Bewährungs- und Gerichtshilfe - ein Handlungskonzept - Ralf Kammerer - E-Book

Bewährungs- und Gerichtshilfe - ein Handlungskonzept E-Book

Ralf Kammerer

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Beschreibung

Bis heute fehlte in der Bewährungshilfe im deutschsprachigen Raum ein in sich konsistentes Vorgehen bei der Rehabilitation von StraftäterInnen. Psychologisch und kriminologisch fundiert entwickelt dieses Buch eine Theorie kriminellen Handelns sowie Handlungsschritte für die Praxis. LeserInnen werden angeleitet, strukturiert die individuellen Bedingungen der Kriminalität einer Person in Beratung zu ermitteln und darauf Prognosen und die Planung von Interventionen aufzubauen. Praxisnah werden konkrete Interventionen in bestimmten Problemlagen, rechtliche Grundlagen sowie Formen der Gesprächsführung und Berichterstattung in der Gerichtshilfe erläutert.

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Ralf Kammerer, Karlsruhe, Diplom in Sozialer Arbeit und Forensischen Wissenschaften, ist seit über 20 Jahren Bewährungs- und Gerichtshelfer. Er war früher im Zentralbereich Sozialarbeit der Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg tätig.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03191-7 (Print)

ISBN 978-3-497-61783-8 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61784-5 (EPUB)

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von iStock.com/Finn Hafemann (Agenturfoto. Mit Models gestellt)

Satz: Jörg Kalies – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Abkürzungen

Geleitwort

Einleitung

Teil ITheoretische Grundlagen und die Entwicklung des BWH-Modells

1 Juristische und psychologische Grundlagen

1.1Aufgaben der Bewährungshilfe

1.1.1Vermeidung von Rückfallkriminalität

1.1.2Übergangsmanagement

1.2Warum begehen Menschen Straftaten?

1.3Theorie motivierten Handelns nach Heckhausen

2 Kriminologische Theorien

2.1Rational Choice Theory (RCT)

2.2Anomietheorie

2.3Neutralisierung – kognitive Verzerrung

2.4General Theory of Crime

2.5Die voluntaristische Kriminalitätstheorie

2.6Theorie der sozialen Kontrolle

3 Das Bedürfnis-Wahl-Handlung-Modell (BWH) kriminellen Verhaltens

3.1Charakteristika des Bedürfnis-Wahl-Handlung-Modells (BWH)

3.2Beziehung des BWH-Modells zu GLM, RNR und Desistance

3.2.1BWH und GLM

3.2.2BWH und RNR

3.2.3BWH und Desistance

3.2.4Synoptische Gegenüberstellung von RNR, GLM und BWH

4 Rückfallprognosen

4.1Verfahren zur Rückfallprognose

4.2Spezifika der Bewährungshilfe

4.3Prognostischer Dreischritt

4.3.1Delikthypothese

4.3.2Postdeliktische Entwicklung

4.3.3Rückfall- und Interventionsprognose

Teil II Handlungsschritte für die Praxis

5 Erhebung

5.1Unterlagen

5.2Themen und Items

5.3Prozedere

6 Betreuungsintensität

6.1Kategorienmodell

6.2Risiko- und Bedarfsprinzip

6.3Synthese

6.4Dauer und Frequenz

6.5Terminversäumnisse

7 Interventionsplanung

7.1Das bifokale Behandlungsmodell

7.2Das Trans-Theoretische Modell (TTM)

8 Kernkompetenzen in der Straffälligenhilfe

8.1Beziehungsaufbau

8.2Prosocial Modelling (PM)

8.3Motivierende Gesprächsführung

8.3.1Motivation zur Veränderung aufbauen (erste Phase)

8.3.2Selbstverpflichtung für Veränderungen verstärken (zweite Phase)

8.3.3Fallen

8.4Problemlösetraining

8.5Kognitiv-behavioristische Interventionen

8.5.1ABC-Modell von Ellis

8.5.2Kognitive Therapie

8.5.3Kognitive Umstrukturierung

8.5.4Hedonistisches Kalkül

8.5.5Rückfallvermeidung

9 Spezifische Interventionsziele

9.1Wohnen, Arbeit/Ausbildung, finanzielle Situation

9.2Soziale Kontakte

9.3Werte

9.4Selbststeuerung

9.4.1Substanzkonsum

9.4.2Psychosen

9.4.3Persönlichkeitsstörungen

10 Berichterstattung

10.1Inhalte

10.2Zeitpunkt

10.3Stil

10.4Nutzen

11 Gerichtshilfe

11.1Ermittlungsberichte

11.2Vollstreckungsberichte

11.3Theoretische Überlegungen

11.4Setting

11.5Leitfaden

11.6Gerichts-„Hilfe“

11.7Spezifika von Gerichtshilfeberichten

Ausblick

Nachwort: Trost und Lust

Literatur

Sachverzeichnis

Das Online-Material zum Buch können Sie auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlags unter https://www.reinhardt-verlag.de herunterladen. Auf der Homepage geben Sie den Buchtitel oder die ISBN in der Suchleiste ein. Hier finden Sie das passwortgeschützte Online-Material unter den Produktanhängen. Das Passwort zum Öffnen der Dateien finden Sie im Buch vor dem Literaturverzeichnis.

Abkürzungen

AAT

Antiaggressivitätstraining

ABC-Modell

Activating Event, Believes, Consequences

APA

American Psychological Association

BGBW

Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg

BtMG

Betäubungsmittelgesetz

BWH-Modell

Bedürfnis-Wahl-Handlung-Modell

BZR

Bundeszentralregister

DRI-R

Dual Role Relationship Inventory

F&E

Forschung und Entwicklung

GG

Grundgesetz

GLM

Good Lives Model

GPCSL

General Personality and Cognitive Social Learning Theory of Criminal Conduct

IASSW

International Association of Schools of Social Work

IFSW

International Federation of Social Workers

JGG

Jugendgerichtsgesetz

JGH

Jugendgerichtshilfe

JVollzGB

Justizvollzugsgesetz

KU

Kognitive Umstrukturierung

LS/CMI

Level of Service/Case Management Inventory

LSI-R

Level of Service Inventory revised

MI

Motivational Interviewing

PM

Prosocial Modelling

R&R

Reasoning-and-Rehabilitation-Programm

RCT

Rational Choice Theory

RNR

Risc-Need-Responsivity Model

SDT

Self-Determination-Theory

StGB

Strafgesetzbuch

StPO

Strafprozessordnung

StVollzGB

Strafvollzugsgesetz

TTM

Transtheoretisches Modell

Geleitwort

„Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.“ (Lewin 1951, 169, eigene Übersetzung)

Es ist mir ein echtes Anliegen, diesem Buch von Ralf Kammerer ein gutes Geleit zu wünschen. Ich tue dies gerne aus drei Gründen:

1.Das Buch und sein Autor verwirklichen das, was Lutz Rössner vor vielen Jahren einmal den „rationalen Praktiker“ genannt hat. Er meint damit, dass Sozialarbeiter „nicht nur (mehr oder weniger bewährte) Verhaltenseinheiten (unreflektiert, quasi automatisch) anwenden, sondern […] Hypothesen (bzw. Theorien) absichtsbezogen und planvoll“ einsetzen (Rössner 1977, 68). Das Buch zeigt im besten Sinne diese Rationalität einer mit aktuellen Theorien reflektierten Praxis. Er widerlegt damit gleichermaßen das Vorurteil, dass eine gute Praxis keine gute Theorie braucht.

2.Das Buch und sein Autor belegen, dass Professionalität im Sinne einer Verbindung von Wissenschaft und Praxis nicht nur möglich ist, sondern real gelebt werden kann. Gerade in einer Situation, wo die Profession angefragt ist, für die von ihr behaupteten Wirkungen (z.B. innere Sicherheit, Resozialisierung) nicht nur ethische Maximen (z. B. Menschenrechte), sondern ein plausibles theoretisches bzw. empirisches Gerüst vorzulegen, zeigt Ralf Kammerer einen Weg auf, wie sich professionelles Handeln nach innen und außen begründen lässt.

3.Das Buch und sein Autor begeben sich in einen Dialog mit anderen auf einer Ebene, die ihn raus aus dem geschützten Beratungszimmer hinein in wissenschaftliche und praktische Diskurse führt. Es ist leicht, „die“ Wissenschaft oder „die“ Politik oder „die“ Wirtschaft zu kritisieren und diesen zu unterstellen, sie verträten wahlweise den praxisfernen Elfenbeinturm, die neue Punitivität oder die neoliberale Ökonomie. Einen eigenen Verbesserungsvorschlag zu machen, der sowohl theoretisch fundiert als auch praktikabel ist, nimmt nicht den vermeintlich leichten Weg externer Kausalattribution, sondern schöpft vielmehr eigene Ressourcen aus. Der Mut des Autors, das Ergebnis seiner vielfältigen Studien als Integration von Theorie und Praxis vorzulegen, sich damit auch angreifbar zu machen, verdient Respekt und Anerkennung, selbst dann, wenn man mit den gefundenen Lösungen nicht immer einverstanden ist.

Ich wünsche dem Buch eine weite Verbreitung, insbesondere bei den Bewährungshelfern und Bewährungshelferinnen sowie den Gerichtshelfern und Gerichtshelferinnen, aber auch bei Verantwortlichen für die Gestaltung der Dienste in den Ministerien und Landgerichten. Mögen sie sich anregen lassen von der Vielzahl der verarbeiteten Theorien und Methoden und mit diesen Anregungen im Rücken die eigene Praxis reflektieren und verbessern.

Eichstätt, im Oktober 2022Prof. Dr. Wolfgang Klug

Einleitung

Im Laufe ihres Bestehens hat die deutsche Bewährungshilfe schon viele Moden mitgemacht bzw. sich schon auf viele verschiedene Theorien berufen und daraus ihre Identität abgeleitet. Immer wieder rückten neue Ideen in den Fokus und veränderten das berufliche Handeln (Braun 2014). Allerdings konnte innerhalb der Berufsgruppe kein Konsens erzeugt werden und allgemeine Standards existierten nicht.

In jüngerer Vergangenheit rückte nun eine in der anglophonen Welt bereits vielfach bewährte Theorie in den Fokus, die große Aufmerksamkeit erhielt, aber auch bald Kontroversen nach sich zog – die Risikoorientierung, und hier hauptsächlich die Arbeiten von Bonta und Andrews (2017). Die Bewährungshilfe schien sich auf ihre Kernaufgabe der Rückfallvermeidung besinnen zu wollen, sicher auch bedingt durch eine sich immer weiter ausdifferenzierende soziale Hilfelandschaft und die daraus resultierende Suche nach Abgrenzung bzw. nach einem Alleinstellungsmerkmal. Die Fokussierung auf das Negative, also das alleinige Bearbeiten der kriminogenen Eigenschaften der Klienten, wurde jedoch bald mit dem Verweis darauf kritisiert, dass der Mensch nicht als Bündel von Risikomerkmalen betrachtet werden dürfe. Eine sozialarbeiterischen Ideen eher zugängliche Theorie schien mit dem Good Lives Model von Ward und Kollegen (Ward & Steward, 2003, Ward & Maruna, 2007) gefunden. Die hier favorisierte Arbeit mit den Bedürfnissen der Klienten, die Kriminalität durch den Aufbau von Ressourcen und quasi als Nebenprodukt eines „guten Lebens“ reduzieren will, erschien in das Theoriegebäude der sozialen Arbeit leichter integrierbar (Kammerer 2019). Das Problem jedoch, das beide Theorien aufweisen, ist, dass deren Grundlagenwerke immer noch nur in englischer (und französischer) Sprache vorliegen, was einer allgemeinen Rezeption der ihnen zugrunde liegenden Annahmen entgegenzustehen scheint. Wie schon in der Vergangenheit erlangen wieder nur einzelne Versatzstücke und Komponenten der Theorien Bekanntheit und werden gleichsam ohne eigenes Fundament in die Loseblattsammlung der Bewährungshilfe einsortiert.

Auf der Homepage des DBH e.V., des Fachverbands für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik, wurden die Qualitätsstandards der Ambulanten Sozialen Dienste der Justiz fast aller Bundesländer außer Berlin und Baden-Württemberg veröffentlicht (DBH e.V. 2022). Hier ist nachzulesen, welche Standards sich die einzelnen Bundesländer für die Organisation ihrer Bewährungs- und Gerichtshilfe gegeben haben. Zwar scheint bisweilen das Risc-Need-Responsivity Model (RNR) von Bonta und Andrews (2017), demzufolge sich die Behandlung von Straftätern an dem von ihnen ausgehenden Risiko, ihren kriminogenen Bedarfen und ihrer Ansprechbarkeit orientieren soll, zwischen den Zeilen durch. Doch bemerkenswerterweise erwähnt kein einziges Bundesland in seinen Standards, von welcher Kriminalitätstheorie dort ausgegangen wird oder auf welche wissenschaftlichen Erkenntnisse man sich bezieht.

Grundsätzlich scheint es mit dem Vertrauen in die Wissenschaft unserer immerhin akademischen Berufsgruppe nicht weit her zu sein, wie es Ghanem in seiner Befragung bayrischer Bewährungshelferinnen zum Verhältnis von Wissenschaft und Bewährungshilfe darstellt. Wissenschaft, so erfuhr Ghanem von den Kolleginnen, „bietet zum einen keine Sicherheit oder Garantie für gelingende Arbeit […]“ (Ghanem 2021, 54), zum anderen wiesen die Erkenntnisse eine fragliche Aussagekraft und Objektivität auf, denn „da gibt es keine wirkliche Wahrheit. Ich kann alles Mögliche als Sozialwissenschaft verkaufen“ (Ghanem 2021, 54). Wissenschaft sei nicht funktional, um Probleme der konkreten Fallarbeit zu lösen, sie sei zu abstrakt und allgemein, um komplexe Fälle zu erklären, sie sei „totes Wissen“ (Ghanem 2021, 54). Wissenschaft koste vielmehr (Frei-)Zeit und bedeute den Verlust von Gewohntem und von Sicherheit.

Wissenschaft könne aber eigenes Handeln legitimieren und so eine gewisse Schutzfunktion ausüben. Nicht zuletzt könne man damit auch eigene Interessen und die der Adressaten gegenüber z. B. dem Gericht durchsetzen. Wenn „das Wissen eigenen Interessen entspricht, werden die Kosten dafür aufgebracht“ (Ghanem 2021, 57). Ghanem weist allerdings darauf hin, dass die Ergebnisse qualitativer Studien nur bedingt generalisierbar sind.

Dennoch: Nach wie vor fehlt der Bewährungshilfe ein in sich konsistentes Vorgehen, das ausgehend von einer konsensfähigen Theorie kriminellen Handelns durch strukturierte Erhebung der sich daraus ergebenden relevanten Variablen das je individuelle Bedingungsgefüge der Kriminalität des einzelnen Klienten ermittelt und seine Prognosen und Interventionen darauf aufbaut.

Dieser Mangel führt dazu, dass manche Standards der je individuellen Konzepte der Bundesländer z. T. seltsam unverbunden im Vergleich zu anderen Konzeptteilen wirken. Er führt ebenfalls dazu, dass Vorgaben bisweilen in Zweifel gezogen und deshalb nicht oder nur mangelhaft umgesetzt werden (z.B. Klug/Niebauer 2022). Das z.B. in Baden-Württemberg zur Überwachung der Einhaltung von Qualitätsvorgaben eingesetzte Controlling (Heitz 2021) überprüft daher die Compliance der Mitarbeitenden, also wie stringent das Konzept umgesetzt wird.

Der Begriff der Compliance ist der Medizin entlehnt, wo er die Einhaltung der Therapievorgaben der Ärztin durch den Patienten meint. Compliance geht von einem paternalistischen Behandlungsparadigma aus (Schulz 2009), also dass die Ärztin weiß, was für den Patienten gut ist, und ihm eine Therapie verordnet, die dieser einzuhalten hat. Demgegenüber steht das Prinzip der Adhärenz, das den Patienten als aktiven Partner im Behandlungsprozess berücksichtigt. In der partizipativen Entscheidungsfindung wird der Patient umfassend informiert und entscheidet gemeinsam mit der Ärztin über die Therapie (Ernstmann 2020). Oder wie Durnescu (2020) im Hinblick auf die Klienten formuliert:

„Zur Compliance gehört eine passive Unterordnung der Person unter die Anordnungen des Bewährungshelfers. Wohingegen Adhärenz eine aktivere Beteiligung an der Behandlung impliziert (…) Bei Straftätern: Wenn sie genau wissen, was von ihnen erwartet wird, wenn sie angeleitet werden, wie sie ihre Aufgaben zu erfüllen haben und an der Gestaltung der Aufgaben beteiligt werden, neigen sie eher dazu, die Bewährungsweisungen einzuhalten“ (Durnescu 2020, 43f, eigene Übersetzung).

Dieser Maxime sollte also der Betreuungsprozess in der Bewährungshilfe folgen, da auch hier die Klienten nicht zur Mitarbeit gezwungen werden können und letztlich die Konsequenzen möglicher Verweigerung selbst zu tragen haben (Durnescu 2020).

Dafür bedarf es allerdings ebenso wie in der Medizin einer in Theorien geschulten und praktisch erfahrenen Expertin, die den Klienten nach erfolgter Anamnese über die daraus folgende Diagnose (Delikthypothese), deren mögliche Therapien (konkrete Interventionen) sowie mögliche Folgen (Inhaftierung) bei Nichteinhaltung informieren kann. Auch hier wird die Expertin ihren Ansatz nur dann überzeugend vermitteln und vertreten, wenn sie die zugrunde liegende Theorie kennt und selbst davon überzeugt ist.

Dieses Buch soll das Basiswissen für dieses in sich konsistente Vorgehen zur Verfügung stellen. Es ist der Versuch, unter Rückgriff auf eine psychologische Erklärung motivierten Handelns und mit Bezug auf anerkannte kriminologische Theorien zunächst einen eigenen Mehrfaktorenansatz zu entwickeln und daraus konsequent die Handlungsschritte in der Betreuung der Bewährungshilfeklientel herzuleiten. Die Reichweite des Ansatzes soll auf die für die Bewährungshilfe relevanten Faktoren beschränkt bleiben, also auf jene Bereiche, die sie und ihre Kooperationspartner in der Arbeit mit der Klientel beeinflussen können. Diese strikte Praxisorientierung soll gleichzeitig dem Vorwurf der Beliebigkeit der Faktorenauswahl, der Mehrfaktorenansätzen üblicherweise gemacht wird, begegnen.

Das im Folgenden Ausgeführte weist Parallelen zu den Darstellungen auf, wie wir sie aus unseren Physikbüchern kennen. Auch ich habe damals nicht alles verstanden, empfand aber die Mechanik, zumal als Radfahrer, als den noch am besten verständlichen Bereich. Man hatte allerdings zur Kenntnis zu nehmen, dass bei der Erläuterung der Prinzipien der Luft- und Reibungswiderstand nicht berücksichtigt wurde. Diese Phänomene wurden wohl vernachlässigt, weil sie in unterschiedlichen Situationen in unterschiedlicher Intensität auftreten. Das Prinzip blieb jedoch stets das gleiche, wenn auch das Ergebnis durch jene Widerstände verzerrt wurde.

So ist es auch hier: Die dargestellten Prinzipien sollten grundsätzlich bei allen Klienten gültig sein. Bei manchen „Kunden“, im Sinne von de Shazer und Berg (Berg/Miller 2018), wird man wenig Widerstand erleben und wird zielstrebig gemeinsam mit den Klienten die aus der Anamnese entwickelten Interventionen durchführen können – als ob man mit dem Rad auf frischem Asphalt bergab rollte. Bei anderen, reaktanten, vielleicht persönlichkeitsgestörten Klienten hingegen wird es sich anfühlen, als ob man mit fast platten Reifen und Gegenwind auf Kopfsteinpflaster fährt. Das Fortkommen ist weitaus beschwerlicher, das Prinzip bleibt aber das gleiche, wenn man auch mehr Energie aufwenden muss, um ans Ziel zu gelangen.

Dies sei auch all jenen gesagt, die sich durch die Schwierigkeiten des täglichen Geschäfts haben entmutigen lassen und nun meinen, man könne in der Arbeit mit Menschen nun mal nicht nach starren Prinzipien handeln, weil eben jeder anders ist (z. B. Cornel/Kawamura-Reindl 2021). Man kann! Verlieren Sie das Ziel nicht aus den Augen, handeln Sie nach den immer gleichen Prinzipien, gehen Sie aber dabei auf jede Klientin individuell ein.

Wie vielleicht schon aufgefallen ist, werde ich in diesem Text der Gendergerechtigkeit zu genügen versuchen und gleichzeitig die Lesbarkeit wahren, indem ich weibliche und männliche Geschlechtsbezeichnungen alternierend benutze.

Ich widme dieses Buch meinem ehemaligen Chef, Mentor, Kollegen und heutigem Freund Wilhelm S. Schmitt. In deiner integren und stets zugewandten Art und deinem sachorientierten und bis zum letzten Tag innovativen Engagement bist du mir bis heute ein Vorbild.

Teil I

Theoretische Grundlagen und die Entwicklung des BWH-Modells

1Juristische und psychologische Grundlagen

1.1Aufgaben der Bewährungshilfe

1.1.1Vermeidung von Rückfallkriminalität

§ 56d StGB, die Grundlage unserer Arbeit zumindest mit Erwachsenen, lässt nur wenig Interpretationsspielraum darüber, was Aufgabe der Bewährungshilfe ist. Im Absatz 1 heißt es:

„Das Gericht unterstellt die verurteilte Person für die Dauer oder einen Teil der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung einer Bewährungshelferin oder eines Bewährungshelfers, wenn dies angezeigt ist, um sie von Straftaten abzuhalten“ (§ 56d StGB).

Das Gericht unterstellt also Straftäter der Bewährungshilfe, um Rückfallkriminalität insgesamt zu vermeiden.

Wie die Bewährungshilfe aber Rückfallkriminalität vermeiden soll, hat der Gesetzgeber im Ungefähren gelassen. In § 56d Abs. 3 Satz 1 wird hierzu lediglich noch ausgeführt: „Die Bewährungshelferin oder der Bewährungshelfer steht der verurteilten Person helfend und betreuend zur Seite“ (§ 56d Abs. 3 Satz 1 StGB). Dies ist wahrscheinlich auch der Grund für die verschiedenen Wege, die bisher beschritten wurden, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Manchmal werden Hilfe und Betreuung auch als Ziel der Arbeit der Bewährungshilfe interpretiert, wobei hier aus dem Blick zu geraten scheint, dass Hilfe immer Hilfe bei oder für etwas ist und auch Betreuung kein Selbstzweck ist, sondern einen Grund – häufig Unselbstständigkeit in gewissen Belangen – und ein Ziel braucht. Es wird also zunächst festgestellt: Die gesetzlich festgelegte Aufgabe der Bewährungshilfe ist es, Rückfallkriminalität zu vermeiden. Daneben wird die Erfüllung von Auflagen und Weisungen überwacht und über die Lebensführung der verurteilten Person berichtet.

Dies dürfte auch für die Führungsaufsicht gelten, da gemäß § 68 StGB das Gericht dann Führungsaufsicht anordnen kann, wenn die Gefahr besteht, dass jemand weitere Straftaten begehen wird. Im Folgenden wird hauptsächlich auf die Bewährungshilfe eingegangen, die Prinzipien gelten jedoch ebenso für die Betreuung in Führungsaufsichtsfällen.

Im Jugendstrafrecht wird übrigens kein Ziel der Arbeit der Bewährungshilfe genannt. Neben der Überwachung von Auflagen und Weisungen soll der Bewährungshelfer aber gemäß § 24 Abs.3 Satz 3 JGG die Erziehung des Jugendlichen fördern. In Verbindung mit § 21 Abs. 1 Satz 1 JGG kann dann zumindest geschlossen werden, dass dies einem „rechtschaffenen“ (Definition aus dem Duden: „tüchtig und von hohem moralischem Rang“ (Dudenredaktion 2010, 752)) Lebenswandel dienen soll. Hier könnte eine zeitgemäße Wortwahl für mehr Klarheit sorgen.

Das alleinige Ziel, die Rückfallgefahr von Straffälligen zu verringern, wird auch in den European Probation Rules genannt. Sie sind eine im Jahr 2010 angenommene Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedsstaaten über die Grundsätze der Bewährungshilfe. Dort heißt es in Artikel 1:

„Ziel von Einrichtungen der Bewährungshilfe ist, die Rückfallgefahr zu verringern, indem positive Beziehungen zu Straffälligen aufgebaut werden, um diese zu beaufsichtigen (einschließlich notwendiger Kontrolle), anzuleiten und zu unterstützen und ihre erfolgreiche soziale Eingliederung zu fördern. Bewährung trägt somit zur Sicherheit der Gemeinschaft und zu einer ausgewogenen Rechtspflege bei“ (DBH e.V. 2010, Artikel 1).

Die Fokussierung der Arbeit der Bewährungshilfe auf die Verringerung des Rückfallrisikos der Klientinnen wird oftmals auch pejorativ als Risikoorientierung bezeichnet und noch immer von manchen Vertretern der Berufsgruppe kritisch gesehen. Als ich 2014 mit einer baden-württembergischen Arbeitsgruppe zu einem Arbeitstreffen bei unserer damaligen Muttergesellschaft Neustart in Wien war, sind wir anschließend mit dem Taxi zum Flughafen gefahren. Der neugierige Taxifahrer wollte wissen, weswegen wir dort waren. Mein Kollege erklärte ihm, dass wir Prozesse und die Ausrichtung der Bewährungshilfe neu entwickeln und unsere Arbeit nun am von den Klienten ausgehenden Risiko orientieren würden. Verwundert fragte er: „Woran haben Sie sich denn vorher orientiert?“

Dass Risikoorientierung bei der Rehabilitation von Straffälligen kontrovers diskutiert wird (z. B. Cornel/Kawamura-Reindl 2021), kann man Laien nicht erklären. Es klingt ein bisschen so, als wenn die Medizin sich nun entschlossen hätte, fortan krankheitsorientiert zu arbeiten, und nicht alle einverstanden wären. Dennoch werden die nun spät (das RNR-Prinzip entstand ab den 1980er Jahren) erkannten und mühevoll eingeführten, nachweislich effektiven Methoden von einigen Praktikern und manchen Vertretern der Wissenschaft abgelehnt (Klug/Niebauer 2022), weil sie nicht zum Ethos der Berufsgruppe passten. Es wird sogar infrage gestellt, ob es denn überhaupt Aufgabe und Fähigkeit der Bewährungshilfe sei, das von Klientinnen ausgehende Risiko einzuschätzen und zu bearbeiten (Schneider 2021). Und dies betrifft durchaus nicht nur ältere Kolleginnen, die nach Jahren engagierter und zu dieser Zeit richtiger (!) Arbeit sich nun schwertun, neue Methoden zu lernen und neue Standards anzuerkennen, sondern durchaus auch jüngere Kollegen, die erst kurz im Berufsfeld arbeiten.

Dass Risikoorientierung nicht bedeutet, dass man die „KlientInnen in ihrer Menschenwürde“ (Cornel/Kawamura-Reindl 2021, 302) nicht grundsätzlich anerkennt, haben Bonta, Andrews und andere nicht erwähnt. Sie ließen es aber nicht deshalb unerwähnt, weil ihnen die Menschen bei ihrer Arbeit egal waren, sondern weil sie Prinzipien effektiver Straftäterbehandlung beschrieben (Andrews et al. 1990) und wahrscheinlich nicht damit gerechnet haben, man müsse dazusagen, dass Psychologinnen und Sozialarbeiter mit den Menschen, mit denen sie arbeiten wollen, zunächst einmal eine Beziehung aufbauen müssen. Dass sie deren Ängste und Vorbehalte ernst nehmen und auf sie eingehen müssen – das ist es auch, was sie mit dem zweiten „R“, der Responsivity, der Ansprechbarkeit, meinten.

Bewährungshilfe ist per se risikoorientiert, weil sie das Risiko eines Rückfalls senken will (bestenfalls auf null), so wie die Medizin Krankheiten heilen will. Risikoorientierung darf übrigens nicht mit dem Kontrollaspekt des doppelten Mandats verwechselt werden. Kontrolle durch Bewährungshilfe ist ohnehin eine Illusion. Wenn Sie engen Kontakt zu Ihren Klientinnen haben, sehen Sie sie in ca. zwei Promille der Bewährungszeit (zwei Termine zu 45 Minuten pro Monat). Hier werden sie sich i. d. R. von einer guten bzw. sozial erwünschten Seite zeigen. Wirklich verpflichten können Sie sie nur dazu, Auflagen und kontrollierbare Weisungen zu erfüllen, weil nur hier Sanktionen drohen. Dies ist im Übrigen auch der einzige Kontrollaspekt, den der Gesetzgeber vorgesehen hat. Im § 56d Abs. 3 Satz 2 heißt es lediglich: „Sie oder er überwacht im Einvernehmen mit dem Gericht die Erfüllung der Auflagen und Weisungen sowie der Anerbieten und Zusagen“ (§ 56d Abs. 3, Satz. 2 StGB).

Wenn Klienten sich weigern, die Höhe ihrer Miete, ihrer Schulden oder ihres Verdienstes anzugeben, mit wem sie ihre Freizeit verbringen, wie sie selbst über ihr Delikt denken, oder Sie mehr oder weniger dreist anlügen, werden Sie sie nicht zwingen können zu kooperieren. Das ist kein Bewährungsverstoß, die Richterin wird Ihnen nicht beispringen. Deshalb brauchen auch risikoreduzierende Maßnahmen eine gute Arbeitsbeziehung und Vertrauen, das Sie sich als erste Intervention aufbauen müssen (Kap. 8.1). Bewährungshilfe ist daher in erster Linie tatsächlich Hilfe. Allerdings nicht unbedingt erwünschte Hilfe und auch nicht automatisch Hilfe bei den Belangen, die sich der Klient wünscht. Bewährungshilfe ist die Hilfe dabei, keine weiteren Straftaten zu begehen.

1.1.2Übergangsmanagement

Über das Übergangsmanagement sind viele Arbeiten geschrieben worden (z.B. Maelicke/Wein 2016, Matt 2014). Meist ist dabei der Übergang von der Haft in die Freiheit gemeint und es werden Strategien zur Vermeidung des „Entlassungslochs“, also des Betreuungsvakuums nach der Haftentlassung, durch „durchgehende Betreuung“ beschrieben. Nur selten wird auch der umgekehrte, freilich ebenso wichtige Übergang von der Bewährung (bzw. Bewährungshilfe) in die Haft beschrieben. Tatsächlich ergeben sich aber aus dem Übergang von der Haft in die Freiheit weitere Aufgaben der Bewährungshilfe.

Das Ziel des Vollzuges der Freiheitsstrafe z. B. gem. § 1 JVollzGB III Baden-Württemberg (in anderen Bundesländern vergleichbar) ist, dass der Gefangene fähig werde, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“ (§ 1 JVollzGB III Baden-Württemberg). Damit ist, wenn auch nicht explizit so benannt, seine Resozialisierung gemeint. Aus Art. 2 Abs. 1 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit) i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG (Würde des Menschen) ergibt sich sogar ein grundrechtlich geschütztes Recht auf Resozialisierung der Strafgefangenen. Zudem hat der Justizvollzug gemäß dem Eingliederungsgrundsatz Gefangene von Beginn an auf die Rückkehr in die Gesellschaft vorzubereiten (Laubenthal 2019). So heißt es in § 2 Abs.4 JVollzGB III Baden-Württemberg: „Der Vollzug ist darauf auszurichten, dass er den Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern.“

Resozialisierung ist aber auch „als ein ‚Prozess‘ zu verstehen, der sich nicht nur auf den Strafvollzug, sondern vor allem auf Angebote außerhalb des Vollzuges bezieht. Resozialisierung zielt nach Cornel auf die vom Strafvollzug und anderen Kontrollorganisationen angestrebte Befähigung der Probanden zu einem Leben ohne (Rechts-)Konflikte nach der Entlassung“ (Maelicke/Wein 2016, 35).

Die eigentliche Resozialisierung findet also außerhalb des Gefängnisses statt. Wurde die Klientin der Bewährungshilfe unterstellt bzw. hat sie qua Gesetz eine Bewährungshelferin, wenn Führungsaufsicht gemäß § 68 f. StGB eingetreten ist, geht gewissermaßen die Aufgabe der Hilfe bei der Resozialisierung vom Vollzug auf die Bewährungshilfe über.

Aus dieser Pflicht ergeben sich Aufgaben, die nicht unmittelbar mit dem Vermeiden von Rückfallkriminalität zu tun haben, nämlich die Hilfe bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Konkret bedeutet dies z. B. Unterstützung bei Anträgen auf Transferleistungen und Krankenversicherung oder Suche von Arbeit und eigenem Wohnraum sowie eine Art allgemeines Coaching, besonders nach längeren Haftstrafen. Diese Gleichzeitigkeit von Hilfe und Kontrolle wird als doppeltes Mandat bezeichnet und ist konstitutiv für die Soziale Arbeit in der Justiz (Klug/Niebauer 2022).

Diese Aufgaben haben jedoch einen anderen Grad der Verbindlichkeit für Bewährungshilfe und Klientel. Aus § 56d StGB ergibt sich sowohl für die Institution als auch für die Betreuten eine Pflicht. Die Klienten werden der Institution unterstellt, um sie von Straftaten abzuhalten. Es ist also die berufliche Pflicht von Bewährungshelfern, sich zu bemühen, ihre Klienten von Straftaten abzuhalten. Und der Klient hat gewissermaßen die Pflicht, dies zu dulden – entzieht er sich beharrlich der Bewährungshilfe, muss er mit dem Widerruf der Strafaussetzung rechnen (§ 56 f Abs. 2 StGB).

Auf die Resozialisierung haben Klientinnen jedoch nur ein Recht. Für die Bewährungshilfe, auf die die Aufgabe der Hilfe bei der Resozialisierung übergegangen ist, bedeutet dies, dass sie ihren Klientinnen diese Hilfe anbieten muss, sie aber nur geben darf, wenn die Klientin sie erbittet. Es ist also weder für die Bewährungshilfe noch für die Klienten eine Pflicht zur Resozialisierung ableitbar.

Es steht zwar außer Frage, dass Resozialisierung und „Abhalten von Straftaten“ vielfach Schnittmengen aufweisen können, diese sind jedoch nicht absolut. So führt Matt (2014) beispielsweise aus, dass es, wenn auch häufig angenommen, keineswegs einen direkten Zusammenhang von Arbeitstätigkeit und Straffälligkeit gibt und es eben auch die „Kriminalität der Braven“ (Matt 2014, 15) gebe. Berufliche Integration funktioniere nur dann als Ausstiegsfaktor, wenn sie „für die Person von Bedeutung ist und sie sie als einen Teil ihres Werdeganges, ihrer eigenen Aktivität fasst“ (Matt 2014, 17). Auch Cornel und Kollegen erwähnen, dass es keine Indizien dafür gebe, dass arme Menschen Strafgesetze häufiger verletzen als reiche (Cornel/Kawamura-Reindl 2021), ebenso äußern sich Klug und Niebauer: „Es ist keineswegs so, dass mit einer äußerlich stabilisierten Lebenslage (z.B. Arbeit und Wohnung) automatisch das Rückfallrisiko sinkt“ (Klug/Niebauer 2022, 50).

Dies bedeutet, dass im Einzelfall abgewogen werden muss, ob Integrationsdefizite auch kriminalitätsbegünstigende Wirkung haben. Ist dies nicht der Fall, kommt es auf den Wunsch des Klienten an, ob Hilfemaßnahmen Pflicht und Recht der Bewährungshilfe sind (Kap. 6.2). Dies steht im Einklang mit den Ethics of Social Work von IFSW und IASSW, wo es unter Punkt 4.1.1 heißt:

„Das Recht auf Selbstbestimmung achten – Sozialarbeiter/-innen sollen das Recht der Menschen achten und fördern, ihre eigene Wahl und Entscheidung zu treffen, ungeachtet ihrer Werte und Lebensentscheidungen, vorausgesetzt, dies gefährdet nicht die Rechte und legitimen Interessen anderer“ (IFSW 2004, Punkt 4.1.1).

Es kann also formuliert werden: In der Betreuung von Haftentlassenen ist es zudem Aufgabe der Bewährungshilfe, diese auf deren Wunsch bei der Wiedereingliederung in das Leben in Freiheit zu unterstützen.

Wenn auch nicht gesetzlich ableitbar, so erscheint es doch evident, dass diese Unterstützungsleistungen auch jenen Klientinnen angeboten werden sollten, deren Strafe gemäß § 56 StGB bzw. § 21 JGG zur Bewährung ausgesetzt wurde, die also nicht in Haft waren.

1.2Warum begehen Menschen Straftaten?

Wie jedes andere menschliche Verhalten haben auch Straftaten ein erwünschtes Ziel. Der Mensch hat ein mehr oder weniger bewusstes Bedürfnis, das er versucht, mehr oder weniger zielgerichtet zu befriedigen. Betrachtet man straffälliges, also unter Strafe gestelltes (weil fremdschädigendes) Verhalten im Gegensatz zu legalem Verhalten, fällt auf, dass jenes häufig schneller oder mit weniger Aufwand zum Ziel führt als dieses – etwa die Körperverletzung als schnelle und effektive Vergeltung für erlebtes Unrecht statt der aufwendigen, langwierigen und im Ausgang ungewissen Anzeige des Kontrahenten. Warum aber ist das aufwendigere legale Verhalten die Regel und das straffällige Verhalten die Ausnahme? Weil ein Verhalten meist nicht nur einen erwünschten Effekt hat, sondern auch weitere, oft unerwünschte Effekte. Die meisten Menschen sind sich offensichtlich dieser unerwünschten Effekte strafbaren Handelns bewusst und in der Lage, ihr Handeln danach auszurichten.

Um die Frage, warum Menschen Straftaten begehen, zu beantworten, geht es also zunächst um die Frage, welche Ziele diese Menschen verfolgen (Sind dies andere als die der gesetzestreuen Bürger?) und dann, warum sie sich nicht wie die meisten Menschen von den unerwünschten Effekten (Strafverfolgung, soziale Ächtung, moralische Bedenken) von ihrem Tun abhalten lassen. Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden, um daraus ein allgemeingültiges und auf den Einzelfall adaptierbares Modell kriminellen Handelns zu entwickeln.

1.3Theorie motivierten Handelns nach Heckhausen

„Die aktuell vorhandene Motivation einer Person, ein bestimmtes Ziel anzustreben, wird von personenbezogenen und situationsbezogenen Einflüssen geprägt. Dazu gehören auch die antizipierten Handlungsergebnisse und ihre Folgen“ (Heckhausen/Heckhausen 2010, 3).

Die personenbezogenen motivationalen Einflüsse auf das Handeln beruhen auf drei Komponenten:

1.universelle Handlungstendenzen und Bedürfnisse, also allen Menschen gemeinsame Grundbedürfnisse wie Hunger und Durst, sowie das allgemeine Streben nach Wirksamkeit, die lebenslang bestimmend für motiviertes Handeln sind.

2.Motivdispositionen, auch implizite Motive, die einzelne Individuen unterscheiden (also früh gelernte Präferenzen und habituelle Gewohnheiten) und die erklären, warum sich Personen voneinander unterscheiden, aber über Zeiten und Gelegenheiten hinweg konsistent handeln, sowie

3.Zielsetzungen, auch explizite Motive, also bewusste Selbstbilder, Werte und Handlungsziele der Person.

Situationsbezogene motivationale Einflüsse auf das Handeln werden als „Anreiz“ bezeichnet und meinen positive und negative Erwartungen, die eine Person mit einer bestimmten Situation verbindet. Wobei sowohl von der Handlung und deren Ergebnis als auch von dessen Folgen Anreize ausgehen können.

Situationsfaktoren und Personenfaktoren können jedoch nicht isoliert voneinander betrachtet werden, denn „Person setzt immer schon Situation und Situation Person voraus“ (Heckhausen/Heckhausen 2010, 6). Das bedeutet, dass Personen bestimmten Situationen ihren je eigenen Bedeutungsgehalt verleihen. Die Situation wird durch den Erfahrungsfilter der Person wahrgenommen und interpretiert.

Mit Erwartung-mal-Wert-Modellen wird die Wahrscheinlichkeit von Verhalten vorhergesagt. Dabei ist die Erwartung gemeint, ein bestimmtes Ziel erreichen zu können. Diese hängt in hohem Maße von situativen Faktoren ab. Der Wert des Verhaltens, den die Person wahrnimmt, hängt von deren impliziten und expliziten Motiven ab, also von individuellen Präferenzen und Zielsetzungen (Heckhausen/Heckhausen 2010).

Um nun aus Handlungszielen Handlungen werden zu lassen, müssen simultan vorliegende Motivationstendenzen reguliert werden. Dieser Entscheidungsprozess, bei welcher Gelegenheit auf welche Weise reagiert wird, wird Volition genannt. Sie kann mit dem Handlungsphasenmodell (Rubikon-Modell) beschrieben werden, das die Phasen Abwägen, Planen, Handeln und Bewerten unterscheidet. Die interindividuellen Unterschiede bei diesem Selbststeuerungsprozess sind jedoch gravierend und hängen wesentlich von der Selbstwirksamkeitserwartung des Individuums ab (Heckhausen/Heckhausen 2010).

Wesentlich für das im Folgenden vorgestellte BWH-Modell (Bedürfnis-Wahl-Handlung-Modell, Kap. 3) erscheint zunächst die Gliederung der personenbezogenen motivationalen Einflüsse. Auf oberster Ebene stehen hier universelle Bedürfnisse. Diese sind für alle Menschen, mithin auch für Straftäter, handlungsleitend. Sie sind vergleichbar mit den elf Primary Goods im Good Lives Model (GLM) von Ward und Maruna (2007). Die expliziten Motive bzw. Ziele werden hier als eine Ausdifferenzierung dieser Bedürfnisse verstanden. Sie sind es, die in konkreten Handlungssituationen angestrebt werden, vergleichbar mit den Secondary Goods im GLM (Ward/Maruna 2007). Im vorgestellten Modell erfahren sie im Gegensatz zu den stets unveränderlichen Bedürfnissen besondere Berücksichtigung. Die impliziten Motive als individuelle Präferenzen und Gewohnheiten werden als die internen Instanzen verstanden, die die Auswahl einer von mehreren Handlungsoptionen beeinflussen – im Modell also die Frage, ob ein Ziel mit legalen oder illegalen Mitteln angestrebt wird. Äußere Anreize triggern nun explizite Motive. Die Erwartung, das Ziel auf legalem oder illegalem Weg erreichen zu können, hängt von den Erfahrungen und Ressourcen des Individuums ab.

2Kriminologische Theorien

Kriminologische Theorien erklären die Entstehung, Entwicklung und Struktur von Kriminalität. Eine Theorie, die alle Formen der Kriminalität gleichermaßen erklären kann, gibt es bisher nicht. Mikrotheorien erklären die Gründe, die Individuen zu kriminellen Handlungen veranlassen. Makrotheorien erklären die Entstehung von Kriminalität durch gesellschaftliche Phänomene. Daneben gibt es die interaktionistischen Theorien von Kriminalität als sozialer Zuschreibung, den Labeling Approach