Beutegier - Jack Ketchum - E-Book

Beutegier E-Book

Jack Ketchum

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Beschreibung

Die Rückkehr der Kannibalen

Vor elf Jahren wurde Sheriff George Peters Zeuge, wie eine Gruppe verwilderter Kannibalen über Touristen herfiel. Inzwischen ist Peters im Ruhestand, doch als an der Küste von Maine erneut Leichen von Urlaubern entdeckt werden, wird er zu den Ermittlungen hinzugezogen. Die Wilden sind zurück – die Jagd beginnt von Neuem.

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Inhaltsverzeichnis
 
DAS BUCH
ZUM AUTOR
LIEFERBARE TITEL
 
TEIL EINS
0.25 Uhr
1.46 Uhr
3.36 Uhr
4.47 Uhr
 
Copyright
HEYNE HARD CORE
DAS BUCH
Maine an der Ostküste der USA, 1992. Vor elf Jahren war Sheriff George Peters Zeuge, wie eine Gruppe verwilderter Kannibalen über Touristen herfiel. Sie wurden getötet, das Grauen fand ein Ende. Inzwischen ist Peters im Ruhestand, aber er wird hinzugezogen, als wiederum Leichen von Urlaubern gefunden werden. Die Wilden sind zurück, und Peters vermutet, dass sie in derselben Höhle wie damals Zuflucht gefunden haben. Derweil ziehen Amy und Dave Halbard, erfolgreiche Videospieldesigner, mit ihrer neugeborenen Tochter Melissa in ein Haus in der Nähe. Sie erwarten Besuch: Amys Freundin Claire Carey und ihr achtjähriger Sohn Luke wollen vorbeikommen und gleichzeitig vor Claires Mann Steven fliehen, der ein übler Schläger und Betrüger ist. Doch Steven folgt ihnen. Die wilde Horde besteht aus einer Frau, die das damalige Massaker überlebte, und ihren Nachkommen. Durch Inzest ist die Familie wieder angewachsen - die Jagd beginnt von Neuem.
ZUM AUTOR
Jack Ketchum ist das Pseudonym des ehemaligen Schauspielers, Lehrers, Literaturagenten und Holzverkäufers Dallas Mayr. Seine Horrorromane zählen in den USA unter Kennern neben den Werken von Stephen King oder Clive Barker zu den absoluten Meisterwerken des Genres, wofür Jack Ketchum mehrere namhafte Auszeichnungen verliehen wurden. Besuchen Sie Jack Ketchum im Internet unter www.jackketchum.net
LIEFERBARE TITEL
 
Evil - Beutezeit - Amokjagd - Blutrot
When I awoke the dire wolf six hundred pounds of sin was grinning at my window all I said was come on in.
- THE GRATEFUL DEAD
TEIL EINS
12. Mai 1992
0.25 Uhr
Verdreckt und mit Mondschein besprenkelt, stand sie unter den wippenden Ästen des Baumes neben dem Haus und starrte durch das offene Fenster. Hinter ihr drängelten die anderen.
Sie berührte das Fliegengitter. Es war locker. Alt. Sie rieb Daumen und Zeigefinger aneinander und spürte den feinen Rostgrind.
Sie konzentrierte sich auf das Mädchen drinnen. Sein süßlicher Blumenduft überlagerte den Geruch der muffigen Couch, auf der es lag, und sogar das Aroma der fettgetränkten weißen Körner in der Schüssel neben ihm. Das Mädchen roch nach Moschus. Nach Urin und nach Wildblumen.
Das Mädchen hatte Brüste und langes dunkles Haar.
Es war älter als sie.
Und trug enge Sachen.
Die werden hinderlich sein.
Die Jungen drängelten stärker, wollten auch etwas sehen. Sie ließ es geschehen.
Sie sollten wissen, was dort drinnen lag. Aber wenn es losging, würde sie die Führung übernehmen. Die Jungen waren unerfahren und brauchten Anleitung.
Was sie hier taten, war neu für sie. So wie die Hiebe mit der Birkenrute. Dafür würden sie jetzt umso genauer hinschauen.
Sie spürte, wie der Diamant ihr über die Brust strich, die kühle Goldfassung, die an der knotigen Schnur baumelte.
Die Nacht war still. Zikaden zirpten in der Senke.
Sie beobachteten das Mädchen, das nichtsahnend dem Geplapper lauschte, das aus dem flackernden Licht kam. Und plötzlich, als hätte sie ein kollektiver Geistesblitz getroffen, spürten sie einen Moment lang die Gegenwart des Babys, das dort oben ganz allein in der Dunkelheit schlief - in ihrer Dunkelheit, der Dunkelheit der Anführerin.
Sie stellten sich vor, wie das Baby aussah, wie es roch.
Sie brauchten nur abzuwarten.
Eine einzige Wolke musste sich vor den Mond schieben.
1.46 Uhr
Verdammt noch mal, Nancy!
Im Haus brannten wieder alle Lichter. Unten jedenfalls.
Sie fuhr den Buick-Kombi rückwärts in die Einfahrt.
Das Mädchen muss glauben, ich sei ein Goldesel. Bestimmt laufen auch die Anlage und der Fernseher und die Cola ist auch leer.
Sie war nur ein kleines bisschen betrunken.
Der rechte Hinterreifen rutschte vom Kiesbett und walzte drei der letzten Tulpen nieder, die am Rasenrand zu überleben versuchten. Zum Teufel damit, dachte sie.
Sie war auch schon nüchtern in die Blumen gefahren, mehr als einmal.
Sie stellte den Motor ab. Schaltete die Scheinwerfer aus.
Sie blieb einen Moment sitzen und dachte an Dean, wie er am Tresen gehockt und sie ignoriert hatte. Wie ihr gottverdammter Scheißkerl von einem Ehemann seinen Whiskey gesoffen und durch sie hindurchgestarrt hatte, als wäre sie ein Geist.
Aber so war Dean eben. Entweder bekam man gar nichts von ihm oder mehr, als man jemals gewollt hatte. Nichts zu bekommen, war die bessere Variante.
Aber es war demütigend. Und typisch war es auch. Denn ob man mit ihm zusammenlebte oder nicht, er demütigte einen immer. Er machte sich einen Spaß daraus.
Sie atmete tief durch, um die Wut verrauchen zu lassen, öffnete die Tür und griff nach der Handtasche, in deren Seitenfach der 32er-Revolver lag. Den hatte sie neuerdings immer dabei. Für den Fall, dass Dean noch einmal versuchen sollte, sie zu verprügeln. So wie letzten Freitag im Caribou. Sie stieß sich vom Lenkrad ab und stieg aus. Es war mühsamer, als es hätte sein sollen. Nach der Geburt des Babys hatte sie nicht mehr ihr früheres Gewicht zurückerlangt. Das Bier tat sein Übriges. Die Handtasche hing ihr schwer am Arm.
Dean, dieser Dreckskerl.
Sie schlug die Wagentür zu. Das Ding schloss nicht mehr richtig. Muss ich reparieren lassen, dachte sie.
Und wovon, bitte schön?
Seit Dean sie sitzen gelassen hatte, war kaum genug Geld da, um sie und das Baby zu ernähren - und sich außerdem einmal in der Woche einen Babysitter zu leisten. Aber mit der Hausarbeit und dem Job am Hals hatte sie sich diesen einen Abend pro Woche - Kino und danach einige Drinks im Caribou - einfach verdient. Das Baby war endlich alt genug, um ein paar Stunden ohne sie überstehen zu können. Aber als Bedienung verdiente man nichts in Dead River und das Trinkgeld konnte man auch vergessen. Es gab sicherlich einiges über Touristen zu meckern, aber sie waren jedenfalls nicht so knauserig wie die Einheimischen.
Noch ein Monat bis Saisonbeginn, dachte sie. Irgendwie musst du da durch.
Sie ging über den rissigen Asphalt zur Seitentür und suchte am Schlüsselbund den Hausschlüssel heraus.
Durchs offene Küchenfenster hörte sie einen dumpfen Aufschlag. Wahrscheinlich eine Colaflasche, die auf dem viel zu teuren Beistelltisch umgekippt war. Nancy, die sich wieder bei ihr durchfutterte und alles wegtrank.
Ich könnte mich ja mit dem Bier einschränken, überlegte sie. Ja, das könnte ich tun. Ein bisschen Kohle sparen. Ich meine, was ist denn wichtig im Leben?
Ich und das Baby, stimmt’s?
Sie verspürte einen Schwall Gewissensbisse.
Warum nannte sie die Kleine immer nur das Baby?
Ihr Name war Suzannah. Sie war nicht immer das Baby gewesen. Sie erinnerte sich noch an die Zeit, als sie den Namen schmachtend vor sich hin gesungen hatte. Jetzt benutzte sie ihn kaum noch. Es war, als wäre das Baby nur noch irgendeine Sache, eine weitere Belastung in ihrem Leben, so wie die Hypothek, die Dachreparatur und der tropfende Wasserhahn im Keller.
Wie es schien, hatte Dean ihr auch das versaut. So wie alles andere auch.
Einen Moment lang hätte sie heulen können.
Sie stieg die Stufen hinauf und führte den Schlüssel zum Schloss.
Gottverdammt, Nancy!
Sie brauchte keinen Schlüssel. Die Tür war offen.
Sie hatte es dem Mädchen immer wieder gesagt - schließ ab!
Okay - heute Nacht war Dean im Caribou. Aber das war er nicht immer. Eines Nachts würde er vorbeikommen, wenn sie nicht zu Hause war und der Wagen nicht in der Einfahrt stand. Er hatte ihr schon mehrfach gedroht, das Haus auszuräumen. Mit Walchinskis Truck vorfahren und alles, außer der Schmutzwäsche, mitnehmen.
Zuzutrauen war es ihm.
Ich muss mit dem Mädchen reden.
Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer, wo tonlos der Fernseher lief - wozu das auch immer gut sein sollte -, zog die Tür hinter sich zu und schloss ab. Sie ging zur Küche weiter. Und das Erste, was sie dort sah, war die Lache auf dem Linoleumboden, die auf die guten Holzdielen im Wohnzimmer hinaussickerte. Cola, nahm sie an, oder Kaffee, irgendetwas Dunkles, Fließendes. Gott!, sie würde dieses Mädchen umbringen. Als sie vorsichtig über die Lache hinwegtrat, bemerkte sie den Gestank und schaute auf. Und plötzlich blieben ihr die Worte, die sie hatte ausrufen wollen, im Hals stecken und der Schrei ebenso. Sie konnte nur wie gelähmt dastehen und fassungslos starren.
Zwei von ihnen saßen auf dem Küchentresen neben der Spüle. Sie hockten da und schauten sie aus unnatürlich hellen Augen an. Ihre Arme waren blutverschmiert.
Kinder.
Nancy lag nackt über dem Beistelltisch.
Reglos. Kalkweiß.
Die Arme fehlten ihr schon.
Ihre Kleidung war in der Küche verstreut. Die Jeans, ein feucht glänzendes braunes Bündel, lag gleich neben dem Tisch.
Die Küchenschränke standen offen, alles war herausgerissen. Mehl, Brot, Cracker, Zucker, Marmelade, alles hatte sich auf dem Tresen und dem Boden verteilt.
Nancys Arme standen zum Ausbluten in der Spüle. Neben dem Geschirr.
Sie sah das alles mit einem einzigen Blick. Während sich ihr der Magen umdrehte, wurde ihr klar, dass die Kinder noch am Werk waren. Die beiden schmuddeligen, identisch aussehenden Jungen, die Nancys Beine gespreizt hielten, drehten sich seelenruhig zu ihr um und sahen sie geschäftsmäßig an. Ganz anders als die grinsenden Kinder auf dem Tresen.
Sie schaute das Mädchen an, das den Blick aus leeren Augen erwiderte. Irgendwie schienen sie sich zu erkennen und zu begreifen, was diese Begegnung für sie beide bedeutete. Und einen Moment lang war der Gegenstand ihrer Gedanken derselbe, obwohl die Gedanken selbst so verschieden waren wie Feuer und Eis. Die des Mädchens waren kalt, formal, beinahe ritualistisch, ein Abwägen der Kräfte, besorgt, dass diese Frau wissen konnte, was hier geschehen war. Ihre eigenen Gedanken brachen hingegen so ungestüm aus ihr heraus, dass ihr, als sie den Namen ihrer Tochter (»Suzannah!«) herausschrie, schlagartig klar wurde, dass Dean keine Schuld traf an der Entfremdung zwischen ihr und ihrem Baby. Es war ein situatives Versiegen ihrer Hoffnungen, etwas Vorübergehendes, das sich mit der Zeit wieder gelegt hätte. Und aus dem Wissen heraus, dass ihr diese Zeit nicht mehr gegeben war, spürte sie, wie ihr hier und jetzt das Herz brach. Als der kleinste Junge, der, den sie bisher nicht bemerkt hatte, hinterm Tisch hervortrat und ihr die weiße Mülltüte hinhielt, die sich straff um eine kleine, reglose, ihr nur allzu vertraute Gestalt spannte, riss sie bereits den Revolver aus der Handtasche, um diese Kinder in die Hölle zurückzubefördern, der sie zweifellos entstiegen waren. Es wäre ihr auch gelungen, wenn das heransausende Beil sie nicht mitten in die Stirn getroffen hätte. So aber sank sie bebend auf die Knie.
Und all ihr Kummer war für immer erloschen.
3.36 Uhr
George Peters träumte, dass Mary, seine vor drei Jahren verstorbene Frau, einen Jungen zur Welt gebracht hatte.
Der Kleine war zwei Jahre alt und spielte auf dem Fußboden.
Um ihn herum lagen Holzklötze und eine Spielzeugeisenbahn fuhr auf Gleisen, die unterm Weihnachtsbaum herauskamen, durch den Flur und durchs eheliche Schlafzimmer führten und dann auf wundersame Weise durch das Wohnzimmerfenster wieder ins Haus zurückkehrten.
Peters saß im Sessel und las Zeitung. Es war ein heller sonniger Tag im Mai oder Juni, aber der Weihnachtsbaum stand noch und die Eisenbahn fuhr und fuhr und fuhr.
Mary besuchte jemanden. Peters hütete den Jungen.
Dann klopfte es lautstark an der Haustür und jemand rief seinen Namen.
Er stand auf. Es war Sam Shearing. Der war seit elf Jahren tot und erzählte ihm, er - George - müsse auf der Stelle das Haus verlassen. Er solle seinen Sohn nehmen und wegrennen, weil der Zug auf sie zugerast käme.
Peters erwiderte, er wisse von dem Zug. Der führe nämlich immer im Kreis durchs Haus.
Du begreifst nicht!, sagte Shearing. Du verstehst nicht, was ich meine! Dann wandte er sich um und rannte davon. Was eigentlich gar nicht seine Art war.
Peters blinzelte. Sam war verschwunden. Er schloss die Haustür und ging ins Wohnzimmer zurück, wo der Junge seine Bauklötze aneinanderschlug.
Dann hörte Peters den Zug.
Dröhnend kam das Ungetüm aufs Haus zugerast.
Er griff seinen Sohn und stürmte am Weihnachtsbaum vorbei in die Küche - ein jüngerer, schnellerer Peters -, während die Lokomotive durch das Wohnzimmerfenster krachte und in den Raum hineinraste, schneller, als ein Mensch rennen kann. Der Junge auf seinem Arm schrie und das riesige schwarze Eisenmonster pflügte am Kühlschrank und der Spüle vorbei … kam ihnen näher und näher …
 
Er erwachte. Es schien, als wäre er wirklich gerannt, so schnell schlug sein Herz. Er war schweißgebadet. Das Laken war feucht und roch nach schalem Scotch.
Wenigstens hatte er keine Kopfschmerzen. Er hatte zur Abwechslung einmal an das Aspirin gedacht. Als er sich aufsetzte, fühlte er sich schummrig. Der Alkohol wirkte offenbar noch.
Er blickte zur Uhr. Es war nicht einmal vier. Jetzt konnte er bestimmt nicht mehr einschlafen.
Genau darum ging es aber, wenn man sich mit Scotch betrank.
Mary hätte es nicht gebilligt, aber sie hätte ihn verstanden. Ein Mann konnte eben nur ein gewisses Maß an Grübelei und Einsamkeit ertragen, ohne zur Flasche zu greifen. Seit ihrem Tod machten ihm nicht nur die Albträume zu schaffen und verleiteten ihn, schon nachmittags zu trinken, sondern es war vor allem die simple Tatsache, dass er in dem Haus lebte, ohne seine Frau um sich zu wissen.
In Pension zu gehen und Mary an seiner Seite zu haben, war eine Sache. Ganz allein zu sein, war eine andere Geschichte.
Wieder hörte er es klopfen. Diesmal aber träumte er es nicht. Es klopfte wirklich jemand an die Tür, genauso laut wie im Traum.
»Ich komm’ ja schon! Immer mit der Ruhe!«
Er stieg aus dem Bett. Ein nackter alter Mann mit einer Wampe.
Er zog eine Unterhose aus der Kommode und nahm eine Jeans aus dem Kleiderschrank. Wer immer an der Tür stand, hatte ihn gehört, denn das Klopfen hörte auf.
Aber wer in aller Welt wollte um diese Zeit etwas von ihm? Seine Freunde und Trinkbekanntschaften waren rar gesät - die Hälfte war tot, die andere war weggezogen.
Dead River war für ihn ein Ort voller Fremder.
Da war es wieder, sein Selbstmitleid.
Jammerlappen, dachte er.
Er hatte einen Bruder in Sarasota, der ihm immer erzählte, wie angenehm das Leben dort unten sei. Er und seine Frau wohnten etwa eine Meile vor Siesta Key in einem schicken Wohnmobilpark mit einer Windmühle an der Einfahrt. Er hatte die beiden einmal besucht. Eines stand fest: Einsam waren sie nicht. Ständig schauten Leute vorbei. Man ging dort viel spazieren und fuhr Fahrrad. Menschen, die sich wegen ihrer Herz- oder Kreislauf-Erkrankungen Bewegung verschafften. Wenn die Leute seinen Bruder und seine Schwägerin auf dem überdachten Sonnendeck sitzen sahen, kamen sie auf ein Bier und einen Plausch vorbei.
Die beiden gingen tanzen, spielten Golf, besuchten Restaurants und das Klubhaus, veranstalteten Grillabende und so weiter und so fort.
Für ihn war das nichts.
Zunächst einmal war es ihm dort unten viel zu heiß.
Er war jemand, der die verschiedenen Jahreszeiten mochte. Die kahlen Bäume im Januar und die grünen im Mai. Im Winter die weißen Atemwolken und das Schneeschippen am frühen Morgen, das einen innerlich erwärmte, und abends das knisternde Kaminfeuer.
In Florida gab es nur die Hitze, die ein Drittel der Zeit ganz nett und gut auszuhalten war. Dann wurde sie unangenehm und schließlich hatte man ein halbes Jahr lang das Gefühl, man würde in seiner eigenen Schweißwolke durch ein Dampfbad waten.
Darüber hinaus war er kein kontaktfreudiger Mensch.
Eine Zeit lang hatte er überlegt, ob er sich nicht eine neue Frau suchen sollte. Dort unten konnte man das tun. Im Wohnmobilpark seines Bruders schien niemand lange allein zu bleiben. Dafür musste man aber zu den Gemeinschaftsabenden und Tanzveranstaltungen gehen und die nötige gute Laune mitbringen.
Und er hatte nicht einmal Lust dazu, zur Tür zu gehen.
Er zog einen Morgenrock und Pantoffeln an und schlurfte durch den Flur. Er hatte wieder einmal vergessen, das Verandalicht einzuschalten, deshalb knipste er es jetzt an und öffnete die Tür.
»Vic.«
Vic Manetti stand im gelben Lichtschein. Hinter ihm lehnte ein weiterer Polizist am Streifenwagen, aber auf die Entfernung konnte Peters nicht erkennen, wer es war.
Für die meisten Leute war Manetti, der aus New York City stammte, immer noch »der Neue«, obwohl er seit über zwei Jahren der Sheriff von Dead River war.
»Tut mir leid, dich aufzuwecken, George.«
»Schon gut.«
Peters respektierte ihn. Er nahm mit Manetti hin und wieder einen Drink im Caribou und unterhielt sich mit ihm, um auf dem Laufenden zu bleiben. Dabei hatte er den Eindruck gewonnen, dass der Mann ein guter Polizist war. Er war ruhig, hatte Grips und arbeitete gründlich. Viel mehr konnte man sich für ein Kaff wie Dead River nicht wünschen.
Aber als er nun vor ihm stand, schien der Mann sich ganz offensichtlich unbehaglich zu fühlen. So hatte Peters ihn noch nie erlebt.
»Ich muss mit dir reden, George«, sagte Manetti.
»Das kommt mir auch so vor. Möchtest du reinkommen?«
»Eigentlich hatte ich gehofft, dass du uns begleiten würdest.«
Peters beobachtete, wie sein Gegenüber sich innerlich wand und nach den richtigen Worten suchte. Dann schien er sie gefunden zu haben.
»Ich möchte, dass du dir etwas anschaust. Ich brauche deine Expertise.«
»Meine Expertise?« Er musste lächeln. Diesen Ausdruck hörte man nicht oft in Dead River.
»Ich muss dich warnen. Es ist unschön.«
Peters bekam ein komisches Gefühl - vielleicht ließ das Wort »Expertise« es plötzlich bei ihm klingeln -, jedenfalls ging in seinem Kopf eine Art Licht an, das ihm verriet, wovon Manetti sprach.
Er konnte nur hoffen, dass er sich täuschte.
»Warte kurz.«
Er ging wieder ins Haus, zog den Morgenrock und die Pantoffeln aus, fand in der Kommode ein akkurat zusammengelegtes Hemd - Mary hätte trotz seiner Trinkerei gewollt, dass er Ordnung hielt - und am Bett seine Stra ßenschuhe. Er ging in die Küche, nahm eine Packung Orangensaft aus dem Kühlschrank und nahm ein paar Schlucke. Im Bad spritzte er sich Wasser ins Gesicht und putzte sich die Zähne. Dem Gesicht, das ihm im Spiegel entgegenblickte, sah man seine sechsundsechzig Jahre mehr als deutlich an.
Er ging wieder ins Schlafzimmer und nahm seine Brieftasche von der Kommode. Auf dem Foto, das danebenstand, lächelte Mary ihn an. Eine alternde, aber immer noch hübsche Frau. Lange bevor der Krebs gekommen war.
Aus reiner Gewohnheit und abgelenkt von der Fotografie zog er die oberste Schublade auf. Er hatte die.38er und das Halfter schon halb in der Hand, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er den Revolver nicht mehr brauchte.
Dafür waren jetzt jüngere Leute zuständig.
Vic wartete im Streifenwagen auf ihn. Der andere Polizist - der, den er vorher nicht erkannt hatte - war Miles Harrison. Er kannte ihn, seit Miles ein kleiner Junge war. Einige Jahre lang war er ihr Zeitungsbote gewesen. Aus irgendeinem Grund war es dem Burschen nie gelungen, die Zeitung bis auf die Veranda zu werfen. Dafür hatten sie ihn jeden Winter verflucht.
Er begrüßte ihn und fragte nach Miles’ Eltern. Denen ging es gut, danke. Er nahm auf dem Rücksitz Platz und sie fuhren los. Dann starrte er durch die mit Maschendraht verstärkte Trennscheibe auf die beiden Hinterköpfe.
Komisch, dass ein alter Ex-Sheriff im Fond eines Streifenwagens saß und sich herumkutschieren ließ, dachte Peters.
Eine halbe Stunde später kam ihm der Scotch den Rachen hoch. Er musste bewusst atmen, um das Gebräu wieder hinunterzuwürgen.
Die Küche war ein gottverdammtes Schlachthaus.
Er erblickte die Überreste der Frau und der Babysitterin und wusste sofort, womit er es hier zu tun hatte. Genau genommen hatte er es schon gewusst, als er drau ßen die Urinflecken auf den Stufen gesehen hatte … dort hatte jemand sein Revier markiert.
Und Manetti hatte es wohl auch gewusst.
»Jetzt verstehst du, warum ich dich hierhaben wollte«, sagte der Mann.
Peters nickte.
»Die Mutter der Babysitterin hat uns hergeschickt. Das Mädchen hieß Nancy Ann David und wurde letzten März sechzehn. Die Mutter meinte, es sei langsam spät geworden, deshalb hatte sie hier angerufen, aber niemand habe abgehoben. Sie hat es noch ein paar Mal versucht, ehe sie anfing, sich Sorgen zu machen. Anschließend hat sie uns verständigt.«
»Und die Frau?«
Er blickte auf die Leiche am Fußboden. Wie das Mädchen auf dem Beistelltisch war auch die Frau nackt und hatte keine Arme und Beine mehr. Im Brustkorb klaffte ein riesiges, rücksichtslos aufgerissenes Loch. An der Stelle, wo das Herz hätte sein sollen, war nur noch gähnende Leere. Der Schädel war gespalten, die Hirnmasse fehlte. Die Eingeweide lagen über den Linoleumboden verstreut.
»Sie hieß Loreen Ellen Kaltsas. Sechsunddreißig Jahre alt. Getrennt lebend. Der Name des Ehemanns lautet Dean Allan Kaltsas. Wir haben ihn verhaftet und ich habe ihn verhört. Die beiden hatten offenbar nichts mehr füreinander übrig. Und er gibt zu, sie geschlagen zu haben. Aber ich glaube nicht, dass er mit der Sache zu tun hat. Er scheint ziemlich besorgt zu sein wegen des Babys.«
»Wie alt ist die Kleine?«
»Achtzehn Monate. Nirgendwo eine Spur von ihr. Kein Blut an der Krippe, keins im Zimmer. Nichts.«
Über die Blut- und Urinlachen hinweg trat Peters an den Tisch, auf dem das Mädchen lag. Max Joseph, der Gerichtsmediziner, hatte sich schon an die Arbeit gemacht.
»George.«
»Hallo, Max.«
»Was hältst du davon? Sieht so aus, als wär’s wieder so weit, was?«
»Großer Gott, ich hoffe nicht, Max.«
Er zwang sich, die Leiche zu betrachten. Auch bei ihr war die linke Brusthälfte ausgeweidet.
»Der Grund, warum ich glaube, dass es wieder losgeht, ist der Zustand der Leichen. Alle fleischigen Körperteile fehlen, wenn du verstehst, worauf ich hinauswill. Erinnerst du dich?«
Peters antwortete nicht.
»Todesursache?«
»Verdammt, George, die haben ihr das Herz rausgerissen.«
Peters schaute auf die offenen blauen Augen herab. Nancy Ann David war ein niedliches Mädchen gewesen. Keine Schönheit, aber niedlich. Er wettete, dass es da draußen zahlreiche Highschool-Verehrer gab. Freunde, die sie vermissen würden.
»Und bei der Frau?«
»Schlag auf den Schädel. Vermutlich mit einer Axt oder einem Beil. Sie war sofort tot.«
Peters verließ die Küche. Manetti wartete im Aufenthaltsraum. Gemeinsam gingen sie nach draußen. Er brauchte frische Luft.
Vic bot ihm eine Zigarette an. Er nahm sie und ließ sich Feuer geben. Der Himmel wurde heller und verströmte nun das rötliche Glühen des frühen Morgens. Man hörte, wie die Vögel allmählich die Zikaden ablösten.
»Was denkst du?«, fragte Manetti.
Peters verstand, was der New Yorker meinte. Du bist der einzige Verbliebene, der damals dabei war. Der einzige, der es genau wissen kann.
Alle anderen waren entweder in jener Nacht gestorben oder sie waren fortgezogen, um nicht jedes Mal, wenn sie einen Waldspaziergang machten oder zum Strand hinabgingen, an die damaligen Ereignisse erinnert zu werden.
Er hätte das Gleiche tun sollen.
Aber Mary war aus Dead River gewesen, sie war hier geboren worden und hatte nicht fortziehen wollen.
Trotzdem, die Albträume hätten Grund genug sein müssen, die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Weggehen. Von hier verschwinden. Die Albträume und alles andere, das ihm praktisch jeden Tag ungebeten im Kopf herumgeisterte, ehe er sich den zweiten oder dritten Scotch genehmigte. Meistens war es der Anblick des Jungen, der splitternackt auf ihn zutorkelte. Er rief ihm zu, stehen zu bleiben, aber der Junge tat es nicht und dann brüllten gleichzeitig die Gewehre auf und …
Und nun war Mary tot. Er hatte keine Familie.
Die Stadt war ihm fremd geworden.
Er hätte fortgehen sollen.
Scheiß auf die Hitze in Sarasota. Es gibt doch Klimaanlagen, oder?
»Meinst du, es könnte ein Nachahmungstäter sein?« Manetti versuchte, seine Stimme hoffnungsvoll klingen zu lassen.
Peters sah ihn an. Manetti sah müde aus, sein schmaler, hagerer Körper begann, sich langsam aber sicher zu einem großen Fragezeichen zu krümmen. Der Mann war auch nicht mehr der Jüngste.
»Nach elf Jahren, Vic? Ein Nachahmungstäter? Nach so langer Zeit?«
Peters schnippte die Zigarette auf den Boden. Der Gestank der blutüberströmten Körper hing ihm immer noch in der Nase. Die Zigarette kam nicht dagegen an.
Und gegen den restlichen Gestank auch nicht.
Gegen den, an den er sich erinnerte wie an eine nicht verheilte Stichwunde - eine Stichwunde, die wahrscheinlich nie verheilen würde.
Die blutüberströmte Frau sprang von den Klippen, schlitzte Daniels mit ihrem Messer von Ohr zu Ohr die Kehle auf …
»Ich denke, wir, ähm …«, setzte er an.
Er trat den Zigarettenstummel aus und blickte über die inzwischen sichtbaren grauen Hügel, über die es durch den Wald zu den Klippen und zum Meer hinabging. Es war nicht weit bis dort unten.
Er lauschte den Vögeln. Einem guten sauberen Morgenklang, so verlässlich und wahrhaftig wie das Tageslicht. Das Vogelgezwitscher beruhigte ihn.
»Ich denke, wir haben wohl beim letzten Mal nicht alle erledigt. Und ich denke, die waren eine Weile woanders.«
4.47 Uhr
Als David Halbard von seinem Mac aufschaute, brach schon der Morgen an. Das reicht, dachte er, obwohl er keinerlei Erschöpfung verspürte.
Er stieß sich im ledernen Drehsessel vom Schreibtisch ab, fischte die Disketten aus den Laufwerken und sortierte sie ein.
Die Nacht war schnell und erfolgreich herumgegangen. Seit seiner Zeit auf dem College machte er es immer so - die Nächte durcharbeiten -, wenn das Projekt ihn wirklich fesselte.
Das College lag dreizehn Jahre hinter ihm. Sein schütter gewordenes Haar war Beleg dafür. Aber die Energie hatte er nicht verloren. Solange genügend Kaffee da war, lief sein Motor wie geschmiert.
David Halbard war ein zufriedener Mensch. So wie jetzt, als er den Bodensatz der fünften Tasse schlürfte.
Es überraschte ihn immer ein wenig, wenn er dieses Glücksgefühl bemerkte. Schließlich war sein erstes Jahr nach der Pennsylvania University und dem Brooklyn Polytechnic eine einzige Katastrophe gewesen. Das Informatikstudium hatte ihn auf komplexe Entwicklungsarbeit vorbereitet, aber der Job bei Comcorp hatte sich als sterbenslangweilig entpuppt, so wenig sexy war er gewesen. Anderthalb Jahre hatte er durchgehalten, dann hatte er ihn hingeworfen und seinem Glück vertraut.
Der Job bei IBM war besser - ein neuer Großrechner für die US-Küstenwache. Er und seine beiden Kollegen hatten überwiegend allein gearbeitet und eine tolle Zeit gehabt. Aber auf halber Strecke hatte die Küstenwache das Projekt eingestellt. Es sei zu komplex, hieß es.
Es war nicht zu komplex gewesen, soweit es ihn und seine Kollegen betraf. Die Küstenwache besaß einfach keine Fantasie, das war alles.
In den nächsten drei Jahren hatte er zwei weitere Megaprojekte durchgezogen und 1986 hatte er die Nase voll. Totaler Burn-out, komplette Desillusionierung. Hätte er in diesem Tempo weitergemacht, hätte er eines Tages irgendwo Transformatoren oder etwas ähnlich Langweiliges zusammengeschraubt, hätte den ganzen Tag herumgelötet und sich dafür gehasst und Amy gehasst, weil sie seine Launen ertrug.
Da waren sie schon verheiratet, er und seine ehemalige Assistentin, die ebenfalls von ihrem Job angeödet war. Sie war der einzige Lichtblick in seinem verfahrenen, disharmonischen Dasein gewesen. Sie beschlossen umzusatteln, an einen schönen Ort zu ziehen und sich dort ein neues Leben aufzubauen. Sie hatten ein paar Ersparnisse. Und wenn es sein musste, würden sie eben Fernseher und Radios reparieren.
Sie waren jung und schlau und überhaupt.
Einen neuen Wohnort zu finden, war einfach. Amy stammte aus Portland und betrachtete Maine immer noch als ihre Heimat. Und David, der aus Brooklyn kam, fand Maines Küste schön.
Das tat er noch immer.
Er schaltete den Mac aus, erhob sich aus dem Stuhl und ging zu den gläsernen Schiebetüren, die auf die Terrasse führten. Er schob eine davon auf, um die frische Morgenluft hereinzulassen.
Eine Windböe kräuselte das hohe Gras und die Goldruten hinter der Eichengruppe, aber es würde ein milder Tag werden.
Zwischen den Ästen flatterten kleine Vögel und versammelten sich auf den Bäumen, um ihr Morgenlied zu trällern.
Noch eine Tasse, dachte er, auf der Terrasse.
Er ging durchs Arbeitszimmer in die Küche und schenkte sich einen Kaffee ein.
Eigentlich war es gar nicht das Koffein, was ihn wach hielt. Es war die Arbeit.
So sollte es auch sein.
Er nahm den Becher mit nach draußen und setzte sich auf einen der grünen Holzstühle am verwitterten Geländer. Über ihm wippten zwei dicke Äste im Wind. Der Dickere der beiden hing quer über der Terrasse und stieß beinahe ins Schlafzimmerfenster.
Dahinter lag Amy und schlief.
Den muss ich demnächst mal kürzen, dachte er.
Eigentlich wollte er ja nicht an den Bäumen herumschnippeln. Insgesamt waren es zehn Stück, zehn unregelmäßig angeordnete, hohe, altehrwürdige dunkle Eichen, die ihren Lebensraum zu verdienen schienen.
Dass Bäume im Norden so hoch wurden, war ungewöhnlich. Normalerweise blieben sie niedrig und duckten sich vor dem eisigen Wind, der im Winter vom Meer heranfegte.
Er wackelte mit den Zehen und nippte am Kaffee.
Er war barfuß. Die Sonne wärmte bereits die Terrasse.
Titel der Originalausgabe OFFSPRING erschienen bei Overlook Connection Press, Georgia, USA
 
 
 
 
Vollständige deutsche Erstausgabe 06/2009
Copyright © 1989, 2006 by Dallas Mayr
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Redaktion: Tim Jürgens Umschlagillustration und Umschlaggestaltung: © Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, München - Zürich
 
eISBN : 978-3-641-03280-7
 
www.heyne-hardcore.de
 
Leseprobe
 

www.randomhouse.de