Bewährungsprobe - Martin M. Falken - E-Book

Bewährungsprobe E-Book

Martin M. Falken

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Beschreibung

Marek und Philipp erwartet eines Nachts in einer Unterführung eine böse Überraschung: Nach einer Party werden sie von zwei aggressiven und brutalen Männern angegriffen. Bei den Handgreiflichkeiten versucht sich Marek zu wehren und verletzt einen der Angreifer so stark, dass er dabei ums Leben kommt. Eine eindeutige Notwehrsituation, so scheint es zu Beginn. Doch eines Morgens steht die Polizei vor der Wohnungstür von Marek und Philipp. Es liegt ein Haftbefehl vor. Marek wird in U-Haft gebracht, wo er einsam und isoliert seine Tagebücher schreibt und über seine Ängste und Hoffnung sinniert. Er hat keine Ahnung, wie lange er bleiben muss – und ob auf ihn eine große Freiheitsstrafe wartet. Er ahnt nicht, dass ein sadistischer Gefängniswärter es auf ihn abgesehen hat und dass sich sein Freund in eine heiße Affäre stürzt. Obwohl Philipp die Avancen seines griechischen Ex-Liebhabers Stavros nicht abschlagen kann, kontaktiert er verzweifelt die gemeinsame Freundin Viola, um für Marek zu kämpfen. Sie ist eine junge Anwältin und bekannt für ihre Schlagfertigkeit. Fest entschlossen und davon überzeugt, Mareks Unschuld zu beweisen, tüftelt sie eine Verteidigungsstrategie aus. Während sie zielstrebig und ehrgeizig versucht, Marek aus der U-Haft zu boxen, lenkt sich Philipp immer öfter mit seinem ehemaligen Lover Stavros ab, betäubt im Sex seine Sorgen – und aus dem lodernden Erotikfeuer entwickelt sich ein ernsthaftes Liebesverhältnis, zumindest aus der Sicht des Lovers. Während die beiden erotische Stunden miteinander verbringen, dringt mitten in der Nacht ein bösartiger Gefängniswärter in Mareks Zelle, von dem er massiv erniedrigt wird. Mareks Psyche ist bereits angeknackst und Philipps Affäre entwickelt sich zu einem immer intensiveren Verhältnis, aus dem er sich selbst kaum mehr herauswinden kann. Als Viola bemerkt, dass Philipp seinen Freund betrügt, wird sie zornig. Umso entschlossener und tatkräftiger arbeitet sie daran, Marek endlich aus der U-Haft herauszuholen und wartet auf eine alles entscheidende Zeugenaussage, die das Blatt wenden könnte…

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Martin M. Falken

Bewährungsprobe

Von Martin M. Falken bisher im Himmelstürmer Verlag erschienen:

„Model zu haben?“ ISBN print: 978-3-86361-328-0

„Schatten eines Engels“ ISBN print: 978-3-86361-281-8

„Unter Beobachtung“ ISBN print: 978-3-86361-269-6

„Zusammenstöße“ ISBN print: 978-3-86361-172-9

„Papas unterm Regenbogen“ ISBN print: N 978-3-86361-352-5

„Familie unterm Regenbogen“ ISBN print: 978-3-86361-400-3

„Nachwuchs unterm Regenbogen“ ISBN print: 978-3-86361-473-7

„Gaylos“ ISBN print: 978-3-86361-479-9

„Jahrhundertgewitter“ ISBN print: 978-3-86361-561-1

Alle Bücher auch als E-book

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected]

Originalausgabe, September 2018

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Coverfoto: 123rf.com

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN print 978-3-86361-702-8

ISBN epub 978-3-86361-703-5

ISBN pdf: 978-3-86361-704-2

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

Teil 1

 

 

Ich besaß es doch einmal,

Was so köstlich ist!

Dass man doch zu seiner Qual

Nimmer es vergisst.

Johann Wolfgang Goethe, An den Mond

Philipp

Marek drückte mich an die Wand der Diskothek, die braungrünen Augen funkelten im künstlichen Licht einer Reklameschrift. Seine Hände fuhren unter mein T-Shirt, berührten meinen Bauch, meine Brust. Das lachsfarbene Hemd, das er trug, war weit aufgeknöpft, er hatte sich in der Disco heiß getanzt. Ich klammerte meine Hände an seine Schulter. Mein Mund näherte sich seinen heißen Lippen, ich spürte die feuchte Zunge.

Wir waren beide etwas angeheitert und als ich während des Kusses einen leichten Schwindel spürte und das dumpfe Dröhnen der Techno-Musik unter meinen Füßen fühlte, kam ein kühler Wind, der mich erschauern ließ, ein Wind, der in den Septembernächten wehte, wenn der Sommer abklingt. Ein Luftzug, den man nach einem heißen Sommer nicht mehr gewohnt war.

„Lass uns nach Hause gehen”, sagte ich.

„Gleich”, erwiderte Marek und gab mir einen weiteren Kuss. „Ich bin so verrückt nach dir!”

„Ist ja gut”, lachte ich. „Aber lass uns gleich im Bett weitermachen. Mir ist kalt.”

Marek aber wollte nicht aufhören, seine Zunge drang wieder in meinen Mund, ließ mich nicht mehr zu Wort kommen. Ich drückte ihn sachte zurück und holte Luft. Dann nahm Marek mich an die Hand und zog mich Richtung Straße. Weit und breit war kein Taxi in Sicht, kein einziger Autofahrer, kein Fußgänger. Wir liefen an der Hauptstraße entlang, überquerten sie einfach, was am Tag auf der vierspurigen Fahrbahn unmöglich war. Das gelbe Signal der Ampeln blinkte unermüdlich.

„Da ist ne Haltestelle”, sagte ich. Wir liefen dorthin und ich studierte mit meiner Handy-Taschenlampe den Fahrplan. „Der nächste Bus fährt um kurz vor sechs”, sagte ich enttäuscht.

„Wir hätten ja noch ein wenig in der Disco bleiben können”, erwiderte Marek.

„Ne, ich hab jetzt schon Kopfschmerzen. Und sobald Techno gespielt wird, kannst du mich sowieso vergessen.” Techno war eine der schlimmsten Musikrichtungen für mich, ja, ich würde das noch nicht mal als Musik bezeichnen. Es nervt vor allem dann, wenn man vor einem Lautsprecher steht und nichts anderes mehr wahrnehmen kann. Da fing Marek schon wieder an, an meinem Ohr zu knabbern.

„Nicht jetzt!”, sagte ich und wieder kam ein kalter Windhauch, der auf meinen Armen Gänsehaut verursachte. „Mir ist kalt.”

„Hab dir gesagt, du sollst deine Jeansjacke überziehen. Ich kann dich heißmachen!”

„Ich will nur nach Hause”, erwiderte ich und griff nach Mareks Hand. Uns blieb nun nichts anderes übrig, als nach Hause zu laufen. Die seltene Stille inmitten der Stadt war erholsam nach der ohrenbetäubenden Discomusik, aber auch unheimlich, nicht vertraut.

„Vielleicht hat ja schon ne Bäckerei auf”, sagte Marek. „Dann können wir direkt Brötchen holen.”

Doch wir kamen an keiner Bäckerei vorbei, sogar in der Tankstelle waren alle Lichter aus. Wir liefen über einen schlecht beleuchteten Parkplatz und hörten auf einmal das Signal einer Bahnschranke. Vor uns erleuchtete das rote Signal, die Schranken schlossen sich. Marek drückte meine Hand, um mich zur Unterführung zu ziehen.

„Ne, da geh ich nicht entlang. Nicht um diese Zeit!”, sagte ich.

„Sei nicht so memmenhaft!”

Ich folgte Marek und ging mit ihm die Treppe hinunter. Der Geruch von Urin und verschüttetem Bier waberte in der Nachtluft. Unten angekommen, leuchtete ich mit meinem Handy den Weg, da ich Angst hatte über Obdachlose oder irgendetwas anderes zu stolpern. Plötzlich hörten wir Männerstimmen und feste Schritte. Ich konnte auch das Wort „Schwuchteln” ganz deutlich hören. Mein Puls stieg, mein Herz pochte extrem schnell, auch vor Wut. Instinktiv löste Marek seine Hand von meiner und wir gingen nun zügig weiter.

„Die kriegen wir!”, hörte ich eine unbekannte Stimme rufen. Endlich am Ende der Unterführung angekommen, nahmen Marek und ich zwei Stufen auf einmal und am Ende der Treppe standen wir dann vor einem imposanten Kerl in schwarzer Kleidung, der seine Arme verschränkte.

„Lässt du uns vorbei?”, fragte Marek genervt. Der Typ schüttelte nur seinen Kopf und kam einen Schritt näher. Er grinste auf fiese Weise, was mir Angst machte.

„Lass uns zurückgehen”, flüsterte ich Marek zu, ohne den Typ aus den Augen zu lassen. Wir stiegen die Treppe wieder hinab. Vorsichtig schaute ich über meine Schulter zurück, wollte wissen, ob er uns folgte, doch er blieb komischerweise stehen.

„Scheiße!”, fluchte Marek, als von der anderen Seite ein korpulenter Mann mit kurzem Haar entgegenkam. Wir konnten durch das schwache Licht der Unterführung seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Diese Typen erschienen wie Silhouetten, der mitten aus der Dunkelheit entsprungen. Nur Umrisse. Ich redete mir ein, dass sie nur Spaß mit uns machten, weil sie gar nicht so alt wirkten, vielleicht gerade zwanzig Jahre oder so. Auch wenn das in Wirklichkeit nichts über ihre Absichten aussagen konnte, versuchte mich der Gedanke zu beruhigen, dass Marek und ich siebenundzwanzig Jahre waren – also deutlich älter als die lebenden Schatten. Mit weiteren irrationalen Gedanken versuchte ich meinen Puls zu beruhigen. Als wir bemerkten, dass die beiden Kerle uns umzingelten, wusste ich, dass wir uns wehren müssten, sollten wir angegriffen werden.

An den Händen des Mannes, der uns nun langsam entgegenkam, blitzte irgendetwas auf, es sah aus, als stülpte er einen Schlagring über seine rechte Hand, der das fahle Laternenlicht schwach widerspiegelte.

„Was wollt ihr? Geld?”, fragte Marek, der nicht so aufgeregt schien wie ich. Ich bekam kein einziges Wort heraus und blieb ebenfalls auf der Stelle stehen, war unfähig zu gehen. Wir behielten den Typen vor uns im Blick, bis ich einen heftigen Tritt in meinen Rücken spürte und nach vorne mit der Stirn auf den kalten Boden der Unterführung fiel. Ich war umnebelt, bekam nur barbarische Kampfschreie zu hören, spürte einen festen Tritt in den Bauch. Ich war der Bewusstlosigkeit nahe, ich konnte mich nicht mehr orientieren. Der nächste Tritt galt meinen Rippen, ich wollte nicht bewusstlos werden, während ich nach Atem rang und meine Hände instinktiv vor mein Gesicht hielt. Es wurde schwarz vor meinen Augen. Schritte. Stille.

„Marek”, murmelte ich. Mein Mund war trocken. Ich hatte kein Gespür dafür, wie viel Zeit zwischen den Tritten und meinem Aufwachen vergangen war. Mein Bewusstsein war offenbar fähig, Mareks Namen auszusprechen und sich um ihn zu sorgen. Meine Schmerzen konnte ich nicht mehr lokalisieren, die Rippen taten weh, an meiner Stirn floss Blut und tropfte auf den Boden. Ich versuchte mich aufzurichten, kam zögerlich und mit Gleichgewichtsstörungen auf meine Beine. Mein Gang war unsicher, ich stützte mich an der Wand der Unterführung ab und spürte den sich abblätternden Putz auf den Handflächen.

Ich sah wie einer der Typen Marek im Schwitzkasten hatte, während der andere ihm mit dem Schlagring ins Gesicht schlagen wollte.

„Hey, der ist ja doch noch wach!”, schrie der Kerl, der Marek festhielt und mich anstarrte. Der Mann mit dem Schlagring drehte sich sofort zu mir um. Ich sah, dass sich Marek in dem Moment aus dem Schwitzkasten lösen konnte. Er sprang mit voller Wucht auf den Rücken des Typen, der gerade mit seinem Schlagring nach mir ausholen wollte, und warf ihn zu Boden. Ich hörte ein Knacken, als der Schläger mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Erst erkannte ich in dem fahlen Licht die Flüssigkeit nicht, aber es bildete sich innerhalb von wenigen Sekunden eine Blutlache. Der andere Typ warf Marek unsanft vom Rücken des Schlägers und schüttelte seinen Komplizen: „Hey, was ist los? Sag doch was! Hallo!” Die Stimme des Unbekannten wirkte plötzlich gebrochen. Das passte gar nicht zu ihm.

Ein leichtes Beben unterbrach ihn, über uns ratterte ein Zug, der kein Ende mehr nehmen wollte, über die Schienen dahin. Marek wirkte in seinem unversehrten Gesicht kreidebleich. Wir beide starrten auf den blutenden Typen, der da unten lag und hofften, dass er lebte. Da fühlte der Kerl den Puls seines Mittäters. Marek und ich hielten die Luft an.

„Du hast ihn umgebracht, du Idiot!”

Marek zitterte so sehr, als hätte man ihn unter Dauerstrom gesetzt. Ich nahm ihn in meine Arme, während der Typ den Notarzt alarmierte.

Marek rang um Atem. Ich stützte ihn zum Ausgang der Unterführung und hielt ein Taschentuch an meine blutende Stirn. Da brach Marek zusammen, er fiel auf die Knie, vergrub sein Gesicht in seinen Händen und weinte.

Sanft streichelte ich ihn über sein dunkelblondes Haar. Die Frage, was für Konsequenzen Marek drohen könnten, blockierte meine Sprache, ich brachte keine tröstenden Worte für meinen verzweifelten Freund heraus. Es gab nur eine Hoffnung: Das alles war ein gemeiner Albtraum und ich wünschte mir, dass ich gleich neben einem gut gelaunten Marek in unserem Bett aufwachen, ihn küssen, mit ihm duschen und dann zusammen frühstücken würde …

 

Blaulichter zuckten in regelmäßigen Abständen durch die Dunkelheit, während Marek auf einer Krankenliege von einem Sanitäter betreut wurde. Er hatte eine Beruhigungsspritze bekommen, während ein Arzt meine Stirn nähte.

Aus dem Krankenwagen heraus konnte ich sehen, wie zwei Männer eine Trage mit einem schwarzen Tuch in den Leichenwagen trugen. Ein Polizeibeamter mit Glatze und hässlichen Koteletten trat in den Krankenwagen.

„Können wir die Patienten kurz befragen?”, fragte er.

„Ist zurzeit ungünstig”, sagte der Arzt mit strengen Blick über seine Nasenbrille zum Polizeibeamten.

„Es sind nur drei kurze Fragen zum Tathergang”, sagte der Beamte und warf immer ein Auge auf den liegenden Marek, der nur an die Decke starrte.

„Ich kann was sagen”, bemerkte ich, weil ich nicht wollte, dass sie ihn jetzt sofort in die Zange nehmen.

„Gut!”, sagte er und hielt Stift und Klemmbrett bereit. Zunächst zeigte ich ihm meinen Personalausweis und er notierte sich die Daten.

„Wie ist es zu dem offensichtlichen Konflikt gekommen?”, fragte er dann.

„Mein Freund und ich wollten einfach nur nach Hause gehen. Wir gingen durch die Unterführung und wurden wir von den beiden umzingelt.”

„Waren die beiden Männer bewaffnet? Wollten sie Geld?”

„Nein, ich hab nur gehört, dass einer der beiden ,Schwuchteln’ gerufen hatte. Und dann gingen sie ohne Worte auf uns los, schubsten mich zu Boden und traten mich.”

„Und was haben die Kerle mit ihrem Freund gemacht?”

„Ich war fast bewusstlos, ich habe das nicht richtig mitbekommen. Als ich aufgestanden bin, hatte ich gesehen, dass der Typ, der jetzt … tot ist, Marek mit einem Schlagring ins Gesicht hauen wollte. Dann drehte er sich zu mir um und Marek stürzte sich auf ihn, so dass die beiden hinfielen.”

„Ich glaube, es genügt für heute”, sagte der Arzt. „Er muss sich erholen, er hat eine Gehirnerschütterung.”

„Das Wesentliche ist festgehalten”, erwiderte der Polizist und warf mir ein komisches Grinsen zu. Ich fühlte, dass das alles nicht gut war …

Marek

Sonntag, 8. September, 14 Uhr

Meine Hände zittern, während ich diese Zeilen schreibe. Aber ich muss sie schreiben, ich muss alles niederschreiben. Ich merke, dass ich gerade nicht in der Lage bin, mich zu konzentrieren. Mir schwindet die Hoffnung, dass auch mein Tagebucheintrag nicht mehr helfen kann. Ich muss mich aber doch irgendwie abreagieren können. Ich kann nicht schreiben …

 

Montag, 9. September, 12 Uhr

Ich nutze meine Pause jetzt, um zu schreiben. Ich kann keine Zahlen mehr sehen, rechnen kann ich auch nicht. Bislang war ich immer ein zuverlässiger Buchhalter, wie mein Chef immerzu meinte. Bislang. Jetzt hockte ich hier im benachbarten Park neben den hässlichen Bürocontainern, in denen meine Kollegen und ich wegen Baumaßnahmen vorübergehend einquartiert sind und ich versuche noch einmal zu artikulieren, was eigentlich passiert ist.

Es ist kalt auf der Bank, ein frischer Wind verweht erste Blätter, die von den Bäumen fallen, obwohl sie saftig grün sind. Wieso schreibe ich solche belanglosen Sachen? Ich weiß es. Ich, Marek, will und kann nicht zum entscheidenden Satz kommen. Ich zwinge mich nun aber dazu: Ich habe jemanden totgeschlagen, wegen mir ist ein Mensch gestorben, auch wenn er noch so brutal und blöd war. Eine Träne rinnt an meiner Wange hinab, tropft auf das weiße Papier meines Tagebuchs. Ich überschreibe den Fleck einfach.

Warum redet Philipp seit dem Abend nicht mehr mit mir? Warum rede ich nicht mehr mit ihm?

Philipp

Die nächsten Tage vergingen nicht ohne Verhör. Immer wieder spielten sich diese Horrorszenen vor meinem inneren Auge ab, wenn ich die Geschichte zum gefühlt hundertsten Mal erzählte. Mittlerweile war ich schon so abgestumpft, dass ich das Geschehen von jener Nacht wie ein Plattenspieler abspulte, es wie ein auswendig gelerntes Gedicht in das Diktiergerät der Polizeibeamten trichterte. Ich war erschrocken über meine Gefühlskälte. Oder war es Verdrängung? Ein Panzer umgab mich. Der einzige Schutz, um nicht durchzudrehen.

Als wir wieder einigermaßen genesen, aber noch immer psychisch angeschlagen in unsere Wohnung zurückgekehrt waren, sprachen wir nur das Nötigste. „Kannst du neuen Kaffee besorgen?” oder „Ist noch Käse da?”, wurde zum Hauptthema unserer Kommunikation. Marek und ich wussten, warum wir so viel schwiegen: Wir wollten keineswegs über jene Nacht sprechen, seit Marek die Verantwortung für den Tod eines Verbrechers trug. Auch wenn es Notwehr war, Marek hat den Tod des Angreifers herbeigeführt, ja, mir vielleicht sogar das Leben gerettet, dennoch konnte Marek seine Schuld nicht leugnen.

Doch da war noch mehr. Wir verbrachten keinen Abend mehr zu zweit vor dem Fernseher. Während ich abends zur Entspannung eine DVD einlegte, appetitlos und aus Langeweile an ein paar Salzstangen knabberte, ging er ins Schlafzimmer, legte sich mit dem Laptop ins Bett.

Am nächsten Morgen schockierte mich der Suchverlauf in seinem Laptop. Ich las einige Berichte über Notwehr und dass einige Menschen, die aus Notwehr gehandelt hatten, ins Gefängnis mussten, weil die Justiz das anders sah. Ich bekam weiche Knie, meine rechte Hand zitterte auf der Maus. Eigentlich wollte ich keine weiteren Geschichten lesen, doch es ließ mir keine Ruhe mehr. Ich gab die Schlagworte „Notwehr” und „Gefängnis” in die Suchmaschine ein und filterte weitere Berichte. Ich las die Texte so schnell, dass ich die Sätze nicht vollständig wahrnahm, sondern lediglich den Sinn und das Ergebnis ausmachen konnte. Nach drei Berichten hatte ich genug, ich schloss das Fenster, unterbrach sogar die Verbindung zum Internet.

Eine Weile saß ich nur bewegungslos vor dem Desktop: Marek und ich, gut gelaunt in die Kamera lächelnd, braun gebrannt unter bunten Partylichtern. Das Foto ist vor drei Monaten im Juni entstanden, auf einer Grillparty, die seine langjährige beste Freundin Silvia in ihrem beschaulichen Garten unter bunten Partylichtern veranstaltete.

Ich stand auf, stellte mich ans Fenster und sah in den blauen Himmel. Nur winzige Wolken hingen am Firmament, während sich ein Schwarm voller Schwalben auf der Stromleitung sammelte. Womöglich planten sie bereits ihre Reise in den Süden, die Nächte sind auch für mich spürbar kälter geworden. Zum ersten Mal in meinem Leben beneidete ich die kleinen, flinken Wesen.

Marek

Montag, 9. September, 23:30 Uhr

Philipp war an meinem Laptop. Das Laufwerk war noch warm, als ich ihn vorhin angemacht hatte. Ob er meinen Suchverlauf gesehen hat? Ja, das musste er … Irgendwie ist unsere Beziehung komisch. Wir beide sind angegriffen worden, ich habe mich gewehrt und aus Notwehr jemanden umgebracht. Es war Notwehr. Oder? Ich fürchte, Philipp will nicht darüber reden, genau wie ich. Wir beide schweigen über das gleiche Thema. Es ist ein einvernehmliches, ein gemeinsames Schweigen. Und doch sind wir so weit voneinander entfernt.

Jetzt bemerke ich, wie meine Augen zufallen wollen. Doch einschlafen kann ich bestimmt nicht, will ich auch nicht. Ich möchte den Typen mit dem entstellten Gesicht, mit der aufgeplatzten Augenbraue, dem gerissenen Schädel und der verschobenen Nase nicht wieder begegnen. Ich möchte auch nicht schon wieder die Gitterstäbe im Traum sehen.

Philipp

„Wo gehst du hin?”, fragte mich Marek, als ich in meine schwarze Lederjacke schlüpfte.

„Ich muss mal raus”, sagte ich. „Allein. In den Wald.”

„In den Wald?”, fragte er ungläubig. „Seit wann gehst du in den Wald?”

„Seit heute”, antwortete ich patzig. Diese Fragen nervten mich auf einmal. „Ich muss mal hier raus.”

Kaum war ich draußen, steuerte ich die nächste Bushaltestelle an und fuhr in die Stadt. Es tat gut, Menschen um mich zu haben, es tat gut, dass eine ältere Dame mir dankbar zulächelte, als ich ihr und ihrem Yorkshire Terrier, den sie auf dem Arm trug, einen Sitzplatz freimachte. Am Bahnhof stieg ich aus, ging in Stavros‘ Imbissstube, wo ich Gesellschaft und den appetitlichen Geruch von frischem Gyros erwartete. Wir hatten uns einst im schwul-lesbischen Begegnungszentrum kennengelernt. Er kam vor vier Jahren volltrunken auf der Tanzfläche auf mich zu und fasste an meinen Hintern. Wir verbrachten eine Nacht zusammen, denn einen feurigen Südländer mit glänzend schwarzem Haar wollte ich keineswegs missen. Gut, es blieb bei dieser einen Nacht, aber wir hielten Kontakt, konnten über alles reden. Und genau das brauchte ich jetzt.

„Na, sieh an! Da ist ja Philipp”, sagte er grinsend. „Lange nicht mehr gesehen.”

Ich fragte mich, wann ich Stavros zum letzten Mal gesehen hatte. Wir schrieben uns regelmäßig E-Mails … Allerdings bestand unsere Kommunikation nur aus Absagen. Es hatte nicht sein sollen, er war als Selbstständiger an seinen Imbiss gebunden und ich hatte meistens keine Zeit, wenn Stavros Lust auf einen Besuch in einem Café hatte. Er arbeitete überwiegend abends, ich vormittags bis nachmittags. Und Marek mochte ihn nie, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht aus Eifersucht. Dabei hatte ich dieses Schäferstündchen mit Stavros lange bevor ich Marek kennenlernte.

„Kann ich noch was zu essen haben?”, fragte ich. Als hätte er es geahnt, holte er einen üppigen Hackbraten mit knusprigen Bratkartoffeln aus der Mikrowelle.

„Setz dich ruhig”, sagte Stavros und ich platzierte mich auf einen der unbequemen Imbissstühle. Nun bekam ich ein griechisches Essen von meinem ehemaligen Lover serviert und band meine schulterlangen braunen Haare zusammen, wie ich das immer vor dem Essen mache.

„Sieht geil aus, wenn du das machst!”, kommentierte Stavros und servierte mir das Essen. Er hatte es schon immer auf Typen mit langen Haaren abgesehen, denn daran konnte er seine dominante Ader ausleben, indem er bei unserem einzigen Sex fest daran zog. Ich strich eine Strähne hinter mein Ohr. Stavros grinste vielsagend. Mir wurde erst dann klar, dass er diese Geste total sexy an einem Mann fand. Zum Glück lenkte er selbst auf ein anderes Thema. Er kommentierte, dass der Hackbraten eigentlich seine Mahlzeit gewesen war, aber ihm heute ohnehin nach etwas Süßen zumute sei. Sollte ich das glauben? Und wie sollte ich „nach etwas Süßem“ interpretieren. In jedem zweiten Satz glaubte ich eine Anmache herauszuhören. Mich störte das gar nicht.

Er lehnte sich mit beiden Armen auf der Theke ab. Einerseits wollte ich gerade gerne über meine Probleme sprechen. Andererseits begann mir das unterschwellige Flirten Spaß zu machen. Ich vermisste so etwas Lockeres. Ja, ich vermisste Worte, die mir guttaten. Und ich sehnte mich auch nach körperlichem Kontakt.

„Du siehst so ernst aus“, bemerkte Stavros. „Und auch blass, wenn ich das sagen darf.”

„Mir geht’s auch nicht gut”, bestätigte ich. Der gut gewürzte Hackbraten mit dem Schafskäse heiterte mich zumindest kulinarisch ein Stückweit auf. In den letzten Tagen hatte ich nur Tiefkühlkost zu mir genommen, dagegen war Stavros’ Imbiss ein unvergleichlicher Genuss.

„Problemchen mit Markus? Oder wie hieß er noch?”, fragte er.

„Marek heißt er immer noch. Wenn’s nur Problemchen wären …” Ich legte die Gabel beiseite und wischte mir den Mund mit einer Serviette ab. „Hast du vielleicht ein Bier?”

Stavros stand sofort auf, holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und öffnete zischend die Flasche. „Auch ein Glas?”

„Flasche reicht”, antwortete ich. Als ich Stavros’ neugierigem und leicht lüsternem Blick gegenübersaß, verließ mich der Mut, ihm die Geschichte zu erzählen. Ein weiteres Mal wollte ich sie eigentlich nicht durchleben. Aber ich war ja hier, um mit ihm darüber zu sprechen.

„Na, was ist los mit deinem Mark?”

„Marek!”

„Von mir aus auch Marek. Also, was ist los?”

„Hast du letzte Woche den Artikel über die Schlägerei in der Unterführung gelesen, als ein schwules Pärchen angegriffen wurde?”

„Oh ja! War der erste Artikel, den ich morgens beim Frühstück las. Mir ist fast meine Banane im Halse stecken geblieben. Macht langsam keinen Spaß mehr, die Zeitung aufzuschlagen. Und unter uns: Gut, dass der eine Typ seine Quittung bekommen hat!”

Stavros redete sich fast in Rage. Dabei spielte er die ganze Zeit nervös mit dem Kronkorken meiner Bierflasche.

„Dieses schwule Pärchen … Das waren Marek und ich.”

Vor Schreck schnipste Stavros den Kronkorken aus der Hand. Stille. Nur der Kronkorken, der auf den Fliesen aufkam, machte Lärm.

„Du und Marek? Ach komm, das ist jetzt nicht wahr.”

„Doch!”, erwiderte ich. „Und Marek hat den einen Schläger auf seinem Gewissen. Es war Notwehr.”

Stavros schien Luft zu holen, schnappte wie ein Fisch an Land nach Luft.

Schon flossen mir die Tränen. „Mit Marek ist einfach nicht mehr zu reden, er leidet darunter. Und wir haben Angst, dass er vielleicht ins Gefängnis muss.”

„Wieso er denn? Er hat doch nur aus Notwehr gehandelt!”, sagte Stavros energisch.

„Ist Auslegungssache laut Internet”, sagte ich. „Marek sitzt jeden Abend stundenlang bis Mitternacht am Computer, sucht Berichte über Notwehrhandlungen. Er frisst das in sich rein.”

„Aber er ist doch nicht verhaftet worden, oder?”

„Nein, weil die Staatsanwaltschaft noch ermittelt. Es ist alles ungewiss.”

„Ach, Unsinn!” Stavros winkte ab. „Notwehr ist Notwehr. Das geht eindeutig aus dem Zeitungsartikel hervor, es stand ja auch wörtlich so drin. Andererseits, die deutsche Justiz hat sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Mir sind da durchaus Fälle bekannt …”

„Och Stavros, du sollst mich trösten! Mir sind auch solche Fälle bekannt, hab ja in den letzten Tagen auch ein Dutzend Berichte gelesen, wo eine Straftat nicht als Notwehr ausgelegt wurde.”

„Hat Marek einen guten Anwalt?”

„Wieso?”

„Den werdet ihr unter Umständen brauchen.” Stavros’ Miene wirkte ernst, so ernst, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Marek

Dienstag, 10. September, 14 Uhr

Hab mich heute krankschreiben lassen, leide an heftigen Kopfschmerzen. Philipp scheint das nicht zu kümmern, er geht neuerdings in den Wald. Hat er mir jedenfalls gesagt. Ich weiß nicht, ob und wie ich mit ihm über meine Ängste reden kann. Irgendwie will ich das auch nicht. Ehrlich gesagt, ich weiß noch nicht einmal, wie er zu mir steht, wie er mich sieht. Bin ich in seinen Augen ein Mörder? Ein Totschläger? Verachtet er mich oder hat er nur die gleichen Sorgen wie ich, die seine Stimme paralysieren?

Ich weiß nichts mehr. Ich fühle mich hier nicht mehr zuhause, unsere kleine Wohnung erscheint mir fremd, unwirklich. Ich selbst erkenne mich nicht mehr wieder. Habe seit Jahren nochmal gebetet, obwohl ich mich vom Glauben im Alter von siebzehn Jahren distanziert hatte.

Philipp

Unsere Töpfe blitzten in den Schränken vor sich hin, auch die Glasplatte unseres Küchentischs funkelte. Seit mehr als einer Woche diente er nur zur Dekoration, wurde nicht benutzt. Während sich meine Kopfschmerztablette im Wasserglas auflöste, beobachtete ich das beruhigende Sprudeln. Winzige Wassertropfen, aus weiter Ferne nicht erkennbar, sammelten sich und beschmutzten die Tischplatte. Ich legte meinen Kopf auf den Tisch und sah, wie die Tablette sich auflöste, ja, wie sie vom Wasser zerfressen wurde. Die rundliche Form glich mehr der undefinierbaren Form eines missbrauchten Kristalls. Das dauerte mir alles zulange und ich trank mein Schmerzmittel mit dem zitronenhaltigen Geschmack.

Es dämmerte bereits, ich wusste nicht, wo Marek war. Das Gespräch mit Stavros ging mir immer wieder durch den Kopf, genau wie seine vor Schreck geweiteten, dunklen Augen, als ich ihm erzählte, dass Marek den Schläger totgeschlagen hatte. Stavros verstand nicht, warum Marek und ich nicht darüber sprechen konnten, noch weniger verstand er, dass wir seit zehn Tagen keinen Sex mehr hatten. Das konnte ich mir im Moment überhaupt nicht vorstellen. Bedrückendes, ja, beängstigendes Schweigen lag zwischen uns wie ein schlafendes Raubtier und dann soll man trotzdem Sex haben?

„Philipp?” Mareks Stimme war erfüllt mit Vorsicht und Unsicherheit. Es schien so, als hätte er Angst vor mir, wie er da im Türrahmen stand. Er hielt in seinen Händen ein Glas Wasser mit einer sprudelnden Tablette. Geteiltes Leid ist halbes Leid, dachte ich. Der Spruch war bescheuert, denn meine Kopfschmerzen wurden dadurch, dass er sie auch hatte, nicht besser.

„Kann ich mich zu dir setzen?”, fragte er.

„Natürlich”, sagte ich. Warum war er so scheu geworden? So kannte ich ihn gar nicht, Marek, den Draufgänger, der nicht nur im Bett ein echtes Energiebündel war. Er holte ein Teelicht aus dem Küchenschrank und stellte es in die Mitte des Tisches. Allmählich hatte ich den Eindruck, dass er sich Trost in Glaubenssymbolen suchte. Es waren nicht nur die Kerzen, ich sah auch, dass die Bibel auf seinem Nachtschrank lag. Ich hatte ihn nicht darauf angesprochen.

So saß mir Marek im Kerzenschein gegenüber, strich sein dunkelblondes Haar hinters Ohr. In jeder seiner Bewegungen schwang Unsicherheit mit.

So saßen wir da, schwiegen bei einem Glas Kopfschmerztablette. Da er nichts sagte, unterbrach ich die Stille, womit ich ihm einen Gefallen tat, indem ich ihn einfach fragte, ob er reden wolle. Im schwachen Kerzenschein erkannte ich einen dankbaren Blick, seine braungrünen Augen wirkten nun zimtbraun, ein solches Zimtbraun, das mit Zucker verfeinert ist.

„Du weißt ja, dass ich Angst habe”, sagte Marek.

„Wovor genau? Vor dem Knast?”

„Vor allem. Vor den Folgen.”

Ich nickte nur und sagte leise: „Ich auch.”

„Aber vor allem vor dir”, fügte er hinzu. Das wiederum verstand ich nicht und schaute ihn fragend an.

„Ich habe Angst vor dir, weil ich nicht weiß, ob du mich für einen … für einen Mörder hältst und mich verachtest.”

„Ich? Marek, was machst du dir nur für Gedanken?”, fragte ich, stand auf, um ihn in meine Arme zu schließen. Das war der erste Körperkontakt, den wir seit jener Nacht hatten und jetzt erst bemerkte ich, wie stark meine Bindung zu ihm war, wie gut die Umarmung tat und wie sehr ich das vermisst hatte. Dann nahm ich seinen Kopf in meine Hände und sah ihn an: „Es ist klar, dass du kein Mörder bist. Und mindestens genauso klar ist, dass ich hinter dir stehe, egal, was passieren wird!”

„Glaubst du, dass ich verhaftet werden könnte?”, fragte Marek mich mit Panik in seinen Augen, die geradezu flehten, dass ich mit einem energischen „Nein” antworten sollte. Doch um ehrlich zu sein, ich wusste es nicht. Woher sollte ich es auch wissen? Weder war ich Hellseher noch war ich mit der deutschen Justiz so vertraut, als dass ich hätte eine zuverlässige Aussage machen können. Ich war vielleicht noch ratloser als Marek. In seinen Augen sah ich, dass er dringend eine Antwort brauchte, wie ein Tier in der Wüste, das nach Wasser verlangte. Ich rang mit mir. Sollte ich ihm einen Gefallen tun und seine Frage nachdrücklich verneinen? Oder sollte ich so ehrlich sein und ihm sagen, dass ich es wirklich nicht wusste? In dem Moment klingelte zum Glück das Telefon.

„Ich geh ran”, sagte ich und merkte, wie feige ich sein konnte. Am Telefon erklang die schrille Stimme meiner Mutter, die Marek und mich zur großen Familienfeier meines Großvaters im Oktober einlud. Groß sollte die Familienfeier deshalb sein, weil er 95 wurde. Es gab kein Entrinnen, diese Feier würde an einem Sonntag stattfinden und weder Marek noch ich konnten berufliche Verpflichtungen vorschieben. Außerdem war seit Monaten klar, dass an diesem Tag die gesamte Familie zu Ehren meines schwerhörigen Großvaters, der im Rollstuhl saß, zusammentreffen würde. Meine Verwandtschaft war in Ordnung, die meisten sahen in mir und Marek sogar das perfekte Paar. Dennoch waren solche Feiern immer ein notwendiges Übel. Niemand freut sich, jeder fährt hin und am Ende täuscht man beim Mittagessen gute Laune vor, man lacht, vorausgesetzt, es wird genug Alkohol gereicht.

„Wann soll die Feier losgehen?”, fragte ich.

„Ab zwölf. Wir werden in einem Restaurant essen, dann Kaffee trinken und dann lassen wir das langsam ausklingen. Bis abends um sieben will ich sie aber loswerden.”

„Anwesenheitspflicht?”, fragte ich nach, obwohl ich wusste, was sie antworten würde.

„Frag doch nicht immer dasselbe, wenn Geburtstagsfeiern anstehen! Mein Vater wird 95, das ist vielleicht sein letzter Geburtstag mit einer fünf.”

Die letzten drei Worte hätte sie sich auch sparen können …

„Ja, wir sind dabei”, sagte ich. In meiner Vorstellung malte ich mir bereits aus, wo ich sitzen würde. Nicht neben meiner Großtante, die mir immer die gleichen Episoden ihrer Kriegszeit erzählt und auch nicht neben meiner schrillen Mutter, die nach dem zweiten Glas Weißwein nur noch von ihren Wechseljahren quatscht. Mein bevorzugter Platz auf Familienfeiern war zwischen Marek und meinem Cousin André, der fünf Jahre jünger war als ich und in seiner Gothic-Welt lebte. Dennoch war er mir viel lieber als all die anderen Vögel, die in gegebenen Situationen nur über Kriegserfahrungen, Wechseljahre oder Krankheiten redeten. Daran merkte ich, wie die Verwandtschaft um einen herum ergraute, nicht nur äußerlich, sondern auch geistig. André war da bodenständiger, erzählte von den Konzerten, zu denen er reiste und seinen Erfahrungen mit diversen Frauen, die neben der Musik auch sein Faible für schwarze Klamotten teilten.

„Wir sind im Oktober eingeladen. Die Familienfeier”, sagte ich, als ich zu Marek kam, der sein Glas geleert hatte.

„Ich weiß.” Ihn interessierte das offensichtlich nicht. „Hast du eine Ahnung, wie es jetzt weitergehen soll? Ich meine, ich bekomme die Bilder von dem … toten Typen nicht mehr aus dem Kopf.”

Mir ging es da nicht besser. Psychologische Behandlung hatte er in der Klinik noch abgelehnt, doch jetzt wünschte ich, wir hätten einen Experten, mit dem wir reden könnten.

Marek

Dienstag, 10. September, 22 Uhr 45

Ich bin sehr erleichtert und meine Stimmung ist auch besser. Heute hatte ich ein gutes, ein sehr gutes Gespräch mit Philipp gehabt. Wir haben offen über unsere Ängste gesprochen und ich war wie erlöst, als er sagte, dass er hinter mir stehe, egal was passieren wird. Ich hatte schon Angst, dass er mich für einen Mörder hielt. Bin ich ein Totschläger? Ich mag das Wort nicht, aber in der deutschen Justizsprache bin ich das wohl. In den letzten Tagen habe ich auch nichts mehr von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft gehört. Je mehr Zeit vergeht, desto besser. Zum Prozess wird es dennoch kommen, immerhin war das kein Pappenstiel. Aber Philipp steht hinter mir und heute Abend haben wir zusammen auf der Couch geschmust, uns ein Glas Rotwein gegönnt, nachdem unsere Kopfschmerzen verflogen waren und einen Katastrophen-Film angeschaut, in dem halb Amerika im Erdboden verschwindet. Und da merkte ich, dass es schlimmere Sachen als mein Gewissen gibt.

Philipp

Noch vor dem Frühstück klingelte es. Um sieben Uhr pflegte ich normalerweise den Tisch zu decken und die Kaffeemaschine einzuschalten. Marek stand noch unter der Dusche, während ich zur Wohnungstür ging und durch den Spion schaute. Da sah ich doch tatsächlich zwei Polizisten in Uniform, einen großen Mann, eine kleine Frau. Schon wieder eine Befragung?

Ich öffnete zögerlich die Tür und schaute die beiden unsicher an. Mir war unangenehm, dass ich noch im Morgenmantel steckte.

„Guten Morgen!”, sagte der Polizist, der seine Mütze vom Kopf nahm und seine Glatze entblößte. „Entschuldigen Sie die frühe Störung! Wohnt hier ein Marek Fiedler?”

„Ja”, gab ich unsicher zurück und merkte wie die kalte Treppenhausluft sich in die Wohnung, durch meinen Mantel schlich. Dann hielt der glatzköpfige Polizist ein hellrotes Blatt Papier hervor, auf dem ich einen Stempel der Justizbehörde und in Großbuchstaben das Wort HAFTBEFEHL las. „Es liegt ein Haftbefehl gegen ihn vor. Wir müssen ihn mitnehmen.”

„Nein”, erwiderte ich nur. „Das … das geht nicht.”

„Bitte”, schaltete sich nun die junge Polizistin ein, die eine Stupsnase und fuchsrote Haare trug, das unter ihrer Mütze fransenartig zum Vorschein kam „bleiben Sie ruhig! Es ist nur eine Untersuchungshaft.”

„Nur?”, fragte ich ungläubig. „Er duscht gerade und muss gleich zur Arbeit.”

„Dann sollte er seinen Arbeitgeber schnellstmöglich anrufen”, sagte der Polizist. Mir fiel auf, dass weder er noch sie sich namentlich vorgestellt hatten.

Da kam Marek nur mit einem Handtuch bekleidet aus dem Bad und sah uns mit großen Augen an: „Was ist hier los?”

„Gegen Sie liegt ein Haftbefehl vor, Herr Fiedler”, sagte der Polizist.

„Das kann nicht sein”, erwiderte Marek. „Das war Notwehr!”

„Das sieht der Staatsanwalt nicht so.”

„Nein … ich meine, kann das nicht ein Irrtum sein?”, fragte er.

„Keineswegs! Bitte ziehen Sie sich an und kommen Sie mit! Nehmen Sie auch etwas Gepäck mit!”

„Philipp, sag doch auch mal was dazu!”, fuhr mich Marek an, als ob ich das Problem hier und jetzt lösen könnte. Doch ich schaute ihn nur hilflos an.

„Warum denn U-Haft?”, fragte Marek. „Ich meine, es besteht doch keinerlei Fluchtgefahr.” Marek war kurz davor, loszuheulen.

„Der Haftbefehl ist verbindlich. Und bitte diskutieren Sie nicht mit uns, sonst müssen wir andere Maßnahmen ergreifen!” Der Polizist klang autoritär, während seine junge Kollegin mir mit ihrem Blick sagen wollte, dass es ihr leidtat. Womöglich verwünschte sie in diesem Moment ihren Beruf.

Marek begab sich ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, die Situation zu überschauen. Ich ließ die beiden Polizeibeamten an der Tür zurück und ließ die Tür aber geöffnet, damit die beiden nicht dachten, wir würden hier drinnen etwas aushecken.

„Du musst denen und dem Haftrichter gar nichts sagen”, flüsterte ich.

„Haftrichter?”, fragte mich Marek.

„Ja, keine Ahnung. Ich nehme an, die bringen dich erst zum Haftrichter, der dich befragt. Ich kenne mich doch nicht aus!”

„Soll ich die anschweigen?”

Ich zuckte nur hilflos meine Schultern. Wer könnte uns helfen?, fragte ich mich immer wieder und ging fieberhaft unseren weitläufigen Bekanntenkreis durch. Viola! Mit Viola hatte ich Abi gemacht und während ich mich auf eine Ausbildung als medizinisch-technischer Assistent besann, strebte sie ein Jura-Studium an. Sie war die einzige, die mir einfiel. Besser als ein Pflichtverteidiger, den wir nicht kannten.