scherereien,

zu Sidney Grice ging ich sodann.

»Zahl nur«, sprach er, »kein Bang’«.

»Bald wirst du baumeln am Strang«.

Ein paar Passanten blieben stehen, während er schunkelnd den Refrain anstimmte:

»Baumeln, baumeln, bald wirst du baumeln am Strang, am Strang.«

Zwei junge Damen hielten sich kichernd die weiß behandschuhten Hände vor den Mund, und das kleine Mädchen an ihrer Seite fing an, Walzer zu tanzen. Und alldieweil klimperten die Münzen, und Sidney Grice saß reglos da, mit stierem Blick, ohne auch nur das Geringste davon mitzubekommen, wie es schien.

»Baumeln, baumeln, bald wirst du baumeln am Strang.«

Ich zog das Fenster wieder herunter, ließ die Straße verstummen und dachte, wie seltsam es war, dass eine simple Glasscheibe uns die Welt vom Leibe halten kann.

Dann hörte ich, wie die Haustür geöffnet wurde und das Getöse des Verkehrs kurz anschwoll, bevor es jäh erstarb. Mein Vormund blickte auf, als wäre er gerade aus einem angenehmen Traum erwacht, und erhob sich aus dem Sessel.

»Vertrauen Sie mir, March?«, fragte er, zupfte seine Manschetten zurecht und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

»Manchmal«, antwortete ich.

»Dann würde ich Sie darum ersuchen, es auch bei dieser Gelegenheit zu tun.«

»Inspektor Pound«, verkündete Molly, »is nich …«

»Ein Schilling Lohnabzug!«, bellte Sidney Grice. »Wie oft habe ich dir schon verboten, is nich zu sagen?«

»Aber das is nich gerecht. Ich hab nix falsch gemacht.« Molly fingerte verlegen an ihrer Schürze. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass …«

»Zwei Schillinge.«

»Aber …«

»Kein aber.« Er hieb in die Luft. »Wäre ich nicht bekannt für meine Herzensgüte, würde ich dich umgehend und ohne Empfehlungsschreiben entlassen«, sagte er. »Ich bin gleich draußen … Verschwinde.« Dann wandte er sich mir zu. Leise und eindringlich gemahnte er mich: »Das ist jetzt sehr wichtig, March. Es gibt keinen Grund, den Zahnarzt zu erwähnen. Wir haben keinerlei Beweise, das alles sind reine Vermutungen. Wir müssen Pound seine eigenen Schlüsse ziehen lassen. Verstehen Sie das?«

»Ja, aber …«

»Ich lüge niemals und fordere auch Sie nicht dazu auf; ich bitte Sie lediglich, ihm nicht zu widersprechen.« Mein Vormund schob das Glasauge wieder in seine Höhle. »Bitte, March.« Ich hatte ihn nie zuvor bitte sagen hören, und in der Art, wie er mich ansah, lag etwas beinahe Kindliches.

Ich versuchte, mein Kleid wieder ein wenig herzurichten. Vorne und an den Seiten war es voller Teeflecken.

»Also gut.«

Ein Danke schön wäre nett gewesen, aber Sidney Grice hatte sich nie große Mühe gegeben, nett zu sein. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, marschierte er schnurstracks zur Tür und riss sie auf.

6Die Spinner von Wapping

Der Mann in der Diele war nicht Inspektor Pound. Er war kleiner, älter, frisch rasiert, müffelte aber leicht.

»Wollt’s Ihnen ja sagen.« Molly schlich sich davon.

»Sind Sie eine Bedienstete?«, fragte der Fremde.

»Nein«, erwiderte ich. »Und Sie?«

Er warf sich in die Brust. »Nein, Miss. Ich bin Ermittler.«

»Das bin ich auch.«

»Aber Sie sind ein Mädchen.« Er sprach leise, aber mit klarer Stimme. Seine Fingernägel waren abgekaut.

»Dass Ihnen das auffällt … Sie müssen ein exzellenter Ermittler sein«, sagte ich, als mein Vormund dazwischentrat und die Hand ausstreckte.

»Inspektor Quigley. Kümmern Sie sich nicht um Miss Middleton. Sie hat Sinn für Humor.«

»Konnte selber nie einen Nutzen drin sehen«, sagte der Inspektor beim Händeschütteln, und Sidney Grice grunzte.

»Ein vorübergehendes Phänomen wie das Fahrrad oder das Telefon. Inspektor Pound ist unabkömmlich?«

»Seine Mutter ist krank.«

»Aber seine …«, setzte ich an, doch mein Vormund legte den Zeigefinger auf die Lippen.

»Danke, dass Sie an seiner statt gekommen sind.«

Inspektor Quigley holte ein Notizbuch hervor. »Wenn man Ihrem Dienstmädchen Glauben schenken darf, haben Sie Ihrem Klienten gedroht und ihn ermordet. Immerhin haben Sie diesmal dem Henker die Arbeit abgenommen.«

»Als ich Ashby an den Galgen brachte«, Sidney Grice legte einen Finger an sein Glasauge, »geschah das unter eifriger Mitwirkung Ihrer Leute, Inspektor. Zu unser beider Glück war ich zweimal zu beweisen imstande, dass er schuldig war wie Kain.«

»Ich wollte nur, die Öffentlichkeit würde Ihre Meinung teilen«, sagte Inspektor Quigley. »Allerdings habe ich derzeit wahrlich Wichtigeres zu tun. Vielleicht könnten Sie mir mitteilen, was hier im Argen liegt.«

Sidney Grice ging voran ins Studierzimmer, wo Horatio Green derangiert neben dem Sessel auf dem Rücken lag. Der Inspektor trat an den Leichnam.

»Tja, mausetot ist er.« Er stieß mit der Schuhspitze eine umgedrehte Untertasse an.

»Ja.« Mein Vormund schnäuzte sich die Nase.

»Blausäure«, sagte der Inspektor. »Ich kann sie noch immer riechen. Aber wo hat er sie herbekommen?«

»Er war Chemiker«, sagte ich, und der Inspektor drehte sich nach mir um.

»Haben Sie gesehen, wie er sie geschluckt hat?«

»Nein. Und falls es Sie interessiert, sein Name lautet Mr Horatio Green.«

Inspektor Quigley ging in die Hocke, um an der zerbrochenen Tasse zu riechen. »Nun, in seinem Tee war sie nicht. Hat er etwas gegessen?«

»Nichts.«

Er legte die Tasse wieder hin und kam auf die Beine.

»Sieht doch eindeutig genug aus«, verkündete er. »Ein Mann stirbt an Gift. Sie haben es ihm weder absichtlich noch versehentlich verabreicht. Niemand sonst war hier. Folglich hat er es selbst genommen.« Er musterte sich im Spiegel über dem Kaminsims. »Gar kein Zweifel. Selbstmord.«

Ich öffnete die Lippen, zwang mich aber zu schweigen.

»In Ihrer Notiz war die Rede von einem Verein.«

»Einer dieser Finalen-Sterbefall-Vereine«, sagte Sidney Grice. »Er kam zu mir, weil er fürchtete, die Mitglieder könnten sich gegenseitig ermorden.«

Erneut wandte sich der Inspektor mir zu. »War er sehr erregt?«

»Nein«, sagte ich. Inspektor Quigley neigte weise den Kopf.

»Sehen Sie!« Er schnippte mit den Fingern. »Neun von zehn solcher Selbstmorde treffen die Angehörigen und Freunde völlig unvorbereitet. Der Straftäter …«

»Straftäter?«, unterbrach ich den Inspektor. Er runzelte die Stirn.

»Selbstmord, wie Sie wahrscheinlich wissen, Miss Middleton, verstößt gegen das Gesetz.«

»Wie ist er zu ahnden?«, fragte ich. »Durch eine Geldbuße? Gefängnis und Zwangsarbeit? Den Tod?«

Inspektor Quigley belächelte meine Einfalt. »Durch das Stigma, das er auf dem Toten und seiner Familie hinterlässt, und durch den Ausschluss von einem christlichen Begräbnis.«

»Warum sollte jemand, der um sein Leben bangt, sich selbst umbringen?«

Mein Vormund warf mir einen Blick zu.

»Die Männer, die den Tod am meisten fürchten, sind oft jene, die ihm zuvorzukommen trachten«, erläuterte der Inspektor geduldig. »Ich habe aufgegeben zu zählen, wie viele Männer sich das Leben nehmen, wenn ihnen der Galgen droht.«

»Gewöhnlich, indem sie sich aufknüpfen«, bemerkte Sidney Grice, und der Inspektor gackerte.

»Ganz recht. Dieser Mr Green war dermaßen beunruhigt, dass ihm etwas zustoßen könnte, dass er beschloss, hier und jetzt ein Ende zu machen, statt eines schaurigeren Schicksals zu harren.«

»Mir war bislang nicht klar, wie absonderlich Männer doch sein können«, sagte ich, und Inspektor Quigley tätschelte die Luft, und zwar dort, wo eben noch meine Schulter gewesen war.

»Nicht alle Männer sind so weise wie ich und Mr Grice. Wobei mir im Zuge meiner Arbeit tatsächlich weit mehr weibliche als männliche Suizidfälle untergekommen sind – leichte Mädchen zumeist, die gutgläubige Männer verführt haben und dann nicht einzuwickeln vermochten. Tut mir leid, wenn ich Sie damit schockiere, Miss Middleton.«

»Die Scheinheiligkeit von Männern wird mir immer ein Graus sein«, sagte ich. »Haben Sie nie davon gehört, dass Männer Frauen verführen oder sich ihnen gar aufdrängen?«

»Mal langsam.« Vielleicht lag es am Schattenspiel, aber ich hätte schwören können, dass der Inspektor rot wurde. Er rieb sich den Nacken. »Eine Leichenschau wird unvermeidlich sein«, sagte er.

»Zweifellos.« Sidney Grice geleitete ihn zurück in die Diele, ich folgte ihnen. »Aber das können Sie mir überlassen.«

»Das hoffe ich. Ich habe augenblicklich genug zu schaffen mit diesen verdammten – verzeihen Sie meine Ausdrucksweise, Miss – sogenannten Neuen Chartisten.«

»Aber der Chartismus ist doch schon vor dreißig Jahren ausgestorben«, warf ich ein.

»Als Massenbewegung«, stimmte der Inspektor mir zu und nahm seinen langen Überwurf vom Ständer. »Ein fanatischer Kern ist immer noch sehr umtriebig.«

»Was haben sie denn getan?«, fragte ich.

Mein Vormund schnäuzte sich und teilte mir mit: »Ihre bloße Existenz ist ein Angriff auf die Zivilisation.«

»Was ist verkehrt daran, das allgemeine Wahlrecht für Männer zu fordern?«

Sidney Grice lief rot an vor Entrüstung. »Das Wort allgemein ist verkehrt daran.« Er mache eine Geste hin zur Gower Street. »Folgte man dieser Auffassung bis an ihr wahnwitziges Ende, na, dann hätte die Stimme jedes Kellners und noch selbst die des Kerls, der Plunder aus Kloaken fischt, das gleiche Gewicht wie meine bei der Wahl der Regierung Ihrer Majestät. Ein Minister der Krone müsste sich beim Landstreicher und Lumpensammler beliebt machen. Unvorstellbar. Das gesamte gesellschaftliche Gefüge, die Monarchie, das Empire selbst würden zusammenfallen zu einem abscheulichen Haufen …«, seine Lippen kräuselten sich, »Demokratie«.

»Ist es nicht auch deren Land?«, fragte ich, und Sidney Grice verdrehte sein Auge.

»Das Vorrecht zu wählen muss verdient sein. Man kann es nicht verteilen wie altbackenes Brot in einer Suppenküche.«

»Und ehe man sich’s versieht, würden wir den Frauen ein Stimmrecht geben.« Quigley gluckste, mein Vormund stöhnte.

»Setzen Sie ihr keine Flausen in den Kopf«, ermahnte ihn Sidney Grice. »Miss Middleton hat auch so schon genug verschrobene Einfälle.«

»Was soll daran falsch sein, wenn einige Frauen ein Stimmrecht haben«, sagte ich. »Nicht alle natürlich. Aber ich sehe noch immer nicht das eigentliche Problem.«

»Das bleibt jetzt unbedingt unter uns.« Der Inspektor setzte seine Melone auf. »Jüngste Erkenntnisse legen nahe, dass die Chartisten ein Attentat auf Ihre Majestät planen und einen Revolutionsrat in Wapping einsetzen wollen. Spinner, selbstverständlich, aber ich bin einstweilen dazu abgestellt worden, Verdächtige in Gewahrsam zu nehmen.«

»Dann werden wir Sie nicht länger aufhalten.« Mein Vormund öffnete die Haustür und schloss sie hinter dem Inspektor. »Sie wollten ihm doch nicht widersprechen.«

»Ich wollte Inspektor Pound nicht widersprechen«, entgegnete ich.

»So wie Sie sich verhalten haben, wäre er vermutlich misstrauisch geworden, hätten Sie ihm nicht widersprochen.« Er hob die Stimme. »Komm raus, Molly.« Sie tauchte hinter der Treppe auf und sagte kleinlaut:

»Ich wollte gerade …«

»Öde mich nicht mit weiteren Lügen an. Du hast gelauscht.«

»Ich …«

Er tilgte mit der Handfläche den Rest des Satzes. »Warum hast du diesen Brief Inspektor Quigley gegeben entgegen meiner strikten Anweisung?«

Molly verknotete ihre Finger. »Oh, ach, Sir, es ging nich anders.«

»Hat er dich bewusstlos geschlagen und ihn dir aus der blutenden Hand gerissen? Dann bist du wahrlich bemerkenswert schnell genesen. Wenn nicht, hättest du mir den Brief zurückbringen müssen.«

»Nein, Sir. Es war ja viel schlimmer. Weil, er wollt’ Ihnen von meinem abscheuwerten Vorleben erzählen, wenn ich ihm den Brief nich’ gebe. Da konnt’ ich nich’ anders.«

Ihr Dienstherr stöhnte. »Molly, ist dein Hirn komplett vulkanisiert worden?«

Molly sann über die Frage nach. »Möchte ich mal vermuten, Sir.«

»Inspektor Quigley weiß über dein Vorleben einzig, dass du wie alle eines hast, während ich mehr darüber weiß als du selbst.« Er wies in die Richtung, aus der sie gekommen war. »Geh runter und bitte die Köchin, dein trauriges Haupt zu rösten.«

»Trösten, Sir?«

»Rösten.«

»Vielen Dank, Sir.« Molly knickte schief ein.

»Und lass das Knicksen sein, das habe ich dir schon einmal gesagt.« Er besah sich sein Haar im Spiegel. »Sonst ersetze ich dich durch die Hupfdohle.«

»Sehr wohl, Sir.« Sie tippelte davon.

Sidney Grice ordnete seine Gehstöcke – acht an der Zahl – im Ständer in der Diele. Für mich sah einer aus wie der andere.

»Jedenfalls«, sagte ich, »sind Inspektor Pounds Eltern beide tot. Hat er mir selber gesagt.«

»Ich weiß.« Er fuhr mit einem Finger über den Dielentisch. »Wenn er der Arbeit fernbleibt, muss er einen sehr guten Grund dafür haben.« Er hob den staubigen Finger. »Jetzt muss ich den Bestatter anschreiben, damit sie den Leichnam abholen kommen. Danach kann Molly aufräumen, und alles wird wieder normal sein.«

»Normal?«, echote ich. »Ein Mann ist gerade gestorben.«

»Ja.« Sidney Grice nahm einen Gehstock aus dem Ständer. »Und was wäre normaler als das?«

Ich ging auf mein Zimmer, um mich umzuziehen, setzte mich an meine Frisierkommode und machte mein Haar zurecht, indes ich für Horatio Greens Seele betete und für die Kraft zum Weitermachen. Und ich fragte mich, ob mich diese Kraft hässlich machte und ob du die Frau im Spiegel erkennen würdest.

7Der Zahnarzt und die Müllerstochter

Zum Tavistock Square hätten wir laufen können, doch mein Vormund mied, so es irgend ging, die Nähe seiner Mitmenschen. Hätte er sich bereit erklärt, zu Fuß zu gehen, wären wir erheblich schneller gewesen, da der Byng Place wegen einer geborstenen Abwasserleitung gesperrt war und der Verkehr von Bloomsbury umgeleitet wurde.

Im großen Park am Russell Square hatte sich eine beachtliche Menschenmenge versammelt, und als unsere Droschke einmal mehr zum Stehen kam, erhob ich mich, um besser sehen zu können. Mitten im Getümmel stand ein Mann, der einen Schwarzbär an einer Kette hielt. Der Mann wollte das Tier dazu zu bringen, auf eine umgedrehte Wanne zu steigen, doch der Bär schmiss sie mit seiner riesigen Pranke um und hockte sich stattdessen auf die Wiese. Die Zuschauer johlten, worauf der Mann begann, mit einem Besenstiel auf das Tier einzudreschen. Ein halbes Dutzend Mal ging der Stock nieder, unter dem Grölen und Klatschen der Menge, und ich sah, wie der Bär zu brüllen versuchte, hörte aber nur ein ohnmächtiges Wimmern aus seinem zahnlosen Maul.

»Wir sollten dazwischen gehen«, sagte ich. Mein Vormund sah grimmig drein.

»Ich habe einmal einen Mann verdroschen, mit derselben Knute, mit der er vorher einen Esel ausgepeitscht hatte. Ich dachte, ich hätte das Tier von seinen Leiden befreit. Später erfuhr ich, dass der Kerl den Esel wenig später aus Rache verstümmelt und dann an den Schlachthof verkauft hatte.«

»Wir sollten die Polizei …« Doch während ich noch sprach, sah ich, wie zwei Konstabler sich durchs Gewühl nach vorn drängten. Dort angekommen, blieben sie stehen und applaudierten freudig, als der Bär benommen auf die Wanne zutaumelte. Mit einem Ruck setzte sich die Kutsche wieder in Bewegung, und ich fiel zurück auf meinen Sitz. Als wir in den Bedford Way einbogen, öffnete sich die Luke. »Das tut man nich, ’nen Bär mit ’nem Stock verdreschen!«, rief der Kutscher zu uns herab.

»Es freut mich, dass auch Sie so denken«, gab ich zurück.

»Na, is doch sonnenklar.« Er schien irgendetwas in seiner Achselhöhle zu suchen. »Für ’ne wilde Bestie wie den braucht man ’ne Eisenstange.«

»Die einzige wilde Bestie, die ich gesehen habe, hatte einen Stock in der Hand«, rief ich ihm zu.

»Frauen«, brummte er und schob die Luke zu.

Auf der rechten Seite des Platzes stiegen wir vor einer Reihe georgianischer Gebäude aus und gingen bis zu einem Haus mit einer angelaufenen Messingtafel:

S. G. BRATHWAITEESQ

LIZENSIAT DER ZAHNHEILKUNDE

KÖNIGLICHES COLLEGE DER SCHIRURGEN

ZAHNARTST UND SCHIRURG

»Ich hoffe, um seine zahnärztliche Kompetenz ist es besser bestellt als um seine orthographische«, merkte ich an, während Sidney Grice die Klingel betätigte.

»Kein kultivierter Mensch würde auf die Idee verfallen, Schildermaler zu werden.« Er schnäuzte sich die Nase. »Sie würden nicht glauben, auf wie viele verschiedene Arten es um Kundschaft buhlenden Kartenmachern gelingt, das Wort Gower zu schreiben.«

Eine äußerst adrette junge Frau erschien an der Tür, und Sidney Grice reichte ihr seine Karte. Ihr blondes Haar war akkurat unter eine frisch gestärkte Haube gesteckt, und über ihrem schlichten schwarzen Kleid trug sie eine makellos weiße Schürze.

Als sie uns in die Diele bat, fragte Sidney Grice: »Wie ist die Kornmühle Ihres verstorbenen Vaters denn zerstört worden?«, und das Dienstmädchen fuhr verdutzt zusammen.

»Nun, sie ist abgebrannt, Sir. Aber woher wissen Sie das?« Sie nahm uns unsere Hüte und Mäntel ab.

»Müllersleute prüfen ihre Steine jeden Morgen mit einer Prise Korn, nicht wahr?«

»Ja, Sir, aber …«

»Die tägliche Abschürfung führt zur Verdickung der dermis digitalis«, dozierte er, »ein Krankheitsbild, das auch unter dem phantasievollen Namen ›Müllersdaumen‹ bekannt ist.«

Sie betrachtete ihre rechte Hand, als sähe sie den harten Knubbel zum ersten Mal.

»Oh, Sir«, entfuhr es ihr, »damit könnten Sie auftreten.« Sie geleitete uns ins Wartezimmer – fünf sackartig gepolsterte Sessel und ein Mahagonitisch, übersät mit alten Ausgaben von Household Management und weiteren Illustrierten. »Ich werde Mr Braithwaite umgehend mitteilen, dass Sie da sind.«

»Ich dachte, Sie würden keine Kunststücke aufführen«, sagte ich, als sie gegangen war. Sidney Grice schob die Gardinen beiseite, um aus dem Fenster zu sehen.

»Wohl wahr, aber das Mädchen könnte eine Zeugin sein, und ich musste mich ihrer Glaubwürdigkeit versichern. Wenn sie, wie das Geschmeiß von der Fleet Street gern sagt, auf der Flucht wäre, hätte sie jedwede Enthüllung ihrer Vergangenheit aus der Fassung gebracht.«

Eine Wespe krabbelte über den Kaminsims, und ich streckte sie mit einem Exemplar des Strand Magazine nieder.

»Wie unbekümmert Frauen doch töten«, stellte mein Vormund fest.

»Aber woher wussten Sie, dass es die Mühle ihres Vaters war?«

»Getreidemühlen sind ausnahmslos in Familienhand«, erklärte er, »und sie muss viele Jahre dort gearbeitet haben, um dieses Leiden auszubilden, konnte also nicht erst unlängst in den Betrieb eingeheiratet haben.«

Ich nahm eine weitere Zeitschrift vom Tisch, woraufhin der mittlere Bogen herausfiel. »Und Sie wussten, dass er tot ist, weil …«

»… kein vermögender Vater seiner Tochter zu Lebzeiten gestatten würde, als Dienstmädchen zu arbeiten.«

»Und wie kommen Sie darauf, dass die Mühle florierte?«

Er stupste mit seinem Stock einen Zigarrenstummel auf dem Boden beiseite. »Kubanisch«, erklärte er, bevor er zu einer Antwort ansetzte. »Für ein Mädchen aus dem Südwesten Shropshires drückt sie sich überaus gewählt aus. Sie hat also Sprechunterricht genossen, was nicht billig ist. Ein minderbegüterter Müller würde sich mit so etwas kaum abgeben.«

»Und das Ende der Mühle?«

»Wäre die Mühle noch rentabel, würde sie das Unternehmen weiterführen. Sie gebärdet sich derart stolz und würdevoll, dass Sie sich daran wahrlich ein Beispiel nehmen können, March.«

Ich pfefferte die zerfledderte Zeitschrift auf den Tisch. »Sind Sie es eigentlich nie leid, ständig recht zu behalten?« Sidney Grice hob zu einer Erwiderung an, ehe ich anfügte: »Antworten Sie jetzt nichts.«

»Vernehmen Sie den Geruch von Distickstoffmonoxid?«

»Der mir bereits an Mr Green aufgefallen war«, betonte ich.

»Ich habe mich wohl bei Molly angesteckt«, sagte er eben hüstelnd, als sich Schritte näherten.

»Mr Braithwaite wird Sie jetzt empfangen.« Das Hausmädchen machte kehrt und geleitete uns in ein Zimmer im hinteren Teil des Hauses.

Der Behandlungsraum war klein und vollgestellt. Am Kopfende eines lederbezogenen, mit Fußpumpe und Kopfstütze versehenen Eisenstuhls stand ein komplizierter Betäubungsapparat mitsamt Doppelgaszylinder, Skalenblatt, Hahn und allerhand Gummischläuchen. Sämtliche Arbeitsflächen waren von Glasfläschchen und Keramikschalen übersät. Auf einem Stahltablett lagen mehrere Zangen. Ein kleiner Mann mit unnatürlich schwarzem Haar, das er in fettigen Strähnen über die schorfige Glatze gekämmt hatte, hockte krumm auf einem hölzernen Schemel und blätterte in einem Katalog. Er sah weder auf, noch reichte er uns die Hand, und als mir einfiel, dass er den ganzen Tag im Geifer seiner Patienten herumfuhrwerkte, ließ ich es dabei bewenden.

»Nehmen Sie Platz, Mr Grease«, sagte er und wies auf den Stuhl.

»Grice … und ich bin in einer geschäftlichen Angelegenheit hier.«

»Aber gewiss doch, aber wo Sie schon mal hier sind, können wir doch gleich einen raschen Blick auf die alten Hauerchen werfen.« Er zeigte abermals auf den Stuhl, doch Sidney Grice blieb beharrlich stehen.

»Ich komme wegen eines gewissen Mr Horatio Green.«

»Ach wirklich? Er hat mich Ihnen wohl empfohlen, was? Nun, keine Bange, Mr Grease, ich sehe von hier aus, wo das Problem liegt. Sie haben weibische Zähne.«

»Der Name lautet Grice, und ganz gewiss …«

»Und schämen sich, sie zu zeigen«, fuhr unser Gastgeber unbeirrt fort. Seine Schultern waren übersät mit Schuppen. »Haben Sie Ihren Gatten jemals lächeln sehen, Madam?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Sidney Grice schnaubte. »Wenn Sie tatsächlich meine Frau wären, hätte ich fürwahr kaum Grund zu lächeln.«

Silas Braithwaite schloss eine Schublade. »Wie sieht es mit Lachen aus?«

»Niemals«, gab ich zurück.

Der Zahnarzt erhob sich auf seltsam mechanische Weise, als wäre er mit Scharnieren versehen.

»Das ist gewiss alles überaus amüsant«, sagte Sidney Grice, »aber um auf Mr Green zurückzukommen …«

»Ihre Zähne sind zu klein, Mr Grice, aber machen Sie sich keine Sorgen.« Er fischte einen Mundspiegel aus der Brusttasche. »Mit ein bisschen Lachgas haben wir die im Handumdrehen gezogen, und dann verpassen wir Ihnen ein hübsches Gebiss aus Walrosszahn, täuschend echt. Niemand wird etwas bemerken.«