SCAR - Jack Ketchum - E-Book

SCAR E-Book

Jack Ketchum

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Beschreibung

Mit elf Jahren ist Delia Cross bereits ein gefeierter Fernsehstar – aber nicht glücklich. Ihre Mutter ist von krankhaftem Ehrgeiz getrieben. Ihr Vater dem Alkohol verfallen. Ihr Bruder von Eifersucht zerfressen. Einzig der Familienhund Caity hält immer treu zu ihr. Dann droht ein tragischer Unfall, Delias Karriere für immer zunichtezumachen. Doch sogar ihre Narben werden gegen ihren Willen vermarktet. Bis sie beginnt, sich zu wehren …

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Das Buch

Mit elf Jahren ist Delia Cross bereits ein gefeierter Fernsehstar – aber nicht glücklich. Ihre Mutter ist von krankhaftem Ehrgeiz getrieben. Ihr Vater dem Alkohol verfallen. Ihr Bruder von Eifersucht zerfressen. Einzig der Familienhund Caity hält immer treu zu ihr. Dann droht ein tragischer Unfall, Delias Karriere für immer zunichtezumachen. Doch sogar ihre Narben werden gegen ihren Willen vermarktet. Bis sie beginnt, sich zu wehren …

Die Autoren

Jack Ketchum ist das Pseudonym des ehemaligen Schauspielers, Lehrers, Literaturagenten und Holzverkäufers Dallas Mayr. Er gilt heute als einer der absoluten Meister des Horror-Genres. 2011 wurde er zum Grand Master der World Horror Convention ernannt. Er erhielt fünfmal den Bram Stoker Award sowie 2015 den Lifetime Achievement Award der Horror Writers Association.

www.jackketchum.net | heyne-hardcore.de/ketchum

JACK KETCHUM

LUCKY MCKEE

Aus dem Amerikanischenvon Kristof Kurz

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe

THE SECRET LIFE OF SOULS

erschien 2016 bei Pegasus Books.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige deutsche Erstausgabe 04/2017

Copyright © 2016 by Dallas Mayr und Lucky McKee

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Marcus Jensen

Umschlaggestaltung: yellowfarm gmbh, S. Freischem,

unter Verwendung eines Motivs von © Arcangel / Margie Hurwich

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-19649-3V001

www.heyne-hardcore.de

Wir begegnen uns erst dann selbst, wenn wir uns in einem anderen Auge als dem menschlichen gespiegelt sehen.

– Loren Eiseley

prolog

Es ist sechs Uhr morgens.

Delia liegt auf der Seite und schläft tief. Sie träumt nicht und ist, im Augenblick jedenfalls, zufrieden. Die Brise, die durchs offene Fenster dringt, pustet ihr eine Haarlocke in die Stirn. Sie bemerkt es nicht.

Caity hat sich neben ihr zusammengerollt. Delias Arm liegt auf ihrem Bauch. Wie bei allen Hunden sind auch ihre Sinne selbst im Schlaf hellwach. Ihre Ohren zucken. Sie erwacht blinzelnd. Hört leise Schritte von unten aus dem Arbeitszimmer. Vertraute Geräusche. Sie schläft wieder ein.

Delias Zwillingsbruder Robbie schläft in seinem eigenen Zimmer. Er träumt von einem Segelschiff, auf dem er merkwürdigerweise gleichzeitig Kapitän und Schiffsjunge ist. Wie es Träume gerne geschehen lassen, treibt er kurz darauf in einem Raumschiff durchs All. Dort gefällt es ihm, dort hat er keine Angst und keine Sorgen.

Sein Vater Bart befindet sich gerade in jenem Zwischenreich zwischen Schlaf und Wachen, zwischen Nacht und Morgen. Mittlerweile haben sich seine Augen sechs Mal geöffnet und wieder geschlossen. Er hat einen kurzen Blick auf die zerwühlte Decke auf der anderen Seite des Bettes, auf den Baldachin über sich, auf das Wasserglas und den Aschenbecher auf dem Nachttischchen geworfen. Im Traum hat er Jack Dannski und Shiela Lake lachend bei Whiskey und Erdnüssen auf einem Klassentreffen gesehen, dann seine nagelneue ’62er Corvette, mit der er im Sommerwind über den sonnendurchfluteten Parkway rast. Diese beiden Momente drohen ihm zu entgleiten, und er will sich gierig daran festklammern.

Delias Mutter – Pat, Patricia – sitzt im Arbeitszimmer und betrachtet die Fotos ihrer Tochter. Per Tastendruck wechselt sie zwischen den Aufnahmen hin und her. Porträts. Ausnahmslos gute Porträts, aber sie hatte ja auch einen guten Fotografen engagiert. Pat hat ein Auge für Details und sucht die besten Bilder heraus. Sie kennt das Gesicht ihrer Tochter so genau wie ihr eigenes, das sich gerade fahl im Bildschirm widerspiegelt – als wäre Pat selbst irgendwie in den Rechner gelangt und würde nun als fahle Reflexion aus den Augen ihrer Tochter blicken.

Ist auch nur eine Falte zu erkennen?

Nie und nimmer.

Es wird noch eineinhalb Stunden dauern, bis sie den neuen Tag in ihrer modernen, reich ausgestatteten Küche gemeinsam begrüßen, als Familie, bei Kaffee und Englischen Muffins.

Bis dahin liegt Caity wach und riecht sie alle, ob sie nun näher bei ihr sind oder weiter weg.

erster teil

eins

»Sieh’s dir doch einfach mal an.«

Patricia pickt eine Olive aus ihrem kleinen griechischen Salat und tunkt sie in das dickflüssige Olivenöl und die Fetakrümel auf ihrem Teller.

Bart, der ihr gegenübersitzt, hält ein Rippchen zwischen Daumen, Zeige- und Ringfinger, während er die Gebrauchsanweisung ihres nagelneuen kirschroten Firebird studiert. Delia knabbert an einem über Holzkohle gegrillten Hähnchenflügel. Robbie beißt in einen Mozzarellastick und saugt geräuschvoll die würzige rote Soße heraus.

Das ist das Schöne am Chicken Little: Man kann dort einfach alles zum Mitnehmen bestellen, von ganzen Maiskolben über Philly Cheesesteak bis hin zu Orzo und Schokoladenpudding. Die Speisekarte ist nahezu endlos.

Das Lieblingsessen der Familie sind allerdings Rippchen – sehr zum Leidwesen Caitys, die zwischen Bart und Delia auf dem Boden liegt. Lediglich zwei Rippchen sind der traurige Rest einer dreifachen Portion.

Pat schiebt Bart das iPad über den Tisch hinweg zu. Auf dem Bildschirm ist das Foto zu sehen, das sie heute Morgen ausgesucht hat.

Gestern im Studio hat einfach alles geklappt. Der Fotograf – Scott – ist zwar erst Ende zwanzig, dafür hat er ein gutes Auge und tut, was Pat ihm sagt.

Delia war großartig.

Sie saß auf einer Obstkiste vor einem einfarbigen Musselinhintergrund, Caity zu ihren Füßen. Caity befand sich immer in Delias Nähe oder zumindest in Sichtweite, egal, ob sie mit auf dem Foto war oder nicht. Der Hund ist so eine Art Glücksbringer. Das soll Pat nur recht sein, solange die Bilder gut werden.

Sie hat Scott bei der Auswahl der Linsen und der Folienfilter geholfen, dann ging es sofort los. Delia saß kerzengerade, selbstsicher und konzentriert da. Sie war so vertraut mit der Kamera, als wären sie und die Nikon alte Freunde, als wäre die Kamera ein lebendiges Wesen. Scott brauchte bloß auf den Auslöser zu drücken. Delia veränderte gehorsam ihre Kopfhaltung, hob das Kinn ein wenig, drehte sich millimeterweise in die ideale Position, genau wie er es haben wollte. Scott war begeistert und lächelte zurück.

Pat hatte alles unter Kontrolle.

»Okay. Konzentration, Delia. Scott? Kannst du dich in einer Linie mit mir aufstellen?«

»Kein Problem, Pat.«

Sie beobachtete auf dem Kontrollmonitor, wie er heranzoomte.

»Stopp«, sagte sie. »Genau hier.«

Und da hatten sie das Foto gemacht.

Das sanfte Licht verleiht der Szene die Anmutung eines Gemäldes – das allerdings nicht mit Ölfarbe, sondern mit Acryl gemalt ist: scharfe Kanten, leuchtende Farbtöne.

Bart nimmt einen Bissen von seinem Rippchen, legt die Gebrauchsanweisung beiseite und betrachtet mit zusammengekniffenen Augen das Foto. Sie beneidet ihn um die verfluchten Rippchen, die sie sich selbst verkneift. Zu viel Fett. Zu viel Zucker.

»Hübsch«, sagt er. »Sehr schön. Aber ich verstehe immer noch nicht so recht, was du gegen Mills Fotos hast? Wir können uns das leisten. Alle anderen lassen ihre Bilder doch auch dort machen.«

»Genau deshalb«, sagt sie. »Ihres soll auffallen. Siehst du, wie er den Bildausschnitt etwas weg von der Mitte gewählt hat? Das würde denen bei Mills Fotos nie einfallen, dabei kommt das Licht auf ihrem Haar erst dadurch so richtig zur Geltung. Siehst du?«

»Ja.«

»Außerdem kennt Delia Scott inzwischen. Sie fühlt sich wohl bei ihm.«

»Stimmt. Merkt man.«

Wohlfühlen ist nicht unbedingt das richtige Wort, denkt sie. Ungezwungen trifft es eher. Ihre Tochter hat die geradezu unheimliche Gabe, selbst die künstlichste Umgebung in ihr Spiel- oder Schlafzimmer, ihr Planschbecken oder ihren Hinterhof zu verwandeln. Und zwar unmittelbar.

Pat hat sie bereits auf diese äußerst nützliche Gabe angesprochen.

»Ich sehe es einfach«, hat Delia gesagt. »Ich sehe es, und es bleibt in meinem Kopf. So lange ich will.«

Pat ahnt, dass das nicht Scotts Verdienst ist. Scott ist nur ein netter, umgänglicher, einigermaßen talentierter Fotograf. Und nicht allzu teuer.

Delia greift über den Tisch.

»Ich will auch mal sehen.«

Lächelnd hält sie ihrer Tochter das iPad hin. Wieder einmal ist sie sehr stolz auf sie. Auf ihr Talent, ihr sicheres Auftreten, ihre Begeisterungsfähigkeit.

»Ich sehe ja aus wie du!«, sagt Delia.

Pat lacht. »Überhaupt nicht. Du siehst aus wie du. In einem Erwachsenenrock und einer Bluse.«

Delia betrachtet eine Weile das Foto.

»Ganz okay. Gefällt mir. Und die mit Caity?«

Jeder Fototermin endet mit mehreren Aufnahmen von ihr und Caity.

»Die Produzenten wollen dich sehen, Schatz, nicht deinen Hund.«

»Aber die Produzenten können mich nicht vor den Geistern beschützen, oder? Caity schon. Sie soll auch ein paar gute Bilder haben.«

»Geister?«

»Ja. Wie die in meinem Puppenhaus.«

»In meinem Puppenhaus. Es ist nur ausgeliehen, schon vergessen?«

Pat besitzt es, seit sie elf Jahre alt ist.

»Du kannst es wiederhaben. Es ist gruselig.«

»Was meinst du, gruselig?«

»Na, gruselig eben.«

»Was soll das denn heißen? Du hast es doch, seit du klein warst.«

»Aber es sind Geister drin.«

Robbie schnaubt verächtlich. Typisch für kleine Schwestern, soll das wohl heißen. Obwohl er Pats Bauch gerade mal sieben Minuten früher verlassen hatte.

»Deal, da sind nur ein paar alte Möbel drin«, sagt er. »Mach keinen Aufstand. Isst du das Rippchen noch?«

Eines der beiden übrig gebliebenen Rippchen ist verschwunden. Pat blickt auf den Boden. Caity wirft ihr einen dieser »Was, ich?«-Blicke zu, der im krassen Gegensatz zu dem etwa zehn Zentimeter langen abgenagten Schweineknochen zwischen ihren Pfoten steht. Dann blickt sie ihre Mitverschwörerin Delia an.

Delia ignoriert sie geflissentlich.

»Nein, nimm ruhig.«

»Danke, Schwesterherz.« Er greift nach dem Rippchen. »Darf ich weiter an meinen Modellen bauen?«

»Klar«, sagt Bart.

»Schmeckt dir der Krautsalat nicht?«, fragt Pat.

»Ich bin satt, Mom. Darf ich?«

Robbie fragt nicht nur Bart oder Pat, ob er aufstehen darf, sondern beide. Braver Junge.

»Moment«, sagt Delia. »Ich muss euch was zeigen.«

Sie steht auf und geht ins Wohnzimmer. Robbie kaut auf seinem Rippchen. Genau wie Caity. Jetzt, wo sie aufgeflogen ist, gibt es keinen Grund mehr, das heimlich und leise zu tun. Bart wendet sich wieder der Betriebsanleitung zu.

Delia kommt mit zwei Racquetbällen aus Gummi zurück, einer violett, einer blau. Sie setzt sich und sieht Caity an.

»Im Internet steht, dass Hunde den Unterschied zwischen Violett und Blau nur schwer erkennen können. Weil sie nicht so ein großes Speckrum sehen wie …«

»Spektrum«, korrigiert Pat.

»Nicht so ein großes Spektrum wie Menschen. Aber Caity eben doch. Caity ist nicht farbenblind. Passt mal auf.«

Delia hält ihr die Bälle hin. Einen in jeder Hand. Der Hund steht auf und schnuppert daran.

»Nimm den violetten, Caity. Den violetten.«

Ohne zu zögern, nimmt der Hund den violetten Ball zwischen die Zähne und setzt sich wieder. Robbie seufzt. Langweilig. Vielleicht ist er tatsächlich gelangweilt, vielleicht auch nicht. Er ist in jenem Alter, in dem das nur schwer zu sagen ist.

»Nein, warte«, sagt Delia. »Ich will den violetten. Du kannst den blauen haben.«

Caity richtet sich auf, legt den violetten Ball in Delias Hand, nimmt den blauen ins Maul und setzt sich wieder.

Robbie seufzt noch einmal. »So ein Schwachsinn.«

»Reiß dich zusammen, Sohnemann«, sagt Bart. »War das alles?«

Lächelnd schüttelt Delia den Kopf und nimmt Caity den Ball wieder ab, auf dem nun Sabberspuren zu erkennen sind.

Sie legt die Hände hinter den Rücken, vertauscht die Bälle mehrmals und hält sie dem Hund erneut hin. Diesmal mit den Handflächen nach unten, sodass das Tier sie nicht sehen kann.

»Caity? Dad will den violetten Ball und Robbie den blauen.«

Der Hund schnüffelt und stupst mit der Schnauze gegen Delias rechte Hand. Delia dreht sie herum. Der violette. Caity nimmt den Ball ins Maul und lässt ihn in Barts Schoß fallen. Dann nimmt sie den blauen Ball aus Delias linker Hand und bringt ihn Robbie.

»Nicht schlecht«, sagt Bart. »Mit dem Trick sollte sie im Fernsehen auftreten, was meint ihr?«

»Wir sind noch nicht fertig«, sagt Delia.

Sie steht auf, tritt hinter Caity und legt ihr die Hände auf die Augen.

»Versteckt sie«, sagt sie.

»Hä?«, fragt Robbie.

»Versteckt sie.«

Dann kapiert er. Jetzt wird es interessant. Er klemmt den blauen Ball in die Achselhöhle. Bart setzt sich auf seinen.

»Caity, bring mir den blauen Ball. Holst du mir bitte den blauen Ball?«

Sie nimmt die Hände weg. Caity geht direkt auf Robbie zu und schnuppert an seiner Achselhöhle. Das kitzelt.

»Hey!«, lacht er. Der Ball fällt herunter. Caity hebt ihn auf und bringt ihn Delia.

»Vielen Dank, Caity.«

Wie zum Teufel haben sie sich das beigebracht, fragt sich Pat. Wann haben sie das geübt? Ihre Tochter steckt voller Überraschungen.

»Netter Trick, Deal«, sagt sie. »Wenn ihr mich entschuldigt, ich muss Roman und der Druckerei das Foto heute noch schicken, damit wir es gleich morgen früh haben.«

»Kannst du mir die von Caity und mir mailen?«, fragt Delia.

»Klar, Schätzchen.«

Um ehrlich zu sein, sind auch ein paar Bilder mit den beiden zusammen verflucht gut geworden. Caity ist ein roter Australian Cattle Dog und sehr fotogen. Zweieinhalb Jahre alt, siebenundzwanzig Kilo kerngesunde Hundemuskeln. Schönes rötliches Fell mit weißen Sprenkeln, dunkle intelligente Augen, eines davon mit einem markanten schwarzen Fleck. Wie ein Kind, das sich zu Halloween als Pirat verkleidet hat.

Vielleicht sollte ihr Delia noch mehr Tricks beibringen, überlegt sie. Damit sie ein Repertoire zusammenstellen können.

Wer weiß, ob das einmal nützlich wird.

Sein Vater schiebt seinen Stuhl zurück.

»Ich geh raus zum Wagen. Robbie? Willst du mitkommen?«

Der Firebird ist das neue Spielzeug seines Vaters. Wie war der Begriff gleich noch? Sein Interesse. So hat es Mom genannt. Dads neues Interesse. Hoffentlich hält es eine Weile an. Für dieses Interesse muss sich Robbie nämlich nicht übermäßig interessieren, er muss sich nicht einbringen wie beim Football oder Baseball oder – zwischendurch – Fußball. Es ist völlig in Ordnung, wenn er sich für den Firebird nur halbherzig begeistert.

Was ihn aber auch ein bisschen überrascht. Robbie hat geschickte Finger. Was sein Vater sehr wohl weiß. Also kommt es ihm etwas merkwürdig vor, dass Dad nicht darauf besteht, dass sie gemeinsam am Fahrgestell herumschrauben oder was Männer in einer Garage eben so tun.

»Ein andermal, Dad. Ich will lieber an meinen Modellen basteln.«

»Ach so, ja. Deine Modelle.«

»Willst du ein Eis?«, fragt Delia.

»Nö«, sagt er. »Vielleicht später.«

Er beobachtet, wie Vater und Tochter in die Küche gehen. Erst öffnet Delia den Gefrierschrank, dann macht sich Dad an der Hausbar einen Drink.

Caity trottet ihnen hinterher.

»Cait? Caiters?«

Sie bleibt stehen und dreht sich um.

Die beiden Racquetbälle liegen auf dem Tisch. Er nimmt sie in die Hände und versteckt sie vor ihr, genau wie es seine Schwester getan hat. Dann hält er sie Caity hin.

»Nimm den violetten«, sagt er.

Sie legt den Kopf schief und kommt ein paar Schritte auf ihn zu. Schnuppert an seiner Hand. Die linke. Er öffnet sie.

Blau.

Na ja, sie ist Delias Hund, denkt er.

Sosehr er sie auch mag – diese Tatsache wird ihm täglich bewusst. Caity gehört Delia und nicht ihm. Sie folgt seiner Schwester wie ein Pilotfisch.

Für ihn als auch für Delia war es Liebe auf den ersten Blick. Vor zwei Jahren mussten sie am Weihnachtsmorgen vor der Treppe warten. Die anderen Geschenke waren bereits ausgepackt und unter dem Christbaum gestapelt. Mom öffnete die Tür zum Schlafzimmer, und dieses kleine Fellknäuel kam herausgestürmt, hatte sie unten stehen sehen, war losgerannt, hatte kurz vor der Kante abgebremst, sich einen Augenblick umgesehen, war mit allen vieren auf die erste Stufe gesprungen und dann auf die zweite, und schließlich hatte sie begriffen, dass die Treppe allein ihr gehörte, und war hinuntergeflitzt, als hätte sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan.

Sie war erst zu Delia und dann zu Robbie gelaufen. Er hatte seine Schwester niemals zuvor oder danach so lächeln sehen.

Er spürt immer noch die Wärme ihrer Zunge. Erinnert sich an den Geruch des Welpenatems und an ihren kleinen festen Körper unter seinen Händen.

Ein faszinierendes neues Lebewesen.

Ein Hund war pure Magie.

Da machte es ihm auch fast nichts aus, dass es in erster Linie Delias und dann erst sein Hund war. Er kennt sich mit Hunden aus, hat über Hackordnungen und Rudelbildung gelesen. Robbies Rudel. Eigentlich sollten Mom oder Dad die dominanten Anführer sein – Alphatiere, so heißt das. Sie sind die Größten und Lautesten. Sie sagen, wo es langgeht.

Caity jedoch scheint das nicht besonders zu interessieren. Sie hat ihren eigenen Kopf und setzt sich erfolgreich über die Lehrmeinung hinweg. Die Stimme, die für sie an zweiter Stelle kommt, auf die sie fast immer hört, ist seine, nicht die seiner Eltern. Robbie ist zufrieden und vielleicht auch ein wenig dankbar dafür, dass sie so denkt, dass sein Platz im Rudel gesichert ist.

Er hört, wie die Tiefkühltruhe geschlossen wird. Eiscreme.

Caity wendet sich von ihm ab und trottet in Richtung Kühlschrank.

Damit wird er wohl nie mithalten können.

Stegosaurus, denkt sie.

Zwei Kugeln grüne Pfefferminz-Eiscreme mit Schokoladestückchen, in denen drei große gelbe geriffelte Kartoffelchips stecken. Die Panzerplatten des Sauriers. Wenn man es genau nimmt, entspricht das Verhältnis von Panzerplatten zu Körperlänge eher einem Dimetrodon, und das war ein Vorfahre der Säugetiere. Aber das weiß sie erst seit Kurzem, und Eiscreme-Stegosauri baut sie seit ihrer frühesten Kindheit. Also ist das wohl egal.

Sie beißt in einen nach Minze schmeckenden Kartoffelchip. Caity sitzt höflich neben ihr und leckt sich die Lefzen.

»Du kannst einen haben. Nur einen. Dann ist Schluss.«

Caity vertilgt den Chip und starrt dann sehnsüchtig die Tüte auf der Arbeitsfläche an.

»Na gut. Zwei.«

Sie gibt ihr noch einen Chip, rollt die Tüte zusammen und versiegelt sie mit einer Wäscheklammer vor der Feuchtigkeit. Dann macht sie sich über ihr Eis her.

Der Hund springt auf die Hinterbeine und schnappt sich die Tüte von der Arbeitsfläche. Er setzt sich unter den Tisch, blickt Delia durch die Stuhlbeine hindurch an und schlägt mit dem Schwanz auf den Boden.

»Böser Hund! Gib das wieder her …«

Caity steht auf und trabt zur Küchentheke. Sie stellt sich erneut auf die Hinterbeine und legt die Tüte zwischen die Kräcker und Kekse und anderen Knabbereien, die an der Wand zwischen Designer-Einweckgläsern mit Mehl und Zucker aufgereiht sind. Sie setzt sich und hechelt.

Delia blinzelt den Hund amüsiert und etwas verblüfft an. Man weiß nie, was er als Nächstes anstellen wird.

»Wow«, sagt sie. »Toll gemacht, Caits!«

Sie fischt einen Chip aus ihrer Schüssel und gibt ihn Caity, die ihn knirschend verschlingt.

»Na los!«

Delia nimmt die Schüssel und geht durch das Esszimmer zur Treppe im Flur.

Caity ist aufgeregt.

»Schön langsam die Treppe hoch, Wackelhintern.«

Caity gleitet auf den Vorderpfoten über die Stufen. Die Krallen klicken auf dem polierten Holz. Sie hat lange vor Delia das Ende der Treppe erreicht, dreht sich um, wartet oben.

»Wo ist Robbie?«, fragt sie. »Wo ist dein Bruder?«

Caity trottet durch den Flur zu der geschlossenen Tür neben Delias Zimmer und setzt sich.

Delia klopft.

»Ja? Einen Moment.«

Sie hört, wie er die Schranktür schließt und seinen Stuhl über den Holzboden schiebt.

»Okay, kannst reinkommen.«

Delia öffnet die Tür. Ihr Bruder sitzt an seinem Arbeitstisch unter einer hellen Schreibtischlampe. Der übrige Raum ist so dunkel, dass man das Durcheinander aus Horrorfilm- und Marvel-Actionfiguren, Flugzeugen, Raketen, Autos und Lastwagen in den Regalen hinter ihm kaum erkennen kann, ganz zu schweigen von den Clone-Wars-, Minecraft- und Elvis-Postern an den Wänden.

Gerade arbeitet er an einem Oldtimer. Er klebt etwas an den Kühlergrill.

»Willst du einen Chip?«, fragt sie.

Er sieht nicht auf. »Nein, danke.«

»Was ist das?«

»Eine fliegende Untertasse.«

Sie lacht.

»Ein Buick-Roadmaster-Cabrio aus den Fünfzigern. Hat mir Dad vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt. Seitdem liegt es rum. Das ist nicht gerade die beste Modellbaufirma der Welt – ziemlich einfach –, aber ich dachte, ich versuch’s mal.«

»Sieht gut aus.«

Er zuckt mit den Achseln.

Wie so oft wird ihr bewusst, dass dies sein Zimmer, sein Reich ist. Sie würde sich zum Beispiel nie einfach auf sein Bett setzen oder in seinen Sachen wühlen. Ihr Bruder schätzt seine Privatsphäre. Das hat sogar Caity begriffen. Sie ist vor der Tür sitzen geblieben. Mom nimmt sich die Freiheit, zu jeder Tages- und Nachtzeit unangekündigt in Delias Zimmer zu platzen, um dort zu tun und zu lassen, was sie will. Doch wenn sich in Robbies Zimmer der Staub sammelt, scheint sie das nicht weiter zu stören.

Delia weiß nicht so recht, ob sie ihn dafür beneiden soll.

Dabei gibt es durchaus ein paar Dinge, auf die sie neidisch ist.

»Ich würde morgen gerne mit dir in die Schule gehen«, sagt sie.

»Na klar. Willst du tauschen?«

»Würd ich schon, falls Mom das erlaubt.«

»Glaub mir, du verpasst nicht das Geringste.«

Sie denkt an Mrs. Strawn, ihre Mathe- und Physiklehrerin.

»Ist bestimmt besser als die alte Schachtel, die nach Salamibroten riecht.«

Er lacht. »Wahrscheinlich schon.«

Mrs. Straw ist die schlimmste von ihren Lehrern. Sie hat keinen Sinn für Humor. Den Englischlehrer Mr. Jacobsen dagegen mag Delia, aber sie mag ja auch Englisch, daher kann sie nicht genau sagen, ob es am Fach oder an ihm liegt. Der Gesangsunterricht ist ganz okay, obwohl Mr. Thatcher sie immer die hohen Noten singen lässt, was sie ziemlich anstrengend findet. Erst heute musste sie wieder »I Will Always Love You« von vorne bis hinten singen. Allmählich hasst sie dieses Lied.

Ihre Mom ist ebenfalls der Meinung, dass sie sich anstrengen soll.

»Das sind auch Muskeln«, sagt sie immer. »Und die gehören trainiert. Ich weiß, wie das ist. Ich hab das früher auch gemacht. Du wirst schon sehen.«

Der Tanzunterricht gefällt ihr zugegebenermaßen sehr gut. So ein Training geht hundertprozentig in Ordnung. Egal, ob klassisch oder modern oder gelegentlich sogar Volkstanz, sie genießt das Gefühl der Freiheit, das sich nach etwa einer halben Stunde einstellt, wenn sich diese Wärme im ganzen Körper ausbreitet. Und sobald sie die richtigen Schritte in der richtigen Reihenfolge hinbekommt, fühlt es sich einfach richtig an. Tanzen ist toll.

Sie kann also zufrieden sein.

Trotzdem – Robbie trifft jeden Tag andere Kinder. Kinder in ihrem Alter. Sie trifft nur Erwachsene. Die sich ausschließlich um sie kümmern, irgendwas von ihr wollen. Das nervt. Sie ist müde.

Ihr fällt auf, dass sie einfach nur dasteht. Nichts tut. Nicht viel zu sagen hat. Robbie streicht Klebstoff aus einer Tube auf ein kleines Plastikding.

Der hält mich jetzt sicher für bekloppt, denkt sie.

Zeit fürs Bett. Sie wird noch ein bisschen lesen. Sie ist mitten im dritten Teil der North-Star-Reihe.

»Gute Nacht, Robbie«, sagt sie.

»Nacht, Schwesterherz.«

Sie verlässt den Raum und schließt leise die Tür.

Okay, wo steckt Caity?

Sie war doch gerade noch hier.

Manchmal ist dieser Hund so leise wie eine Maus.

Sie geht den Flur zu ihrem Zimmer hinunter. Schaltet das Licht ein.

Keine Caity.

Ihr Blick wandert zum Puppenhaus. Dem Puppenhaus ihrer Mutter. Es ist einem alten Anwesen auf Rhode Island nachempfunden, hat Mom behauptet. Zwei Stockwerke, vier Schlafzimmer, zwei Bäder. Es ist ziemlich groß, über einen halben Meter hoch, breit und tief. Und zusammen mit dem Holztisch, auf dem es befestigt ist, auch ziemlich schwer. Sie haben es nur mühsam durch die Tür gebracht.

Sie hat seit Jahren nicht mehr mit dem Ding gespielt. Und gefallen hat es ihr noch nie. Sie findet es irgendwie übertrieben. Ihre Mutter hat ihr eingeschärft, dass sie die Möbel und die sonstige Einrichtung vorsichtig behandeln muss. Handgeschnitzte Holzstühle und Betten und Sofas. Ein Kamin aus echtem Backstein. Wandteppiche. Bilder an den Wänden, gemalt mit einem Pinsel mit nur einem einzigen Haar. Eine aus England importierte Küche.

Wenn es um ihre Lieblingstochter ging, hat Oma Atherton keine Kosten und Mühen gescheut.

Es ist schön anzusehen, aber ziemlich bescheuert, wenn man mit seinen imaginären Freunden spielen will und die ständig auf ihr Teeservice und ihre Teddybären achtgeben müssen.

Das macht doch keinen Spaß.

Also steht das Haus einfach nur neben ihrem Bett und verstaubt. Sie denkt kaum noch daran. Das Puppenhaus ist einfach da.

Bis auf vorletzte Nacht …

Bis auf vorletzte Nacht, als plötzlich …

Sie war eingenickt, im Halbschlaf. Trotzdem hätte sie Stein und Bein schwören können, ein flackerndes Licht im Obergeschoss gesehen zu haben. In dem Schlafzimmer, in dem sie sich vorgestellt hatte zu wohnen – damals, als sie noch klein war, damals, als sich ihre Fantasie noch gelegentlich dort eingerichtet hat, als sie noch mit dem Puppenhaus gespielt und die Möbel und Einrichtungsgegenstände hin und her geschoben hat.

Ein weißes Licht. Blitz, blitz, blitz. Ein unregelmäßiges Flackern wie von einem großen Glühwürmchen, das sich hineinverirrt hatte.

Es dauerte nicht lange. Höchstens zwei Minuten.

Aber es war unheimlich.

Sie wäre beinahe aufgestanden, um sich das Ganze aus der Nähe anzusehen, aber offen gestanden hatte sie zu viel Angst.

Und Angst war etwas Neues für sie. Tatsächlich konnte sie sich nicht daran erinnern, überhaupt schon einmal Angst gehabt zu haben. Nicht vor dem Vorsprechen, nicht vor dem Mindbender oder der Wildcat-Achterbahn im Frontier-City-Vergnügungspark. Verdammt, nicht mal vor Robbies DVD mit Killer Klowns From Outer Space hatte sie Angst gehabt. Noch nie.

Deshalb war sie auch so überrascht gewesen, als es ihr eiskalt den Rücken hinuntergelaufen war.

Sie hatte den Arm ausgestreckt, die schnarchende Caity zu ihren Füßen geweckt und sich an sie geschmiegt. Gemeinsam spähten sie ins Dunkel, doch nichts weiter geschah. Irgendwann atmete Caity leicht und regelmäßig. Delia spürte das Heben und Senken ihres kräftigen Brustkorbs unter ihrer Hand und war kurz darauf ebenfalls eingeschlafen.

Und letzte Nacht? Nichts. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, wach zu bleiben. Nur für den Fall. Aber der Unterricht und die Schauspielstunden und die Tanzerei hatten sie müde gemacht. Sie war auf das Kissen gefallen und sofort eingeschlafen.

Vielleicht sollte ich das Haus auseinanderbauen und nachsehen, denkt sie. Man kann die Wände an drei Seiten abnehmen. Hinter einer befindet sich die Eingangshalle, der vordere Salon und das Esszimmer, hinter der nächsten die Küche und hinter der dritten der rückwärtige Salon mit den Schlafzimmern darüber. Das Licht war aus dem ersten Stock gekommen, direkt über dem hinteren Salon.

Sie denkt darüber nach.

Dann fällt ihr etwas Komisches ein: Sieht aus, als ob das Haus schlafen würde.

Sie will es keinesfalls aufwecken.

Nach dem letzten Löffel Eiscreme dreht sie sich um, um nach Caity zu sehen – vielleicht ein bisschen zu schnell, weil sie plötzlich dieses Prickeln und eine Benommenheit spürt und fast das Gleichgewicht verloren hätte. Sie taumelt. Einen Augenblick lang wird alles schwarz um sie herum. Dann tauchen bunte Lichtblitze im Dunklen auf. So verschwommen wie in einem Auto in der Nacht auf einer nassen Straße.

Wie durch dichten Nebel sieht sie eine Hand nach etwas Hellem, Funkelndem vor ihr greifen. Es ist nicht ihre Hand, aber es könnte ihre sein, weil sie so nahe ist – ganz unmöglich, weil sie ja noch den Löffel in der einen und die Eiscremeschüssel in der anderen Hand hält. Das helle Funkeln verwandelt sich in so etwas wie eine Tür, nur viel zu klein, und die Tür öffnet sich, und dahinter sind kleine Fläschchen, und dann verschwinden Tür, Fläschchen und das Licht so schnell, wie sie gekommen sind.

Kein Prickeln mehr. Keine Benommenheit. Kein Nebel.

Nur ihr Zimmer. Ihr stinknormales Zimmer.

Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen hat sie Angst. Nicht Riesenangst, aber Angst. Angst genug.

Erst das Puppenhaus, dann das hier.

Sie muss dringend Caity suchen, wenn sie auch nicht weiß, weshalb.

Sie geht in den Flur und zum Schlafzimmer ihrer Eltern hinüber – dem einzigen Zimmer im Obergeschoss, in dem sie noch nicht nachgesehen hat –, und als sie näher kommt, sieht sie Caity direkt vor der offenen Tür zum hell erleuchteten Badezimmer sitzen. Der Hund wirft ihr einen raschen Blick über die Schulter zu.

Da steckst du also, will sie sagen, doch genau in diesem Moment muss Caity niesen. Ein dicker fetter Caity-Nieser, wie sie ihn gelegentlich loslässt.

»Verflucht, Caity«, sagt Mom.

Mom steht vor dem Spiegelschrank über dem Waschbecken. Das Niesen hat sie erschreckt, das Wasser aus einem Plastikbecher ergießt sich in das muschelförmige Becken. Auf dem Marmortisch sind Tabletten verstreut. Sie sammelt sie so hektisch auf, dass zwei davon zu Boden fallen.

»Scheiße«, sagt sie.

Noch hat sie Delia nicht bemerkt. Delia ist außerhalb ihres Blickfeldes.

Caity starrt sie aufmerksam an.

»Mom, hast du Kopfschmerzen?«

Sie zuckt zusammen.

»Ja. Vielleicht hab ich zu lange vor dem Computer gesessen. Musst du ins Badezimmer?«

Sie öffnet den Spiegelschrank. Der Spiegel blitzt. Sie dreht die Tablettendose so merkwürdig in der Hand herum, als wollte sie nicht, dass Delia das Etikett liest – was aus dieser Entfernung sowieso nicht möglich wäre –, und stellt sie hinein. Dann schließt sie den Schrank wieder.

»Ich hab nur Caity gesucht«, sagt Delia.

»Nun, hier ist sie, obwohl sie hier überhaupt nichts zu suchen hat. Und du auch nicht. In einer halben Stunde bist du im Bett, junge Dame. Und kein Eis am Abend, wie oft muss ich dir das noch sagen?«

»Aber ich hab gar kein …«

Auf dem Daumen, mit dem sie über Delias Wange fährt, ist ein grüner Fleck.

Erwischt.

Ihre Mom lächelt. Ist also nicht so schlimm.

»Hast du mir die Bilder von Caity schon gemailt?«

»Das erledige ich gleich. Noch neunundzwanzig Minuten, Fräulein, und dann will ich euch schön brav in der Heia sehen, ich schaue nach.«

»Wird gemacht.«

Sie tritt zur Seite. Ihre Mutter rauscht an ihr vorbei, und Delia riecht einen Hauch von Moms Lieblingsgetränk – Scotch. Sie und Caity gehen in den Flur, und Delia dreht sich um und sieht Mom vor der Frisierkommode, wie sie sich das lange schöne Haar bürstet.

In Barts Garage – und es ist unbestritten seine Garage – würden locker drei Autos passen. Doch wegen der neuen Hebebühne und der kleinen Bar und der Werkstatt bleibt nur Platz für eines. So gefällt es ihm. Vor Jahren, als die Kinder noch klein waren, hatte Pat damit geliebäugelt, aus der Garage ein Spielzimmer zu machen. Diese Flausen hatte er ihr schnell ausgetrieben. Du willst doch die Kinder immer im Blick haben, oder?, hatte er gefragt. Und das geht schlecht, wenn sie hier in der Garage mit Gott weiß was rumspielen. Dieser Logik war nichts entgegenzusetzen.

Als Mutter zweier heranwachsender Kinder hatte Pat über einen ausgeprägten Beschützerinstinkt verfügt. Das änderte sich im Laufe der Zeit, doch da hatte er schon sein Revier abgesteckt und die Garage für sich beansprucht.

Er schenkt sich noch einen Schluck Boodles-Gin in das mit Eiswürfeln gefüllte Glas, nimmt einen Schluck und inspiziert das Fahrgestell.

Ein verdammtes Kunstwerk in Mattschwarz. Auf den Radkästen, der Aufhängung und dem Auspuff gibt es nicht den kleinsten Rostfleck oder Öltropfen. Alles ist so sauber, dass man davon essen könnte.

Der Preis hatte ihn zunächst zögern lassen. Zweiunddreißigtausend, weitere dreieinhalb für die Sonderausstattung. Die er unbedingt haben wollte, auch die Details – beheizte Ledersitze, beheizte Außenspiegel, ein automatisch abblendender Rückspiegel, Rückfahrkamera, Bluetooth, Fernbedienung. Das volle Programm.

Bis jetzt hat sich Patricia noch nicht beschwert. Delia macht gutes Geld. Und womöglich klappt es mit dieser Fernsehserie.

Sie hatten alles auf eine Karte gesetzt, das war ihm bewusst. Aber er war ja auch eine Spielernatur, oder nicht? Das lag in der Familie. Sein Vater war dreieinhalb Jahre lang als Black-Jack-Profi durch Atlantic City gezogen, bis ihm jedes Casino der Stadt Hausverbot erteilt hatte. Als Teenager hatte Bart gar nicht genug von den Geschichten seines Vaters bekommen können. Über Boni und Sonderzahlungen, über die Freikarten für die Beach Boys und die Muschis der Tänzerinnen. Einmal hatte er sich während des Parteitags der Demokraten 1964 als Rabbi verkleidet. Und im Resorts International als betrunkener Krüppel. Anschließend hatte er sich mit schnellen fünf Mille in der Tasche im Rollstuhl auf sein Zimmer schieben lassen.

Sogar wenn er erzählte, wie er durch eine Kombination aus Pechsträhne und Gratiswhiskey ein paarmal mit dem Gesicht voraus in der Gosse aufgewacht war, hörte Bart gerne zu.

Ja, das Ganze ist ein Glücksspiel. Na und? Das verleiht dem Leben doch erst die richtige Würze.

Nur bei der Qualität darf man kein Risiko eingehen. Und der Firebird hier ist definitiv ein Qualitätswagen. Vom Feinsten.

Er lässt sich gegen den Leinwandrücken seines Regisseurstuhls sinken, zündet sich mit seinem Zippo eine Winston an und betrachtet sein Auto. Sein Roter Baron.

Auch Robbie betrachtet seine Arbeit.

Auf dem echten Roadmaster aus den Fünfzigern führte ein verchromter Metallbogen, der »Sweapspear«, vom Vorderreifen in einer sanften Kurve über die Flanke bis zum Hinterrad, wo er einen verwegenen Viertelkreis bis zum Rücklicht bildete. Bei diesem beschissenen Modell dagegen besteht der Plastikstreifen aus lediglich zwei Teilen – einer führt von Rad zu Rad, der zweite umkreist das Rücklicht. Okay. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, haben sie es auch noch falsch abgemessen, sodass Robbie das verdammte Teil beinahe zerbrochen hätte, als er es um das Hinterrad montieren wollte.

Jetzt ist er fast fertig. Der Kühlergrill sitzt, die Reifen zeigen in dieselbe Richtung.

Nur dieser Metallbogen. Dieser verfluchte Metallbogen.

Er hat ihn mit Sekundenkleber befestigt. Also wird er jetzt und für alle Ewigkeit dort haften.

Und er … sieht beschissen aus.

Er stellt das Modellauto ab und lässt es ein paarmal über den Arbeitstisch rollen. Dann starrt er es einfach nur an. Die hellgraue Karosserie wartet auf einen Anstrich.

Da kannst du lange warten, denkt er.

Robbie hebt die Faust, holt kräftig aus und schlägt alles kaputt. Er blickt einem Weißwandreifen hinterher, der über die Tischplatte rollt.

Sobald der Reifen ausgerollt ist, öffnet er die tiefe Schublade unter dem Tisch und schiebt die Teile des Möchtegern-Buick-Roadmaster-Cabrio mit der Handfläche hinein. In diesem Papierkorb befinden sich bereits ein Viking-Kriegsschiff, eine Wolfman-Figur, das Weiße Haus, eine Boeing B-52 und die Einzelteile diverser anderer Modelle, die im Laufe der Jahre seinen Ansprüchen nicht genügt haben.

Entweder taugst du was, oder du taugst nichts, denkt er.

Er wendet sich seinem Computer zu, startet Resident Evil 4 und spielt los.

Delia lässt sich aufs Bett fallen, zieht Turnschuhe, Socken, die Jeans und das Lady-Gaga-T-Shirt aus und schlüpft in ihr kariertes L.-L.-Bean-Nachthemd. Die Socken landen im Wäschekorb. T-Shirt und Jeans legt sie über das Puppenhaus, sodass die Vorderfenster und das Sichtfenster in der Haustür verdeckt sind.

Gute Nacht, ihr Geisterlichter.

Caity steht am Fenster.

»Willst du noch mal raus?«

Schwanzwedeln.

Delia verlässt das Bett, geht zum Fenster hinüber, nimmt das dreiteilige Fliegengitter ab und legt es auf den Boden. Im Nu ist Caity aus dem Zimmer. Ihre Krallen klicken auf dem Hausdach. Delia stemmt sich aus dem Fenster.

Es ist eine warme Nacht. Eine sanfte Brise weht. Gemeinsam klettern sie über die Dachschräge, bis sie vom Fenster aus nicht mehr zu sehen sind. Dann setzen sie sich, und wie immer genießt Delia die Ruhe. Das Dach gehört ihnen allein. Niemand kann sie hier finden. Die stille Straße jenseits des Gartenzauns windet sich in gemächlichen Halbkreisen an den umliegenden Häusern entlang. Ihre Nachbarn sieht sie nur selten, wenn sie im Garten sind oder im Auto vorbeifahren. Sie wird sie wohl nie kennenlernen.

In dieser Gegend schätzt man seine Privatsphäre. Sie kennen die Gilmores und die Levys, die direkt nebenan wohnen, sowie die McBrides gegenüber, und das war’s. Den Levys winken sie nur in der Einfahrt zu. Keiner sonst hier hat Kinder und niemand einen Hund.

Als sie und Robbie noch klein waren, taten sie so, als wären sie die einzigen Kinder auf der Welt. Sie suchten in dem kleinen Wäldchen hinter dem Haus nach anderen. Entdeckten imaginäre Spuren. Ein zerbrochener Ast. Eine niedergetrampelte Stelle im hohen Gras. Ein Bonbonpapier, das sie selbst vor Monaten dort weggeworfen hatten.

»Was ist denn?«, fragt Delia.

Caity stöbert in der alten, fadenscheinigen Babydecke herum, auf der sie normalerweise sitzen. Mit der Schnauze schiebt sie einen kleinen grünen Plüschdrachen aus den Falten der Decke. Ihr Lieblingsspielzeug. Sie schnauft. Delia hat nicht die leiseste Ahnung, wann und wie der Hund es hier hochgebracht hat.

Sie greift danach.

Caity senkt mürrisch das Kinn und blickt sie böse an. Klar. Du machst mir ja soooo viel Angst.

»Ich lach mich tot, Wackelhintern«, sagt sie.

Sie lehnt sich gegen die Verkleidung aus Holzimitat und betrachtet die Sterne und den zunehmenden Halbmond am wolkenlosen Himmel.

»Irgendwann«, sagt sie. »Pass nur auf. Jetzt bin ich elf und hab noch nie eine Sternschnuppe gesehen. So geht’s nicht weiter. Das ist nicht fair. Aber wenn ich eine sehe, bist du meine Zeugin.«

Caity starrt in den Himmel. Der Drache liegt zwischen ihren Pfoten.

Delia krault ihr den Nacken.

»Genau«, sagt sie.

»Gefällt dir das Bild?« Patricia wartet vor der Tastatur auf den Signalton des Chatprogramms.

Ping.»Allerdings«, schreibt Roman. »Geil.«

»Geil? Spinnst du?«, schreibt sie. »Sie ist elf.«

Ping. »Du weißt schon, wie das gemeint war. Sie ist extrem fotogen. Das ist geil.«

»Natürlich ist sie fotogen.«

Sie wartet. »Wo steckt dein Göttergatte?«, schreibt er.

»Spielt mit seinem Auto. Ich will schlafen, kann aber nicht. Bin nicht müde.«

»Was ist mit den Wunderpillen?«

»Wann wirken die denn? Ich spüre gar nichts.«

»Abwarten, Schätzchen.«

Sie weiß nicht, woher er das Lunesta hat, und es ist ihr auch egal. Von einem seiner Kumpels aus L. A. wahrscheinlich, dem Arzt eines Klienten oder so. Fünfzig Tabletten in einer unbeschrifteten Plastikdose. Ein ordentlicher Vorrat. Jetzt müssen sie bloß noch wirken. Sie wartet schon eine halbe Stunde.

»Ich brauche meinen Schlaf«, schreibt sie.

»Ist sie bereit für morgen?«

»Ja. Ich muss nur dafür sorgen, dass sie sich konzentriert.«

»Sie macht schließlich die dicke Kohle.«

»Wir, nicht sie. Teamwork, oder?«

Sie nippt an ihrem Scotch und tippt weiter.

»Ich bring sie jetzt ins Bett. Gute Nacht.«

Pling.»Ich bin allein in diesem verdammten Bett.«

»Schade auch. Ich hoffe für dich, dass die Pillen wirken. Bis morgen am Set.«

Roman alias YrAgent tippt eine Antwort, aber sie hat die App bereits geschlossen.

Robbie ist in ein paar Fallen im Schuppen getappt und hat gerade einen Nicht-Zombie mit einer Mistgabel erledigt, als es ihn erwischt. Er schaltet den Computer aus, steht auf, geht zum Bett hinüber und sinkt so schwer darauf wie ein gefällter Baum. Dann lehnt er sich gegen das Kissen und starrt die geöffnete Schranktür an.

Der begehbare Einbauschrank ist riesig. Seine Mutter hat ihn eingeräumt, und diese Ordnung behält er mehr oder weniger bei. Seine Hemden, Hosen und Jacken hängen an einer Holzstange in der Mitte. In den Regalen zu beiden Seiten ist Platz für seine Schuhe, die Pullover, Jeans und Sweatshirts, daneben stehen seine Lieblingsbücher in zwei Reihen, dazu eine Reihe CDs, eine Reihe DVDs, ganz oben ein paar alte Spielsachen und seine ersten Modelle. Einfacher Kinderkram, den er nicht in seinem Zimmer ausstellen, aber auch nicht wegwerfen will.