Tod in der Villa Saturn - M.R.C. Kasasian - E-Book
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Tod in der Villa Saturn E-Book

M.R.C. Kasasian

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Beschreibung

Band 3 der Gower Street Detective Reihe! Seit dem Tod ihres Vaters lebt March Middleton bei Londons berühmtestem Privatdetektiv, stadtbekannt für seine Brillianz und sein bärbeißiges Wesen. Eines Tages erhält sie die Einladung eines vollkommen unbekannten Onkels in dessen Villa, der sie folgt. Ihr neuer Onkel ist reizend und verschroben – und am nächsten Morgen mausetot. Noch bevor March die Gelegenheit bekommt, selbst herauszufinden, was in der Villa Saturn geschehen ist, rückt sie in den Fokus der Ermittlungen. Sie hat keine Wahl, sie muss Sidney Grice bitten, ihr zu helfen. Doch der hat gehörige Zweifel an ihrer Unschuld. Und je mehr er über den Fall herausfindet, desto mehr zeigen alle Hinweise auf ihn selbst ... Weitere kuriose Fälle und schwarzen Humor gibt es in diesen Fällen: Band 1 - Mord in der Mangle Street Band 2 - Der Fluch des Hauses Foskett Band 4 - Die Geheimnisse der Gaslight Lane

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Seitenzahl: 601

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M.R.C. Kasasian

Tod in der Villa Saturn

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Johannes Sabinski

Atlantik

Für Trevor Grice

Inhalt

Vorwort zur Erstausgabe

Teil I Auszüge aus den Tagebüchern von March Middleton

1 Der Seele Erlösung

2 Das Porträt der Marjory Gregory

3 Der Tod des Dom Hart

4 Der Hund und der Brief

5 Jenseits der Totenstadt

6 Sherry und die Elster

7 Der Esel und die Feder

8 Schießeisen und Essiggemüse

9 Schweine und Bullaugen

10 Fleisch, Charles Dickens und Mord

11 Das nächtliche Ritual

12 Der Pier und der Rauch

13 Dunkle Schatten und weiße Sklavinnen

14 Das Geheul und der Porzellanknauf

15 Der Geschmack von Mord

16 Die hängende Hand

17 Die erste Mrs Rochester

18 Der gefrorene Radfahrer

19 Musikalische Mäuse

20 Das Land der Engel

21 Das Quirry

22 Die Nierenschale und der Ring

23 Schimpansen und Brechweinstein

24 Das bernsteinfarbene Buch

25 Weihnachten

26 Der Mann mit dem verdrehten Ohr

27 Milzbrand

28 Regenschirme und der zweiköpfige Fuchs

29 Der Hoffnung Tod

30 Die sechs Zwerge von Streatham

31 Die tote Motte und der Staub

32 Spitzmäuse und der Unterseebootfahrer

33 Billy, Danny und exotische Pflanzen

34 Rührselige Mädchen und der erste Baron Lytton

35 Mr Snuffly und der Schädel

36 Leere Höhlen

37 Verkohlte Knochen und Laster

38 Shelley und die Seemöwe

39 Posaunen und Leberegel

40 Pistolen und Lügen

41 Geigen, Särge und Zahnweh

42 Mit dem Gesicht zur Wand

43 Das gestohlene Haus

44 Harems und totes Gewicht

45 Hunde und die Kunst der Überredung

46 Streusand und die Pusteblume

47 New York ertrinkt

48 Die schwarze Lache und der furchtbare Krater

49 Widerstand gegen die Staatsgewalt

50 Kleopatra

51 Außerhalb einer Kugel

52 Der gefolterte Baum

53 Der Zuhörer

54 Der Schatten der Merry Murray

55 Der Schlächter von Bloomsbury

56 Schellfisch und Mandeln

57 Der glänzende ausufernde See

58 Hiawatha

59 Die Frau von hinter dem Turm

60 Der flache Fels

61 Die Nonne mit der Hutschachtel

62 Badetücher und Verdammtsein

63 Der Diamant stumpf in der Mittagssonne

64 Imaginäre Pferde und Erwachsenenschrift

65 Berufsboxer und Gewahrsam

66 Die Kröte und der redliche Staub

67 Admiral Nelsons Hut

68 Der Reifen und die Schnecke

69 Fleischbrühe und Dr. Zenith

70 Kuriertaschen und die Drillinge von Twickenham

71 Weidenbohrer und Ziegelstaub

72 Herzoglicher Tee und Ihrer Majestät Post

73 Befangenheit und das Stahllineal

74 Fleischpasteten und Frauenwahlrecht

75 Das Picknick beim Jacaranda House

76 Decken, Eimer und sich verwandelnde Wände

Anmerkung des Herausgebers

Teil II Auszüge aus den Aufzeichnungen von Mr Sidney Grice

77

Dienstagmorgen, 23. Januar 1883

78

Dienstagnachmittag

79

Mittwochmorgen, 24. Januar 1883

80

Später Mittwochmorgen, 24. Januar 1883

81

Mittwochmittag, 24. Januar 1883

82

Mittwochabend

83

Mittwoch spätabends

84

Mittwoch spätabends, Fortsetzung

85

Donnerstagmorgen, 25. Januar 1883

86

Später Donnerstagmorgen

87

Donnerstagnachmittag, 25. Januar 1883

88

Freitagmorgen, 26. Januar 1883

89

Freitagmittag, 26. Januar 1883

90

Freitagnachmittag, 26. Januar 1883

91

Freitag spätnachmittags

92

Einen Augenblick später

93

Samstagmorgen, 27. Januar 1883

94

Samstagmittag

95

Samstagnachmittag

96

Samstag spätnachmittags

97

Samstag spätnachmittags

98

Samstagvorabend

99

Sonntagmorgen, 28. Januar 1883

100

Zehn Minuten später

101

Unmittelbar danach

102

Wiederum unmittelbar danach.

103

Das Nachspiel

Anmerkung des Herausgebers

Teil III Auszüge aus den Notizen von March Middleton

Die Verlorenen

Stille

Die Unerlösten

Jede Nacht

Die Zimmerleute

Buße

Die Überbleibsel eines Lebens

Das Dunkel

Im Dunkeln ertrinken

Warten

Lancelot

Handschuhe und tote Mäuse

Folgen

Der Regenbogen

Die Nacht des Sturms

Der Schatten der Schwermut

Anmerkung des Herausgebers

Teil IV Auszüge aus den Tagebüchern von March Middleton

104 Der letzte Tag

105 Der Ring in den Flammen

106 Neben der Standuhr

107 Goldlöckchen und der Mann im Ofen

108 Das Seil und die Zahlen

109 Der Sonnenuntergang

Nachwort

Der Autor

Impressum

Vorwort zur Erstausgabe

Wohl mag es prahlerisch erscheinen, das Vorwort zu einem Buch zu schreiben, das zur Feier meiner Geistesgröße verfasst wurde, doch wenn ich auch freimütig einräume, mir etwas auf meine vielen beneidenswerten Eigenschaften einzubilden, gedeihen die hier beschriebenen Ereignisse schwerlich zur Ehre der daran Beteiligten.

Aus offenkundigen Gründen war Miss Middleton zur vollständigen Schilderung dieses tragischen Falls außerstande, und nachdem sie dieser Welt abhandengekommen ist, oblag es mir, jene an ihrer statt abzuschließen. Ich fürchte, ihres flüssigen Stils zu entbehren, kann aber zumindest einige der fehlenden Einzelheiten ergänzen.

Ich habe dem Drang widerstanden, die vielen Irrtümer im Bericht meines Mündels zu korrigieren, und Mr Laurance Palmer (der Cheflektor der Herren Hall and Co.) hat sich durchaus darum verdient gemacht, ihren Aufzeichnungen ansatzweise Zusammenhang zu verleihen, wenngleich ich nicht umhin kann, mir bei ihm wie ihr etwas größere Beachtung des wissenschaftlichen Vorgehens und etwas geringeres Interesse an den sensationellen Aspekten zu wünschen.

Einzig mein Wunsch, Miss Middletons Pflichten zu würdigen, bewog mich dazu, an diesem Bericht mitzuwirken und dessen unverzügliche Veröffentlichung zu ermöglichen.

Dies verbuche ich als eines meiner wenigen Versäumnisse und als mein bei weitem größtes: Ich gelobte March, sie zu retten, und sah mich doch am Ende ohnmächtig.

Ihr Sessel vor dem Kamin ist leer, und gleichwohl ich mich nach Frieden und Ruhe sehnte, solange sie hier war, und nun davon reichlich habe, muss ich eingestehen, welch trostloser Ort mein Haus ohne sie ist.

 

Sidney Grice, 2. Mai 1883

Gower Street 125

Teil IAuszüge aus den Tagebüchern von March Middleton

1Der Seele Erlösung

Die Flammen waren lange schon erloschen, seit ich Dorna Berrys Botschaft ins Feuer hatte flattern lassen, doch die Worte verfolgten mich noch immer. Ich sah sie vor mir, während ich Edwards Briefe zu lesen versuchte. Ich sah sie in den Zeilen jedes Buchs, in das ich mich zu vergraben bemühte. Sehr oft stand ich im Begriff, meinen Vormund nach ihrer Bedeutung zu fragen, schreckte aber jedes Mal davor zurück aus Furcht, sie könnten wahr sein.

Noch nie hatte ich Sidney Grice bei einer Lüge ertappt. Was, wenn ich ihn zur Rede stellen und er seine Schuld eingestehen würde? Wohin sollte ich dann gehen? Wer würde mich beschützen und mir Obdach gewähren? Wem könnte ich trauen? Mein Vater war vor bald zwei Jahren bei einem Wanderunfall in der Schweiz umgekommen. Er war der einzige Überlebende meiner Familie, da meine Mutter, wie er sich mir gegenüber ausgedrückt hatte, in einem Atemzug von mir und im nächsten von ihrer unsterblichen Seele entbunden worden war.

Das London von 1883 war ein unbarmherziger Ort, und ich hatte so manche ehrbare Frau gesehen, die mangels Fürsorge durch einen Mann in Armut lebte und zur Wahl zwischen Verhungern und sittlichem Verfall gezwungen worden war.

Außerdem war Sidney Grice wahrscheinlich – nach seiner Einschätzung ohne Frage – der hervorragendste persönliche Ermittler des Britischen Empire, und ich hegte die Hoffnung, in seine Fußstapfen zu treten. Mir war wohl bewusst, dass ich die Dinge nicht auf sich beruhen lassen konnte. Es war nur eine Frage des richtigen Augenblicks.

7. November 1882

Ich habe Angst um Sie, March (hatte Dorna geschrieben). Sie müssen dieses Haus verlassen. Verlassen Sie es noch heute, sonst wird Sidney Grice Sie vernichten, wie er mich vernichtet hat – so gewiss, wie er Ihre Mutter ermordet hat.

2Das Porträt der Marjory Gregory

Marjory Gregory hatte alles. Sie war hübsch, charmant und klug. Sie heiratete vorteilhaft und gebar zwei wunderschöne Kinder. Zunehmend genoss sie Ansehen als Künstlerin, war sehr gefragt als Portraitmalerin und hatte in der Royal Academy ausgestellt.

Am Weihnachtsmorgen 1876 gegen drei Uhr früh stieg Marjory Gregory aus dem Bett. Ihr Ehemann rührte sich, war aber nicht sonderlich beunruhigt, da sie schon seit geraumer Zeit an Schlaflosigkeit litt. Sie zog ihren Morgenmantel und ihre Pantoffeln an und tappte die Treppe hinunter. Er schlief wieder ein.

Niemand weiß, was sie in den folgenden vier bis fünf Stunden tat. Vielleicht betrachtete sie einige der Gemälde, die sie vor so langer Zeit angefertigt hatte. Sie hingen noch immer in ihrem Atelier, lehnten auf Staffeleien oder an den Wänden. Vielleicht nahm sie ihre Zeichenkohle in die Hand. Die vergangenen sieben Monate über hatte sie versucht, täglich ein Selbstporträt zu zeichnen, endlose Stunden in die eigenen Augen gestarrt und das Ergebnis doch jeden Abend vernichtet.

Bekannt ist nur, dass Major Bernard Gregory, als die Sonne hinter Winter Hill aufging, von Schreien geweckt wurde. Er bewaffnete sich mit seinem alten Dienstrevolver und stürzte die Treppe hinunter, um auf seine Frau in ihrem Lieblingskorbstuhl und ein wüst schwingendes Tranchiermesser zu stoßen. Es hatte ihre Nase aufgeschlitzt und ihre Lippen zerklüftet. Ihre Brust war wild zerhackt, und er kam eben rechtzeitig, um ihren Bauch aufreißen zu sehen, während sie sich in unsäglicher Qual wand.

Ehe Bernard Gregory seine Frau erreichen konnte, stieß ihr das Messer mit einem letzten Stich tief in die Kehle und wurde quer hindurchgezerrt. Es zertrennte die Halsschlagader vollständig und zerfetzte die Luftröhre.

Marjory Gregory starb blutüberströmt und blind röchelnd.

Ihr Tod hatte viel Seltsames an sich, nicht zuletzt den Umstand, dass ihre eigene Hand das Messer führte. Doch Major Gregory wies den Befund auf Selbstmord zurück. Seine Frau sei ermordet worden, darauf beharrte er vor viereinhalb Jahren.

3Der Tod des Dom Hart

Es begann, wie es enden muss – mit dem Tod und einem Priester.

Der Mann, der an jenem dunklen Januarmorgen vor uns stand, war in eine schwarze Kutte gekleidet, deren zurückgeschlagene Kapuze einen Schopf dichten kastanienbraunen, ergrauenden Haars und ein rundliches rosawangiges Gesicht freigab. Die Spitze seiner Knollnase war noch von der Londoner Kälte gerötet.

»Bitte«, wandte er ein, »ich kann doch nicht Ihren Platz einnehmen.«

»Woher wollen Sie wissen, dass es meiner ist?« Als ich ihm den Sessel anbot, hatte ich nicht danebengestanden.

Unser Besucher lächelte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mr Grice Gedichte von John Clare liest.« Er zeigte auf das Buch, das mit Einband nach oben auf dem Sitzpolster lag.

Ich lachte. »Sind Sie gekommen, um uns unsere Arbeit beizubringen?«

»Falls ja, war Ihre Reise unnütz«, murmelte mein Vormund.

»Lassen Sie mich Ihnen einen anderen Sessel holen«, bot ich an. Doch der Mönch stellte seine Reisetasche ab, ergriff einen der Stühle am großen Tisch und schwenkte ihn auf dem Weg zurück mühelos in einer Hand, um ihn vor das Kaminfeuer zu stellen.

Sidney Grice und ich setzten uns einander gegenüber zu beiden Seiten der Feuerstelle, indes sich unser Besucher auf seinem Platz niederließ.

»Beachtlicher Berufswechsel bei Ihnen, vom Schankwirt zum Benediktiner«, bemerkte Mr G, und unser Besucher neigte fragend den Kopf.

»Es bedarf keiner großen Vorstellungskraft, meine Berufung zu erraten«, er berührte das silberne Kreuz an seinem Hals, »zumal ich mich als Bruder Ambrose vorgestellt habe. Doch woher in Gottes Namen können Sie meine Vorgeschichte kennen?«

»Kein Mann kann seine Vergangenheit verbergen.« Mein Vormund schwenkte eine Hand. »Wenngleich manch einer es versucht hat. Sie steht in seinem Gesicht geschrieben, in den Händen, den Bewegungen und der Sprache. Ganz offenbar haben Sie in einem kleinen Lokal nahe dem Meer gearbeitet.«

Der Priester kratzte sich am Kinn. »Ich habe seit über einem Jahrzehnt weder einen Fuß in eine Kneipe gesetzt noch die Küste aufgesucht. Welche Anzeichen könnten mir jetzt noch anhaften?«

Mr G lehnte sich zurück. »Ich habe es sogleich durch Ihr Auftreten vermutet. Sie haben jene selbstsichere, aber einnehmende Art jemandes, der dient und doch das Sagen behält.«

»Die hätte auch ein Oberkellner«, wandte ich ein.

»Ein Kellner, gleich welchen Ranges, wäre ergebener.« Mr G schniefte. »Ein Schankwirt weiß einladend zu sein und doch seine Autorität zu wahren, um mit denen fertig zu werden, die er betrunken gemacht hat.«

»Das ist alles?« Bruder Ambrose war unbeeindruckt. »Ich benehme mich zufällig wie ein Gastwirt?«

»Das war ein Wegweiser auf meinem Pfad zur Wahrheit«, erklärte mein Vormund. »Sie haben einen gut entwickelten Oberkörper – eher muskulös als dicklich, wiewohl Sie in letzter Zeit Fett angesetzt haben.«

Der Mönch straffte bei dieser Beschreibung seiner selbst den Mund. »Bitte fahren Sie fort.«

Mein Vormund legte die Fingerspitzen zusammen. »Eine solche Entwicklung rührt von einer Arbeit, die das Heben schwerer Lasten mit sich bringt, etwa wenn ein Schankwirt Fässer umstellt. Sie haben diesen Stuhl mit sehr geringer Mühe getragen.«

»Auch bei vielen anderen Arbeiten müssen Sachen angehoben werden«, widersprach Bruder Ambrose. »Schauerleute müssen das zum Beispiel.«

»Allerdings«, pflichtete Mr G bei, »aber ich bin noch nie einem Hafenarbeiter begegnet, dessen Rücken nicht von seiner Mühsal gekrümmt war, und Ihr rechter Arm ist viel besser entwickelt als Ihr linker, die Folge jahrelangen Ziehens an Zapfschwengeln.«

»Und wenn ich nun Tischler wäre? Der Gebrauch einer Säge hätte dieselbe Auswirkung«, wandte der Mönch ein.

Mr G lächelte dünn. »Ihre Hände mögen zwar über die Jahre weicher geworden sein und ihre Schwielen eingebüßt haben, aber der Tischler muss mir noch begegnen, dessen Finger sich weder durch groben Gebrauch verdickt noch bleibende Narben von Splitterwunden und Unfällen mit seinem Werkzeug davongetragen haben.« Er lehnte sich zurück, rupfte an der Klingelschnur und brachte den schädelförmigen Knebel zum Schlenkern.

»Und woher wussten Sie, dass mein Pub klein und an der Küste gelegen war?«

»Ein größeres Lokal hätte einen Kellner beschäftigt, der sich um die Fässer kümmert.« Mein Vormund schnippte sich das dichte schwarze Haar aus der Stirn. »Und Ihre Aussprache – falls mich mein außerordentliches Gehör nicht trügt, was es nie tut – ist typisch für die Gegend um Hove. Viele Männer träumen davon, aus der Stadt fortzuziehen und eine Gastwirtschaft am Meer zu betreiben, aber ich habe noch keinen kennengelernt, bei dem es umgekehrt wäre.«

Bruder Ambrose gluckste. »Sie sind mir eine gute Unterhaltung, Mr Grice.«

Und mein Vormund holte tief Luft. »Ich bin weder Leierkastenmann noch Taschenspieler. Nennen Sie Ihr Anliegen.«

Der Blick unseres Besuchers verdüsterte sich. »Ich weiß nicht, welchem Glauben Sie angehören, Mr Grice.«

»Seien Sie versichert, dass es nicht der Ihre ist«, sagte mein Vormund scharf.

»Das ist nur gut so.«

»Aber warum?«, fragte ich.

Und Bruder Ambrose berührte sein Kruzifix. »Wir suchen einen Mann ohne Ehrfurcht vor unserer Berufung. Ein frommer Katholik könnte zögern, Einwände oder Anschuldigungen gegen jemanden zu erheben, den er als seinen geistlichen Vater ansieht.«

»Da kann ich Sie beruhigen«, versicherte ich ihm. »Mr Grice schert sich nicht darum, wen er beleidigt.«

Der Mund des Mönches zuckte. »Entsprechendes wurde uns zu verstehen gegeben.«

»Dann wurden Sie vielleicht auch davon unterrichtet, dass ich niemals über die Grenzen dieser so großen wie lasterhaften Metropole hinaus reise«, beschied Mr G ihn.

Bruder Ambrose befühlte mit dem Daumen die Füße der Christusfigur. »Hören Sie mich wenigstens zu Ende an?«

»Es könnte einen andernfalls öden Augenblick füllen.« Mein Vormund streckte den Arm über die Rückenlehne seines Sessels hinweg aus. »Fahren Sie fort.« Ungeduldig zerrte er zwei weitere Male an der Klingelschnur.

»Wie Sie bemerkten, bin ich Mönch vom Orden des heiligen Benedikt. Die letzten acht Jahre war mein Zuhause in Yorkshire.«

»Eine wüste Gegend.« Mr G schauderte. »Bevölkert von Wilden in Tweedjacken und gemusterten Socken.«

»Es soll dort recht hübsche Landschaften geben«, warf ich ein.

Sidney Grice zuckte die Achseln. »Kein Ort ist hübsch, solange er nicht eingeebnet und bebaut wurde.« Er wedelte mit der Hand. »Alsdann.«

»Claister Abbey zählte einst zu Englands größten Klöstern«, erzählte uns Bruder Ambrose, »bis es von Heinrich VIII. in seinem Wettstreit mit dem Papst um die Vorherrschaft aufgelöst wurde. Wiedereröffnet wurde es vor vierunddreißig Jahren, also …«

»1849«, unterbrach ihn Mr G. »Sogar ein Nichtkatholik kommt auf diese Summe.«

»Das Kloster ist eine blasse Reinkarnation seines einstigen Selbst«, fuhr Bruder Ambrose fort. »Vormals beherbergte es dreihundert Mönche mit eigener Bäckerei, Molkerei, Schmiede und Brauerei – eine Kleinstadt für sich. Heute drängt sich ein Dutzend von uns in einem einzelnen Haus und überdauert dank der schmalen Einkünfte aus unserem Gemüsegarten und dem Druck religiöser Traktate, vorwiegend aber wohltätiger Vermächtnisse.«

»Zweifellos derer, die Messen für ihre Seelen gefeiert wissen wollen im Glauben, Gott urteile wohlmeinender über die Reichen«, merkte Sidney Grice säuerlich an.

»Oder jener, die Nächstenliebe in sich tragen«, widersprach unser Besucher sanft. Er hatte sich beim Rasieren geschnitten und Blutstropfen hatten sein Gewand am Halsausschnitt befleckt. »Doch um zum Kern zurückzukehren, unser vielgeliebter Abt Dom Simeon wurde vergangenen Januar vom Herrn heimgeholt. Wir hatten gehofft, unser ältester Bruder in Christus, Jerome, träte an seine Stelle – tatsächlich wurde er vorübergehend unser Leiter –, aber dann wurde ein Außenstehender zu seinem Nachfolger ernannt.« Bruder Ambroses kräftige Finger legten sich um das Kruzifix. »Dom Ignatius Hart war keine gute Wahl. Ihm haftete der wohlverdiente Ruch der Bosheit an. Er war hochmütig und schnell beleidigt, um dann lange seinen Groll zu hegen, und hatte ein Gespür dafür, beliebte Aufgaben in unerträgliche Fron zu verwandeln.

Bruder Daniel, der jüngste unserer Brüder, trat lieber aus dem Orden aus, statt sich weiterhin den täglichen Demütigungen auszusetzen, und viele erwogen Selbiges, doch das Gelübde eines Mönchs bindet seine Seele derart, dass er fürchten muss, sie zu verlieren, wenn er es lockert.« Er sann eine Weile seinen eigenen Worten nach. »Der Sommer war hart, aber schlimmer war der Winter. Dom Ignatius führte kalte Bäder als Buße für lässliche Verfehlungen ein, und es gab kaum Zweifel, dass Bruder Peters Ende von solch grausamer Behandlung beschleunigt wurde.« Bruder Ambroses Griff verfestigte sich. »Wir fingen an, uns heimlich zu treffen und zu besprechen, wie am besten mit unserem Oberherrn umzugehen sei, und ich muss gestehen, dass bei diesen hitzigen Debatten mehr als einer, mich eingeschlossen, Drohungen flüsterte.

Dann, am fünften Tag des Januars, einem nasskalten Freitagmorgen, versäumte Dom Ignatius die Laudes. Das war sehr ungewöhnlich, zumal zum Epiphaniasfest, und eine besorgte Erörterung hob an, wer, wenn denn einer von uns, ihn wecken solle.«

»Sie machen auf mich nicht den Eindruck eines schüchternen Mannes«, sagte ich, und seine Hand fiel in seinen Schoß.

»Wer auf unbedingten Gehorsam gegenüber einem Tyrannen eingeschworen ist, überlegt lange und eingehend, ehe er dessen Missfallen erregt.« Er griff nach dem Ende seiner Taillenkordel. »Schließlich einigten wir uns darauf, es auf seinen Zorn ankommen zu lassen und allesamt seine Zelle zu betreten.«

»Lassen Sie mich raten, womit ich eine meiner eigenen Regeln breche«, warf Mr G ein. »Ihr verhasster Oberherr war tot.«

Bruder Ambrose bejahte mit grimmiger Miene. »Wir fanden ihn auf dem Steinfußboden, sein Erbrochenes so übernatürlich schwarz, dass einige meiner Brüder fürchteten, er sei von Dämonen besessen gewesen.« Er schlang die Kordel um seine Faust. »Die Polizei wurde umgehend gerufen. Sie ist überzeugt davon, dass wir den Schuldigen verstecken, und hat damit gedroht, uns alle zu verhaften und das Ordenskloster zu schließen, weshalb ich, Mr Grice, diese Reise unternommen habe.« Bruder Ambrose führte eine Hand an seine Stirn. »Wir möchten, dass Sie die Angelegenheit untersuchen.«

Mr G sah auf seine Uhr. »Bislang kann ich noch keinen Zusammenhang zwischen Ihrem Wunsch und meiner Neigung entdecken.«

Molly kam mit einem Teetablett herein und stellte es argwöhnisch auf dem Tisch zwischen uns ab.

»Beunruhige ich Sie?«, fragte unser Besucher, als sie zurückwich.

»Ach je, wie wir so geruhsam am Kellerfenster standen und Ihre Kutte sahen, dachten die Köchin und ich glatt, da käm ihre Mutter auf Rachefeldzug zurück.«

Der Mönch gluckste. »Aber warum sollte die Mutter der Köchin sich rächen wollen?«

»Tja …«

»Raus mit dir«, blaffte ihr Brotherr.

Molly knickste halbherzig und ging.

»Mr Grice verlässt London höchst ungern«, klärte ich unseren Besucher auf, der jedoch unbesorgt schien.

»Damit habe ich gerechnet«, teilte er mir mit, »nachdem ich Erkundigungen über ihn eingeholt hatte. Doch wurde mir zu verstehen gegeben, dass er ein über die Maßen habgieriger Mensch sei.«

»Sie mögen überdies bemerkt haben, dass er sich noch im Zimmer befindet«, brummte Mr G.

»Es dürfte sehr viel Geld erfordern, ihn bis nach Claister zu locken.« Ich goss uns drei Tassen Tee ein.

»Unser Orden ist arm.«

»Dann wünsche ich Ihnen noch einen guten Tag.« Mr G drehte seine Tasse, sodass der Henkel parallel zur Längskante des Tabletts ausgerichtet war.

»Aber Sie haben etwas anderes anzubieten«, sagte ich.

Der Mönch nickte. »Sie sind eine aufmerksame junge Dame«, äußerte er beifällig.

»Falls Sie mir Messen für meine Seele anbieten wollen, sparen Sie sich die Mühe.« Mr G rührte seinen Tee erst in die eine, dann in die andere Richtung um. »Es könnte mich allerdings das antiquarische Buch in Ihrem Gepäck interessieren.«

»Woher wissen Sie, dass es ein altes Buch ist?«, fragte ich.

»Ich kann es riechen.«

Und als Bruder Ambrose es auspackte, konnte ich das auch: den unverwechselbaren Muff nach leicht angeschimmeltem Leder und altem Pergament. Als wäre ich wieder in der väterlichen Bibliothek.

»Mein Gott«, rief mein Vormund. »Jacob Cromwells Secreta Botanica.«

»Ein Buch über das Gärtnern?«, riet ich, und beide Männer blickten mit verzweifelten Mienen auf.

»Die Secreta Botanica enthält alles, was 1425 über die Kunst des Vergiftens bekannt war«, führte mein Vormund aus. »Ihre Grundstoffe, Wirkungen, Symptome, Geschmäcker und Tarnungen.« Er hob eine Hand an sein Auge. »Sie ist die Bibel der Toxikologie.« Sein Gesicht rötete sich vor Erregung. »Es heißt, Lucrezia Borgia habe beim Kirchgang darin gelesen anstatt in ihrem Andachtsbuch.«

»Nur vier Exemplare galten als erhalten«, teilte mir Bruder Ambrose mit, »und zwei davon sind unter Verschluss in den Gewölben des Vatikans.«

»Haben Sie es gelesen?«, fragte ich.

Der Mönch schüttelte den Kopf. »Die Secreta steht seit 1562 auf dem Index Librorum Prohibitorum – die Liste von Büchern, die Katholiken nicht lesen dürfen.«

»Lassen Sie es mich untersuchen«, flehte Mr G, doch unser Besucher ließ das Buch zurück in seine Tasche gleiten.

»Dann bekäme ich es womöglich nie zurück. Männer haben sich gegenseitig umgebracht für die Gelegenheit, den Inhalt dieses Folianten zu sichten.« Bruder Ambrose leerte mit einem Schluck seine Tasse. »Sollten Sie hingegen in der Lage sein, uns zu helfen«, er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, »ist da eine Lücke in Ihrem Bücherregal, die dieser Band sehr hübsch ausfüllen würde.«

Sidney Grices Auge fiel heraus, und er fing es ohne hinzusehen auf. »Wenn nun aber meine Ermittlungen Sie und einige oder sämtliche Ihrer Kollegen als Schuldige überführen sollten?«

Bruder Ambrose erwog seine Antwort. »Ich werde ein Papier aufsetzen lassen mit der Verpflichtung, dass die Secreta in Ihre Hände zu geben ist, sobald Sie den oder die Schuldigen aufdecken, gleich wie Ihre Ermittlungen ausfallen.«

Mr G zog mit Daumen und Zeigefinger sein Ober- und Unterlid auseinander. »Ich werde den Fall übernehmen.« Er drückte das Auge zurück an seinen Platz.

»Gut«, sagte ich. »Ich war noch nie in Yorkshire.«

»Ich muss mit Bedauern feststellen, dass wir zwar wider Willen einen selbsterklärten Häretiker über unsere Schwelle treten lassen, die Klosterregeln etwas so Unreines wie eine Frau auf dem Anwesen jedoch strengstens verbieten.«

»Frauen sind auch nicht unreiner als Männer«, gab ich zurück, worauf unser Besucher weise lächelte.

»Sie vergessen, Miss Middleton, dass ich früher Schankwirt war.«

4Der Hund und der Brief

Der Winter hatte rau begonnen und brachte seine kurzen, dunklen Tage mit sich, die bei dickem gelben Nebel und Schneeregen noch düsterer wurden. Nie hatte ich mich so nach meinem alten Leben in Indien gesehnt wie in den langen Stunden, die ich am Kamin mit Zeichnen zubrachte oder am Fenster stehend, um den Händlern beim Kampf mit den Elementen zuzusehen oder den umherstreifenden Häuflein Obdachloser, die faulige Essensreste aus dem Dreck auf den Gehsteigen klaubten.

Am nächsten Morgen brach Sidney Grice allein auf.

»Was meinen Sie, wie lange Sie fort sein werden?« Ich drehte am Messingrad, um draußen unsere grüne Flagge zu hissen und eine Droschke heranzuholen.

»Ich bezweifle, dass es länger als ein paar Tage dauern wird«, sagte er, als Molly ihm seine mit Tee gefüllte Grice’sche Patent-Isolierflasche reichte. »Der römisch-klerikale Verstand ist feinsinnig und verschlagen und daher viel leichter auszuloten als die geistesschwache Stümperei eines gewöhnlichen Verbrechers. Dummheit ist das Einzige überhaupt, was mich verwirren kann.«

Mir kam der Gedanke, dass ich seine Reaktion auf den Brief nie zu hören bekäme, sollte mein Vormund aus irgendeinem Grund nicht zurückkehren können, verlor aber neuerlich den Mut und fragte bloß: »Haben Sie Ihre Zahnbürste eingepackt?«

»Ja.«

»Und Hemd und Kragen zum Wechseln?«

»Ich weiß, dass Sie zu scherzen versuchen.« Mr G rückte sein Glasauge im Flurspiegel zurecht. »Inzwischen sollten Sie aber wissen, dass ich nicht mit Sinn für Humor gestraft wurde.« Er nahm seinen Handkoffer. »Tun Sie bitte nichts, was mich in Verlegenheit brächte, March.« Und mit dieser Liebenswürdigkeit war er fort.

*

Als menschliche Gesellschaft hatte ich nur Molly, und selbst mein Kätzchen Spirit wirkte lethargisch, doch kaum war Sidney Grice eine Stunde aus dem Haus, erhielten wir schon ersten Besuch, eine Mrs Prendergast, die sich Hilfe bei der Suche nach ihrem entlaufenen Hündchen erbat. Mein Vormund wäre zutiefst beleidigt gewesen, ich aber hatte nichts Besseres zu tun und begleitete meine schluchzende Klientin umgehend zu ihrer Wohnstätte. Sie hatte ein hübsches vierzimmriges Haus nahe der Upper Thornhaugh Street und zeigte mir eilends Klein-Alberts Körbchen und Näpfe in einem Schrank unter der Treppe.

Ich wusste nicht recht wie die Ermittlung fortsetzen und stellte ihr darum die uralte Elternfrage: »Wo haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Glauben Sie, dort einen Hinweis zu finden?« Sie führte mich hinunter in die Waschküche, wo ich einen schlafenden Black & Tan Cavalier King Charles Spaniel eingerollt unter einem Kissenbezug oben auf einem Stapel Decken ausfindig machte.

»Alby!« Mrs Prendergast war außer sich vor Freude und küsste den Hund wiederholt auf Maul und Nase, bis er beinahe so elend aussah, wie mir war. Sie bestand darauf, dass ich auf Tee und Früchtebrot blieb, und drückte mir bei meinem Aufbruch fünf Schilling in die Hand. Es war mein erster Solofall, doch keiner, mit dem ich prahlen würde, wäre ich erst Londons erster weiblicher persönlicher Ermittler.

Bei meiner Heimkehr war eben die vierte Post zugestellt worden, und sämtliche Briefe stapelten sich auf Mr Gs Schreibtisch, einschließlich eines Päckchens mit dem großen kastanienbraunen Wachssiegel des Königs von Polen. Neben diesem Stoß lagen drei Briefe an mich: die Rechnung meiner Schneiderin, die ich schleunig beiseitelegte, eine Nachricht des Maklers Mr Warwick, wonach die Mieter meines Elternhauses The Grange gekündigt hatten, und ein weiteres Schreiben mit Poststempel Highgate. Mangels besserer Beschäftigung beschloss ich, das Verfahren meines Vormunds mit unverhoffter Korrespondenz anzuwenden, und untersuchte den Umschlag, hielt ihn vors Gaslicht und schnüffelte daran. Ich gebrauchte eine seiner Lupen. Es fanden sich ein paar undeutliche Schrammen und ein noch undeutlicherer grauer elliptischer Schmierfleck, und die Tinte hatte eine ungewöhnlich grünliche Färbung, alles in allem war es aber ein gebräuchlicher Umschlag aus Velinpapier, das Hundert zu vier Pence.

Die Handschrift war männlich und wie gestochen in jenem altmodischen Stil, der zahllose Hiebe mit dem Lineal auf kindliche Fingerknöchel verrät und mit seinen ausgefallenen Kringeln und Wirbeln hübsch anzusehen, aber beinahe unleserlich ist. Ich hoffte, der Inhalt des Briefs wäre leichter zu entziffern, wurde aber enttäuscht. Sein Verfasser hatte die größere Oberfläche dazu benutzt, seinem kalligraphischen Überschwang die Zügel schießen zu lassen, und die Wörter kringelten und wirbelten in einem nahezu unbegreiflichen Geschnörkel über- und umeinander.

Ich klingelte nach Tee und ließ mich am Schreibtisch nieder, um mich dem Brief zu widmen. Die Unterschrift war groß und schwang sich quer übers Blatt, doch konnte ich trotz aller Schreibkunst nicht mehr als möglicherweise einen Sergeant oder Marquis ausmachen. Ich wanderte zur Anfangszeile zurück. Das erste Wort sah aus wie Sflßl und bedeutete gewiss Liebe. Ich suchte weitere sich ähnelnde Wirbel für jeden Buchstaben und bekam einige Möglichkeiten heraus, die ich auf einen sauberen Bogen abschrieb. Der Umschlag half, da ich wusste, was er besagen sollte.

Molly sah aus, als hätte sie in ihren Kleidern geschlafen, und trug ein Tablett herein. In Abwesenheit Mr Gs gab es für mich Kekse zum Tee. Er aß kaum je welche in der verschrobenen Annahme, Zucker sei schlecht für die Zähne.

»Hast du vielleicht eine Ahnung, was das bedeuten könnte?«

Sie blinzelte. »Ist das die Metzgerrechnung?«

»Du weißt doch, dass Mr Grice kein Fleisch im Haus duldet.«

Molly wurde rot. »Na ja, wo er doch weggefahren ist …«

Wusst ich’s doch, dass ich Würstchen gerochen hatte, aber in der Annahme, ihr Duft sei vom Nachbarhaus herangeweht. »Bloß wie willst du die Rechnung erklären, wenn sie kommt?«, fragte ich, während sie sich eine Haarsträhne um den Daumen wickelte.

»Wir haben ihn gebeten, Bohnen darauf zu schreiben, wo sein Sohn doch Gemüsehändler ist.«

»Ich bin sehr enttäuscht von dir, Molly.« Ich betrachtete sie mit ernster Miene. »Deinen Dienstherrn so zu hintergehen.«

Molly wickelte ihren Daumen aus. »Bitte verpetzen Sie mich nie nich, Miss. Sonst setzt er uns schneller auf die Straße, als wie Sie Verdammich sagen können, und ich hatte doch nie noch keinen so guten Brotherrn wie Mr Grice, auch wenn er launisch ist wie der Dachs, und bitte sagen Sie auch nie nich, dass ich das gesagt hab.«

Ich legte meinen Bleistift ab. »Ich fürchte, du lässt mir keine andere Wahl, Molly.«

»Oh.« Sie wurde bleich. »Oh, aber … Oh …«

»Es sei denn, ich würde in dein Verbrechen verwickelt, in welchem Fall ich nicht aussagen könnte, ohne mich selbst zu belasten.«

Molly kaute die Strähne nachdenklich durch, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und fuhr zu kauen fort. »Ich hol Ihnen einen Teller«, verkündete sie.

»Mit viel Senf.« Ich wandte mich wieder dem Brief zu.

Liebe March, übersetzte ich schließlich. Offensichtlich war es kein förmliches Schreiben, doch mir kam niemand in den Sinn, den ich in Highgate kannte. Ich war niemals dort gewesen. Vergessen – nein – Vergeben Sie mir diese – ich mühte mich mit dem nächsten Wort ab, ehe ich entschied, dass es unerbetene bedeutete. Langsam bekam ich den Bogen raus, brachte mein Auge dazu, die Schnörkel außer Acht zu lassen und nur auf den Kern jedes Worts zu achten: Annäherung, aber …

Molly brachte mein Bestechungsgeschenk.

»Sag der Köchin, sie soll Kohl anbrennen und die Kellertür weit offen stehen lassen.«

Ihre Augen wurden groß. »Teufel auch, aus Ihnen machen wir doch noch mal eine Kriminelle.«

Ich schnitt eines der Würstchen auf. »Hoffentlich nicht, sonst würde mich Mr Grice bestimmt im Nu zur Rechenschaft ziehen.«

Über Früchte lässt sich manches sagen, aber verbotene Würstchen schmecken unvergleichlich viel besser. Ich aß zwei, ehe ich mich wieder dem Brief widmete. Der Gaumenschmaus muss mein Hirn gestärkt haben, denn als das letzte verzehrt war und ein erster Verbrennungshauch die Treppe emporwehte, hatte ich den ganzen Brief entziffert.

Villa Saturn

Highgate

Dienstag, 20. Oktober

 

Liebe March,

vergeben Sie mir bitte diese unerbetene Annäherung, doch mir fiel kein besserer Weg ein, Sie anzusprechen.

Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Ptolemy Travers Smyth.

Ich bezweifle stark, dass Sie je von mir gehört haben, tatsächlich aber bin ich der Vetter Ihres Vaters und somit recht zuversichtlich, dass wir einander die engsten und möglicherweise einzigen Verwandten sind.

Ich bin nun ein alter Mann und fürchte, nicht mehr lange auf dieser Welt zu sein, und es ist mein einziger Wunsch, Sie zu sehen, ehe ich sterbe. Es wäre mir eine unbeschreibliche Freude, würden Sie mich besuchen. Ich bin alle Tage zu Hause. Kommen Sie heute zum Abendessen, wenn Sie können und – haben Sie mich kennengelernt und fühlen sich sicher – bleiben Sie über Nacht.

Senden Sie Ihre Zustimmung an das Telegraphenamt Stargate Road in Highgate, und ich lasse Sie binnen Stundenfrist von meiner Kutsche abholen.

Mit Inspektor George Pound haben wir einen gemeinsamen Bekannten. Bitte ziehen Sie ihn zurate, sollten Sie hinsichtlich meiner Herkunft oder Ehrbarkeit noch irgendwelche Vorbehalte haben.

Mit herzlichen Grüßen

»Onkel« Tolly

Wie die letzte Schleife dieses y übers Blatt galoppierte. Ich fuhr sie müßig mit dem Finger nach, und sie mündete in der rechten oberen Ecke, doch ehe ich ihr Ende erreicht hatte, stand mein Entschluss fest. Ich schrieb zwei Nachrichten und läutete die Schelle.

Inspektor Pound hatte viele Fälle gemeinsam mit Mr G bearbeitet, war jedoch im letzten Herbst auf Kosten meines Vormunds in ein Landsanatorium in Dorsett geschickt worden, um seine Verletzungen zu kurieren. Meinetwegen hatte er Messerstiche in den Bauch erlitten und war derzeit nur schwer erreichbar. Er war ein anständiger, ehrlicher Mann, und uns verknüpfte ein lockeres Band, weshalb der Umstand, dass Ptolemy Travers Smyth ihn als Referenz anführen konnte, mir Vergewisserung genug war.

Molly tapste herein, ihre Schürze noch verknitterter als zuvor.

»Bring das zum Telegraphenamt Tottenham Court Road – ich bin dann über Nacht außer Haus.« Ich gab ihr ein Zweischillingstück und zeigte auf den Schrieb, den ich unter den Briefbeschwerer aus Charly Peaces in Silber gefasster Kniescheibe gelegt hatte. »Dort werde ich sein, sollte mich irgendjemand brauchen.«

»Was?«, rätselte sie. »Auf dem Schreibtisch?«

»Schick einfach das Telegramm los.« Ich brachte ihre Dienstmädchentracht so gut ich konnte in Ordnung, auch wenn das Häubchen immer wieder die Form verlor, und trat auf den Flur.

»Ja, Miss.« Sie knickste unsicher und ließ mein Schreiben fallen.

Während sie noch versuchte, es mit geradem Rücken aufzuheben, ging ich nach oben, um meinen Gladstone-Koffer zu packen und mein neues Kleid anzuziehen – königsblau mit cremefarbenem Spitzenbesatz. Ich betrachtete mich im Drehspiegel. Etwas Rouge wäre hilfreich gewesen, bloß wäre Mr G einem Schlaganfall erlegen, hätte ich welches in sein Haus gebracht. Ich erwog, mein Haar zu lösen, doch es war solch ein mausbrauner Wust, dass ich es lieber zurückgebunden ließ.

Als ich nach unten ging, war der Geruch nach verbranntem Kohl derart überwältigend, dass ich mich fragte, ob die Köchin ein Feuer entfacht hatte, beschloss aber, sie nicht zu behelligen und mich lieber im Arbeitszimmer niederzulassen, um den Bericht in der Times über einen Mann zu lesen, der beim Zertrümmern von Gipsbüsten Beethovens aufgegriffen worden war. Bei seiner Inhaftierung phantasierte er etwas von einem blauen Diamanten. Es war ein merkwürdiger Fall, den ich ausschnitt, damit mein Vormund ihn zu seinen Akten nehmen konnte.

5Jenseits der Totenstadt

Ich musste nicht lange auf das Läuten der Türklingel und Mollys beeindruckt klingende Meldung warten, dass meine Kutsche eingetroffen sei.

»Ich fahre nach Highgate«, teilte ich ihr mit, und ihre Kinnlade klappte herunter.

»Oh, sehen Sie sich vor, Miss. Es gibt tote Leute da, die nicht mal mehr leben.« Sie streckte den Arm aus, wie um auf ihr drohendes Herannahen zu zeigen.

»Die Verstorbenen können dir nichts antun«, beschwichtigte ich sie, doch es schien sie nicht zu überzeugen.

»Was ist mit dem verfluchten Hund, der wo tot auf den Kopf vom Bruder der Köchin fiel? Er war fast zwei Wochen lang bewusstseinslos.«

»Ich werde meinen solidesten Regenschirm mitnehmen«, versprach ich.

Ein kleiner rot livrierter Kutscher mit verkniffenen Zügen wartete darauf, mir in einen schwarzen geschlossenen Einspänner zu helfen, auf dem ein Wappen aus den ineinander verschlungenen Buchstaben T und S vor einer grünen Eiche prangte. Die vorderen Lampen brannten schon.

Aus dem Anatomiegebäude gegenüber traten zwei Studenten, die ihre von menschlichen Körperflüssigkeiten stark befleckten Umhänge wie Ehrenabzeichen trugen. Ihnen wuchsen Schnurbärte und Stoppeln, doch sahen sie – obwohl sie in ungefähr meinem Alter sein mussten – noch immer kindlich aus. Einer von ihnen stieß einen Pfiff aus, als mir das Kleid beim Einsteigen die Wade hochrutschte.

»Hab heut früh schon ’nen hübscheren Kadaver aufgeschnitten«, johlte sein Begleiter.

Der Kutscher machte eine zornige Geste und klappte das Trittbrett ein.

»Die musste auch tot sein, um dich ranzulassen«, konterte ich, ehe der Schlag zufiel und der Kutscher auf den Bock stieg, um seine edle schwarze Stute mit schnalzender Peitsche anzutreiben.

Ein wahrer Luxus, von einem glänzenden Kasten umschlossen zu sein, statt hinter den Klapptürchen eines Hansom der Witterung ausgesetzt zu sein oder notgedrungen hinter einem Ledervorhang zu kauern. Das pralle Sitzpolster war mit burgunderrotem Leder bezogen, und unser Vorankommen war gravitätisch auf vier gefederten Rädern, die alle Stöße über die unzähligen Huckel und Schlaglöcher im Pflaster dämpften.

Die Sonne war versunken bis auf ein schwaches orangerotes Glimmen durch den Rauch der Kohlenfeuer und den Ausstoß der abertausend rastlos arbeitenden Fabriken in der größten Metropole, die die Welt je gekannt hatte.

Eine Schar Kinder lief uns hinterher. Ihren rasierten Köpfen und unförmigen Lumpen konnte ich nicht ansehen, ob es Jungen oder Mädchen waren.

»Bringse die innen Tower, Mister?«

»Is’n falsches Stück, aber wie.«

»Rübe ab dafür.«

Ich lachte, konnte ihnen aber kein Kupfer aus meinem isolierten Komfort heraus zuwerfen.

Mein Vater hatte mir gegenüber nie irgendwelche lebenden Verwandten erwähnt, und ich hatte stets angenommen, dass es keine gab. Meine Mutter war geschwisterlos gewesen und das letzte mir bekannte Familienmitglied – der ältere Bruder meines Vaters – auf See verschollen, als ich noch ein Kleinkind war.

Mir kam der Gedanke, der Briefschreiber könnte sich irren oder womöglich lügen in der Hoffnung, mich dazu zu bringen, ihn im Alter zu unterstützen. Es konnte sogar ein gemeiner Scherz sein, und bald wünschte ich mir, vor meinem Aufbruch eine Gelegenheit zur Rücksprache mit Inspektor Pound abgewartet zu haben, doch ich war neugierig. Vielleicht konnte mir Mr Travers Smyth etwas über die Familiengeschichte erzählen, die mein Vater immer so einsilbig behandelt hatte. Am Ende kannte er gar den Grund, aus dem Sidney Grice sich verpflichtet gefühlt hatte, mich in seinem Haus aufzunehmen. Mir war nicht einmal bewusst gewesen, einen Paten zu haben, bis Mr G an mich herantrat, der entweder Ausflüchte machte oder eine Kiefersperre erlitt, sobald ich in seiner Vergangenheit nachbohrte.

Unsere Fahrt ging langsam vonstatten. Die für hunderttausend Menschen angelegten Durchgangsstraßen barsten nun bei zwei Millionen, und jeder Omnibus, jede private Kutsche, jeder Lieferwagen in London musste beständig gegen alle anderen andrängeln, um überhaupt voranzukommen. Doch allmählich ließ das Verkehrsgetümmel nach, und die Gebäudereihen bekamen Lücken, dann lösten sie sich ganz in von der Straße abgerückte Einzelhäuser hinter Vorgärten auf. Wir verfielen in gleichmäßigen Trab, und unser Pferd warf den Kopf zurück wie ein Grubenpony an seinem freien Tag auf der Weide, während wir längs der hohen, baumgesäumten roten Backsteinmauern der riesigen Nekropole von Highgate entlangfuhren. Als wir den Eingang zum Westfriedhof passierten, sank schon die Nacht so rasch herab, dass ich den imposanten Torbogen in nachgeahmtem Tudorstil kaum mehr ausmachen konnte, der mich samt seiner flankierenden, mit gotischen Türmchen bewehrten Kapellen aus schwarzen und grauen Ziegeln eher an ein Gefängnis als eine Ruhestätte für die Toten erinnerte, die diesseits des Jüngsten Tags schwerlich einen Massenausbruch versuchen dürften.

Wir bogen von der Hauptachse ein in zusehends ruhigere Straßen, die zweifellos im Sommer dicht belaubt waren, nun aber von Platanen- und Kastaniengerippen begrenzt wurden, kaum mehr als verwinkelte Schatten im Dunkeln. Es gab hier keine Straßenbeleuchtung, und die einzigen Lichtquellen waren vorn unsere zwei Laternen, die Mondsichel und zuweilen ein Schimmer aus einer Villa, in der der Vorhang noch nicht zugezogen war.

Nun klopfte feiner Regen an die Scheiben.

Wir schwenkten nach rechts in eine Seitenstraße und noch einmal rechts ein, folgten einer langen Kurve und schwenkten wieder rechts ein, und ich hatte das Gefühl, im Kreis zu fahren, dann aber bogen wir zweimal links ab in mittlerweile solcher Finsternis, dass ich mich fragte, wie der Kutscher noch sehen konnte, wohin er fuhr. Unser Pferd verlangsamte das Tempo, suchte sich vorsichtig seinen Weg, während wir über das Kopfsteinpflaster ratterten. Ich versuchte, unsere Richtung zu bestimmen, indes wir noch ein paarmal abbogen, doch jetzt verbarg sich der Mond hinter den dichten Wolken, und als ich meine Torheit, auf Einladung eines Wildfremden hin ein Fahrzeug zu besteigen, eben einsah, hielten wir an.

Mittlerweile war pechschwarze Nacht, der Kutscher aber stieß viermal in sein Horn, und schlagartig verwandelte sich die Szene zu meiner Linken. Eine Laternenreihe flammte auf, die von einem offenen Eisentor ausging und zu beiden Seiten eines langen Schotterpfads auf ein Haus zulief. Und im nächsten Augenblick leuchtete aus allen Fenstern dasselbe strahlend weiße Licht.

Der Kutscher kletterte vom Bock, öffnete den Schlag und klappte den Tritt für mich nach unten. »Villa Saturn«, verkündete er stolz. »Wenn Sie mir gestatten wollen, Miss.« Er bot seinen Arm an und half mir auf den Gehsteig, wo ich über den Anblick staunte, der sich mir bot. »Mr Travers Smyth gefällt es, seine Gäste zu überraschen.«

»Das hat er allerdings.« Es war, als wäre der Garten plötzlich zu einer Insel aus Tageslicht geworden, und ich sah die Blutbuchen, Rhododendronbüsche und geharkten Rasenflächen klar vor mir wie in der Morgenfrische. Und ich wurde nicht als Einzige überrumpelt, denn eine gelbbraune Eule schoss aufgeschreckt über meinen Kopf hinweg, als wir unter einer uralten Rosskastanie hindurchgingen.

Die Villa Saturn war ein dreigeschossiger Bau, ein großes Haus mit aufgeräumter Ziegelfront und von – gerade in dieser Beleuchtung – einladender Erscheinung. Der Kutscher hob meinen Koffer hinten aus dem Gepäckkasten, worauf ich ihm folgte und dabei Blicke um mich warf wie ein Kind im Märchenland. Auf alle Fälle sah es hier nicht nach der Behausung von jemandem aus, der etwas von mir erbetteln müsste.

Wir nahmen zwei halbrunde Stufen zur weiß lackierten Eingangstür.

»Sie erlauben, Miss.« Er drückte einen polierten Messingknopf, und umgehend ertönte eine schrille Schelle im Gebäudeinneren, ehe kurz darauf die Tür von einem jungen Hausdiener in rotem Frack mit Schößen geöffnet wurde.

»Miss Middleton für Mr Travers Smyth«, teilte ich ihm mit, und seine ernste Miene löste sich in jungenhaftes Grinsen auf.

»O ja, Miss, bitte treten Sie ein.« Sein Haar war mittig gescheitelt und so schwarz, dass ich es für gefärbt gehalten hätte, wäre er nicht so jung gewesen.

Die Eingangshalle war ein Geviert mit hoher Decke, Fußboden und Säulen aus rosa geädertem Marmor und weiß verputzten Wänden. Ihre Mitte wurde von einem lebensgroßen Standbild auf einem hohen Sockel beherrscht – ein rauschebärtiger, nur mit Lendenschurz bedeckter Mann, der in einer Hand eine Sichel hielt und die andere mit der Fläche nach oben über seinen Kopf streckte. Es brauchte nicht Sidney Grice, um zu erschließen, dass es sich dabei um den Gott Saturn handelte.

Das Standbild hatte eine breite Steintreppe im Rücken, und Licht flutete den ganzen Raum. Ein Glasschrank war in die Wand eingelassen und mit orientalischem Nippes vollgestopft.

Der Hausdiener trat geschwind an eine Doppeltür aus Walnussholz, zog ihre Flügel mit seinen weiß behandschuhten Händen auseinander, um mich anzumelden, und hatte kaum genug Zeit dazu, ehe eine hohe Stimme freudig ausrief: »Herein mit ihr, Colwyn! Herein mit ihr!«

Colwyn trat seitlich zurück. Etwas huschte mir durch den Kopf, doch ich schüttelte es ab und betrat den Raum.

6Sherry und die Elster

Ich fand mich in einer eichengetäfelten Bibliothek wieder mit verglasten Bücherregalen vor jeder Wand.

»Willkommen. Willkommen.«

Und ich sah, dass die Begrüßung von einem älteren Mann hoch oben auf einer steilen Regalleiter auf Rädern ausging. Er hatte ein großes Buch mit rotem Ledereinband in einer Hand und ließ die Griffstange los, um mit der anderen zu winken, wobei er sich mir in einem beunruhigenden Winkel entgegenbeugte. Die Sprossen wackelten, und ich eilte rings um die vielen Bücherständer und kleinen Tische, die sich überall verteilten, auf ihn zu. Ich konnte ihn nicht auffangen, sollte er aus solcher Höhe fallen, aber wenigstens seinen Hochsitz zu stabilisieren versuchen.

»Miss Middleton, Miss Middleton«, grüßte mich der Mann fröhlich, während er mit einer Behändigkeit herabkletterte, die einem Londoner Feuerwehrmann alle Ehre gemacht hätte. Er nahm meine Hand und drückte wiederholt kräftig zu. »Wie ganz, ganz wunderbar von Ihnen, so bald zu kommen, so bald.«

»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«

»Aber keineswegs, keineswegs.« Er war ein Winzling von Mann, leicht gebeugt mit einem kleinen, zu mir emporgekehrten Gesicht und obenauf einem sich lichtenden, drahtigen fuchsroten Haarwust, der unter einem zinnoberroten Raucherfez mit Goldstickerei hervorwucherte, das Ganze von einer Stoppelkrause eingefasst, die in einem langen, flaumigen Spitzbart auslief. Sein Mund war breit mit schmalen Lippen und ringsum glatt rasierter Haut unter einer schmalen Nase, die zwischen tiefliegenden großen, von drahtgefassten dicken Brillengläsern nochmals vergrößerten Augen endete. Er erinnerte mich dermaßen an ein Kapuzineräffchen, dass ich dem Drang widerstehen musste, die Hand auszustrecken und seinen Kopf zu streicheln. »Ich muss Ihnen dieses Buch zeigen.« Er schwenkte es über seinem Haupt wie eine Siegesfahne. »Erst mal trinken wir aber einen Sherry, ja, Sherry.« Während er redete, wackelte er die ganze Zeit aufgeregt auf der Stelle. »Es freut mich so sehr, Sie zu treffen, werte Dame.«

»Nennen Sie mich doch bitte March, Mr Travers Smyth.«

Er machte ein langes Gesicht. »Aber das kann ich nicht tun, werte Dame, außer Sie sind einverstanden, mich Onkel Tolly zu nennen. Ich hoffe so sehr, Sie sind es.« Er schielte zu mir hoch wie ein Kind, das um eine Brause bettelt.

»Onkel Tolly«, sagte ich, und er rieb sich die Hände.

»Famos, famos. Wir werden allerbeste Freunde, March. Ich fühle das jetzt schon.« Er legte den Kopf schräg. »Fühlen Sie das auch? Bitte sagen Sie ja, aber nur, wenn es die Wahrheit ist.«

Da war eine erhabene Warze an seiner rechten Schläfe, fast schwarz und von der Form und Größe einer dicken Bohne.

»Ich fühle mich sehr herzlich von Ihnen aufgenommen.« Ich lachte. »So dramatisch bin ich noch nie begrüßt worden.«

Er runzelte die Stirn. »Indem ich von einer Leiter stieg? Es tut mir so leid, sollte ich Sie beunruhigt haben.«

»Ich meinte die Beleuchtung.«

Onkel Tolly gluckste. »O ja. Sie wird von etwas«, seine Stimme senkte sich verschwörerisch, »namens Elektrizität gespeist.«

»Ich habe elektrisches Licht schon einmal gesehen«, sagte ich, »aber noch nie in solchem Ausmaß und von solcher Helligkeit.«

»Aha!« Er hüpfte von einem Fuß auf den anderen. »Das sind die neuen, weißglühenden Birnen von Swan.«

»Aber haben Sie denn keine Angst, dass Ihr Haus Feuer fängt?«

»O nein. Die leitenden Drähte sind allesamt dick mit etwas namens Guttapercha ummantelt, aber«, Onkel Tolly schaute beschämt drein, »wenn Sie sich um Ihre Sicherheit sorgen, werde ich die Generatoren abklemmen und die Glühstrümpfe anzünden lassen, oder ich werde, sollte Sie der Gedanke daran schrecken, explosionsfähige Gase zu verbrennen, meine Dienerschaft anweisen, die alten Petroleumlampen hervorzuholen. Soll ich das sofort tun?«

»Bitte machen Sie keine Umstände.«

Onkel Tolly schlug sich gegen die Stirn. »O March – sind Sie sicher, dass ich Sie so nennen darf?« Ich nickte, und er fuhr fort. »Aber ich vergesse mich ja selbst. Ich versprach Ihnen einen Sherry, und was haben Sie bis jetzt gehabt? Nicht den kleinsten Tropfen.« Er eilte zur Anrichte, wo ein Silbertablett stand, zog den Stöpsel aus einer Karaffe mit langem Hals, um zwei tulpenförmige Gläser einzuschenken, reichte mir eines und hob das seine. »Auf Ihre allzeit beste Gesundheit, March.«

»Und auf Ihre, Onkel Tolly.« Es war befremdlich, zwei Jahrzehnte gelebt und noch nie diese Anrede gebraucht zu haben. Ich trank von meinem Sherry. Er war etwas zu süß für meinen Geschmack, mir aber dennoch willkommen. »Es ist so schön festzustellen, dass ich einen lebenden Verwandten habe.« Ich zögerte, und mit einem Mal war er erfüllt von Betroffenheit.

»Aber was ist denn? Sie sind bekümmert, liebe March. Ist es mir jetzt schon gelungen, Sie zu verärgern? Ach, ich bin doch ein ungehobelter Kerl, meiner Junggesellenart so sehr verhaftet, dass ich ganz vergessen habe, wie man sich in weiblicher Gesellschaft benimmt. Sollte ich Sie gekränkt haben …«

Ich hob die Hand. »Nicht doch, ganz im Gegenteil. Es ist nur … Sie sind sich sicher, dass wir miteinander verwandt sind?«

Er seufzte erleichtert auf. »O nein, liebe March, dessen bin ich mir mitnichten sicher.«

»Aber …«

»Ich bin absolut überzeugt davon.« Seine großen Augen funkelten. »Jawohl, überzeugt ist genau das richtige Wort. Deshalb nahm ich gerade dieses Buch in die Hand, als Sie entzückenderweise eintrafen. Es schildert das Leben von Samuel Travers Smyth, meinem Großvater und Ihrem Urgroßvater, und Sie wollen es sich vielleicht ausleihen.« Er kratzte sich unterm Rand seines Raucherfezes. »Andererseits vielleicht auch nicht. Er hat wenig von Interesse für irgendwen anderes als ihn selbst getan und mitunter, argwöhne ich, nicht einmal das. Dennoch …« Er scharrte umständlich mit den Füßen. »Er ist der Fluss, dem unsere Lebensströme entsprungen sind. Oje, wo denke ich schon wieder hin?« Onkel Tolly wischte sich mit dem Handballen die Stirn. »Da hab ich Sie stehenlassen und schnattere drauflos wie eine aufgeregte Elster.« Er führte mich zu einem tiefen Sessel, und wir setzten uns einander gegenüber an einen niedrigen Tisch vor einem knisternden Kaminfeuer.

Ich legte das Buch ab. Es ließ einen muffigen Geruch an meinen Fingern zurück.

»Ich weiß so wenig über meine Familie«, sagte ich, und er verschränkte die Hände über seinem Bauch.

»Ich fürchte, leider alles zu sein, was es da zu wissen gibt.«

»Sie schrieben, dass Sie ein Vetter meines Vaters sind.«

»Aber trinken Sie Ihren Sherry aus, liebe March.« Er hob sein Glas. »Und dann werde ich Ihnen erzählen, wer wir sind und warum mir so daran lag, Sie zu sehen.«

7Der Esel und die Feder

Onkel Tolly stürzte seinen Sherry hinunter, und ich tat es ihm gleich.

»Nektar der Götter.« Er schwang sich hoch und eilte an einen großen Kartentisch am anderen Ende des Raums in Türnähe. »Kommen Sie, meine werte Dame.« Ich schnellte an seine Seite. »Bitte sehr.« Er rollte einen vergilbten Bogen Papier auseinander und beschwerte seine Enden mit einem Messingkompass und einem Tintenfass. »Der Stammbaum der Familie Travers Smyth in ganzer Länge von Ururururgroßvater Adam …«, er tippte auf das obere Ende, »bis …«, sein Finger fuhr nach unten, »zu dem stattlichen jungen Burschen namens Ptolemy Hercules Arbuthnot Travers Smyth, der die Ehre hat, hier heute vor Ihnen zu stehen.« Er holte weitere Dokumente hervor, einige mit roten Schleifen zu Rollen gebunden, andere aufgefaltete Urkunden. »Und hier haben wir den Stammbaum der Middletons. Beginnend am Fuß …« Wieder folgte er mit dem Finger seinen Worten. »Da haben wir Sie, March Lillian Constance Middleton, da Ihren Vater Colonel Geoffrey Charles Pemberton Middleton, der Constance Elsie Stopforth, Ihre Mutter, im November 1861 ehelichte. Jesses, das scheint mir einen weiteren Sherry wert, jawohl.« Er holte die Karaffe und schenkte uns nach, und während ich meinen in kleinen Schlucken trank, fuhr er fort.

»Giles Middleton hier drüben«, er tippte auf den Namen, »hatte einen zweiten Sohn, Gervaise, der Beryl heiratete, meine Mutter. Daraus ersehen Sie, obzwar ich Sie aufgrund unseres Altersunterschieds gebeten habe, mich Onkel zu nennen, dass ich tatsächlich Ihr Großcousin Tolly bin.« Er holte Luft.

»Dann bin ich überaus froh, dass Sie mich gefunden haben.« Ich starrte auf die ungeläufigen Namen und versuchte, aus den zahllosen Geburten und Ehen, Sterbefällen und Wiederverheiratungen und Nachkommen schlau zu werden.

»Ich muss ein Geständnis ablegen, March.« Onkel Tolly zauste sich mit spitzen Fingern den Bart. »Ich hatte einen eigennützigen Grund, Sie heute hierher einzuladen und hoffe, Sie werden imstande sein, mir zu verzeihen. Sehen Sie«, er zupfte die Haarsträhnen auseinander, »ich wollte Sie auf die Probe stellen. Bin ich nicht ein schrecklicher Mensch?«

»Kommt darauf an, wie Sie mich auf die Probe stellen wollen.«

»Ich muss zutiefst beschämt einräumen«, teilte mir Onkel Tolly kleinlaut mit, »das bereits getan zu haben. Ich wollte feststellen, ob ich Sie gernhabe, und darf freudig verkünden, dass ich Sie fürwahr sehr gernhabe.« Er strahlte, ehe er es wiederholte. »Fürwahr. Ich bin ein Mensch und sterblich, March, und nicht länger übervoll der …« Seine Stimme verlor sich, ehe er seinen gedanklichen Faden wieder aufnahm. »Ich habe im Lauf meines Lebens ein beträchtliches Vermögen angesammelt – ein beträchtliches –, und nichts würde mir größere Freunde bereiten, als wenn Sie mir sagten, dass ich es Ihnen hinterlassen dürfte.«

Ich verlagerte unbehaglich mein Gewicht. »Das ist sehr gütig von Ihnen, aber …«

»Zeugen.« Onkel Tolly rieb sich die Hände. »Wir brauchen Zeugen.« Er drückte einen Messingknopf an der Wand.

»Sie kennen mich doch kaum«, begehrte ich auf, doch er rannte quer durch den Raum hinter seinen Schreibtisch, zog mehrere Schubladen auf und rief: »Aha!« Dann eilte er mit einem Stoß leerer Bögen zurück.

»Wir sind ein Fleisch und Blut, March, und das genügt mir.«

»Aber, Onkel Tolly, wie haben uns eben erst kennengelernt.«

Das Dienstmädchen betrat den Raum. Es war groß gewachsen und schlank mit wunderschönem flachsblonden Haar, das sich in rauen Mengen unter ihrer gestärkten weißen Haube türmte, doch verunstaltete eine Scharte in der Oberlippe, die so breit war, dass ein oberer linker Schneidezahn hervorstand, ihr Gesicht.

»Geh Colwyn holen, Annie«, wies ihr Brotherr sie an. »Wir brauchen ihn umgehend.«

Annie ging, und Onkel Tolly hüpfte aufgekratzt umher. »Eine Feder. Wir werden eine Feder benötigen.« Er wieselte wieder an seinen Schreibtisch zurück und warf einen Stapel Dokumente auf den Fußboden. »Eine Feder.« Frohlockend hielt er sie in die Höhe, einen altmodischen Gänsekiel, während er schon zurücksauste. »Tinte.«

»Ein Tintenfass haben Sie hier.« Ich schob ein Straußenei aus dem Weg. »Aber was haben Sie eigentlich damit vor?«

»Na, gar nichts.« Onkel Tolly schaute ausdruckslos drein. »Sie sind es, die Gebrauch davon machen wird, werte Dame.«

Annie kehrte mit einem verwunderten Colwyn zurück.

»Alsdann«, rief ihr Brotherr aus, »ich muss euch beide um einen außerordentlichen Gefallen bitten.« Er krümmte seinen Zeigefinger vor seinem Auge. »Ich möchte, dass ihr zwei wichtige Schriftstücke beglaubigt.« Er wies mit dem Finger nacheinander auf die beiden Dienstboten.

»Gewiss, Sir.« Colwyn sprach für beide.

»Aber wo sind die Schriftstücke, Sir?«, fragte Annie.

»Sie sind in meinem Kopf«, erklärte ihr Brotherr. »Aber die wunderbare Miss Middleton wird sie von dort auf blütenweiße Bögen Papier übertragen mittels eines Vorgangs, der in gewerblichen Kreisen als Diktat bekannt ist. Wenn Sie so gütig wären, meine Liebe.« Er reichte mir die Feder. Ich nahm sie unschlüssig entgegen und tunkte die Spitze ins Tintenfass. »Bescheinigung«, hob er an, und ich kratzte emsig drauflos. »Ich, Ptolemy Hercules Arbuthnot Travers Smyth …« Er hielt inne, während ich die Feder frisch einstippte und aufholte. Die Tinte war sehr dick und grün. »Und bei klarem Verstande«, hängte er an, worauf Annie ein Kichern unterdrückte, während er ungerührt fortfuhr, »vermache hiermit alle meine weltlichen Güter meiner Großcousine March Lillian …«

»Onkel Tolly«, warf ich ein, »ich kann damit wirklich nicht weitermachen. Es muss doch einen Freund oder ein würdiges Anliegen geben, die sich eher als ich verdient gemacht haben.«

Doch Onkel Tolly ließ sich nicht ablenken. »Bitte fahren Sie fort, denn wir sind fast fertig … Middleton.«

Zögerlich schrieb ich meinen Namen und sagte dann: »Hierbei kann ich mich wirklich nicht beteiligen.«

Onkel Tollys Lippen wurden blass, und er zog sich kräftig am Spitzbart. »Ich weiß eine Lösung«, verkündete er schließlich. »Wenn Sie die Bestimmungen meines Testaments missbilligen, werde ich meinen ganzen Besitz der unersprießlichsten Sache vermachen, die mir überhaupt einfällt.« Er trat auf der Stelle. »Ich hab’s – die Gesellschaft zur Wiedereinführung der Sklaverei. Ich werde dieser abscheulichen Institution alles hinterlassen – bei meiner Ehre und allem, was Unrecht ist.«

Ich dachte darüber nach. »Nun gut. Ich werde Ihr Vermächtnis annehmen, aber jeder Penny wird darauf verwandt, die Armut im East End zu lindern.«

Das Blut floss in Onkel Tollys Lippen zurück, und er streckte die Arme aus, wie um uns allesamt zu umschlingen. »Famos, famos«, stellte er fest, nahm mir die Feder aus der Hand und setzte seine wirbelige Unterschrift auf sein Testament. »Jetzt Sie, Colwyn.«

Sein Lakai schrieb flüssig seinen Namen, tunkte die Feder ein und reichte sie Annie, die eine Faust darum machte, sich auf die vorgestreckte Zunge biss, die Stirn runzelte und sorgfältig Druckbuchstaben daruntermalte.

»Sie sagten doch, es seien zwei Dokumente«, erinnerte ich Onkel Tolly, der beide Arme von sich warf und sie dabei fast in Annies Mitte stieß. Sie machte einen Satz rückwärts.

»Es ist nur eine Kleinigkeit«, sagte er, »mir aber wichtig und Jennifer betreffend.«

»Jennifer ist ein Esel«, erläuterte Colwyn. Irgendetwas daran, wie er die Worte betonte, machte mich schmunzeln.

»Nicht bloß ein Esel«, rief Onkel Tolly aus. »Jennifer gehört zur Familie. Sie lebt nahebei auf einer Koppel, und ich besuche sie mindestens drei Mal täglich.«

»Wohl eher zehn«, hänselte Annie.

Onkel Tolly machte ein langes Gesicht. »Aber sie wird alt, und ich fürchte, wenn ich sterben sollte, wird sie nach mir schmachten oder auch krank werden und nicht die Behandlung bekommen, die sie verdient.«

»Ich habe keinen Platz für einen Esel«, sagte ich zu ihm. »Ich kann aber versprechen, ihren Unterhalt zu bezahlen.«

»O wie hab ich gehofft, Sie würden das sagen.« Onkel Tolly blinzelte eine Träne fort. »Aber wir müssen es rechtsgültig machen. Soll keiner sich einbilden können, Sie hätten weder Rechte noch Pflichten ihr gegenüber. Vielleicht könnten Sie auch dieses zweite Dokument aufsetzen, liebe March, falls Ihr Handgelenk noch nicht zu verkrampft ist.«

»Es geht noch sehr gut«, beschied ich ihn und ließ mir erneut diktieren.

»Ich, March Middleton, gelobe hiermit sicherzustellen, dass Jennifer, Ptolemy Travers Smyths Esel, versorgt wird, aber sollte sie unheilbar leiden, werde ich einhundert Pfund dafür entrichten, sie zu töten und ihren Leichnam auf ihrer Koppel unter einem kleinen Gedenkstein aus Granit zu begraben.«

Ich unterzeichnete mit meinem Namen, und die Dienstboten gingen, nachdem sie den Schrieb beglaubigt hatten, worauf Onkel Tolly beide Dokumente mit großer Sorgfalt ablöschte.

»Hurra«, rief er aus und warf mit schwungvoller Hand das Tintenfass um, dessen Inhalt sich über seinen Stammbaum ergoss. Er zückte ein riesiges gelbes Taschentuch. »Ach du liebe Güte!«

»Nicht wischen«, warnte ich, doch es war schon zu spät. Mit einer raschen Reibbewegung hatte er es fertiggebracht, eine große Papierfläche zu verschmieren und ihren Inhalt unleserlich zu machen.

»Oje, oje, oje«, geriet er außer sich. »Was soll ich tun? Ich kann’s nicht mehr fortreiben. Was bin ich nur für ein Tölpel. Hoffentlich ist nichts auf Ihr schönes Kleid gekommen.«

Ich versicherte ihm, mir sei nichts passiert. »Vielleicht sollten wir die Zeichnung trocknen lassen und später nachsehen, wie schlimm der Schaden ist«, schlug ich vor.

»Vielleicht«, echote er so unglücklich, dass ich fürchtete, er könnte in Tränen ausbrechen. Seine großen braunen Augen schwammen, und ich brachte den Hinweis nicht übers Herz, dass seine ganze Hand und sein Hemd voll Tinte waren.

Die Tür öffnete sich.

»Das Abendessen steht bereit«, meldete Colwyn, und Onkel Tolly lebte auf.

»Famos, famos.« Er rieb sich die Hände in tapferem Bemühen um gute Laune. »Es gibt doch kein Ärgernis auf Erden, das eine gute Mahlzeit nicht mindern könnte.«

»Außer vielleicht eine Magenverstimmung«, wandte ich ein, und ihm gelang ein Lächeln.

8Schießeisen und Essiggemüse

Im Esszimmer stand ein riesiger Mahagonitisch mit zwanzig Stühlen zu beiden Seiten, gedeckt war aber nur an einem Ende.

»Bloß kalte Platte, muss ich zu meiner Schande gestehen.« Onkel Tolly führte mich zur Anrichte. Dort standen Tellerreihen, auf denen sich Tranchen von Schinken, Rindfleisch und Hammel häuften, ein ganzer marinierter und mit Gurkenscheiben garnierter Lachs, Suppenterrinen, eine Schüssel Kartoffelsalat, ein Senfnapf. »Bitte bedienen Sie sich.«

»Das ist genug, um eine ganze Brigade satt zu bekommen«, sagte ich, und er legte die Finger über den Mund.

»Oje, oje. In Wahrheit bin ich’s nicht gewohnt, Gäste zu bewirten.« Er knabberte auf seiner Unterlippe. »Und jetzt hab ich völligen Kuddelmuddel gemacht.«

»Nein, wirklich.« Er war so klein und verloren, dass ich hinübergehen und ihn knuddeln wollte. »Es ist großartig. Ich meine bloß, Sie sind hoffentlich nicht beleidigt, wenn ich alledem nicht gerecht werden kann.«

»Meine liebe March«, Onkel Tolly nahm eine weiße Leinenserviette vom Tablett, »das werden Sie schon allein durch Ihre Gegenwart.« Er wischte sich die äußeren Augenwinkel. »Aber probieren Sie von meinem Essiggemüse. Das mache ich selber … selber.«

Ich stellte mir einen Teller zusammen, und wir nahmen einander gegenüber Platz unter einem Kristallkronleuchter, der von einem Dutzend elektrischen Birnen funkelte. Eine Karaffe mit dunkelrotem Wein stand an meiner Seite.

»Soll ich einschenken?«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen?« Er blinzelte verunsichert. »Macht es Ihnen etwas aus? Ich hab nur so wenig Erfolg damit gehabt in der Vergangenheit. Es endet immer damit, dass ich ihn übers Tischtuch kleckere, und dann wird Annie böse und schimpft mit mir.«

»Ihr Dienstmädchen schimpft mit Ihnen?« Ich erkannte sein Problem. Die Karaffe war sehr schwer und ihr Hals zu schlank, um sie gut handhaben zu können, aber es gelang mir, unser Gläser ohne Malheur zu füllen.

Onkel Tolly schob seine Unterlippe vor. »Sie lässt mich ihn dann aufwischen.«

»Warum kündigen Sie ihr denn nicht?«

»Weil«, sagte er schlicht, »sie meint, daran darf ich nicht mal denken.« Und wir aßen eine Weile wortlos weiter.

»Das«, Onkel Tolly zeigte über seine Schulter auf das Portrait einer finster blickenden Frau mit keilförmigem Gesicht über dem fröhlich knisternden Kaminfeuer, »ist Großtante Matilda.« Er kicherte. »Ich glaube, sie war noch grimmiger, als sie aussieht.«

»Sie haben ein so schönes Haus. Haben Sie es selbst gebaut?«, fragte ich, und er kräuselte die Lippen.

»Ja – und nein. Ich habe alles entworfen von den Dachschindeln bis zum Kellerfußboden, andere aber haben die Backsteine getragen und einen auf den anderen gelegt und noch einen auf den nächsten und so weiter und so fort bis uns die Ziegel ausgingen abgesehen von dreitausendzwanzig, aus denen wir das Fundament eines Gewächshauses im hinteren Garten mauerten.«

Ich faltete meine Serviette auseinander. »Wie lange wohnen Sie schon hier?«

»Ich wurde hier geboren.« Er löffelte einen Berg Senf auf seinen Teller. »Jedenfalls auf diesem Grundstück, denn das alte Haus ließ ich abreißen – bevor dieses Haus gebaut wurde natürlich. Somit habe ich es immer als mein Zuhause betrachtet, nur bin ich so viel im Ausland gewesen, dass ich eigentlich nicht sagen kann, lange irgendwo gewohnt zu haben.«

»Wo sind Sie überall gewesen?«