Dunkle Schatten über Steep House - M.R.C. Kasasian - E-Book
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Dunkle Schatten über Steep House E-Book

M.R.C. Kasasian

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Beschreibung

London, 1884: In den düsteren Straßen von Limehouse wird eine junge Frau angegriffen, direkt danach ereignet sich ein zweiter Vorfall mitten in einem überfüllten Café.   In der Gower Street 125, dem Büro von Londons wichtigstem Detektiv Sidney Grice und seiner Patentochter March Middleton herrscht unterdessen noch ungewohnter Frieden – bis die beiden auf den Fall angesetzt werden. Schnell ist klar: Ein Serientäter treibt sein Unwesen. Die Ermittlungen führen Sidney Grice und March Middleton bis in den Speisesaal eines preußischen Prinzen, in das dunkle Lokal eines armenischen Kriminellen und schließlich in die düsteren Ruinen eines alten Anwesens namens Steep House…

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Seitenzahl: 643

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M. R. C. Kasasian

Dunkle Schatten über Steep House

Roman

Aus dem Englischen von Johannes Sabinski und Alexander Weber

Atlantik

FÜR

Andrew, der mich fand

Ed, der mich rettete

Laura, die mich aufnahm

Maddy, die mich aufzog

und

Tiggy, die mir ihre Liebe gibt

Einleitung

Gestern kam ein Mann von der Londoner Stadtverwaltung zu Besuch. Sie wollen eine blaue Plakette an die Hauswand der Gower Street 125 anbringen, in Würdigung der vielen Jahre, die Sidney Grice hier verbracht und der unzähligen Triumphe, die er hier gefeiert hat. Ich kann mir bildhaft vorstellen, wie sich mein Vormund an einer solchen Ehrung geweidet hätte, insbesondere, da sie seinem verhassten Rivalen Sherlock Holmes – aufgrund seiner fiktiven Natur – wohl nie zuteilwerden wird.

Ich dachte, sagte ich dem Beamten, derartige Entbehrlichkeiten seien für die Dauer des Krieges ausgesetzt, was er bejahte, doch wolle man unbedingt meine Meinung zur Inschrift einholen, solange dies noch möglich sei. Ich erkundigte mich höflich, ob es ihm nicht gut gehe, vermochte an seiner Verlegenheit jedoch abzulesen, dass ich diejenige war, mit deren baldiger Abkunft wohl gerechnet wurde. Ich wies ihm die Tür.

Heute bin ich eine alte Frau, und während ich mit Stolz behaupten kann, dass meine Erinnerung mich noch nicht im Stich gelassen hat, so wird sie bald das Einzige sein, was mir noch bleibt. So viele haben mich bereits verlassen – Sidney Grice, Inspektor Pound und Molly –, nahezu all meine Freunde und alle, die ich je geliebt habe.

Als der Mann gegangen war, badete ich eine knappe Stunde lang in Selbstmitleid. Doch ein dreifacher Gin munterte mich wieder auf, und das strenge Tabakverbot, das mein Arzt mir auferlegt hat, machte die dazugehörige Zigarette noch um einiges köstlicher.

Der Beamte hatte mir das Gefühl vermittelt, nur mehr ein Anhängsel zu sein – ich, die ich mitgeholfen hatte, so viele böse Menschen zur Strecke zu bringen und eigenhändig gar den furchtbaren »Schattenmann von Shanklin« gefasst hatte, wie die Presse sie albernerweise nannte. Doch so leicht würde ich mich nicht zum alten Eisen werfen lassen. Mein Gedächtnis arbeitet noch einwandfrei, wie die folgenden Schilderungen, so hoffe ich, eindrücklich unter Beweis stellen werden.

Ich finde mich allmählich damit ab, dass ich nicht lange genug leben werde, um sämtliche der von meinem Vormund und mir gelösten Fälle niederzulegen. Manche davon sind recht berühmt und bedürfen keiner erneuten Elaboration. Es gibt wohl kaum jemanden, der nicht alle Einzelheiten unserer Erlebnisse auf dem Berg der Angst kennt, und Tausende haben die Bühnenfassung von Das Geheimnis des schnaufenden Pferdes gesehen.

Flüchtig erhasche ich mein Abbild im Kaminspiegel. Ist es wirklich wahr? Ist diese leicht beschwipste alte Dame wirklich dieselbe Frau, die in dem grauenvollen Sommer des Jahres 1884 dem fleischgewordenen Bösen die Stirn bot?

 

M. M., 19. Februar 1944

Gower Street 125

1Das silberne Medaillon

Februar 1884

Eine Widmung war in das Medaillon eingraviert.

Für meinen Schatz Siddy von ganzem Herzen.

Das Glas war gesprungen, aber ich wusste, auch ohne den geschwungenen Schriftzug Connie zu lesen, dass es ein Bild meiner Mutter war. Und es stimmte mich – nicht zum ersten Mal – nachdenklich, dass ich keinem meiner Elternteile ähnlich sah.

»Geben Sie das zurück.«

Die Worte hörte ich kaum, doch als ich aufblickte, sah ich seinen gekräuselten Mundwinkel, der mir an unserem gemeinsamen Spiegelbild aufgefallen war. »Lieber Gott im Himmel«, rief ich. »Sind Sie mein Vater?«

»Woher haben Sie dieses Medaillon?«

»Es fiel auf die Treppe, als Sie angegriffen wurden.«

»Sie hatten kein Recht, es zu behalten.«

»In dem ganzen Tumult habe ich es vergessen.« Ich klappte das Medaillon zu. »Und Sie hatten kein Recht, es mir vorzuenthalten.«

Näher hatte ich meinen Vormund einer Panik nie kommen sehen. Er hechtete über den Tisch und stieß dabei mit dem Knie gegen die Kante, dass unser Teegedeck in alle Richtungen flog.

»Was denn?« Ich schloss meine Faust um das Medaillon. »Wollen Sie es mir aus den Fingern hebeln wie ein Indiz aus der steifen Hand einer Leiche?« Für alle Fälle zog ich die Faust zurück. »Warum haben Sie mich aufgenommen?« Es fiel mir schwer, meine Stimme beherrscht zu halten. »Sie räumen selbst ein, kein gütiger Mensch zu sein.«

»Herrgott, Sie sind meine Patentochter.«

»An Gott glauben Sie nicht mal, und warum sollte meine Mutter Ihnen Liebespfänder zukommen lassen?«

Sidney Grice sank zurück in seinen Sessel. Er schloss die Augen. »Ich bin nicht Ihr Vater«, sagte er leise. »Ihr Vater war Ihr Vater.«

Ich hatte Sidney Grice noch nie beim Lügen ertappt und konnte nicht glauben, dass er es jetzt tat. »Was verbergen Sie vor mir?« Ich sah ihn an.

Das rechte Augenlid meines Vormunds büßte allmählich seinen Tonus ein, und es bereitete ihm Mühe, es ganz zu schließen. Sein Glasauge starrte mir blind entgegen. »Nicht mehr, als ich vor mir selbst verberge«, antwortete er mit Bedacht.

Sein Teller lag zerbrochen in der Asche, wo er ihn mit seinem Hechtsprung hinbefördert hatte, und es schien mir eine Ewigkeit her, dass ich noch geglaubt hatte, ihn vielleicht zu kennen.

2Tod unter den Toten

Es gibt so viele lose Fäden in dem verschlungenen Wirrsal der Ereignisse, dass ich kaum weiß, wo ich beginnen soll. Einige dieser Fäden wurden gesponnen, als ich fort war, andere reichen zurück in die Zeit, bevor ich nach London kam, und die längsten von ihnen gar bis in jene Jahre, als Sidney Grice noch kein persönlicher Ermittler war.

Also werde ich mit den Geschehnissen beginnen, die später einmal als Der Fall des Wundarztes bekannt werden sollten, denn dort fingen die Fäden an zusammenzulaufen.

Am frühen Samstagabend des 2. Juli 1881 – demselben Tag, an dem Präsident James A. Garfield in Washington, D.C., erschossen wurde – besuchte Mr David Anthony Lamb, ein pensionierter Chirurg, auf dem Friedhof von Brompton sein Familiengrab. Lamb war bekannt für seine Mildtätigkeit – so widmete er sich etwa zwei Tage pro Woche Kranken, die keinen Arzt bezahlen konnten – ebenso wie für seine gewinnende Art und sein fachliches Geschick. Gleichwohl war er außerstande gewesen, seine Frau und sechs Kinder vor einer Typhusepidemie zu bewahren, und schlussendlich vermochte er auch sich selbst nicht zu retten.

Zwei weitere Friedhofsbesucher, zwölfjährige Brüder, die rund fünfzig Meter entfernt am Grabe ihrer Mutter weilten, vernahmen Laute, die sie für die Seufzer eines Trauernden hielten und beschlossen, ihn in seinem Leid nicht zu stören. Erst als sie dumpfes Poltern und das Geraschel eines Handgemenges hörten, begannen sie zu stutzen.

Über den Kampflauten erhob sich eine raue Männerstimme, die zwischen so manch Unverständlichen immerfort Milde, es ist diese grässliche Milde brüllte. Dann ertönte ein letzter schwerer Schlag, gefolgt von Schritten, die davonhasteten. Die beiden Burschen erhaschten eben noch den dunklen Mantel eines fliehenden Mannes, bevor dieser zwischen den Grabmälern und dem billigen Imitat eines griechischen Tempels entschwand.

Anthony Lamb war mit einer marmornen Grabvase erschlagen worden. Man hatte ihm förmlich das Gesicht zermalmt. Als er sich in einer letzten Regung zur Seite rollte, hatten die Schläge seinem Schädel derart zugesetzt, dass ihm das Hirn aus dem kahlen Hinterkopf quoll.

Zwei Wochen später wurde Inspektor Quigley zu den Ermittlungen hinzugezogen, vermochte aber kaum mehr etwas beizutragen. Wenige Tage nach dem Mord hatte es für die Jahreszeit ungewöhnlich viel geregnet, und die rasch eintreffenden Polizisten und Scharen Schaulustiger hatten das Gras am gesamten Tatort niedergetrampelt. Zu seinem Verdruss hatte die Friedhofsverwaltung zudem angeordnet, den Schauplatz so rasch wie möglich zu säubern. Quigley wiederum hatte befohlen, dass man ihm die Vase in sein Büro nach Marylebone senden sollte, doch aufgrund eines Missverständnisses war auch sie vor ihrem Eintreffen gründlich gereinigt worden. Zu Quigleys weiterer Verärgerung war sein Antrag auf Exhumierung des Toten wegen des Einspruchs der letzten lebenden Verwandten, der Schwester von Anthony Lamb, abgelehnt worden. Nachdem sie ihre Geschichte so oft vor ihren Freunden zum Besten gegeben und ausgeschmückt hatten, wussten auch die Jungen nicht mehr genau, was sie gesehen oder gehört hatten. Und ein blutüberströmter Mann, der über die benachbarte Hortensia Road geflüchtet war, entpuppte sich hernach als Opfer eines brutalen Raubüberfalls.

Für eine Weile mehrten sich die Rufe nach zusätzlichen Friedhofswächtern, doch als die Ermittlungen im Sande verliefen, verblassten auch die Erinnerungen. Schließlich herrscht nie Mangel an immer neuen Gräueltaten, die die Londoner Öffentlichkeit in Atem hielten.

Quigley legte den Fall zu den Akten und vergaß ihn umgehend wieder.

Sidney Grice wurde nie ersucht, in diesem Mord zu ermitteln, doch als gewissenhafter Archivar, der er nun mal war, heftete er sämtliche den Fall betreffenden Zeitungsmeldungen in seinem Studierzimmer in der Gower Street 125 ab: unter L für Lamb, B für Brompton und mit Hilfe von Querverweisen auch unter zwölf anderen Kategorien, darunter N für Noch zu lösen.

3Das Hockaday-Vermächtnis

In der Montagnacht des 4. Februar 1884, während sich das Gemetzel an britischen Offizieren im fernen Sudan ereignete, wurde Geraldine Hockaday vergewaltigt. Geraldine war die Tochter Sir Granvilles, eines hohen Beamten im Kriegsministerium, und der Fall wurde ebenfalls totgeschwiegen, um seinen eigenen Ruf so wie den ihren zu schützen. Denn die Straftat war nicht allein ein Schaden für den Leumund der Familie, sondern hatte sich zudem an einem berüchtigten Ort zugetragen, einer Gasse hinter dem Hotel Waldringham im Londoner East End, wo Geraldine im Kreis von Freunden das Abenteuer gesucht hatte.

Sir Granville beabsichtigte, seine Tochter mit einem ehrenwerten, aber verarmten Gentleman aus Braintree zu verheiraten, der sich – gegen eine großzügige Mitgift und die Aussicht auf einen Parlamentssitz – den Umstand ihrer Beflecktheit zu übersehen bereitfand. Geraldine hatte jedoch nichts von ihrem unabhängigen Wesen eingebüßt, und weder väterliche Drohungen noch mütterliches Flehen konnten sie dazu bewegen, die Ehe einzugehen oder von einer polizeilichen Anzeige des Vorfalls abzusehen.

Die Polizei hatte keine Mühe, einen Verdächtigen ausfindig zu machen. Zwei Nachtwächter und ein weiterer Bürger hatten in jener Nacht einen Mann beobachtet, der Geraldine die Gasse halb hinabtrug und halb entlangzerrte, und ihn überwältigt. Granville Hockaday jedoch zeigte sich seiner Tochter in Sachen Starrsinn mehr als gewachsen, und mit seiner Erbarmungslosigkeit hatte sie nicht gerechnet. Er stellte klar, dass er Geraldine im Fall ihrer Aussage vor Gericht gegen ihren Angreifer kraft seiner Vaterschaft für sittlich verwahrlost erklären und in eine Anstalt einweisen lassen könnte. Der Fall kam unbearbeitet zu den Akten.

Und so wurde der Verhaftete, Seine durchlauchtigste Hoheit Prinz Ulrich Albert Sigismund Schlangenzahn, Großcousin des deutschen Kaisers und einer der reichsten Junker Preußens, ohne Anklage freigelassen. Und Geraldine Hockadays wahrem Angreifer stand es frei, weiter durch die Straßen von London zu streifen und ohne Furcht vor den Folgen seines Handelns erneut zuzuschlagen – freilich nur, bis Geraldines Bruder Peter, vom Kampf gegen ägyptische Aufständische bei El-Kasasin zurück und empört über die Behandlung seiner jüngeren Schwester, sie zu sich in seine Unterkunft in der Gosling Lane nahm und den berühmtesten und teuersten persönlichen Ermittler Londons, Mr Sidney Grice, um Hilfe bat.

Mit seiner Unterstützung identifizierte Geraldine den Mann, der sie in die Gasse gelockt hatte, einen schäbigen Kleinkriminellen mit zahlreichen Falschnamen, der aber überall in der Gegend von Limehouse als Johnny »das Walross« Wallace bekannt war.

4Das Mädchen auf der Brücke

Sidney Grice summte zufrieden vor sich hin, während er mehrere Reihen weithalsiger, mit Korken versehener Glasflaschen sortierte, die auf seinem Schreibtisch standen.

»Was ist es denn heute?«, fragte ich, worauf er die linke Braue emporzog.

»Was ist was?«, erkundigte er sich vergleichsweise freundlich.

»Ihr Experiment.«

»Es ist das, was es gestern war, und vorgestern ebenfalls«, erwiderte er und fuhr mit dem Summen fort, in der festen Überzeugung, meine Neugier damit befriedigt zu haben.

»Ja, aber was ist es?«

Ich bahnte mir einen Weg durch den Wust wild verstreuter Zeitungen und Bücher, manche aufgeschlagen auf den Eichendielen liegend, die meisten mit den krudesten Lesezeichen versehen – Papierschnipsel, Zweige, Kaninchenknochen, was immer ihm gerade in die Hände fiel. In Edward Wilsons Eine kurze Geschichte des Türschwellentünchens in Preston lag eine schwarze Locke. Dieses Lesezeichen, so wusste ich, entstammte einem Opfer von Frances Forrester, der Fürchterlichen Furie von Featherstone.

»Ich vergleiche die Zersetzungsgeschwindigkeit menschlichen Gewebes bei unterschiedlichen Konzentrationen von Vitriolöl, Aqua fortis und Acidium Salis.«

»Schwefel-, Salpeter- und Salzsäure«, übersetzte ich für Spirit, meine Katze, doch vor allem, um Mr G zu zeigen, dass er mich nicht hatte verblüffen können – noch nicht.

Spirit lag ausgestreckt auf der Lehne meines Sessels und verfolgte mit Interesse das Geschehen. Womöglich vermutete sie in den Gläsern Leckerbissen, doch selbst Mr G würde es nicht einfallen, sie mit diesen Proben zu füttern. Es gab insgesamt neunzehn davon, die in verschiedenen Stadien des Zerfalls in ihrer Flüssigkeit dümpelten, während mein Vormund mit einem langen durchsichtigen Glasspatel darin herumrührte.

»Wo in aller Welt haben Sie die denn alle her?«

Ich kannte Mr Gs umfangreiche Sammlung von Fingern, Knochen und diversen anderen Körperteilen – besonders stolz war er auf die eingelegte Hand von Charlotte Corday, eben jene, mit der sie während der Französischen Revolution Jean-Paul Marat erstochen hatte. Was ich nicht wusste, war, dass er so viele menschliche Ohren besaß.

»Ach, an die bin ich über eine Anzeige im Anatomist’s Monthly gekommen«, sagte er beschwingt. »Dazu gab es noch sämtliche inneren Organe eines adligen Junggesellen, aber die habe ich meiner Mutter geschickt.«

Dann schlug er eine zwanzig Zentimeter lange Pinzette behutsam an die Glaswand eines Fläschchens, als wäre es eine Stimmgabel, und lauschte gebannt auf etwas, das nur er hören konnte.

»Aber was sollte sie denn damit anfangen?«

»Eben das hat sie mich auch gefragt.« Er hielt eine der Flaschen gegen das Licht. »Dies ist die neunzehnte Gelegenheit, seit wir uns kennen, bei der mir auffällt, dass Sie mehr Ähnlichkeit mit meiner Mutter haben als mit Ihrer eigenen.« Er schüttelte die Flasche. »Ich wundere mich immer wieder, wie kompliziert unsere auditiven Organe doch konstruiert sind, und wie nachlässig die meisten Menschen mit ihnen umgehen.«

Er fischte ein nahezu unversehrtes Ohr heraus und legte es zum Abtropfen auf einen Bogen Löschpapier, wo es in aller Ruhe vor sich hin zischelte. Ich hingegen widmete meine Aufmerksamkeit einer Ausgabe des Daily Telegraph, die bislang wohl Mr Gs Lektüre entgangen war, in deren Verlauf er für gewöhnlich alles heraustrennte, was ihn interessierte, sowie die vielen Artikel, die seinen rechtschaffenen Zorn erregten, in tausend Fetzen riss.

Auf der Titelseite fanden sich die üblichen Reklameanzeigen – der Anwalt Mr Clapper, der sechzehn Monate nicht geschlafen hatte, bis er Du Barrys Spezialnahrung probierte, die sein Gehirn abschwellen ließ; ein großes Feuerwerk am Crystal Palace für nur einen Schilling Eintritt, mitsamt einer Nachbildung der monumentalen Vorrichtung, mit dem einst Dover beschossen wurde; eine Frau, die, ohne es je zuvor versucht zu haben, in nur drei Tage das Klavierspielen erlernt hatte. Anschließend überflog ich einen Bericht über eine Abordnung der Berliner Kongokonferenz, die zu Besuch in London weilte, um über die Aufteilung Afrikas unter den europäischen Großmächten zu beraten.

Und dann fiel mein Blick auf einen Artikel mit dem Titel »Tragödie auf der Westminster Bridge«:

Am frühen Sonntagmorgen ereignete sich auf der Westminster Bridge ein zutiefst unerquicklicher und bedauerlicher Vorfall der Art, die in unseren modernen Zeiten doch immer häufiger zu beobachten ist.

Zuverlässigen Quellen zufolge fuhr Pater John Seaton, Kaplan der nahe gelegenen römisch-katholischen St. Mathew’s Church, wie jeden Morgen zur körperlichen Ertüchtigung mit dem Fahrrad über die Westminster Bridge, als er eine weibliche Gestalt in bedenklicher Position vor der Brüstung der stromabwärts gelegenen Brückenseite stehen sah.

Als Pater Seaton anhielt und sich erkundigte, ob sie denn Hilfe benötige, gab sie klagend zurück: »Ich bin längst jenseits irdischer Hilfe, Pater.«

Eilends zog der Pater sein Rover-Sicherheitsfahrrad auf den Gehweg und hastete zu der Frau. Sie war jung, kaum älter als ein Mädchen, wie er im Dämmerlicht gewahrte, und glaubte gar, sie könne hübsch gewesen sein, wäre ihr Antlitz nicht von den Spuren der Gewalt entstellt gewesen, die man ihr anscheinend angetan hatte, nicht zuletzt in Form einer Schnittwunde auf der Stirn. Er beschwor die Unglückselige, ja vorsichtig zu sein und nichts Unüberlegtes zu tun, doch sein Flehen war vergebens.

Es sei zu spät, beharrte die Fremde und gab ihm zu verstehen, man habe sich gegen ihren Willen an ihr vergangen, und sie sei die ganze Nacht durch Londons Straßen geirrt, in unbändiger Angst davor, ihr könne Ähnliches noch einmal widerfahren.

Pater Seaton trat behutsam auf sie zu und mühte sich, ihr zu versichern, dass die Sünden eines anderen ihr am Jüngsten Tag nicht angelastet würden.

»Das werde ich früh genug herausfinden«, beteuerte sie, derweil sich ihr Retter der Barriere zwischen ihnen näherte, doch in diesem Augenblick ließ die Geschändete einen herzzerreißenden Schrei ertönten und stürzte von ihrem heiklen Stand in die Tiefe.

Pater Seaton brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die junge Frau beim Versuch zurückzuweichen ausgeglitten sei, da die Selbsttötung, wie er unserer Zeitung gegenüber ausführte, in den Augen der römisch-katholischen Kirche eine Todsünde darstelle und die ewige Verdammnis nach sich ziehe. Auf Nachfrage räumte er indes ein, er halte es für wahrscheinlicher, dass sie gesprungen sei.

Wie die Bewohner und Besucher unserer großartigen Hauptstadt nicht umhinkommen, bemerkt zu haben, hatte es in den drei Tagen vor dieser Tragödie für die Jahreszeit ungewöhnlich stark geregnet, und die Themse war dementsprechend aufgewühlt. Ein Lichterschiffer und sein Maat vernahmen einen Schrei und sahen das unglückliche Wesen in der Nähe ihres Kahns ins Wasser fallen, doch ungeachtet all ihrer Bemühungen, sie mit Hilfe ihres Bootshakens herauszuziehen, trieb die Strömung sie rasch davon, jenseits ihrer Reichweite und bald schon außer Sicht, sodass wohl davon auszugehen ist, dass sie den tosenden Fluten zum Opfer gefallen ist.

Die Identität des Mädchens ist weiterhin ungeklärt, wiewohl Pater Seaton der Themsepolizei eine ausführliche Beschreibung ihrer Person gegeben hat. Offenbar hatte sie langes dunkles Haar, war zwischen sechzehn und zwanzig Jahre alt und trug ein teures dunkelblaues Kleid, aber keinen Hut.

Es scheint, als wäre sie ein weiteres Opfer der barbarischen, zügellosen und unzüchtigen Sitten geworden, die unsere Gesellschaft jüngst befallen haben und es unbescholtenen Damen unmöglich machen, sich unbegleitet auf unseren Straßen zu bewegen, ohne sich Gefahr für Leib und Leben auszusetzen.

Wir fragen uns, was die Verantwortlichen dieser Stadt zu tun gedenken, um der Lage Herr zu werden.

»Wie traurig«, versetzte ich.

»In der Tat«, pflichtete Sidney Grice mir bei. »Man fragt sich, wieso die meisten Menschen überhaupt zwei Ohren besitzen, wenn sie sich ihrer doch nie bedienen. Ach, Sie meinen das hier?« Er warf einen Blick auf den Artikel, den ich gerade las. »Wenn Sie sich die Mühe machten, Ihre zwei Augen zu benutzen, die das Schicksal Ihnen zu behalten gestattet hat, würden Sie sehen, dass es sich um Ereignisse vom Dritten dieses Monats handelt.«

»Wieso liegt die Zeitung dann noch immer hier draußen?«

Behutsam legte er das Ohr in die linke Schale seiner Waage. »Auf Seite fünf, oben in der zweiten Spalte, gibt es eine Anzeige, die Sie meines Erachtens interessieren könnte.« Anschließend balancierte er die Waage mit Gewichten abnehmender Größe aus, die bald so klein wurden, dass sie nur noch fünfeckige Metallplättchen waren. »Ich habe sie mit einem Galgenstrick markiert, mit meiner eigens hergestellten neuen Tintenkreation: seidenglänzendes Saphirblau. Ein Geheimrezept.«

Ich blätterte die Zeitung durch, bis ich auf die Anzeige stieß: »Wie man die Frisur reinlich und gepflegt hält – neuste Ratschläge für die Dame«, las ich entrüstet.

»Es sei denn, natürlich, Ihnen ist nicht daran gelegen«, ergänzte Sidney Grice.

Dann fing er wieder an zu summen und legte das Ohr in ein Fläschchen mit der Aufschrift »Vitriol, siebenprozentige Lösung«.

5Der Sünde Lohn

Ich hatte von Hagop Hanratty reden hören. Er herrschte über ein Reich. Dessen Grenzen lagen vorwiegend, jedoch nicht ausschließlich, im Londoner East End, zogen sich vom Limehouse Basin längs der Themse quer durch die Docklands nach Pennyfield, wo es im Friedensbund mit dem benachbarten Chinatown stand.

Sohn einer armenischen Mutter, Alidz geb. Sarafian, hatte Hagop seinen Vater nie kennengelernt, der bei einer Schlägerei im Gefängnis Crumlin Road umkam, als er seine achtzehnjährige Haftstrafe wegen Schutzgelderpressung halb verbüßt hatte.

Mit der Bösartigkeit seines Vaters und Geschäftstüchtigkeit seiner Mutter ausgestattet, baute sich Hanratty ein Unternehmensgeflecht auf, das mit einem Marktstand für Aal in Aspik seinen Anfang nahm – wobei er andere Straßenhändler so lange einschüchterte, bis er nahezu ein Monopol in dieser hocheinträglichen Sparte hatte –, sich schnell auf den Vertrieb weiterer Lebensmittel und Spirituosen ausdehnte, ehe Hanratty schließlich die nötigen Immobilien dazukaufte oder selbst errichtete. Als ich in die Stadt zog, gehörte Hanratty – nach Sidney Grice’ Dafürhalten – ein beachtlicher Teil des Bezirks Whitechapel. Seine Umtriebe waren ebenso vielgestaltig wie verrucht, denn Hagop scherte es nicht, womit er sich abgab, solange es sich auszahlte.

Freilich war Hanratty kein ungehobelter Halunke. Er galt als Mann mit verfeinertem Geschmack und beträchtlicher Ausstrahlung. Seine drei Schankpaläste glitzerten, sein Musiksaal The Hallows zog die klangvollsten Namen Englands an, und seine Theaterbühnen brachten eine breite Auswahl von Stücken, die sich mit allem messen konnten, was im glanzvolleren West End auf die Bretter kam. Das Hotel Waldringham gehörte zu Hanrattys Vorzugsbetrieben. Wohl besaß es einen fragwürdigen Ruf, doch seine vermeintliche Unberührtheit von unerwünschter polizeilicher wie krimineller Zuwendung machte es bei all jenen zur beliebten Zuflucht, die sich bei der Verfolgung ihren Eskapaden sicher fühlen wollten. Zusehends zog er mit seinen Zerstreuungen die Tonangebenden, Reichen und Mächtigen an und bediente eine Vielzahl von Neigungen, die nicht alle vom Gesetz gestattet waren.

Allem voran jedoch hatte Hanratty sein Reich eisern im Griff. Verbrechen gab es nur, wenn er sie beauftragt hatte, und er brüstete sich damit, eine Frau könne unbegleitet zu jeder Tages- und Nachtzeit ohne Furcht vor Belästigung jede »seiner« Straßen entlanggehen. Folglich war er nicht amüsiert darüber, eines Besseren belehrt zu werden. Als daher Johnny »das Walross« – wider Sidney Grice’ Rat – wegen Beihilfe zum Angriff auf Geraldine Hockaday vor Gericht gestellt und zur allgemeinen Bestürzung freigesprochen wurde, ließ Hanratty wissen, dass Wallace nicht länger unter seinem Schutz stehe und er selbst nicht übermäßig betroffen wäre, sollte sein einstiger Günstling lautlos und zügig aus dem Verkehr gezogen werden.

6Das leere Haus

Freitag, 1. August 1884

Die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Das Haus stand wohl schon seit langem leer. Dichter Staub lag auf den Spinnweben, die sich wie schwere Vorhänge quer über den Flur zogen und völlig unberührt schienen, bis Sidney Grice sie mit seinem Stock entzweihieb und hindurchschritt.

Ich wollte ihm gerade folgen, als er zwischen Türschwelle und Eingangsstufe plötzlich stehen blieb und mich mit ausgestrecktem Arm zurückhielt. »Sie haben mir versprochen, draußen zu warten.«

Eine graue Maus huschte vor meinen Füßen durch den Rinnstein. »Ich habe gewartet«, gemahnte ich ihn, »während Sie das Schloss geknackt haben.«

»Ich werde nicht zulassen, dass Sie sich in Gefahr begeben.«

»Aber Sie begeben sich doch selbst in Gefahr«, wandte ich ein. »Und Ihr Leben ist viel wertvoller als meines.«

An die Eitelkeit meines Vormunds zu appellieren, verfehlte nur selten seine Wirkung, und ich sah, wie mein Argument verfing und ihn ins Wanken brachte.

»Nichtsdestotrotz …« Er tippte an die Krempe seines weichen Filzhuts.

»Davon abgesehen, können Sie mich ja wohl unmöglich ohne männliche Begleitung hier draußen stehen lassen.« Ich schwenkte meinen geschlossenen Sonnenschirm in Richtung der verwahrlosten, von Unrat übersäten Straße. Sie war menschenleer, doch wir beide wussten, dass ich schon in weit übleren Gegenden unbegleitet unterwegs gewesen war. Mr G schnalzte mit der Zunge.

»Nun gut«, brummte er, während die Maus kehrtmachte und neben meinen Füßen über den Gehsteig trappelte. »Aber Sie bleiben dicht hinter mir und tun genau, was ich Ihnen sage.«

Die Maus stellte sich auf die Hinterbeine wie ein Hündchen, das um Leckerbissen bettelt.

»Wahrscheinlich und womöglich«, sagte ich in Erwiderung beider Anweisungen.

Ich fand noch ein paar Brotkrumen in meiner Manteltasche – Überbleibsel vom letzten Taubenfüttern – und verstreute sie auf dem Boden. Die Maus huschte davon.

Sidney Grice trat ein, und ich folgte ihm in eine unmöblierte schmale Diele ohne Teppich, welche neben einer Holztreppe verlief und an einer Milchglastür endete, die einen Spaltbreit offen stand. Alles war mit einer dicken Staubschicht überzogen, und die Luft roch schwer nach Muff und Moder. Die Wände wölbten sich nach innen, hie und da drückten sich Holzlatten durch den dünnen klammen Putz hindurch, auch die Decke war abgesackt und aufgeplatzt wie ein geborstenes Furunkel.

»Jemand hat den Hintereingang benutzt.« Ich wies auf die undeutlichen Abdrücke genagelter Schuhe, die erst in unsere Richtung führten, dann aber kehrtmachten und sich die Treppe emporwanden.

»Die Spuren sehen aus wie die des Mannes, den wir suchen.«

»Woran erkennen Sie das?« Auf mich wirkten sie recht unscheinbar.

»Sehen Sie, wie schief sie sind und infolge eines leichten Humpelns unscharf an den Rändern? Er ist furchtbar eitel und so stolz auf seine kleinen Füße, dass er sie in die engsten Stiefel zwängt, die er finden kann«, flüsterte Sidney Grice. »Wenigstens scheint er allein zu sein.«

Ich schloss die Haustür, und nur der trübe Schimmer, der durch die vernagelten Fenster drang, leuchtete uns den Weg.

»Haben Sie Ihren Revolver dabei?«, fragte ich.

Er klopfte auf seinen Ranzen. »Aber ich werde ihn nur herausholen, wenn es nötig ist. Ein Mann, der mit einer Waffe bedroht wird, neigt eher dazu, die seine zu benutzen.«

Ich bückte mich, um mir den Schuh zu binden. Mr G hielt inne.

»Die Hintertür ist noch immer offen. Ich kann den Luftzug spüren.« Zwar kam mir der gesamte Flur recht zugig vor, doch hatte ich mich längst damit abgefunden, dass die Sinne meines Vormunds ungleich wacher waren als meine eigenen. »Lauschen Sie.«

Wir standen da, ohne einen Mucks zu machen. »Ich höre überhaupt nichts.«

»Wann tun Sie das je?« Mr G wartete meine Antwort nicht ab. »In der Gasse hinter dem Haus steht ein Hansom. Wer auch immer gekommen ist, möchte äußerst eilig wieder fort und ist gewillt, für die Mietdroschke zu zahlen. An der Hauptstraße wäre es einfach, eine heranzuwinken.«

»Wollen wir hochgehen?«

Er nickte. »Gehen Sie hinter mir und halten Sie sich etwas am Rand. Dort knarren die Dielen weniger.«

Die Stufen wirkten noch immer recht stabil.

»Ein Wunder, dass man sie noch nicht herausgerissen und zu Brennholz verarbeitet hat«, wisperte ich.

»Die Anwohner würden das nie wagen. Sie wissen, wem diese Straße gehört«, entgegnete Sidney Grice. »Hören Sie auf zu quasseln.«

Wir erreichten den Kopf der Treppe, wo sich die Spuren teilten. Ihr Urheber musste im Flur auf und ab gegangen sein. Einige der Abdrücke führten nach links durch einen offenen Durchgang, die restlichen zur angelehnten Tür des Zimmers zu unserer Rechten und einer geschlossenen Tür am Ende des Ganges.

»Die offene?«, schlug ich vor, und wir schlichen darauf zu.

Wir blieben stehen, und Mr G deutete voraus. Ich gewahrte einen matten Schatten an der Wand, den Umriss eines sitzenden Mannes.

»Es wäre wenig ratsam, ihn zu überraschen.« Mr G räusperte sich. »Herrje«, dröhnte er, »ich könnte jetzt eine Tasse Tee vertragen.«

»Und ich erst«, tönte ich lautstark, während wir auf die Tür zuhielten. »Lassen Sie uns nachschauen, ob es hier nicht einen Kessel gibt.«

Obgleich ich wusste, dass er da war, fuhr ich zusammen, als ich den Mann sah, der dort im Zimmer saß und eine Pistole auf uns richtete.

»Guten Tag, Johnny«, sagte ich, mit bemüht fester Stimme.

Das Zimmer war leer und düster, bis auf ein fahles Rechteck, wo ein Fensterbrett aus seiner verrußten Verankerung gerissen worden war. Draußen dämmerte es bereits.

Johnny »das Walross« Wallace erhob sich räkelnd zu voller Größe, bis er uns um gut zehn, zwölf Zentimeter überragte, in der Höhe wie auch in der Breite. Seine Hosen waren knittrig, und auch seit seiner letzten Rasur schienen einige Tage vergangen.

»Sie beide«, stieß er schwer atmend hervor. Um seine geröteten wässrigen Augen lagen tiefe dunkle Ringe. »Dacht schon, es wär jemand, der mich umbringen will.«

Er neigte sich leicht nach rechts und stieg auf die linke Zehenspitze, um hinter uns in den Flur zu spähen.

»Oh, was nicht ist, kann ja noch werden«, versicherte ihm mein Vormund wohlgelaunt, »aber dann mit juristischen Mitteln.«

Johnny Wallace kicherte und sank zurück auf die Fersen. »Das können Sie vergessen.« Er lehnte sich zurück gegen die Wand. Weiße Leimfarbe rieselte auf die Schultern seiner geflickten grauen Jacke und den schwarzen tief sitzenden Hut mit der geschwungenen Krempe. »Sie haben nicht das Geringste gegen mich in der Hand, nicht die Spur von einem Beweis.«

»Das Walross« war keine Zierde von einem Mann. Seine Haut war schlaff und pockennarbig, die Nase schief und knubblig. Seine oberen Zähne standen so weit vor, dass er den Mund nie schließen konnte, und von seinen Mundwinkeln zogen sich gerötete Streifen herab, wo ihm der Speichel in die Falten um das Kinn rann.

Sidney Grice tat einen Schritt auf ihn zu. »Ich bin untröstlich, Wallace …«

»Ich werd Ihnen meinen Anwalt auf’n Hals hetzen«, drohte Johnny und schwenkte mahnend den Lauf seiner Pistole. »Sie können nich einfach herkommen und mich belästigen …«

»… eine beachtliche Schlussfolgerung«, ergänzte mein Vormund aalglatt. Johnny Wallace verstummte und kratzte sich unter den Achseln. »Hä?«, war alles, was er hervorbrachte.

»Denn ich beabsichtige, Ihnen keine Ruhe zu lassen, bis Sie wieder im Old Bailey sitzen«, erklärte Mr G.

Johnny »das Walross« sog schlürfend Speichel ein. »Hör’n Se – mit dem Mädel, da hatt ich nichts mit zu schaffen.«

»Miss Hockaday hat Sie wiedererkannt«, erinnerte ich ihn, »als wir mit ihr und ihrem Bruder zurück zum Waldringham Hotel gefahren sind.«

Johnny Wallace blieb völlig ungerührt. »Ich hab ihr nur den Weg gezeigt«, beteuerte er. »Das hab ich nie bestritten. Der Barnaby …«

»Der was?«, stieß ich dazwischen.

»Der Richter. Barnaby Rudge/Judge«, übersetzte Mr G den Cockney-Reimslang.

»Der Kerl mit dem ganzen Plunder auf der Rübe.« Johnny fuhr sich durch seinen schlecht geschnittenen orangeroten Schopf.

»Ich weiß, was ein Richter ist«, sagte ich unwirsch.

»Na, der meinte, da gäb’s gar keinen Fall, den wo er verhandeln kann«, endete Wallace süffisant. »Weiß eh nich, was der ganze Zirkus sollte. Hatt’s wahrscheinlich drauf angelegt, die Kleine, und gekriegt, was sie wollte.«

»Du widerwärtige Kröte.« Ohne nachzudenken, machte ich einen Schritt nach vorn, und Johnny »das Walross« schwenkte die Mündung auf mich.

»He, keine Dummheiten!«

»Ich werde Ihnen nichts tun«, hauchte ich und wünschte doch, dass ich es könnte. »Noch nicht.«

»Sie?« Johnny Wallace streckte die Brust heraus. »Na, Sie sin ja nich mal groß genug, um ’ner Fliege …«

»Grundgütiger«, platzte Sidney Grice heraus. »Sin? Nich? Ner? Sie sind ja noch schlimmer als mein Hausmädchen, und das ist wirklich katastrophal. Wann lernen Sie endlich, in vollständigen Wörtern zu sprechen, Mann?«

»Sie sind nicht«, verbesserte Johnny Wallace sich, »kaum groß genug, um …«

»Nein, nein, nein«, fiel Mr G ihm erneut ins Wort und stiefelte dabei auf und ab wie ein erzürnter Schulmeister. »Entweder ist sie nicht groß genug, oder sie ist kaum groß genug, um einem wie auch immer gearteten Insekt, von dem Sie gerade sprechen wollten, etwas …«, sein Stock schnellte herab, und die Waffe landete zu Johnny Wallace’ winzigen Füßlein, »zuleide zu tun.«

Wallace bückte sich, doch Sidney Grice hatte den Revolver bereits über den Boden zu mir geschlenzt, und ich hob ihn behutsam auf. Ich mag keine Pistolen. Als ich das letzte Mal eine in der Hand hatte, hätte ich um ein Haar einen Polizisten erschossen.

»Ich stelle Ihnen später einen Beleg dafür aus«, versprach ich und ließ sie in meine Handtasche plumpsen – doch nicht, ohne zuvor den Hahn vorsichtig gelöst zu haben.

»Verdammich«, fluchte Johnny Wallace. »So ein verseichter Mist, verdammter.«

»Es sind Damen anwesend«, rügte ihn mein Vormund. »’tschuldigung.« Johnny Wallace rieb sich das Handgelenk. »Aber ich kapier’s immer noch nich. Entweder isse kaum groß genug oder sie isses gar nich, und ich glaub nich, dass sie’s is.«

»Erklären Sie es ihm«, wies er mich an, aber ich hatte genug von seinen Spielchen.

»Nachher vielleicht.«

Johnny Wallace saugte an den Zähnen und überdachte seine Lage. »Wenn Sie mich wirklich hopsnehmen wollten, dann würd’s hier längst vor Polypen nur so schwirren«, schloss er. »Also, was wollen Sie von mir?«

»Wir haben eine weitere Zeugin aufgetan, Mr Walross«, beschied ich ihm, wusste ich doch, dass er es hasste, so genannt zu werden. »Eine Lady von ausgezeichnetem Ruf.«

»Und was sollte so jemand dann rund ums Waldy verloren haben?«, höhnte Wallace.

»Vielleicht hat sie ja versucht, Frauen vor Abschaum wie Ihnen zu bewahren«, versetzte ich. »Und diese Dame wird vor Gericht bezeugen, dass sie gesehen hat, wie Sie, Mr Walross, Miss Hockaday in diese Gasse gefolgt sind, just bevor die Gaslaterne zerschlagen und unsere Klientin überwältigt wurde.«

»Na und?«, sagte Wallace schulterzuckend. »Man darf einen Mann doch nich zweimal für’s gleiche Verbrechen vor Gericht stellen.«

»Das stimmt«, pflichtete ich ihm bei. »Allerdings nur, wenn man im ersten Prozess für unschuldig befunden wird. Ihr Verfahren ist nie so weit gekommen.«

Mein Patenonkel schien das Interesse an uns verloren zu haben und begann, das Zimmer zu durchstöbern, obschon es recht wenig darin gab, in dem man hätte stöbern können.

»Da war keine Lady.« Johnny schob die Zungenspitze durch die Schneidezähne. »Wer soll’n das gewesen sein?«

»Ich.«

»Das denken Sie sich doch grade aus.«

»Da haben Sie ganz recht«, bestätigte ich. »Aber wessen Aussage wird das Gericht wohl mehr Glauben schenken?«

»Das is aber garnich nett.« Johnnys Stimme nahm eine schmeichlerische Färbung an. »Selbst wenn ich sie da reingeschickt hab, heißt das noch lange nich, dass ich’s war.«

»Aber wer war es dann?«, wollte ich wissen, und Wallace musste husten. Sein Gesicht zuckte vor Angst.

»Ich geh tausendmal lieber wieder vor Gericht, als mich mit dem anzulegen.«

Mr G neigte den Kopf und sann kurz über das Gesagte nach. »Also gut«, erklärte er. »Wenn Sie uns den Namen des Täters schon nicht nennen wollen, dann sagen Sie uns doch wenigstens den Ihres Begleiters.«

Johnny Wallace kratzte sich im Schritt und knurrte: »Was’n für’n Begleiter?« Und zum ersten Mal wirkte Johnny Wallace wirklich ratlos.

»In diesem Falle«, sagte Mr G hastig, »würde ich Ihnen empfehlen, rasch zur Seite zu treten.«

Johnny Wallace ließ ein kehliges Lachen erschallen. »Ich hab kein’ Schimmer, was Sie da palavern.«

Sidney Grice stürzte jäh auf ihn zu, und währenddessen vernahm ich ein Knacken wie von einem brechenden Zweig, und als ich den Blick hob, sah ich eben noch, wie ein dünnes Metallrohr aus einem Loch in der Decke gezogen wurde. Auf einmal polterten Schritte über uns, Risse platzten splitternd auf, und die Decke wölbte sich drohend zu uns herab.

Johnny Wallace nahm den Hut ab. »Komisch«, stutzte er.

»Treten Sie zurück!«, befahl mein Vormund mir.

Instinktiv leistete ich Folge, mein Blick starr auf Johnny gerichtet, der mit der Hand in seinen Hut fuhr und einen Finger durch dessen Krone steckte.

»Was ist passiert?« Ich sah, wie sich die Risse rasch über die Zimmerdecke ausbreiteten.

Sidney Grice riss seinen Ranzen auf und zog den Revolver mit dem Elfenbeingriff hervor. »Man hat ihn erschossen.«

»Erschossen?«, grinste Johnny Wallace und warf seinen Hut zur Seite, der träge in die Ecke kullerte.

Mr G packte den Revolver mit beiden Händen, schwang ihn empor und zielte auf eine Stelle gegenüber, wo eben die Decke aufplatze. Ich steckte mir die Finger in die Ohren, doch die zwei Detonationen dröhnten mir dennoch durch den Schädel. Dann stürzte ein Stück der Decke ein und hüllte uns in eine Wolke aus Staub und fliegenden Spänen.

Wie durch ein Wunder war Sidney Grice noch immer völlig unbefleckt. Er ließ die Waffe sinken und eilte zu Johnny Wallace. Johnny betastete seine Brust – wenn auch nicht, um sich den Schutt von der Weste zu klopfen, sondern um der Behauptung meines Vormunds nachzugehen, bemerkte aber nicht das schwarze Rinnsal, das ihm aus der Stirn quoll. Er blinzelte, als es ihm über die Augen rann, und während er sich bückte, gewahrte ich knapp über seinem Haaransatz ein dunkles Loch, groß und rund wie ein Halfpenny. Ich riss meinen Schal herunter, um die Blutung zu stillen, doch Johnny wich mit einem Schritt geschickt zur Seite aus. Das Blut schoss nun stoßartig hervor, blubbernd wie Schleim aus einem geborstenen Fallrohr, und Johnny taumelte mit grotesken Verrenkungen hin und her, vollführte mit überkreuzten Füßen eine bemerkenswerte Schrittfolge, beugte erst eines und dann beide Knie, die Arme wie beim Limbotanzen von sich gestreckt, bevor er schließlich einknickte und zu Boden ging. Ich versuchte noch, ihn aufzufangen, doch aufgrund der schieren Wucht seines Falls glitt er mir einfach durch die Hände.

Johnny Wallace’ Hinterkopf krachte auf die blanken Dielen und hüpfte noch zweimal nach.

»Potz Blitz«, sagte er.

Ich kniete mich neben ihn, presste mein gebauschtes Taschentuch auf die Wunde, doch die Seide war binnen Sekunden durchtränkt.

»Sie sind – nach jedwedem Dafürhalten – ein toter Mann«, beschied ihm Sidney Grice munter und verfolgte, auf seinen Stock gestützt, aufmerksam das Spektakel. »Falls Sie also gedenken, sich noch das eine oder andere letzte Geständnis abzuringen, sollten Sie sich sputen.«

Johnny dämmerte weg, und fast hielt ich ihn für tot, als er sich noch einmal regte und versuchte, sich aufzusetzen. »Diese Frau …«

»Welche Frau?«, wollte Sidney Grice wissen.

Die Augen des Verwundeten waren längst leer und kalt, da hob er im Niedersinken mühsam einen Arm, um mich heranzuwinken. Ich beugte mich über ihn. Fünf Wörter. Nur fünf Wörter, die er mir pfeifend ins Ohr hauchte. Dann nichts mehr.

Ich stand auf und wollte mir das Blut vom Gesicht wischen, doch meine Hände waren ebenso verschmiert wie meine Wangen.

Sidney Grice preschte zur Tür.

»Schauen Sie aus dem Fenster«, donnerte er. Und dann gellte es aus dem Flur: »Ich schaue vor dem Haus nach. Brüllen Sie, wenn Sie ihn sehen.«

Ich rannte zum Fenster, packte eines der Bretter und zerrte daran, doch es war fest vernagelt. Der Spalt war eben groß genug, um die Nase und ein Auge hindurchzustecken, und ich war noch immer dabei, die Nadeln von meinem Hut zu lösen, als ich kurz nacheinander ein Rumsen vernahm – das erste kam aus dem Vorderzimmer, wo mein Patenonkel mit den Brettern mehr Glück zu haben schien, und das nächste ertönte erst hinter und dann über mir. Plötzlich wölbte sich die Decke, krachte mit lautem Bersten ein, und ein Stiefel brach hindurch.

»Gah!«, schrie jemand auf und zerrte an seinem zwischen splitternden Dielen verklemmten Bein.

»Schnell!«, brüllte ich und hörte Schritte näher kommen. Dann, just als der Stiefel wieder emporglitt, stürzte Sidney Grice ins Zimmer.

Er hob den Revolver, und ich machte mich auf einen weiteren Donnerschlag gefasst, doch eine neuerliche Beule nahe der Wand sagte uns, dass der Eindringling bereits über dem Nebenzimmer war. Mr G raste hinaus und gerade noch rechtzeitig durch die nächste Tür, um zu bemerken, wie sich ein weiteres Gespinst von Rissen in Richtung des Nachbarhauses zog.

»Entweder hat er sich das Bein aufgerissen, oder ich habe ihn erwischt.« Sidney Grice deutete auf einen dunklen Fleck über unseren Köpfen. »Ich werde sämtliche Krankenhäuser und Arztpraxen befragen, falls er dort um Hilfe ersucht. Vielleicht gibt es ja einen ehrbaren Arzt, der es mir sagt – wenngleich mir ein solcher auch noch nie untergekommen ist.«

Wir kehrten zurück zu Johnny Wallace.

»Er sagte: Halb elf, Empress of Cathay«, berichtete ich meinem Vormund.

»Das wage ich zu bezweifeln.« Er steckte die Pistole weg.

»Ich habe es gehört.«

Sidney Grice hockte sich neben den Toten und durchwühlte dessen Taschen. »Nun, wenn Sie sich sicher sind.«

»Vielleicht ist es der Name eines Pferdes, auf das er gesetzt hat.«

Mr G warf einen Lumpen beiseite. »Seine Uhr ist kaputtgegangen.«

»Oder ein Windhund.«

Mein Patenonkel pfiff leise vor sich hin, sichtlich zufrieden mit seiner Arbeit. »Aber nicht gerade eben.«

»Können wir denn nicht auf den Dachboden steigen?«, fragte ich, entsetzt über seine Untätigkeit.

»Das könnten wir.« Mein Vormund stand auf und strich sich den Staub von den Knien.

»Aber erstens könnte der Mörder noch da oben sein, und er – falls es ein er ist – dürfte mehr als genug Zeit gehabt haben, seine Waffe nachzuladen. Wären Sie gern die Erste, die ihm in die Schusslinie gerät?«

Ich gab zu, dass dem nicht so war, und Sidney Grice fuhr seelenruhig fort. »Und ich, wo doch mein Kopf um einiges nützlicher ist als Ihrer, ebenso wenig.« Er klimperte mit den Wimpern. »Und zweitens, wie selbst Ihnen bekannt sein sollte, gehen die Dachstühle dieser Reihenhäuser ineinander über.« Er spähte aus dem Fenster. »Der Täter hätte in jedes dieser zweiundzwanzig Häuser hinabsteigen können, um zu türmen.« Er klopfte sich Putz von seinem Ulster. »Ach, wie ärgerlich.«

»Ist das alles, worum Sie sich scheren – den Staub auf Ihrer Kleidung?«, herrschte ich ihn an. »Ein Mann ist gerade gestorben.«

Mein Vormund blies scharf durch seine geschlossenen Lippen.

»Und ohne ihn ist diese unsere Welt«, er machte eine ausladende Handbewegung, um die gesamte Menschheit einzubeziehen, für die er so wenig übrighatte, »ein sicherer und besserer Ort.«

»Warum war der Schuss so leise?«

»Es war ein Luftgewehr«, sagte er.

»Ein Luftgewehr?«, wiederholte ich ungläubig. Ich entsann mich, wie ich in Parbold mit einer solchen Waffe einst auf Krähen geschossen hatte, doch selbst bei einem Volltreffer war der Vogel nicht immer auf der Stelle tot.

»Kaliber Null-Komma-fünf-zwei, von der Größe der Wunde her zu urteilen.« Sidney Grice krümmte Daumen und Zeigefinger, um die Größe anzuzeigen. »Die Leute halten Luftgewehre heutzutage nahezu für Spielzeuge, ich aber habe gesehen, wie bayerische Jäger mit einer Windbüchse aus fast fünfhundert Metern einen wilden Keiler erlegt haben. Er umkreiste die Leiche. »Wer auch immer dafür verantwortlich ist, war umsichtig genug, nicht den Hansom zu nehmen und zu riskieren, dass ich ihn einsteigen sehe.«

Wir gingen hinunter in die Küche, wo ich etwas braunes Wasser hochpumpte, das derart faulig stank, dass ich mich damit zu waschen scheute.

»Finden Sie es nicht jammerschade«, ich streifte mir den Putz vom Mantel, doch die Staubwolke, die ich aufgewirbelt hatte, legt sich umgehend wieder darüber, »dass auch diese Männer dereinst Säuglinge am Busen ihrer Mutter gewesen sein müssen?«

Die Anstößigkeit meines Gedankens ließ Mr G zusammenzucken, aber er versetzte nur: »O March, natürlich«, er reichte mir ein Tuch aus seinem Ranzen, »nicht.« Er blickte sich um. »Da draußen wartet eine Droschke ganz umsonst. Kommen Sie, Patentochter. Es sind exakt zwei Stunden und vier Minuten vergangen, seit wir die letzte Tasse Tee genossen haben.«

*

»Der Kerl, wo ich hergefah’n hab? Trug ’nen dunklen Mantel und ’nen Schal. Muss sich totgeschwitzt ham bei der Affenhitze. Hochgeklappter Kragen und so’n Mordsdeckel mit breiter Krempe auf’m Kopp, tief in die Visage gezogen«, war das Beste, was wir als Beschreibung aus dem Kutscher herausbekamen.

»Wie hat er denn gesprochen?«, ersuchte ich ihn.

»Weiß ich nich.« Er straffte den rechten Zügel und brachte uns auf die Hauptstraße. »Hat mir nur ’nen Zettel in die Hand gedrückt, wo draufstand Chase Street, dann warten.«

»Es wundert mich, dass er überhaupt des Lesens mächtig ist.« Mr G machte keinerlei Anstalten, seine Stimme zu mäßigen, sondern streckte nur ungeduldig die Hand aus. »Zeigen Sie ihn mir.«

Doch der Fahrer schnaubte: »Hat ihn mir wieder abgenommen.«

»Haben Sie seine Hand gesehen?«, fragte Sidney Grice.

»Lederhandschuhe.« Er fädelte sich in den dahinfließenden Verkehr ein.

»Was soll’n das Ganze überhaupt?«

Wir kamen an einer Leichenkutsche vorüber, auf deren Ladefläche der Bestatter gerade ein Nickerchen hielt, den auf Hochglanz polierten Zylinder auf und nieder wippend auf die Brust gebettet.

»Fanden Sie sein Verhalten denn nicht merkwürdig?«, fragte ich.

Er schnalzte seiner Stute zweimal zu. »In mei’m Beruf sieht man ’nen Haufen schräge Typen. Aber ihr beide schießt echt den Vogel ab«, knurrte der Kutscher und verriegelte den Schlag.

*

Als wir in die Gower Street zurückkehrten, konnte ich das Blut auf meiner Haut riechen. Ich würde mich wohl nie daran gewöhnen.

»Was Ihre Drohung Wallace gegenüber betrifft: Ich hätte nie zugelassen, dass Sie sich des Meineids schuldig machen.« Mr G pochte an die Tür.

»Ich habe geblufft«, gestand ich, und er schenkte mir den Funken eines Lächelns.

»Zuweilen kann es durchaus von Vorteil sein«, räumte Sidney Grice ein, »mit einer Lügnerin zusammenzuarbeiten.«

Molly öffnete die Tür, und ich marschierte meinem Vormund mit einer gewissen Befriedigung hinterher. Wusste ich doch längst, dass er mich für verlogen hielt, aber hatte er mir gegenüber noch nie eingestanden, dass wir tatsächlich zusammenarbeiteten.

7Der Brief

Lieber George,

 

beinahe hätte ich diesen Brief mit ›George, mein Liebling‹ begonnen, denn das bist Du für mich und wirst es immer sein.

Mir ist ganz elend gewesen, seit Du fort bist. Ich gebe Kopfschmerzen vor, um meine Launenhaftigkeit zu entschuldigen, aber in Wirklichkeit schmerzt mich das Herz. Du kannst nicht so tun, als ob Du mich nicht liebst, und tätest Du es, würde ich Dir nicht glauben. Ich sah den Kummer in Deinen Augen bei unserem letzten Abschied.

Was also trennt uns voneinander? Die räumliche Entfernung lässt sich binnen Stunden überbrücken. Ich könnte in Ely und Deinen Armen noch am selben Tag sein, da ich von Dir hörte.

Die Kluft zwischen uns wird von meinem Geld gerissen, und gegenwärtig kann ich wenig daran ändern, doch habe ich zuvor ein Angebot gemacht und wiederhole es jetzt: Wenn ich fünfundzwanzig bin und das Erbe meines verstorbenen Vaters antreten kann, werde ich jeden mir vermachten Penny Dir überschreiben. Wir können davon leben, oder Du kannst es, sollte Dein Stolz wirklich so empfindlich sein, jederlei würdigem Zweck Deiner Wahl spenden, und wir werden mit Deinem Gehalt auskommen. Was nützt mir mein Geld, wenn es mich von dem Mann fernhält, den ich liebe und von dem ich weiß, dass er meine Liebe erwidert?

Zu lange schon habe ich mit Erinnerungen und Gespenstern gelebt. Ich will sie abschütteln und für die Lebenden leben.

O George

Ich knüllte den Brief zusammen und stopfte ihn mir in den Mund, um ein Schluchzen zu ersticken. Ich war nicht schwach und würde keiner Schwäche nachgeben.

Lieber Gott, George, betete ich, wie kannst Du in die Sonne schauen und wissen, dass sie auch auf mich scheint? Wie kannst Du so grausam sein? Es zerdrückt mich wie diesen Brief, zerreißt mich wie die Dutzende weiteren, die ich geschrieben und nie abgeschickt habe.

Dächte ich, der Tod würde uns zusammenbringen oder mein Leid beenden, würde ich ihn ohne Zögern hinnehmen.

Und erst in jener Nacht, nachdem ich in mein Tagebuch geschrieben hatte, fiel mir der Name eines neuen Cafés an der Straße Montague Place ein und wurde mir klar, dass Sidney Grice empörenderweise wohl abermals recht gehabt und ich Johnny Wallace’ letzte Worte tatsächlich falsch verstanden hatte.

8Das Empress Café

Was genau erhoffen Sie sich von all diesen Besuchen?«, wollte Sidney Grice wissen.

Ich hakte die Kette meines Umhangs ein. Es war das dünnste Cape, das ich besaß und dennoch viel zu dick für die drückende Sommerhitze. Doch ohne einen Umhang aus dem Haus zu gehen, wäre für meinen Vormund einem Skandal gleichgekommen – ebenso gut hätte ich nackt über die Oxford Street spazieren können.

Molly hockte auf dem Boden und staubte die Unterseite des Dielentischchens ab, wo ihr erboster Dienstherr letztens die Haarschuppe eines Verdächtigen entdeckt hatte, die er seit sechs Wochen vermisst hatte.

»Ich weiß nicht.« Kopfschüttelnd schnappte ich meinen Hut. »Aber wenn man stets nur dort nach Indizien suchen würde, wo man sie vermutet, würde man nie welche finden.«

Ich legte den Hut wieder zurück.

Mein Vormund schüttelte den Kopf und warf sein dickes schwarzes Haar zurück. »Ganz im Gegenteil, vierundachtzig und ein Viertel per centum aller Indizien, die ich suche, sind genau dort, wo ich sie vermute. Allerdings sind es die verbleibenden fünfzehn und drei Viertel per centum, die meine Arbeit interessant machen.«

»Ich hatte noch nie nich’n Indizium«, sagte Molly wehmütig. »Alle reden ständig drüber. Tut das sehr weh?«

»In der Regel nicht.« Ich setzte mir einen anderen Hut auf. Mein Vormund quittierte meine Wahl mit gewohnt abschätzigem Schulterzucken.

Ohne Molly weiter Beachtung zu schenken, fuhr er fort: »Die wahre Herausforderung liegt freilich darin zu ermitteln, was die Indizien bedeuten.« Dann wandte er mir den Rücken zu und drehte am Griff seinen Periskopstocks, um mich durch das Instrument zu betrachten.

»Wissen Sie das etwa nicht selber nich?« Molly streckte sich nach einer Spinnwebe am Glühstrumpf, doch sie wehte unversehrt davon und außer Reichweite.

»Nicht nur mit Ochsenhirn, sondern auch noch schludrig«, knurrte Mr G verdrossen.

Molly grinste. »Ochsen sind sehr schlau, nich wahr, Sir?«

»Nun, sie sind nicht gerade berühmt dafür.« Ich suchte mir einen Sonnenschirm aus dem Ständer, und Mr G wich unbehaglich ein Stück zurück.

Molly jedoch gab sich von meiner Erklärung völlig unbeeindruckt. »Und is das nich da, wo London liegt? Im schludrigen England?«

Sidney Grice schob die Eisenspitze zurück über die Linse seines Stocks. »Ich rede von der deduktiven Vorgehensweise«, zischte er.

»Sie sind nicht der Einzige, der diese Kunst beherrscht.« Ich öffnete die Tür, durch die zu meinem Verdruss nun auch keine kühlende Brise hereinwehte. »Zum Beispiel folgere ich rein deduktiv, dass Sie unlängst eine dunkelblaue Krawatte mit hellblauen Tupfen erstanden haben.«

Wie ein schlauer Terrier neigte mein Pate den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite. »Wie um alles in der Welt können Sie das wissen?«

»Indem ich genau das tue, von dem Sie mir ständig sagen, dass ich es tun soll – meine Sinne benutzen.« Er folgte meinem Blick und sah Spirit die Treppe hinabtrapsen, einen zerfransten Seidenfetzen hinter sich her schleifend, so stolz, als hätte sie eine Ratte gefangen.

»Dieses vermaledeite Vieh.«

Die Sonne brannte unbarmherzig, und da in den Häusern keine Öfen an waren, leuchtete der Himmel hinter den Schwaden der Fabrikabgase beinahe blau.

»Es sind Damen zugegen!«, erinnerte ich ihn und trat hinaus in den beißenden, schmutzstarrenden Brodem, den die Londoner Luft nennen.

»Ich werde mich dieses Ungetüms ein für alle Mal entledigen«, drohte er, zog die Tür kräftig ins Schloss, und wenn ich ihn nicht schon oft dabei ertappt hätte, wie er mit ihr spielte, hätte ich ihm wohl sogar geglaubt.

Es war nicht weit zum Montague Place, und ich ging gern zu Fuß, sah den Kindern dabei zu, wie sie mit Fassreifen um die Wette rannten, lauschte den Hökern beim Anpreisen ihrer Waren – Rindfleisch-Sandwiches, Buntglasflaschen, Flachsfinken und geflochtene Weidenkäfige – und entdeckte die kleine Betty an ihrem üblichen Platz, Ecke Torrington Place, der ich einen Lavendelzweig abkaufte.

Das Empress Café war ein recht großes Lokal, und es herrschte meist viel Betrieb. Um ehrlich zu sein, war ich fast gewillt, meinem Vormund recht zu geben. Ich hatte nicht den geringsten Schimmer, nach wem oder was ich überhaupt suchte, doch wenn dieser Ort Johnny Wallace so wichtig erschien, dass er seinen letzten Atemzug darauf verwendete, war es zumindest einen Versuch wert. Außerdem gefiel es mir hier. Die Einrichtung war freundlich und modern, mit grünen Blumenkacheln und Bildern von Paris an den Wänden. Kaum vorstellbar, dass die Stadt des Lichts vor etwas mehr als zehn Jahren noch fest im Bann des Hungers und des Schreckens gestanden hatte.

Der Geschäftsführer mochte mürrisch sein, doch seine Angestellten waren schnell und freundlich, und Damen durften rauchen, insofern sie etwas weiter von den Fenstern weg saßen. Man wies mir einen Tisch in der hinteren Ecke zu, und ich bestellte eine Kanne Kaffee, bevor ich Platz nahm, um die Gäste zu studieren und – wie immer – herauszufinden, was verdächtiges Betragen ausmachte. Der unrasierte Mann, der, vertieft in einen Schmöker mit gebrochenem Rücken, jeden Tag am selben Tisch nah dem Kuchentresen hockte, wartete der vielleicht auf Johnny? Oder die grau gekleidete Frau mit dem braun eingeschlagenen Paket, die sich sichtlich unwohl fühlte, wollte sie jemandem etwas übergeben? Meine Aufgabe war ein aussichtsloses Unterfangen.

Mein Kaffee war eben gekommen, als die Türklingel schellte und zwei Frauen eintraten – eine zierliche blasse junge Lady auf Krücken am Arm einer zweiten Frau, etwas größer, von statuesker Figur und tief verschleiert. Letztere redete erregt auf die Bedienung ein, und ich begriff, dass man die beiden fortschicken wollte.

Ich hastete hinüber. »Gibt es ein Problem?«

Die Frau auf Krücken hatte sichtlich Mühe, sich auf den Beinen zu halten. »Anscheinend ist alles besetzt«, erwiderte sie heiser. Ich schätzte sie auf Mitte zwanzig. Ihr Gesicht war übersät von Kratzern und Blutergüssen.

Der Schleier ihrer Freundin ließ mich stutzen. Er war lincolngrün und aus einem so blickdichten Material, wie ich es nur von Damen kannte, die in Schwarz und tiefster Trauer gingen.

»So ein Pech!«, drang eine helle Frauenstimme hinter dem Flor hindurch.

Die Bedienung lief rosa an. »Der Geschäftsführer sagt, wir sollen die Leute nicht an Tische setzen, die bereits belegt sind. Die Gäste mögen so was nicht.«

»Diese Damen sind meine Gäste«, sagte ich. »Wenn Sie es bis dort hinten schaffen.«

»Für ein halbwegs genießbares Getränk würde ich es sogar aufs Dach schaffen«, beteuerte die Frau auf Krücken, zwängte sich humpelnd zwischen Stühlen und auf dem Boden liegenden Paketen hindurch zu meinem Tisch und sank erschöpft auf einen Stuhl. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Sie lehnte ihre Krücken gegen die Wand.

»Zwei Kaffee und süße Brötchen«, bestellte ihre Begleiterin, und die Bedienung eilte davon.

»March Middleton«, stellte ich mich vor. »March.«

Die Dame mit den Krücken reichte mir die Hand. Sie hatte einen dichten Schopf blonder Locken, darauf einen hübschen lavendelblauen Hut, und ein reizendes Gesicht, doch je länger ich sie musterte, desto mehr Blessuren gewahrte ich. Ihr rechter Wangenknochen war eingedrückt, und an ihrer Oberlippe klaffte ein noch nicht ganz verheilter Riss.

»Bocking«, sagte sie mit ihrer Reibeisenstimme. »Lucy Bocking.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Ich wandte mich an ihre Begleitung.

»Na, dann bringen wir’s besser hinter uns.« Sie hob den Schleier über ihren Hut, und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich vor Schreck die Hand vor den Mund schlug. Ihr Alter ließ sich nur schwer schätzen – ihr Gesicht war zwar runzlig, doch war dies nicht das Werk des Alters, vielmehr schien es, als hätte Säure ihr die Hälfte davon weggefressen. Ihre Brauen und Lider fehlten gänzlich, ebenso wie ein Teil der linken Oberlippe. Ihre Haut war von gelblichem Narbengewebe überzogen, dazwischen scharlachrote Täler, dünn wie Seidenpapier. »Freda Wilde.« Sie sah mich fest und fordernd an, zwang mich förmlich, mich nicht abzuwenden. »Meine Freunde nennen mich Freddy.« Die rechte Hand, die sie mir entgegenstreckte, sah völlig normal aus, und ihr Händedruck war fest.

»Wie geht es Ihnen, Freddy? Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?«

Sie verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. »Es würde mir mehr ausmachen, wenn Sie es nicht tun würden.« Dann langte sie in ihre geräumige Handtasche.

»Nehmen Sie doch eine von meinen.« Ich bot ihr das silberne Etui meines Vaters an. »Falls Sie nichts gegen türkische haben. Ich halte sie für aromatischer.«

Freddy nahm eine Zigarette, doch Lucy schüttelte den Kopf. »Danke, nein – aber lassen Sie sich von mir bitte nicht abhalten.«

Freddy zündete sich ihre bereits an und hielt mir das Streichholz hin.

»Gibt es etwas Genussvolleres als die erste Zigarette des Tages?« Ich sog den Rauch tief in meine Lungen.

»Nicht, dass ich wüsste«, stimmte Freddy zu, »aber das ist mindestens schon meine sechste.«

Die Kellnerin kehrte mit weiteren Tassen und frischem Kaffee zurück. Als sie die Kanne eben vom Tablett nehmen wollte, erhaschte sie einen Blick auf Freddy und verschüttete Kaffee über die Tischdecke. »Oh, das tut mir ja so leid. Soll ich das Tischtuch wechseln?«

»Machen Sie sich keine Mühe.« Freddy winkte sie fort und setzte hinzu: »Wenigstens hat sie nicht geschrien.«

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. »Haben Sie denn nie geraucht?«, fragte ich Lucy.

»Wie das Krematorium von Woking«, erwiderte sie, »aber im Augenblick reizt es meine Kehle zu sehr.«

»Sind Sie denn erkältet?«

Lucys fahles Gesicht errötete, und ein seltsamer Ausdruck glitt über ihre Züge – eine Mischung aus Hass und Angst, die sich mühsam einen Weg bis zu ihrem Mund bahnte.

»Glauben Sie etwa, eine Erkältung hätte mir das angetan?«, spie sie mir entgegen und wies auf ihre Krücken und ihre gebrochene Wange. »Ein Mann war das.« Mit einem spitzen Schrei berührte sie ihren Hals. »Oder ein widerliches Biest, das sich als einer ausgab.«

9Der Schrecken der Farne

Hätte ich Hausbesuche machen wollen«, brummte Sidney Grice, während er spreizbeinig über eine Pfütze hinwegstieg, »wäre ich Klempner geworden.«

»Ich bin nicht sicher, ob Lucy unsere Stufen hochkäme«, meinte ich zu ihm.

»Und nun?«, fragte er spitz. »Soll ich sie entfernen und mein Haus absenken lassen?«

Er knöpfte sich den Mantelkragen zu. »Jetzt regnet es auch noch.«

Ich hatte meinen Schirm nicht dabei, da mein Vormund eine, wie er es nannte, begründete Furcht vor allem Flatterhaften verspürte. Er reichte mir seinen Arm, und ich hüpfte aus unserer Droschke auf den Bordstein.

»Er ist nicht zu stark.« Ich streckte meine Hand mit der Innenseite nach oben aus.

»Regen ist immer zu stark«, verkündete er. »Andernfalls könnten die Wolken ihn bei sich halten.«

»Vielleicht klärt er ja die Luft.«

»Londoner Luft ist niemals klar und ebenso wenig dafür gedacht.«

Ich sah mich um. Grosvenor Square war eines der vornehmsten Wohnviertel in Mayfair und somit eine der teuersten Gegenden Londons, ergo, der Welt. Es war rings um eine große umzäunte Grünanlage errichtet und insofern ungewöhnlich, als die Häuser zumeist einer individuellen Bauart folgten, statt wie eher üblich gleichförmige Reihen zu bilden. Das machte es jedoch nicht minder beeindruckend, und das Anwesen vor uns auf der Nordseite war eine prächtige viergeschossige Stadtvilla im Regency-Stil mit hohen, bogenförmigen Fenstern. Ihr Name war in die weiße Steinfassade eingemeißelt und passend zur Haustür mit Ebenholz ausgelegt: Amber House.

Mr G klopfte mit seinem Gehstock auf die Stufen. »Sie hat diese hochsteigen können.«

»Es sind nur zwei, und wir haben sechs«, gab ich zurück. »Ich hätte gedacht, Sie würden das bemerken.« Und ehe er kontern konnte, fügte ich hinzu: »Wenigstens holt es Sie mal aus dem Haus.«

»Ich wünsche nicht, aus meinem Haus geholt zu werden. Wäre ich sonst doch nie hineingegangen.« Er zerrte sich die breite Krempe seines weichen Filzhuts tief ins Gesicht. »Ich vertraue darauf, dass Sie diesen Frauen gegenüber Miss Hockadays Fall unerwähnt gelassen haben.«

»Ausnahmsweise ist Ihr Vertrauen in mich nicht fehl am Platz.« Ich würde mich hüten, die Angelegenheiten fremder Klienten zu erörtern, zumal bei einer so heiklen Sache. »Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den Verbrechen?«

Sidney Grice stupste mit der Schuhspitze die Kratzstange an. »Alle Verbrechen hängen miteinander zusammen«, verkündete er wenig hilfreich, »und sei es nur dadurch, Verbrechen zu sein.«

Ich trat zurück, um emporzuschauen, und vermied knapp den Zusammenprall mit einem vorbeirumpelnden Schusterkarren.

»Flick ich’n Schuh, hatter Fuß Ruh«, bellte mir sein Besitzer ins Ohr, als ich aus dem Weg sprang. »Sohle entzwei, machse wie ney.«

»Mund halten«, schnauzte mein Vormund.

»War noch gar nich anner Stelle mit ›es jlänzt mein Leda, des weiß ein jeda‹«, brummte der Schuster im Vorbeistapfen. Mir fiel auf, dass seine Lippen braun verfärbt waren, und fragte mich, ob er seine Schuhwichse lutschte.

Ich machte einen langen Hals, um die schmucken Kapitelle des Hauses zu bewundern. »Es sieht so aus, als würde Miss Bocking keine Schwierigkeiten haben, Ihr Honorar zu zahlen.«

Mr G schob einen verschrumpelten Wurm mit seinem Gehstock aus dem Weg. »Von ihrem Vater Clarence Bocking sprach man als dem hundertneunzehntreichsten Mann in England.«

Ich trat an die Tür. »Woher stammte sein Vermögen?«

»Daher, den Entwurf für einen Sicherheitsbleistiftanspitzer gestohlen und patentiert zu haben, während die eigentliche Erfinderin, seine jüngere Schwester, von einem Unfall mit ihrem selbstschnürenden Korsett genas.«

»Das wurde doch vor Gericht verhandelt, nicht wahr?« Ich zerbrach mir den Kopf auf der Suche nach etwas, das einem Ermittler entsprochen hätte, doch mir fiel nichts ein.

»Allerdings.« Mein Vormund fuhr mit einem behandschuhten Finger das Geländer entlang. »Da es jedoch eine Zivilklage war, habe ich darüber keine Aufzeichnungen. Ich werde die Einzelheiten einsehen, ehe die Woche vergangen ist.«

Die Tür wurde von einem adretten Dienstmädchen mit stocksteifer Haube, leuchtend weißer Schürze und einem einladenden »Einen schönen Nachmittag« geöffnet. Weiter fragte sie freundlich: »Kann ich Ihnen helfen?«

»Mr Grice und Gehilfin für Miss Bocking.« Mr G hielt ihr seine Karte unter die Nase.

»Bitte treten Sie ein. Miss Bocking erwartet Sie.« Wir wechselten in einen rechteckigen Flur, in dessen bleichen Marmorfußboden ein Saum aus grünen Quadraten eingelegt war. Das unauffällige Bambusmuster, welches in die cremefarbene Tapete geprägt war, hellte den Raum selbst im schwachen, durch die Fenster beidseits der Tür einfallenden Tageslicht auf. »Wenn Sie bitte hier einen Augenblick warten möchten«, bat sie, nachdem sie uns Mäntel und Hüte abgenommen hatte.

»Wenn wir hier warten möchten, was dann?« Sidney Grice sperrte sich gegen ihren Versuch, seinen Gehstock zu verwahren.

Das Dienstmädchen knickste verwirrt. »Das weiß ich gewiss nicht, Sir.«

»Teilweise beschwichtigt es mich zu erfahren, dass Ihnen etwas gewiss ist, wenn auch nur Ihr Unwissen.« Er scheuchte sie mit dem Handrücken davon. »Fort.«

Das Dienstmädchen knickste wieder. »Jawohl, Sir.« Und sie huschte von dannen.

Wir sahen ihr hinterher, wie sie den Flur hinunterging und nach rechts bog.

Es war ein hübscher Eingangsbereich, fand ich, mit den hellen Schattierungen der Tapete, dem blassrosa geäderten Marmorfußboden und fröhlichen Rosenmuster auf dem Treppenläufer.

Sidney Grice schluckte geräuschvoll.

»Gehilfin?« Ich wandte mich meinem Vormund zu. »Ich habe einen Namen.«

»Ebenso Ihre Katze«, entgegnete er, und ich wollte gerade erwidern, dass er diesen tatsächlich gebrauchte, als eine Stimme aus dem Zimmer drang.

»Ich werde mich selber darum kümmern, danke, Aellen.«