Mord in der Mangle Street - M.R.C. Kasasian - E-Book
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Mord in der Mangle Street E-Book

M.R.C. Kasasian

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Beschreibung

Start der etwas anderen Krimireihe mit Sidney Grice und March Middleton! London 1882. Nach dem Tod ihres Vaters begibt sich die junge March Middleton in die Obhut ihres Patenonkels: Sidney Grice, Englands berühmtester Detektiv, der vor einem neuen Rätsel steht. Eine Frau ist brutal ermordet worden, der einzige Verdächtige ist ihr Ehemann. Mit jeder neuen Wendung des Falls ist Sidney stärker von der Schuld des Ehemanns überzeugt und March von seiner Unschuld. In die dunkelsten Ecken des East End führen die Ermittlungen die junge Frau mit dem Faible für Gin und den bärbeißigen Spötter mit dem Glasauge. Wer von ihnen wird wohl recht behalten? Dies ist der erste Band der Gower Street Detective Reihe. Mit schwarzem Humor und bissigen Kommentaren geht es in diesen Fällen weiter: Band 2 - Der Fluch des Hauses Foskett Band 3 - Tod in der Villa Saturn Band 4 - Die Geheimnisse der Gaslight Lane

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M.R.C. Kasasian

Mord in der Mangle Street

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Johannes Sabinski und Alexander Weber

Atlantik

Für Tiggy, in Liebe

Einleitung

Vor sechzig Jahren begegnete ich Sidney Grice zum ersten Mal. Er war noch recht jung – wobei er einen anderen Eindruck erweckte – und in England schon sehr bekannt. Den internationalen Ruhm jedoch, den ihm eine Reihe gänzlich missratener Hollywoodfilme einbringen sollte, musste er sich erst noch erwerben.

Er war ein eitler Mensch, der das Rampenlicht genoss, aber selbst er sträubte sich gegen einige besonders abstruse Geschichten, die über ihn verbreitet wurden. So erklomm er beispielsweise nie die Niagarafälle auf der Jagd nach einem Werwolf. Er war weder dermaßen extravagant noch so athletisch. Ebenso wenig war er aber auch das sadistische Ungeheuer, als das ihn Biografen unlängst dargestellt haben. Nur seine schlechte gesundheitliche Verfassung hielt ihn von einer Klage gegen E.L. Jeeveson ab, dessen verleumderisches und lückenhaft recherchiertes Buch Sidney Grice den Mord am eigenen Vater unterstellte.

Aus Furcht, den Unschuldigen zu schaden und die Schuldigen zu legalen (oder illegalen) Maßnahmen zu animieren, hielt ich mich in meinen frühen Darstellungen der Grice’schen Ermittlungen im Monthly Journal zurück. Jetzt aber, da nahezu alle Beteiligten verstorben sind und sich mein eigenes Leben seinem natürlichen Abschluss zuneigt, ist es an der Zeit, die Dinge richtigzustellen.

Das London meiner Jugend erhob sich glanzvoll aus seinem Pestgestank menschlicher Fäulnis. Das heutige London wird gerade zerstört, in Trümmer gelegt von einem Feind, dessen Wüten seinesgleichen sucht, seit die Barbarenhorden das Römische Reich auslöschten.

Ob auch das Empire zerstört werden wird, wie so viele vorhersagen, bleibt abzuwarten. Sicher weiß ich aber, dass Sidney Grice niemals aus London geflohen wäre – all seinen Fehlern zum Trotz war er nie ein Feigling –, und auch ich werde bleiben, obwohl die Lichter verlöschen und der Boden erzittert, während ich diese Zeilen schreibe, im kalten Keller von Gower Street Nummer 125.

M. M., 3. Oktober 1941

1Die Morde in der Slurry Street

Lizzie Shepherd ward geschlacht,

Überm Wirtshaus in der Nacht.

Janie Donnell hieb man klein.

Und du wirst bald die Nächste sein.

Viktorianischer Hüpfreim (aus Rhymes and Reasons von Jenny Smith und Alex Duncan MacDonald)

Eliza Shepherd war ermordet worden. Am Morgen des 28. Januar 1882, einem Montag, fand ihre Schwester Maria die Leiche auf dem Bett. Gemeinsam hatten sie zwei Dachstuben bewohnt, die sich, samt einer Reihe weiterer maroder Gästezimmer, über dem Red Lion auftürmten, einem beliebten Wirtshaus in der Slurry Street, Whitechapel.

Zwei Stunden später entdeckte man in einem anderen Zimmer auf demselben Flur die Leiche von Jane O’Donnell.

Beide Frauen waren grausam ermordet worden. Genau vierzig Mal hatte man auf ihre Gesichter, Gliedmaßen und Oberkörper eingestochen. Es gab keinerlei Anzeichen eines Diebstahls, und obgleich sich sexuelle Motive nicht ausschließen ließen, galt keine von beiden als stadtbekannte Dirne. Eliza Shepherd hatte sich als Näherin verdingt und Jane O’Donnell seit kurzem unten im Wirtshaus als Kellnerin gearbeitet.

In beiden Fällen waren die Türen von innen verriegelt gewesen und mussten aufgebrochen werden. Darüber, wie sich der Mörder Zugang verschafft hatte, bestand indes wenig Zweifel. Die Fenster waren eingeschlagen. Wie der Täter dorthin gelangen konnte – neun Meter über dem Boden –, war freilich eine andere Frage. Es gab weder Regenrinnen noch andere Kletterhilfen, und in einer belebten Straße wie der Slurry Street unbemerkt eine Leiter herbeizutragen, aufzustellen und wieder fortzuschaffen, war schier unmöglich. Das Dach war schwer zugänglich, ja, es erwies sich gar als derart morsch und baufällig, dass es nicht einmal den kleinen Buben trug, den die Polizei hochschickte, um es zu inspizieren.

Geschichten über den legendären Schurken Springheel Jack lebten wieder auf, und zahlreiche Leute glaubten, gesehen zu haben, wie er sich über die Dächer schwang. Manch anständiges Mädchen hatte dereinst berichtet, wie er ihr vor die Füße gesprungen war, ihr mit seinen Klauenhänden die Kleider von Leib gerissen und seine kalten Lippen auf ihre gepresst hatte. Doch gemordet hatte er, soweit bekannt, noch nie.

Der Tod war ein steter Gast im East End, Gewalt und Mord nicht selten, doch die Grausamkeit dieser Taten schockierte sogar die Polizei, und die Entrüstung darüber zog Anfragen in beiden Parlamentskammern nach sich.

Rasch florierten Groschenheftchen mit reißerischen Schilderungen ähnlicher Verbrechen, die mit den Morden in Verbindung stehen sollten. Die Zeitungen überschlugen sich mit immer neuen Theorien zur Identität des Mörders. Es hieß, Rivincita, das italienische Wort für Rache, sei mit Blut an die Wände geschrieben worden, und ein Bericht über einen geheimnisvollen rothaarigen Neapolitaner, der in der Gegend Verdacht erregt habe, führte unten an den Docks zu einer Welle von Übergriffen auf Einwanderer.

Die schaurige Moritat vom Schlachthaus an der Slurry Street wie auch das melodramatische Bühnenstück Mord im Roten Löwen feierten kurzzeitige Erfolge, doch in Ermangelung echter Verdächtiger und weiterer Gräueltaten ebbte das öffentliche Interesse bald ab.

Der Mörder wurde nie gefasst, doch sollte er nicht nur Verfasser von Balladen und Pamphleten inspirieren. Zumindest einen anderen Menschen würde er auf die Idee bringen, seinem Vorbild zu folgen.

2Der Würger von Chelsea

Es war mein letzter Tag. Mr Warwick, der Makler, traf pünktlich um neun ein. Ich übergab ihm die Schlüssel und verließ mein Elternhaus, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Meine Familie hatte über dreihundert Jahre lang im Grange gewohnt, und zweifellos würde es noch einmal so lange ohne uns dort stehen.

George Carpenter, der alte Wildpfleger, fuhr mich in einem klapprigen Karren zum Bahnhof. Sein uralter Esel Onion plagte sich den Parbold Hill hinauf und stakste dermaßen zögerlich auf der andere Seite hinab, dass ich den Zug zu verpassen fürchtete. Aber wir kamen rechtzeitig an, und George trug meine Reisetasche zum Bahnsteig.

»Das hat Mrs Carpenter für Sie gebacken.« Er reichte mir ein Päckchen aus braunem Wachspapier, das mit brauner Schnur umwickelt war. »Falls Sie Hunger kriegen.«

Ich bedankte mich, und er scharrte mit den Füßen.

»Wir haben den Colonel sehr geschätzt.«

Ich gab ihm fünf Schillinge in die Hand, und der Zug pfiff und zog mit einem Ruck an. Ich fragte mich, ob ich ihn je wiedersehen würde oder Ashurst Beacon oder den seichten, verseuchten Fluss Douglas, der sich als Safranfaden unter dem schnurgeraden Liverpool-Leeds-Kanal entlang schlängelt.

In Wigan Wallgate wechselte ich den Bahnhof und wartete mit gesenktem Kopf am Straßenrand, bis eine Prozession trauernder Familien hinter vier Särgen vorbeigezogen war. Vor drei Tagen erst hatte es eine Schlagwetterexplosion in der Zeche gegeben, und die ganze Stadt war noch von Wut erfüllt.

Im Bahnhof Wigan North Western erwarb ich ein Buch bei W.H. Smith & Son und saß bald wieder im Zug, in einem Nichtraucherabteil nur für Damen und ohne Verbindungsgang. Da alle anderen Plätze frei waren, konnte ich mir Mrs Carpenters ganze Wildpastete, drei Zigaretten und einen kleinen Becher Gin aus dem Flachmann meines Vaters gönnen, ehe der Zug kreischend in Rugby zum Stehen kam.

Nach einigem Geschrei und Türenschlagen ertönte der Pfiff des Schaffners. Ich glaubte schon, unbehelligt zu bleiben, als plötzlich die Tür aufflog und eine gut gekleidete Dame mittleren Alters das Abteil bestieg und sich mir gegenüber setzte. Sie machte einen etwas strengen und steifen Eindruck auf mich, und wir schwiegen eine Weile lang, bis sie die Nase rümpfte.

»Haben Sie etwa geraucht?«

»Nein.«

Sie streifte den linken Handschuh ab, legte ihn mitsamt ihrem Hut auf den Sitz neben sich und sah mich an.

»Was lesen Sie denn da?« Sie linste herüber. »Der erschütternde Fall des Giftmörders von Primrose Hill. Was für ein Stuss. Kaufen Sie den Würger von Chelsea. Ist schön grausig und viel amüsanter.« Sie rümpfte erneut die Nase. »Sie haben doch geraucht.«

»Könnte sein«, sagte ich, und die Dame lächelte. Sie hatte kleine, weiße Zähne und ein spitzes Kinn wie das eines Kindes.

»Dann wird’s Ihnen wohl nichts ausmachen, wenn ich es auch tue.« Sie zog ein silbernes Etui aus ihrer Handtasche. »Hätten Sie auch gern eine Türkische?« Sie entflammte ein rotes Streichholz, zündete beide Zigaretten an und sog den Rauch tief in ihre Brust. »Ah, tut das gut. Hab mich den ganzen Tag wie verrückt darauf gefreut. Charles missbilligt es. Deshalb behalte ich meinen rechten Handschuh an, damit sich meine Fingerspitzen nicht verfärben. Rauchen ist mein großes Geheimnis. Haben Sie irgendwelche großen Geheimnisse? Ganz sicher doch, und Sie müssen mir das allerschockierendste verraten, ehe wir aus diesem Waggon aussteigen.«

Vor langer Zeit brachte ich einen Mann um – auf ewig den edelsten – und werde doch nie dafür hängen.

»Charles meint, es hemmt das Wachstum«, sagte die Dame. »Als würde ich noch in irgendeine wünschenswerte Richtung wachsen in meinem Alter. Morgen werde ich zweiundvierzig. Nicht dass er sich dran erinnern wird. Dr. Grace’ Kricketresultate kennt er allesamt auswendig, aber mit den Namen seiner eigenen Kinder hat er Mühe. Er zwingt kleine Jungs, totes Griechisch zu lernen. Wie kann man so etwas Grausames tun.«

Die Dame holte Luft.

»Herzlichen Glückwunsch.« Ich bot ihr meinen Flachmann an, und sie stürzte einen Becher voll herunter.

»Harriet Fitzpatrick«, sagte sie. »Harriet für Sie.«

»March Middleton. March.«

»Fahren Sie nach London, March?«

»Ja. Zum ersten Mal.«

»Die besten Läden und die schlechtesten Menschen der Welt.« Sie drückte ihre Zigarette auf dem Fensterbrett aus. »Da mögen Sie die elegantesten Kleider finden, müssen aber über ein verhungerndes Kind steigen, um das Geschäft zu betreten. Sind Sie auf Verwandtschaftsbesuch?«

»Ich habe keine Verwandten«, sagte ich. »Meiner armen Mama versagte vor Anstrengung das Herz, als ich vor einundzwanzig Jahren zur Welt kam, und mein teurer Papa fand vergangenes Jahr den Tod, als er in der Schweiz in einen Wasserfall stürzte. Die folgenden drei Monate habe ich damit zugebracht, sein Leben aufzuzeichnen. Das Buch ist kurz vor Weihnachten erschienen. Colonel Geoffrey Middleton – Sein Leben und Wirken. Vielleicht haben Sie es gelesen.«

Harriet schüttelte den Kopf. »Aber wo werden Sie unterkommen?«

»Bei meinem Patenonkel, der sich freundlicherweise als gesetzlicher Vormund zur Verfügung gestellt hat.«

»Oh, Sie Ärmste.«

Sie hatte ein beneidenswert zierliches Näschen.

»Vermutlich ist es so am besten.« Ich ließ meine Zigarette zu Boden fallen und trat sie aus. »Papa hat letztes Jahr an der Börse viel Geld verloren und musste eine hohe Hypothek auf das Haus aufnehmen. So bescheidene Mittel hinterließ er mir, die ich zum größten Teil erst mit fünfundzwanzig angreifen darf, und ein dermaßen geringes Einkommen aus Rücklagen, dass ich unser Haus nicht hätte halten können. Und da die Blüte meiner Jugend rasch verwelkt, werde ich schwerlich einen Gatten einfangen, ehe ich dafür zu alt bin.«

Harriet lachte auf. »Verzeihung. Bitte fahren Sie fort.«

»Wäre mein Patenonkel nicht aufgetaucht, ich hätte nicht gewusst, was tun. Für ein Handwerk bin ich ungeeignet und für eine Anstellung als Dienstmädchen zu stolz. Daher war ich höchst erleichtert, als er mir sein Beileid aussprach und weiter schrieb, dass mein Vater ihm einmal einen großen Gefallen getan habe und er bestrebt sei, die Schuld zu begleichen.«

Harriet betrachtete mich nachdenklich. »Darf ich fragen, wann Sie diesen herzensguten Gentleman zuletzt gesehen haben?«

»Oh, aber ich bin ihm nie begegnet. Tatsächlich erinnere ich mich nicht einmal, dass mein Vater je von ihm gesprochen hätte.«

Harriet goss sich einen weiteren Schluck aus meinem Flachmann ein, ehe sie ihn mir zurückgab.

»Sind Sie sicher, dass Ihre Erbschaft klein ist?« Sie sah mich an, als wäre ich ein verletzter Streuner. »Es wäre mir nicht lieb, würde irgendein skrupelloser Schurke Sie um Ihr Vermögen betrügen.«

»Sie ist wirklich sehr klein«, sagte ich, »und ich habe diese Möglichkeit erwogen. Ehe ich den Vorschlag meines Patenonkels annahm, trug ich dem Advokaten meines Vaters auf, Erkundigungen einzuholen. Allem Vernehmen nach stammt Mr Sidney Grice aus guter Familie und genießt einen ausgezeichneten Ruf.«

Harriet hustete.

»Sidney Grice, der Privatdetektiv?«

»Sie haben von ihm gehört?«

»Das will ich meinen«, sagte Harriet. »Man kann ja kaum eine Zeitung aufschlagen, ohne von seinen Heldentaten zu erfahren. Erst letzte Woche hat er doch beinahe die Entführung des Erzherzogs von Thüringen im Hyde Park vereitelt, und es wird gemunkelt, er habe den Prinzen von Wales wiederholt vor einem Skandal bewahrt. Oh, Sie Glückspilz. Hätte ich bloß einen so feschen, heldenhaften und gescheiten Mann an meiner Seite.«

Wir feierten mein Glück mit zwei Zigaretten und leerten den Gin, dann verfiel Harriet in Schweigen, und ich schaute aus dem Fenster. Die Hügel wurden flacher, das Grün verwandelte sich in Rot, und die Ziegelsteine stiegen immer höher und höher. Es schien kaum Zeit vergangen zu sein, als wir schließlich in den Bahnhof Euston einfuhren.

»Sie kommen auch zurecht?«, fragte Harriet, und ich bejahte.

»Ich nehme jeden ersten Dienstag im Monat den gleichen Zug hierher. Sollten Sie mal eine Freundin brauchen.«

»Bestimmt werde ich in London viele neue Freunde finden.«

Harriet sah mich an.

»Es kann hier sehr einsam sein.«

Sie erhob sich und beugte sich vor, um ihren Hut im kleinen Spiegel über meinem Kopf zu richten. Ich stand ebenfalls auf, schaute mich an – die Haut unmodisch gebräunt von zu vielen langen Spaziergängen ohne Sonnenschirm, das Haar ein stumpfes Graubraun – und dachte zum hundertsten Mal an diesem Tag an Edward.

»Nehmen Sie sich vor Taschendieben in Acht«, trug sie mir auf, »und vor Ausländern. Noch Gin übrig?«

»Ich fürchte, nein.«

Ein Gepäckträger kam herbei, und Harriet zog das Rollo runter.

»Bist du schon mal geküsst worden?«, fragte sie.

»Nein«, sagte ich, als sie sich mir zuneigte.

Ich schloss die Augen, sie duftete nach Lavendel.

»Jetzt bist du’s«, sagte sie, und das Rollo schnappte hoch. Der Gepäckträger öffnete die Tür, wir stiegen aus, sie zwinkerte mir zu und flüsterte noch: »Mach’s gut.« Dann war sie in der Menge verschwunden.

3Von Schweinen und Menschen

Mühelos fand ich den Weg hinaus, zu dem gewaltigen Bogen, den man das »Tor zum Norden« nennt.

Ringsum tobten Lärm und Durcheinander, doch waren es die Gerüche, die mich sogleich überwältigten. Die Mischung aus Qualm, Pferdekot und ungewaschenen Körpern brachte einen erdrückenden, widerlichen Gestank hervor. Hunderte von Kutschen, von stattlichen Broughams bis zu kleinen Landauern und Hansoms, wetteiferten mit Omnibussen und Lieferkarren ums Vorankommen auf der überfüllten Euston Road. Dazwischen drängten sich zahllose Fußgänger und versuchten, das Gebrüll der Straßenhändler zu übertönen.

Ein schmuddeliges Mädchen in einem knittrigen schwarzen Kleid stand an einer der Säulen und schaute sich erwartungsvoll um.

»Bist du Molly?«, fragte ich.

»Verzieh dich«, sagte sie und stolperte davon.

»Dann vermute ich, dass du es nicht bist«, rief ich ihr hinterher.

Ich wartete noch ein paar Minuten und sah mich um. Da stand ein Schwein, das man an ein Steigrohr gebunden hatte. Ein Junge in einem Matrosenanzug versuchte, darauf zu reiten. Die Gebäude waren heruntergekommen und in grauen Dunst gehüllt, denn die Luft selbst starrte vor Dreck, der sich wie grober Sand auf meine Haut zu legen schien.

Eine plumpe junge Frau in schwarzer Dienstmädchentracht und mit gestärkter weißer Schürze eilte herbei und wandte sich, nachdem sie erst zwei andere junge Damen angesprochen hatte, nun mir zu.

»Miss Middleton?«

»Ja.«

Ihr dichter roter Schopf quoll unter einer gestärkten weißen Haube hervor. Sie hatte eine Knollennase und ein rosiges, sommersprossiges Gesicht.

»Ich bin Molly, Mr Grice’ Hausmädchen. Ich habe Sie nur ungern warten lassen, aber wir mussten uns noch um eine tote Herzogin kümmern, und die hat uns tot viel mehr Ärger gemacht als lebendig. Darf ich Ihre Tasche nehmen? Bitte folgen Sie mir.«

Wir traten gerade aus dem Torbogen, da ertönte ein lautes Quieken, gefolgt von einem Schrei. Im Umdrehen sah ich, dass der Junge heruntergepurzelt war und das Schwein nun auf ihm stand.

»Keine Bange«, sagte Molly. »Ist nur ein Schwein.«

Verfolgt von etwa einem Dutzend Gassenjungen überquerten wir die Straße. »Haut ab«, herrschte Molly sie an, doch dann umringten sie mich und erbettelten sich einen Penny nach dem anderen, bis ich keinen mehr übrig hatte.

»Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, warnte Molly. »Kaum zu glauben, dass Pferde etwas so Abscheuliches aus Heu machen. Gibt es bei Ihnen auf dem Land auch Pferde?«

»Aber gewiss doch.«

»In London gibt es jede Menge. Und sie beißen.«

Wir wechselten erneut die Straßenseite, und Molly bahnte sich ihren Weg durch eine Gruppe von Männern mit Schirmmützen, die vor einem Wirtshaus herumlungerten.

»Nehmen Sie sich bloß vor Taschendieben in Acht«, raunte sie mir über die Schulter hinweg zu, »und vor Beutelschneidern, Seeleuten und Ausländern. Die …«

Plötzlich ertönte ein schrilles Klagen. Als ich mich umwandte, sah ich einen Mann in einem Seehundfellmantel, der über einer geduckten Frau aufragte und mit einem langen Stock auf ihre emporgereckten Arme einprügelte.

»Hören Sie augenblicklich auf damit«, rief ich, worauf der Mann herumfuhr und mich anstierte.

»Sagt wer?«, blaffte er und spuckte mir dabei ins Gesicht.

»Wir.«

»Ich nicht«, murmelte Molly und wich einen Schritt zurück.

»Sie nicht«, sagte ich. »Nur Monsieur Parquet und ich.«

Suchend blickte er sich um.

»Ich seh hier aber keinen verdammten Ausländer«, bellte er und hielt mir seinen Knüppel unter die Nase.

»Monsieur Parquet ist der Erfinder eines synthetischen Parfüms namens Fougère, was so viel wie ›Farn‹ bedeutet«, erklärte ich. »Sie sind womöglich nicht damit vertraut«, setzte ich hinzu und wischte mir mit dem Taschentuch über die Wange. »Aber wo immer ich hingehe, habe ich stets etwas davon bei mir. Wenn Sie mich nun kurz entschuldigen würden …« Ich kramte in meiner Reisetasche. »Na, da haben wir’s doch.«

Der Mann besah sich die Flasche und lachte spöttisch.

»Was zum Teufel …«

»Hören Sie bitte auf zu fluchen«, mahnte ich und sprühte ihm zwei große Spitzer in die Augen.

»Was zum …« Der Mann ließ seinen Stock fallen und schlug die Hände vors Gesicht.

Nun ließ auch die Frau ihre Arme sinken und grinste gehässig. »Hihi, jetzt riecht er besser.« Dann rappelte sie sich hoch und humpelte davon.

»Dich krieg ich später noch«, brüllte er ihr hinterher und rieb sich heftig die Augen. »Und euch auch«, fügte er an uns gewandt hinzu, während wir uns rasch davonmachten.

»Dürfte ich Ihnen einen guten Rat geben?«, sagte Molly. »Es ziemt sich nicht, sich in die Angelegenheiten zwischen Mann und Frau einzumischen.«

»Wäre es dir lieber gewesen, er hätte sie weiter geschlagen?«

Molly zog die Nase kraus. »Wer weiß, ob sie’s nicht verdient hat? Die Männer sind doch viel vernünftiger als wir. Vielleicht hat sie ihn ja komisch angeguckt oder so.«

Wir bogen links in die Gower Street ein, und der Trubel, wenngleich noch immer beträchtlich, ebbte stetig ab, je weiter wir die Straße entlang gingen. »Eine Sache noch«, sagte Molly. »Sie sollten Mr Grice nichts davon sagen, wenn Sie ihn kennenlernen. Er mag keine Damen nicht, die so ein Gewese machen.«

Ein Wasserkarren zuckelte vorüber.

»Wieso ist das Pflaster hier aus Holz?«, fragte ich.

»Das ist, um das Hufgetrappel der Pferde zu dämpfen«, sagte sie, »damit die Kranken etwas Ruhe bekommen und die Sterbenden besser ihren Seelenfrieden finden. Da drüben ist das Krankenhaus der Universität. Mr Grice hat mir das alles erklärt. Er ist ein sehr kluger Mann und sehr freundlich, und er hat mir noch nicht einmal befohlen, Ihnen das zu sagen.«

Nummer 125 war ein hoch aufragendes Reihenhaus im georgianischen Stil, mit weiß getünchter Fassade im Parterre und rotem Backstein darüber, einem gusseisernen Balkon im ersten Stock und einem Kellergraben, der das Haus vom Gehsteig trennte. Wir gingen die vier Stufen hinauf zur schwarz gestrichenen Eingangstür. Mit einem Schlüssel, den sie an einer Schnur um ihren Hals trug, öffnete Molly die Tür und ließ mich ein in die lange schmale Diele.

»Einen Moment bitte«, sagte sie und ging rechter Hand zur ersten Tür, um mich anzukündigen.

»Und keinen Augenblick zu früh«, sagte eine Männerstimme. »Ich habe seit zweiundvierzigeinhalb Minuten keinen Tee mehr getrunken.« Und damit trat der Besitzer dieser Stimme aus der Tür, um mir die Hand zu reichen.

4Die Zuhörer

Sidney Grice entsprach ganz und gar nicht meinen Erwartungen. Obwohl er aufrecht dastand, war er nicht größer als eins achtundfünfzig und von schmächtiger Statur. Sein Haar war dicht und schwarz und aus der hohen Stirn gekämmt, die Nase lang und schmal. Seine Erscheinung war beinahe feminin – die geschwungenen Lippen, das glatte blasse Gesicht mit dem Grübchen auf dem zierlichen Kinn.

»Miss Middleton.« Seine Begrüßung fiel höflich, aber nicht überschwänglich aus. Der Druck seiner kleinen, feingliedrigen Hand war erstaunlich kräftig. »So ganz anders als Ihre liebe Mutter.« Er hatte eine weiche, aber klare Stimme.

Seine Augen waren von einem blassen Blau und glasig, obgleich sie geradeheraus blickten unter langen geschwungenen Wimpern, wie ich sie mir nur erträumen konnte.

»Sie kannten sie?«

»Ich hatte die Ehre. Zu meinem Bedauern gilt das nicht für Sie. Sie haben kein Gepäck?«

»Nur diese Reisetasche. Meine Koffer sind noch unterwegs.«

»Wir nehmen den Tee umgehend, Molly. Kommen Sie, Miss Middleton. Lassen Sie mich Ihnen Ihr neues Heim zeigen.«

Ich folgte ihm durch die offene Tür in ein geräumiges Zimmer. Geradeaus standen zwei Ledersessel zu beiden Seiten eines Kamins. Rechter Hand umringten sechs Stühle einen Teetisch aus Mahagoni. Hinter einem filigran geflochtenen Wandschirm am jenseitigen Tischende gingen hohe Fenster auf die Straße.

»Der Wandschirm soll mich vor Heckenschützen verbergen«, sagte er.

»Ist denn schon mal auf Sie geschossen worden?«

»Viele Male.« Er fasste sich an die linke Schulter. »Aber bloß ein Treffer. Ist mir lieber, wenn’s daneben geht.«

Ich lachte, und Grice’ Miene verfinsterte sich.

»Das war kein Scherz. Runter!« Im selben Augenblick warf er sich zu Boden, und ich kniete mich rasch neben ihn. »Absolut hoffnungslos«, seufzte er. »In einem wirklichen Notfall werden Sie um einiges schneller sein müssen.«

»Wenn Sie eine Tournüre tragen würden, wären Sie … Oh!« Ich blickte erschrocken zum Fenster hoch. »Obacht!« Sidney Grice warf sich erneut zu Boden, während ich mich erhob. »Anstrengend, nicht wahr?«, sagte ich. »Ich denke, wir sollten dieses Spiel nicht wiederholen.«

Sidney Grice klopfte sich ab. »Dieses Spiel könnte Ihnen sehr wohl eines Tages das Leben retten.«

»Da würde ich lieber vernünftig sterben«, gab ich zurück, und er hob eine Hand an sein rechtes Auge.

Hinter uns führte eine offene Doppelfalttür in die Bibliothek, sodass beide Räume ineinander übergingen. An zwei Wänden waren Regale angebracht, vom Boden bis zur Decke, allesamt gestopft voll mit Büchern und Papieren, vor der dritten standen Eichenschränke jeweils mit vier Schubladen. In der Mitte war ein wuchtiger Schreibtisch.

»Diese beiden Räume stellen mein Studierzimmer dar. Herz und Hirn des Hauses.«

»Sie haben aber eine Menge Akten.«

»Ich erstelle einen Katalog aller Verbrechen, die in diesem Jahrhundert in England begangen wurden. Eine Herkulesaufgabe, aber ich bin überzeugt, dass sich der Aufwand lohnt. Es ist erwiesen, dass Verbrecher ihre eigenen Taten und die von ihresgleichen wiederholen. Daher entwerfe ich ein System, das Querverweise auf jedes Verbrechen und eine Sofortermittlung der Methode und damit des Täters ermöglicht. Rieche ich da etwa Alkohol in Ihrem Atem?«

Er fasste mich scharf ins Auge.

»Mir war ein wenig flau beim Aussteigen. Ein zufällig vorbeikommender Pfarrer war so freundlich, mir einen belebenden Schluck Brandy aus seinem Flachmann, wie das wohl heißt, zu geben.«

»Es ist Gin«, sagte Sidney Grice.

»Ach, wirklich? Ich kenne mich da leider nicht aus.«

Er verengte den Blick, und wir gingen zurück in die Diele.

»Es wird doch zumindest ein paar wirklich neuartige Verbrechen geben«, meinte ich, doch Sidney Grice schnaubte nur.

»Der kriminelle Verstand ist abartig und verworren, aber fast immer einfallslos«, sagte er, als Molly aufgeregt herbeigelaufen kam.

»O Sir.« Sie errötete. »Ein halbes Unglück. Der Nachmittagstee ist aus. Wir haben noch Morgentee und bergeweise Abendtee, aber nicht einen Krümel Nachmittagstee.«

Sidney Grice machte ein finsteres Gesicht. »Dann geh auf der Stelle welchen besorgen, und gib Acht, dass ehrlich abgewogen wird«, sagte er. »Dummes Ding«, fügte er hinzu, als sie hinauseilte. »Das«, er zeigte hinter die Treppe, »ist die Dienstbotenwelt. Mir schaudert beim Gedanken, was dort vor sich geht.«

Im ersten Stock befand sich ein Salon mit Blick auf das Hauptgebäude des University College. Dahinter lag das Esszimmer, das einen Speisenaufzug und schwachen Kohlgeruch beherbergte.

»Solange wir unter uns sind, will ich Ihnen etwas sagen, das Sie vielleicht peinlich berühren wird«, teilte mir Sidney Grice mit. »Sie tragen braune Schuhe.«

»Ich weiß.«

»Braun ist fürs Land. In der Stadt trägt man schwarz.«

»Aber ich bin heute morgen vom Land aufgebrochen«, wandte ich ein. »Wo oder wann genau hätte ich sie denn wechseln sollen?«

Sidney Grice runzelte die Stirn. »Wie ich sehe, haben Sie Esprit – eine moderne, wiewohl keine weibliche Eigenschaft. Hinsichtlich Ihrer Frage glaube ich, dass Kilburn allgemein als äußerste Grenze der Zivilisation angesehen wird. Ich begebe mich nie darüber hinaus.« Er schnupperte. »Ich rieche Rauch.«

Auch ich schnupperte, konnte aber nur seine Teerseife riechen.

»Meinen Sie das metaphorisch?«

»Nein, buchstäblich. Ich mag keine Metaphern.«

»Geschweige denn braune Schuhe«, sagte ich. »Brennt Ihr Haus?«

»Mein Haus brennt keinesfalls. Es ist Tabakrauch. Sie rauchen doch wohl hoffentlich nicht, Miss Middleton?«

»Der Zug war so voll besetzt, dass ich mit einem Raucherabteil vorlieb nehmen musste.«

Sidney Grice rechtes Auge verschwand, und seine Lider klappten über einer fleischroten Höhle zusammen. Ich kreischte auf, indes er sein Auge einfing und wieder an seinen Platz beförderte.

»Verfluchtes Ding.« Er zog sein Oberlid herunter. »Bis ins böhmische Egeria bin ich gefahren, um es anfertigen zu lassen, mundgeblasen nach Professor Goldmans Maßangaben, und es passt trotzdem nicht.«

»Wie haben Sie Ihr eigenes verloren?«

»Ich habe es nicht verloren.« Mit einem stolzen Ruck warf er sein Haar zurück. »Das würde von einer Fahrlässigkeit künden, die mir wesensfremd ist. Ein abtrünniger Preuße hat es mir herausgerissen, als ich seinen Mordversuch am Kronprinzen vereitelte. Die Welt muss erst noch anerkennen, in welcher Schuld sie dafür bei mir steht. Sitzt erst ein Kaiser Wilhelm II. auf dem Thron der vereinigten deutschen Staaten, werden wir einer hundertjährigen Friedenszeit in Europa entgegensehen.«

»Die Welt hält Sie schon jetzt in hohem Ansehen«, sagte ich. »Meine Freunde vergleichen Sie mit Edgar Allan Poes Detektiv Auguste Dupin.«

Sidney Grice kräuselte die Lippen.

»Welche Auszeichnung, mit dem schwachsinnigen Hirngespinst eines geisteskranken Schreiberlings aus den Kolonien verglichen zu werden«, sagte er. »Zumal der Mann offenkundig von meinen Erfolgen gelesen und den unbeholfenen Versuch unternommen hat, sie nachzuahmen.«

Sein Gang war merkwürdig, fiel mir auf, neigte nach rechts, wenngleich er keine Mühe hatte, ein weiteres Geschoss zu erklimmen.

Im zweiten Stock lagen zwei Schlafzimmer: seines mit Blick auf die Straße und mein künftiges, mit Blick auf ein Krankenhaus. Dazwischen war ein kleiner Raum.

»Der ganze Stolz meines Hauses.« Sidney Grice trat zur Seite, um mir das Badezimmer zu zeigen. Die Ausstattung war allerdings prächtig: eine weiße Emaillewanne auf Messingtatzen, ein Waschbecken aus weißem Porzellan auf einem hohen kannelierten Sockel und ein dazu passendes Wasserklosett mit Spülkasten hoch darüber. »Wir haben fließend Wasser, heiß und kalt, solange Molly den Ofen in Gang hält.«

»Welcher Luxus.« Ich verriet ihm nicht, wie widerlich mir ein Klosett im Haus war. Kein Wunder, dass man so viel von Seuchen in London hörte, wenn alle Häuser derart unhygienisch bestückt waren.

Im dritten Geschoss war der Dachboden, erläuterte er, mit einem Koffergelass und den Dienstbotenkammern.

»Wie viele Dienstboten halten Sie?«

»Ich habe nur Molly und eine Köchin. Die Köchin wohnt nicht im Haus und beschränkt sich auf ihre Küche. Ich habe sie wohl nicht mehr gesehen, seit sie sich vor zwei Jahren anmaßte, mir Glückwünsche zum Weihnachtstag auszusprechen. Die Küchenmädchen wechseln häufig, wie ich höre, sind für mich aber ohne Belang.« Er hielt inne. »Offenbar ist Molly noch nicht zurück. Es scheint, als müssten wir den Ruf der Türglocke selbst beantworten.«

»Ich habe gar nichts gehört«, sagte ich, und Sidney Grice schnalzte mit der Zunge.

»Ihre Ohren sind jünger und wahrscheinlich empfindlicher als meine. Sie hören, ohne hinzuhören. Der Besuch ist offenkundig dringlich, so heftig wie am Griff gezogen wurde. Wir wollen einen Augenblick stille stehen.«

»Sollten wir nicht zuerst die Tür öffnen?«, fragte ich, doch Sidney Grice zuckte mit den Schultern. »Je dringlicher das Anliegen, desto größer die Ausdauer. Hören Sie hin.«

Weit entfernt vernahm ich eine kleine, schrille Glocke, die wiederholt schellte.

»Jetzt hör ich’s.«

»Was noch?«

Ich lauschte. »Nichts.«

»Hören Sie denn nicht den Verkehr draußen, das Rattern der Räder, das Trappeln der Hufe auf dem Pflaster, die Rufe der Höker und Bettler auf der Straße, das Flattern der Tauben auf dem Dach, den Westwind, der über die Schornsteine pfeift?«

Ich lauschte angestrengt. »Ich höre gedämpften Lärm«, sagte ich. »Und die Türglocke wird immer wilder.«

»Eine Glocke ist unbelebt und kann so wenig wild sein wie einen algebraischen Lehrsatz formulieren.« Sidney Grice untersuchte einen winzigen Tintenfleck auf seinem kleinen Finger. »Es scheint aber so, als wäre es unser Besucher.«

Wir gingen die Treppe hinunter.

»Kümmern Sie sich um die Tür«, sagte er und ging in seine Arbeitsräume.

Die Dame, der ich öffnete, war hochgewachsen, eine elegante Erscheinung mit fein gemeißelten, kalkweißen Zügen. Ihre Wangen aber waren leicht gerötet, als hätte sie sich körperlich verausgabt. Anfang der vierzig, schätzte ich, war sie gut, wiewohl nicht prachtvoll in Schwarz gekleidet. Ihr dunkelbraunes Haar war sorgfältig festgesteckt unter einem schlichten Hut, dessen Flor ihr eben über die Augen reichte.

»Ist dies Mr Grice’ Haus?« Sie rang nach Atem.

»Das ist es.«

»Ich muss deine Herrschaft sehen.« Sie war sichtlich sehr erregt.

»Ich habe keine Herrschaft«, entgegnete ich, um sie dann doch zu Sidney Grice zu führen.

Der gab vor, in einer geologischen Zeitschrift zu lesen, erhob sich aber aus seinem Stuhl und geleitete unsere Besucherin zu den zwei Ledersesseln vor dem Kamin. Ich blieb mitten im Raum stehen, unsicher, ob ich bleiben oder gehen sollte.

»Sie ahnen nicht, wie ich mich freue, Sie zu sehen.« Die Frau setzte sich zurecht. »Mir wurde schon manches Mal erzählt, Sie wären bloß eine Figur der Dichtung.«

Sidney Grice’ Hals rötete sich ein wenig, und seine Wange zuckte; er hob eine Hand an sein rechtes Auge.

»Die Schuld daran tragen die entsetzlich verzerrten Schilderungen meiner Fälle in billigen Gazetten«, sagte er. »Wie Sie selbst sehen können, Madam, bin ich ein Wesen ganz aus Fleisch und Blut.«

Die Dame legte beide Hände vor Mund und Nase. Sie trug einen Rubinring am dritten Finger ihrer rechten Hand.

»Da war so viel Blut«, sagte sie.

Ich sah sie an. Ihre grünen Augen waren vor Schrecken geweitet. Dann sah ich Sidney Grice an, und obwohl das gar nicht möglich war, schien es, als würden seine Augen beide leuchten.

5Ein schrecklicher Mord

»Es ist einfach zu schrecklich.« Mrs Dillinger holte tief Luft. »Meine arme Tochter.« Sie schluckte schwer. »Erstochen … erstochen, und mein Schwiegersohn wegen Mordes verhaftet. Sie müssen mir helfen, Mr Grice.«

Sidney Grice seufzte. »Ich bin keineswegs dazu verpflichtet, Madam. Aber da Sie schon mal da sind und ich mich langweile: Wie heißen Sie, und wie lauten die Namen der anderen Beteiligten?«

»Mein Name ist Mrs Grace Dillinger.«

»Ich nehme an, Sie sind Witwe.«

»Ja, mein Mann ist vor zwei Monaten verstorben.«

»Und hat sie in anderen Umständen zurückgelassen?«

»Ja, ich erwarte das Kind im August.«

Sidney Grice winkte ungeduldig mit der Hand. »Fahren Sie fort.«

»Der Name meines Schwiegersohns ist William Ashby. Seine Frau, meine Tochter, heißt …«

»Hieß«, korrigierte Sidney Grice.

»Hieß Sarah.«

Mein Vormund nahm ein kleines ledergebundenes Notizbuch vom Tisch neben dem Sessel und notierte sich mit einem silbernen Bleistift alle Einzelheiten, während Mrs Dillinger in ihre Handtasche griff und einen rechteckigen weißen Briefumschlag hervorholte. Mir fielen ihre sehr gepflegten Nägel auf, und sie trug einen schweren rotgoldenen, mit feinem schwarzem Garn umwickelten Ehering.

»William hat Ihnen eine Nachricht geschrieben.« Sie hielt ihm das Kuvert hin, und Sidney Grice nahm es entgegen, als handle es sich um einen schmutzigen Lappen. Dann öffnete er den Umschlag, zog ein zweifach gefaltetes Blatt heraus, überflog es flüchtig und ließ es in seinen Schoß fallen.

»Welche Beweise hat die Polizei gegen Ihren Schwiegersohn in der Hand?«

»Überhaupt keine.« Mrs Dillingers schlanke Finger krampften sich zusammen.

»Dann hat er ebenso wenig zu befürchten wie ich«, erklärte er, »denn gegen mich haben sie auch nichts.«

Mrs Dillinger zupfte an ihrem Mantelkragen.

»Er war zu Hause, als es geschah«, sagte sie. »Aber er schlief, im Nebenzimmer.«

»Hat er einen tiefen Schlaf?«

»Ganz im Gegenteil. Für gewöhnlich wacht er beim kleinsten Laut auf. Erst das Geräusch einer sich öffnenden und schließenden Tür ließ ihn aus dem Schlaf aufschrecken.«

»Welche Tür?«

»Die Eingangstür des Ladens vorne im Haus. Sie hat eine Glocke, und die schellt, sobald die Oberkante der Tür dagegenschlägt.«

Ihr Parfüm versprühte einen leichten Hauch von Damastrosen.

Sidney Grice spielte mit seinem Siegelring. »Ist die Ladenglocke an einem Scharnier oder einer Spiralfeder aufgehängt?«

Mrs Dillinger legte die Fingerkuppen ihrer Rechten an die Stirn, und der Rubin funkelte düster.

Sie sagte: »Wie bitte? Ein Scharnier, glaube ich. Was tut das zur Sache?«

Mein Vormund schaute sie einen Moment lang an. »Eine Glocke mit Scharnier klingelt zweimal, wohingegen eine gefederte wiederholt und anhaltend läutet, durchschnittlich fünf bis sieben Doppelschläge, je nachdem, wie hart die Tür daran stößt.«

Mrs Dillinger sammelte sich. »Ach so.«

»Aber bis dahin hatte er nichts gehört?«

»Nein.«

»Und wo befand sich Ihr Schwiegersohn?«

»Im Hinterzimmer. Der Küche.«

Ihre Stiefel wirkten gründlich gesäubert und gewichst, waren aber bedeckt mit frischen Schlammspritzern.

»Und Ihre Tochter?«

»Im mittleren Zimmer. Der Wohnstube.«

»Und diese Räume gehen ineinander über?«

»Ja.«

Ihr Kleid war zwar alt und an einigen Stellen geflickt, aber von guter Qualität. Für die Trauerzeit hatte sie es offenbar schwarz eingefärbt. Das ursprüngliche Blumenmuster schimmerte noch durch.

»Und es gibt kein weiteren Zugang zur Wohnstube? Ein Fenster womöglich, oder ein Oberlicht?«

»Nein, keinen.«

Sidney Grice beugte sich vor.

»Ihr Schwiegersohn mit dem leichten Schlaf schlummerte also selig weiter, während seine Frau nur wenige Schritte entfernt grausam abgeschlachtet wurde?«

Mrs Dillinger stand unversehens auf und hielt sich am Kaminsims fest.

»Aber Mr Grice …«, sagte ich und trat auf sie zu, doch mein Vormund bedeutete mir, stehenzubleiben.

»Hat man Blutspuren an der Kleidung Ihres Schwiegersohnes gefunden?«

»Er war von oben bis unten voll damit.« Mrs Dillinger schloss die Augen. »Er hat sie in den Arm genommen.«

Sie atmete so schwer, dass ihre Worte kaum zu vernehmen waren.

»Und sie war bereits tot?«

»Ja, ich denke schon.« Plötzlich schwoll ihre Stimme an. »Ich weiß es doch nicht.«

Sidney Grice schrieb erneut etwas in sein Büchlein. Er hatte eine kleine Narbe am rechten Ohr, wie mir eben auffiel.

»Und sonst war niemand im Haus zu der Zeit?«

»Nein. Niemand.«

Sidney Grice betrachtete sie eine Weile schweigend.

»Wo waren Sie, als sich all das ereignete?«, erkundigte er sich.

»In der Kirche.«

»An einem Montagabend?«

»Es tagte gerade die Gesellschaft zur Bekehrung der Heidenkinder in Afrika.«

»Als ob es in London nicht schon genug davon gäbe«, knurrte Sidney Grice. »War Ihre Tochter glücklich verheiratet?«

Mrs Dillinger brach in Tränen aus, derweil sich Sidney Grice nachdenklich mit dem Bleistift auf die Zähne klopfte. Sie waren sehr sauber und sehr gerade.

»Was tun Sie ihr an?«, fragte ich.

»Das ist gar nichts im Vergleich zu dem, was die Polizei und die Staatsanwaltschaft sie und ihren Schwiegersohn fragen werden.«

»Ich hatte gedacht, Sie wären auf meiner Seite«, schluchzte Mrs Dillinger.

»Ich weiß nicht, wie Sie diesem Irrglauben verfallen konnten. Bisher habe ich mit keinem Wort gesagt, dass ich mich Ihrer Sache annehmen werde.«

Schwankend ließ Mrs Dillinger den Kamin los; ich machte mich bereit, sie aufzufangen.

»Dann werde ich jetzt gehen und mir jemanden suchen, der dies tut.«

Sidney Grice zuckte mit den Schultern, doch Mrs Dillinger blieb, wo sie war.

»Ich wiederhole meine Frage«, sagte er. »War die Ehe glücklich?«

»Sehr … Sie waren sich sehr zugetan. Er nannte meine Sarah stets seine über alles geliebte …« Mrs Dillinger stockte, unfähig weiterzusprechen.

»Möchten Sie ein Glas Wasser haben?«, fragte ich, doch sie hauchte nur: »Nein, danke.«

Ich nahm ihren Arm, geleitete sie zurück zu ihrem Sessel und zog einen der Stühle heran, um mich neben sie zu setzen.

Sidney Grice schlug die Hacken aneinander und sagte: »Hatten die beiden Geldsorgen?«

»Nicht mehr als jeder andere. Sie verdienten genug, um davon zu leben.«

Mrs Dillinger räusperte sich.

»Was meinen Sie mit ›Sie‹?«

»Sarah arbeitete ebenfalls im Laden.«

»Gehen Sie einer Beschäftigung nach?«

»Ich gebe private Klavierstunden und unterrichte französische Konversation. Gelegentlich nehme ich Kinder bei mir auf, wenn ihre Eltern sich nicht um sie kümmern können.«

»Gegen Bezahlung?«

»Ja. Seit dem Tod meines geliebten Gatten bin ich darauf angewiesen.«

»Und wie ist er zu Tode gekommen?«

Mrs Dillinger erschauerte. »Er wurde auf der Westminster Bridge von einem Straßenräuber umgebracht, der ihm die Uhr seines Vaters stehlen wollte, die nicht mal mehr ging. Ist das denn wichtig?«

Sidney Grice presste die Lippen aufeinander. »Das weiß ich noch nicht. War das Leben Ihrer Tochter versichert?«

Die Haustür wurde zugeschlagen, und polternde Schritte hallten durch die Diele.

»Nur mit einer kleinen Summe, glaube ich, Näheres ist mir nicht bekannt.« Ein angespannter Zug trat in Mrs Dillingers Gesicht. »Und ich sehe auch nicht, was das im Geringsten mit der Sache zu tun haben sollte.«

»Das Gericht könnte zu der Auffassung gelangen, dass es eine ganze Menge damit zu tun hat. Wie alt war …«, Sidney Grice warf einen Blick auf seine Notizen, »… Sarah?«

»Neunzehn.«

»Oh, noch jünger als ich«, warf ich ein, doch Sidney Grice fiel mir ins Wort: »Bitte unterbrechen Sie mich nicht mehr, Miss Middleton. Wie alt ist Ihr Schwiegersohn, Mrs Dillinger?«

»Vierunddreißig.«

Die Kaminuhr schlug zur Viertelstunde.

»Ein ziemlicher Unterschied.« Sidney Grice lehnte sich zurück. »Vielleicht war Ihre Tochter des älteren Ehemannes überdrüssig.«

»Fünfzehn Jahre sind gar nichts«, sagte Mrs Dillinger. »Und wie ich Ihnen schon erzählt habe … Sie waren sich sehr zugetan.«

»Vielleicht hat er sie mit einem anderen Mann ertappt und in blinder Wut getötet.«

Mrs Dillinger richtete sich auf. »Sie war ein treues und anständiges Mädchen und hätte ihn nie hintergangen, und mein Schwiegersohn ist ein sanftmütiger, gutherziger Mann. Zu solchen Grausamkeiten wäre er nie im Leben fähig.«

»Wo ist er jetzt?« Sidney Grice drehte die Mine des Stifts ein Stück heraus.

»Man hält ihn auf der Polizeiwache von Marylebone fest.«

»Und wie lautet die Adresse des Tatorts?«

»Mangle Street 13, Whitechapel.«

»Mangle Street«, sinnierte mein Vormund. »Nun, ein überaus geschichtsträchtiger Ort. Ich weiß von mindestens sechs anderen Morden in dieser Straße, der erste im Jahr 1740, wenn ich mich recht entsinne. Der jüngste ist der Fall einer gewissen Matilda Tassel und ihrer beiden Töchter, die man mit einer Axt erschlagen hat.«

»Oh, wie tragisch«, entfuhr es mir.

»Ich danke Ihnen für Ihre scharfsinnige juristische Beurteilung, Miss Middleton«, spottete er und kratzte sich die Wange. »Vielleicht hat William die ja ebenfalls umgebracht?«

»Oder ihr Mörder hat auch Sarah getötet«, wandte ich ein.

»Ich glaube, Mrs Tassels Ehemann ist damals der Schwindsucht erlegen, während er auf seinen Prozess wartete«, sagte Sidney Grice, »aber das kann ich später in meinen Aufzeichnungen nachschauen. Eine Kleinigkeit noch.« Er schrieb noch immer. »Meine Dienste sind sehr kostspielig und Ihre Mittel offenbar begrenzt. Wie gedenken Sie, mich zu entlohnen?«

Mrs Dillinger fischte ein kleines schwarz gerändertes Taschentuch aus der Manteltasche. »Aber Ihr erstes Anliegen ist doch gewiss, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen?« Sidney Grice lächelte arglistig.

»Das wäre eine hübsche Abwechslung«, sagte er. »Wenn sich aber herumspräche, ich sei bereit, mein exorbitantes Honorar für die Bedürftigen zu senken, hätte ich bald jeden Rotzlümmel Londons vor meiner Tür sitzen.«

»Aber ich habe kein Geld.«

Mein Vormund hob die linke Augenbraue.

»Und wie wollen Sie dann für diese Konsultation bezahlen?«

Mrs Dillinger sah erst mich und dann wieder ihn mit leerem Blick an.

»Ich dachte …«

»Ich will nicht Ihre Gedanken«, unterbrach Sidney Grice sie, »ich will Ihr Geld.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Haben Sie denn keine Gefühle?«, fragte ich.

»Ich bin weder töricht noch sentimental, wenn es das ist, was Sie meinen.«

Mrs Dillinger rieb sich die Stirn. »Ich werde bezahlen, was immer Sie verlangen.«

»Dies«, sagte Sidney Grice und hielt ihr seinen Bleistift entgegen, »ist ein versilberter Mordan Mechanical der neuesten Bauart, mit Federlagerung und einer Gravur meiner Initialen. Das Geschenk einer meiner vielen dankbaren Klientinnen, das die Dame gute vierundzwanzig Guineen gekostet haben muss. Ich bezweifle, dass Sie überhaupt so viel Geld besitzen.«

Mrs Dillinger faltete ihr Taschentuch zusammen und tupfte sich mit einer Ecke die Tränen vom Gesicht. »William wird Sie bezahlen. Er hat ein festes Einkommen.«

»Welches durch seine Verhaftung auf Eis gelegt wurde und gänzlich versiegen wird, sobald sich die Falltür des Galgens öffnet«, sagte Sidney Grice, woraufhin Mrs Dillinger schwer in ihren Sessel zurücksank.

»Sie sind ein Monster.«

»Wir beide verdienen unseren Lebensunterhalt damit, Unschuldige zu beschützen.« Sidney Grice drehte abermals an seinem Stift und ließ die Mine wieder verschwinden. »Doch in meinem Fall ist das Risiko und somit auch die Vergütung beträchtlich höher.«

»Aber ich habe nichts, was ich Ihnen geben könnte.«

Sidney Grice zuckte mit den Schultern.

»Dann habe ich auch nichts, was ich Ihnen geben könnte, und Ihr Schwiegersohn wird so gut wie sicher hängen.« Er klappte sein Notizbuch zu. »Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Mrs Dillinger. Meine Rechnung geht Ihnen mit der nächsten Post zu.«

Molly kam herein, ein schwarzlackiertes Teetablett in den Händen.

»Soll ich eine weitere Tasse bringen, Sir?«

»Das wird nicht nötig sein. Unser Gast wollte gerade gehen.«

Mrs Dillinger stand auf und blickte suchend um sich, als hätte sie etwas vergessen. Ich erhob mich ebenfalls, um sie zu stützen.

»Begleite Mrs Dillinger zur Tür, Molly.«

Aus irgendeinem Grund drehte Molly sich zu mir um, doch ich sah weg.

»Nein«, sagte ich. Sidney Grice blickte jäh auf.

»Was soll das heißen?«

»Mrs Dillinger mag das Geld nicht haben«, sagte ich, »aber in meinem Erbe befindet sich ein kleines Paket von Wertpapieren. Ich weiß nicht, ob Sie die Börse verfolgen.«

»Ich spekuliere nicht.«

»Ich besitze eintausend Aktien der Blue Lake Mining Company of British Columbia, die pro Stück derzeit für zwei Schillinge und Sixpence gehandelt werden, was sich auf eine Summe von hundertfünfundzwanzig Pfund beläuft. Ihre übliche Honorarordnung ist mir zwar nicht geläufig, aber falls Sie sich bereit erklären, den Fall anzunehmen, können Sie alles haben.«

Sidney Grice sah mich ausdruckslos an.

»Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte er so beiläufig, dass mir sofort klar war, dass es sich um viel mehr handeln musste, als er normalerweise verlangte.

Ich atmete kurz durch. »Jedoch nur unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Dass ich Sie begleiten darf.«

Schon als ich die Worte aussprach, wusste ich, dass er die Idee für abwegig halten würde.

»Ich möchte mit eigenen Augen sehen, wofür das Geld meines Vater genutzt wird«, sagte ich. »Und ich könnte Ihnen behilflich sein.«

Sidney Grice schmunzelte.

»Ich wüsste zwar nicht, wie«, wandte er ein, »aber das könnte amüsant werden. Nun gut, Miss Middleton. Ich stehe voll und ganz zu Ihren Diensten.«

6Die grüne Flagge

Sidney Grice lächelte dünn, als Mrs Dillinger das Zimmer verließ.

»Ihr kleines Erbe wird sich rasch in Luft auflösen, wenn Sie sich jedes Streuners erbarmen, der an meiner Türe kratzt.«

Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. »Haben Sie denn gar kein Herz? Der Frau sind Gatte und Tochter grausam genommen worden, ihrem Schwiegersohn droht der Galgen, und ihr bleibt nichts als die Erwartung eines Kindes, das sie wahrscheinlich nicht wird ernähren können.«

»Falls sie Wohltaten erwartet, sollte sie besser ins Arbeitshaus gehen.« Er warf sein Notizbuch auf den Tisch. »Oder in die vorgeblich christliche Kirche, die sie besucht. Woher wissen Sie im Übrigen, dass er unschuldig ist?«

Ich setzte mich meinem Vormund gegenüber und sann der Frage nach, konnte sie aber nicht beantworten.

»Es gibt mehrere Vorläufer dieses Verbrechens«, teilte er mir mit, »zuletzt den Fall von Jonathan Carvil, dem Stecher von Sidmouth, wie ihn die Massenblätter so schillernd bezeichneten. Es gibt erstaunliche Parallelen, zumindest auf den ersten Blick. Auch er behauptete, im Nebenraum geschlafen zu haben, während seine Ehefrau abgeschlachtet wurde – was durchaus wörtlich zu verstehen ist. Ihr Körper wurde fachgerecht zerlegt und hergerichtet wie für den Bratspieß, und ihre Hände wurden nie gefunden. Es stellte sich heraus, dass er an eben jenem Tag eine Botschaft seiner Frau an ihren Liebhaber abgefangen hatte. Ich hoffe, Sie sind nicht allzu leicht aus der Fassung zu bringen, Miss Middleton.«

»Ich glaube nicht«, sagte ich, »und nennen Sie mich doch bitte March.«

»Also gut, March. Eingedenk Ihrer Stellung als mein Mündel halte ich es jedoch für unangebracht, wenn Sie mich mit meinem Taufnamen ansprechen.«

»Darauf käme ich nicht im Traum.« Ich goss uns zwei Tassen aus der Teekanne mit Weidenmuster ein.

»Halt«, rief mein Vormund aus, als ich den Milchkrug anhob.

»Was ist denn?«

»Ich trinke doch nicht das Euterexkret von Rindern«, sagte er. »Schon der Geruch ist abscheulich.«

»Sie lassen es ekelhaft klingen.«

»Es klingt genauso ekelhaft, wie es ist. Ausdrücklich sei daran erinnert, dass die Kuh nur deshalb Milch übrig hat, weil ihr das Kalb entrissen wurde, um ihm die Kehle durchzuschneiden. Wäre ich kein so ausgezeichneter Gastgeber, hätte ich gar keine Milch im Haus. Schon das Wort gerinnt mir auf der Zunge.«

Ich stellte den Krug wieder hin und fragte: »Was ist mit Jonathan Carvil passiert?«

»Auch er gab an, von einer sich schließenden Tür geweckt worden zu sein. Die Geschworenen glaubten ihm nicht.«

»Hatten Sie mit dem Fall zu tun?«

Mir fiel auf, dass es weder Bilder an der Wand gab noch Fotografien auf dem Schreibtisch.

»Carvil zog mich hinzu.« Er roch misstrauisch an seinem Tee. »Und ich riet ihm, außer Landes zu fliehen, doch er ignorierte meinen Rat und handelte sich dafür den Strick ein. Ich verliere nur ungern einen Klienten, aber dieser Fall lehrte mich etwas sehr Wichtiges – nämlich stets auf Vorauszahlung zu bestehen.« Er zog mit scharfem Ruck an der Klingelschnur. An ihrem Ende hing ein Totenkopf aus Elfenbein, der sich im Kreis drehte, als er losließ. »Der Tee ist kalt und hat zu lange gezogen.«

»Und Sie denken, der Fall Ashby wird ebenso ausgehen?«

»Mit großer Sicherheit.« Sidney Grice warf mir den Brief zu. »Schauen Sie sich das mal an.«

Auf dem Umschlag stand mit Bleistift in ungelenken Großbuchstaben geschrieben:

DEDEKTIV MRGRISE

Der Bogen war ähnlich beschriftet, die Zeilen fielen nach rechts hin ab:

LIEBER MRGRISE

BITTE HELFEN SIE MIR ICH BIN UNSCHULDICH

IHR EHRGEBENER

WILLIAM ASHBY

Molly kam herein. »Füll meine Flasche auf, Molly. Wenn es an der Tür läutet, kümmere ich mich selbst darum.«

»Jawohl, Sir.« Molly ging, und Sidney Grice fragte: »Was halten Sie also davon?«

»Die Hand ist ungeübt.«

»Offensichtlich. Aber warum wurden diese Zeilen geschrieben?«

»Um Sie um Hilfe zu bitten«, antwortete ich, und Sidney Grice schnaubte.

»Das glaube ich kaum. Weshalb dieses dürftige Geschreibsel durch eine so wortgewandte und attraktive Frau überbringen, um sein Anliegen zu vertreten?«

»Sie scheinen sich eine sehr gute Meinung von ihr gebildet zu haben«, sagte ich, und Sidney Grice zupfte an seinem Ohr.

»Eine der intelligentesten Frauen, denen ich je begegnet bin«, erwiderte er.

Ich leerte meine Tasse und fragte: »Aber welchen Grund könnte er sonst haben, das zu schreiben?«

Sidney Grice legte die rechte Hand an sein Auge.

»Darauf weiß ich noch keine Antwort.« Er schob das Auge zur Nase hin. »Ich werde jedoch das Gefühl nicht los, dass der Schlüssel zum Ganzen in diesem Brief liegen könnte.« Er stand auf. »Aber wir haben schon genug Zeit vertan. Ich muss die Flagge hissen.«

Wir traten in die Diele, wo sich ein kleines Messingrad an der Wand befand, das er nun in ein rundes halbes Dutzend Umdrehungen gegen den Uhrzeigersinn versetzte.

»So hisse ich draußen die grüne Flagge«, erläuterte er. »Die Kutscher im Umkreis halten Ausschau danach. Wissen sie doch, dass ich stets ein gutes Trinkgeld gebe.«

Molly eilte mit einer braunen Flasche herbei, die er in einen verschrammten Lederranzen schob, um dann einen Ulster von der Garderobe abzuhängen.

»Wohin gehen wir?«, fragte ich.

Sidney Grice hielt inne, einen Arm im Ärmel. »Wir?«

»Haben Sie meine Bedingung vergessen?«

»Ich vergesse nie etwas.« Er legte sich den Mantel um. »Und am wenigsten Bedingungen. Ich werde Sie zu allen Treffen mitnehmen, die während dieser Ermittlung anberaumt werden mögen. Jetzt aber fahre ich zur Leichenhalle. Schwerlich ein geeigneter Ort, um eine junge Dame zu unterhalten.«

»Ich habe nicht um Unterhaltung gebeten, und wenn Sie mich nicht mitnehmen, muss ich Ihnen sagen, dass damit unsere Vereinbarung erlischt.«

Er zog einen Elfenbeinstock mit Silberknauf aus einem alten Eichenständer. »Sie würden Mrs Dillinger so grausam im Stich lassen, weil Sie Ihren Willen nicht bekommen?« Er setzte sich einen breitkrempigen weichen Filzhut auf.

»Nicht ich breche unsere Vereinbarung.«

Die Türglocke schellte.

»Jetzt ist kein Platz für weibliche Empfindlichkeiten.«

Er drehte das Rad im Uhrzeigersinn und hängte sich den Ranzen über die Schulter.

»Ich mag ja weiblich sein«, sagte ich, »aber empfindlich hat mich noch niemand gescholten. Sie lassen mir keine andere Wahl. Ich ziehe mein Angebot zurück.«

Sidney Grice machte eine finstere Miene und öffnete die Tür, vor der ein Droschkenkutscher stand.

»Ich bin gleich draußen.« Er wandte sich mir wieder zu. »Ich lasse mir nichts vorschreiben, schon gar nicht von einem Mädchen.« Er griff sich ein Paar Lederhandschuhe. »Überdies ist es sehr kalt in der Leichenhalle. Sie werden Ihren Mantel brauchen.«

7Der Hansom

In der Droschke erklärte mir Sidney Grice einige Dinge.

»Beweismittel sind vergänglich«, sagte er, »doch sie verfallen mit durchaus unterschiedlicher Geschwindigkeit. Die ägyptischen Pyramiden, zum Beispiel, legen selbst nach einigen tausend Jahren noch Zeugnis über ihre menschlichen Erbauer ab; würde sich indes ein Schmetterling auf diesem Sims hier niederlassen, wäre jeglicher Beweis seiner Anwesenheit verschwunden, sobald ihn eine Brise forttrüge.«

»Außer, es gelänge, ihn zu fotografieren«, sagte ich. Mein Vormund blickte spöttisch.

Die Mietdroschke, ein Hansom, schlingerte um einen Holzstoß herum, und Sidney Grice sagte: »In diesem Fall teilt sich die Beweislage in drei Aspekte. Der erste ist das Opfer, besser gesagt dessen Leiche, und um sie müssen wir uns als Erstes kümmern, denn menschliche Körper und die Hinweise, die sie uns geben können, zerfallen äußerst schnell. Der zweite ist der Tatort. Je länger man Beweismaterial liegen lässt, desto wahrscheinlicher ist es, dass es